Montag, 25. November 2024

Ich war ein Hitlerjunge by Gerd Skibbe

 

 

 

 

 

 

                                              

                                     Gerd Skibbe

 

                   „Zwei Seelen sind in mir“  

 

                                            „I was a Hitlerboy“

 

                                    2025     

 

 


Vorwort         

 

Goethe stöhnte, wegen der uns innewohnenden Gegensätze. Es ist unser Hin- und hergerissen sein.  Er sagt es mit Worten, die er Faust in den Mund legte: „Zwei Seelen wohnen, ach! in meiner Brust, Die eine will sich von der anderen trennen; Die eine hält, in derber Liebeslust, sich an die Welt, mit klammernden Organen; Die andre hebt, gewaltsam sich vom Dust zu den Gefilden hoher Ahnen“

Götter sind die Ahnen unseres besseren Ich.  Ja, wir sind duale Wesen, ein Teil von uns selbst fühlt irdisch derb, der andere ist göttlich.

Die Umstände brachten es mit sich, dass ich dabei sein durfte, als Andrzej Szczypiorski der polnische Sejm Abgeordnete und Schriftsteller in die Runde der dreihundert Kulturschaffenden schaute. Diese Konferenz fand am 31. Oktober 1990 zu Frankfurt/Oder statt. Er sagte wörtlich, indem er den Kopf zur Seite wandte und somit auch seine bedeutenden Podiumsgenossen ansprach, als wollte er nicht nur uns, sondern auch ihnen seine bislang größte und richtigste Einsicht mitteilen: „Meine Damen und Herren, die Banditen sind nicht unter uns, - “ er legte eine Kunstpause ein „sondern sie sind in uns!” Alle schauten auf, auch Bundeskanzler Helmut Kohl. Niemand protestierte.

So ist mein Buch zeilen- und seitenweise eine Lebensbeichte…

 

Das Folgende verfasste ich, gewissenhaft, aus alten Aufzeichnungen, Erinnerungen und vertrauenswürdigen, jedem zugänglichen Dokumenten aus der Perspektive des Jahres 2024

 


Zu den schönsten Entdeckungen, die ich je machte, gehört Raffaels Sixtinische Madonna, gemalt 1514.  

„Man muss das Originalgemälde mit eigenen Augen gesehen haben“, sagte schon Gogol, der bedeutende russische Autor. „Im 19. Jahrhundert hielt man das Gemälde für das bedeutendste Bild der Dresdener Galerie, und manche Besucher kamen nur seinetwegen.“ Juri Alpatow, ebenfalls Russe und      Kunsthistoriker sagte zu Sowjetzeiten: “Seitdem hat sich der allgemeine Geschmack stark verändert, man neigt eher zu einer Geringschätzung des   Werkes. Es erfordert eine gewisse Anstrengung vom modernen Menschen, um seinen eigentlichen Wert zu erkennen.” Wahr ist, die grundsätzliche Denkweise hat sich seither sehr verändert. Nicht mehr die Kraft in den Dingen, sondern die Oberflächen sind wichtig geworden. Dennoch ist auch das tiefer liegende immer noch da. Wie ist das möglich, fragte ich mich, dass einige Gramm Farben, von einem Künstler auf ein Stück Leinwand übertragen, solch tiefen Eindruck in mir hinterließen? Immerhin sind es insgesamt nur ein paar Quadratdezimeter Ölfarbe und diese Augen nur ein bisschen Umbra.  Zugleich aber wusste ich, dass Raffaels Gemälde allen Inhalt des uralten, ursprünglichen Evangeliums Jesu Christi wiedergibt. Milliarden Menschen, die bereits auf der Erde gelebt haben, und Milliarden weitere, die noch nicht berufen wurden, ihren Platz in einem der für sie bereiteten Körper einzunehmen, blicken mit Spannung auf diesen entscheidenden Moment und Scheideweg in der Weltgeschichte, den Raffael zeigt. Christus, das Lamm, das in die Welt der Wölfe fällt, darf und wird nicht versagen. Nur er kann uns eine glückliche Rückkehr ermöglichen.

Raffael malte dieses uferlose Meer von Geistern. Kopf an Kopf, dicht aneinander gedrängt erleben sie - wir sind es! - den Beginn des wichtigen Lebenslaufes irgendeines Wesens. Raffael zeigt Jesus und uns selbst. Wir sind es, die wissen, dass er uns aus dem Loch herausholen wird, in das wir freiwillig stürzten. Nur er kann uns von Folgen dieses Falls, aus der ewigen Heimat, heilen, den wir uns wünschten, um zu lernen Gut von Böse zu unterscheiden. Wir konnten kaum diesen Teil unseres unvergänglichen Seins erwarten: die Selbständigkeit in der Phase der Sterblichkeit.  Wie Kindern erging es uns, die alt genug wurden, um eine eigene Familie zu gründen. Wir drängten fort aus einem schönen Zuhause, in die Welt der unendlichen Möglichkeiten, in der wir uns selbst verwirklichen wollen.  Nun da wir, aus gutem Grund, im großen Vergessen leben, kann die Botschaft Raffaels jedem helfen: Ihr seid nicht nur von dieser Welt!  Diese Botschaft ist der andere Teil der Software, ohne den der Mensch als fehlprogrammiert erscheint. Zahllose haben ihre Gründe, nicht denken zu wollen, dass wir Doppelwesen sind. Aber was ändert das an der Tatsache, dass wir ein Dasein hatten, bevor wir geboren wurden?  Schiller ahnt es, das drückt er mit seiner „Ode an die Freude aus “: „… Brüder, überm Sternenzelt muss ein lieber Vater wohnen…

1832, kurz vor seinem Lebensende sagte Goethe im Gespräch mit seinem Freund und Sekretär Eckermann: „…Diese plumpe Welt aus einfachen Elementen zusammenzusetzen … hätte ihm (Gottvater) sicher wenig Spaß gemacht, wenn er nicht den Plan gehabt hätte, sich auf dieser materiellen Unterlage eine Pflanzschule für eine Welt von Geistern zu gründen. So ist er nun fortwährend in höheren Naturen wirksam, um die geringeren heranzuziehen.”  Jacob Moleschott „Anthologie aus der Weltliteratur,“ 1894

Verwunderlich ist, dass zahlreiche Intellektuelle sich mit dem Unterton der Überlegenheit zum Atheismus bekennen, als sei das eine Errungenschaft, denn von unserer Natur aus sind wir allesamt Ungläubige. Eben dasselbe sagt im Buch
Mormon König Benjamin: „der natürliche Mensch ist ein Feind Gottes!“ Mosia Goethe sagte es: „Wenn du es nicht erfühlst, du wirst es nicht erjagen.  Schwerwiegende Eingriffe in urchristliche Praxis und Theologie machten aus dem liebevollen, toleranten Christentum nahezu das Gegenteil. 

Cäsaropapisten wie Kaiser Konstantin, änderten zunächst das Gottesbild der Christen, dann das Charakterbild der Kirche, sie musste „…die Wünsche Konstantins, befolgen, obwohl sie sie nicht billigte…Eben so wenig, wie Konstantin Christus erwähnt, ist die (neue) Kirche auf Christusbezogen...“. H. Kraft, Habilitationsschrift „Konstantins religiöse Entwicklung“ Uni Heidelberg - Greifswald, 1954                                                

Er „... machte sich (325, in Nicäa) zum Herrn der Kirche. In ihre Streitigkeiten griff er entscheidend ein und verteilte mit geschickten Fingern Recht und Unrecht. ... im Handumdrehen füllte sich der Hof des Kaisers mit einer Menge von Persönlichkeiten, die mit ihrem Christentum Geschäfte machen wollten. Edlere Naturen konnten neben ihnen kaum noch hervorkommen. (Sie) zogen sich angewidert zurück. Die siegreiche Kirche“ (kam hervor.) Pfarrer E. F. Klein „Zeitbilder aus der Kirchengeschichte“, Berlin, Ackerverlag, 1930

Vor Konstantin glaubten nur wenige trinitarisch, nach ihm wurde es, bis heute geltend, zur obersten Christenpflicht erklärt. Mitglied der „christlichen Ökumene“ zu werden, setzt das Bekenntnis zum „dreifaltigen“ Gott voraus.  Aber jede Anerkennung des christlichen Monotheismus ist zugleich Leugnung der „christlichen Wahrheit“. Das Athanasianum, das zu den drei großen Bekennt-nissen der westlichen Kirche gehört, verlangt diese Leugnung mit den Worten:

-         „wir (sind) gezwungen, in christlicher Wahrheit jede einzelne Person für sich als Gott und als Herrn zu bekennen,“ 

-         doch „der katholische Glaube verbietet uns, von drei Göttern oder Herren zu sprechen.“

Der „katholische Glaube“ wurde erzwungen: „Seitens des Kaisers Konstantin wurde mit Drohungen und Ankündigung von Repressalien gearbeitet. Jeder Bischof wird einzeln vorgenommen. Ihm wird das Bekenntnis (das Nicänum) vorgelegt und er wird zugleich vor die Alternative gestellt, entweder zu unterschreiben oder in die Verbannung zu gehen...“ Rudolf Leeb „Konstantin und Christus“ – die Verchristlichung der imperialen Repräsentation, Walter de Gruyter, 1992

Die katholische Quelle "Familia Spiritualis Opus" bekennt 2013: „Alles schien in bester Ordnung, jedoch hatten einige Bischöfe nur ein Lippenbekenntnis abgelegt, da Kaiser Konstantin mit der Verbannung jener Bischöfe gedroht hatte, die das Bekenntnis nicht unterschrieben..." Als bekennendes Mitglied der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage lese ich mit Entsetzen, dass Dumme und Gescheite, Gelehrte und Ungelehrte schwören: „Mormonen sind keine Christen!“ Sie (lehnen) die Lehre von der Dreifaltigkeit strikt ab. Allein diese Tatsache abgesehen von den bisweilen mehr als seltsamen Offenbarungsinhalten, machen deutlich, dass wir es hier nicht mit einer christlichen Konfession zu tun haben.“ 01.04.2012 Pater Hans Peters SVD  Pressesprecher Thomas Schneider von der Arbeitsgemeinschaft Weltan-schauungsfragen setzte den Höhepunkt: „Diese Sekte … lehnt die Trinität… ab…. Christen sollten sich in der Öffentlichkeit deutlich von der auch in Deutschland missionierenden Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage (Mormonen) und ihren Vertretern distanzieren.“ Sektierer als Gastredner bei Willow- Creek“, 2016  

Seit wann darf man das Christsein daran messen, ob jemand trinitarisch glaubt oder nicht? Warum setzen hochrangige Christen das von Christus gesetzte Kriterium für ein „Christsein“ beiseite? Sagte er nicht: „Wer meine Gebote hat und hält sie der ist es…“ Joh. 14: 21 Zahllose Trinitarier neigten seit Nicäa zur Intoleranz. Ihre Gegner waren zuerst die Arianer. Die haben sie verfolgt. Ahnherr solcher Gesinnung war der anscheinend grobschlächtige Bischof Alexander von Alexandria. Um 320 prägt er die Standardparole: „Dem Arius muss man Widerstand leisten bis aufs Blut“ Ernst F. Klein „Zeitbilder der Kirchengeschichte“ Dieses Hasswort wurde zum Todesurteil der Antike. Erst kurz vor seinem Lebensende um 335, vielleicht auch schon früher, leuchtete Kaiser Konstantin ein, dass er Arius zu Unrecht verdammt hatte, inhaltlich und praktisch. Praktisch, weil sein „christlicher“ Chefideologe Athanasius ihm nur Scherereien bereitete und inhaltlich, weil er eben Henotheist war. In Nicäa hatte er sich verrannt. Mehrfach musste Konstantin den wütenden Athanasius wegen Kompetenzüberschreitung und Unruheschürung maßregeln. 336 befahl er - unerwartet - die Versöhnung der Kirche mit Arius. Das passte vielen der Angepassten nicht. Allen voran ging es dem Metropoliten Alexander von Konstantinopel gegen den Strich. Er war gleich nach Nicäa, 325, geistlicher Herr der neuen Hauptstadt geworden und prahlte damit ein guter Orthodoxer zu sein, als ob der angemaßte und frei erfundene Titel "Rechtgläubiger", je Garantie für die Richtigkeit irgendeines Glaubens sein könnte. Sein ganzes Gehabe ähnelte zu sehr den Manieren der Kommunisten die sich selbst für unfehlbar erklärten und die dieser „Unfehlbarkeit“ wegen den 3. Weltkrieg in Kauf genommen hätten. So erheben sich einige Fragen. Darunter die, ob es wahr ist, dass dieser fanatische Metropolit in seiner Basilika zu Konstantinopel laut gebetet hatte: „dass entweder er oder Arius aus der Welt entfernt würden" Sokrates Scholastikus Kirchengeschichte I XXXVIII Unbedingt wünschte der athanasianische Metropolit die unmittelbar bevorstehende Aussöhnung des Ketzers Arius mit der Kirche unmöglich zu machen. Obwohl Kaiser Konstantin sie nun, 336, mit Nachdruck verlangte.

Die moderne Forschung kommt, gegen den noch vorherrschenden Trend, zu folgendem Schluss: „…der Erzketzer Arius ist Traditionalist. Er steht fest auf dem Boden der kirchlichen Lehrtradition." „Kirchen und Ketzer" 2004 mit Unterstützung des norwegischen Forschungsbeirates für Klassische Philologie und Religionswissenschaft, Uni Bergen

Eine Kursänderung Konstantins hätte das damals durchaus noch nicht gesicherte Lehrgebäude des neuen Kirchensystems in seinen Grundfesten erschüttert. Es wäre nicht nur zu einem Paradigmenwechsel, sondern zum Machtverfall der Orthodoxie gekommen. Um die Pfründe gewisser Neukatholiken wäre es geschehen gewesen. Die Sittengeschichte des Trinitarismus wurde mit Blut und Tränen geschrieben. Fanatische Trinitarier trieben mit ihrem intoleranten Benehmen die schwach Gottgläubigen in tiefste Zweifel. Ihretwegen dominierte religiöse Unduldsamkeit sehr lange.  Indessen hielt Tertullian, ein Urchrist des Jahres 160, fest: „… ist es nicht gottlos, wenn man jemand die Freiheit der Religion nimmt und ihm die freie Wahl seiner Gottheit verbietet?“ Georg Denzler, „Mutige Querdenker, der Wahrheit verpflichtet“

Toleranz ist göttlich. Selbst die stärkste Liebe leidet, wenn Gewalt ins Spiel kommt. Beständiger Mut zur Wertesuche, zur Selbstkritik und zur Wahrhaftigkeit müssen errungen, dann verteidigt werden. Sie sind Kulturgeschöpfe wie Blumengärten. Nur durch unser, von Jesus Christus gefordertes Zutun, - dem Halten seiner Gebote - können sie und wir bestehen.

Meine Vorgeschichte sah durchaus nicht danach aus, dass ich jemals zu solcher Erkenntnis kommen würde. 

 

Gerd Skibbe, Melbourne 2025



Ein Bengel – mehr nicht

 

Nach dem Verschwinden Vaters aus meinem Dasein – weil er zur Wehrmacht eingezogen wurde - vereinnahmten mich mehr und mehr die Pflichtdienste zunächst in der „Deutschen Jugend“, dann in der „Hitlerjugend“.

 Mir wurde, als ich knapp 14 war, nahegelegt Pilot zu werden. Und so zog ich bereits 1943 die graublaue Uniform an, die ich trug, bis einen Tag vor dem Einmarsch der Sowjetarmisten in meine Heimatstadt. 

Unvergessen: In der Nacht vom 17. zum 18. August 1943 riss uns Sirenengeheul aus dem Schlaf: doch wie üblich geschah nichts. Die Feindflugzuge suchten größere Ziele. So drehte ich mich um und fiel wieder ins Traumland, bis mich eine gewaltige Detonation weckte. Es krachte immer heftiger und hörte nicht auf. In Panik raffte ich meine Kleidung und stürzte gleich anderen Bewohner des Hauses Langestraße 17 in den Keller.

Jeden Augenblick konnte uns die nächste Bombe töten. Ich war gewiss, dies ist mein Ende. Aber es traf Peenemünde, wo die Nazis ihre Raketen produzierten. Die Luftlinie betrug 8 km. Doch die Luft einer windstillen Nacht kann über Wasserflächen Geräusche ungemindert übertragen. Es waren 600 Lancaster- und Halifax – Bomber die ihre Lasten auch als Phosphor-behälter abwarfen, alles in der Hoffnung Hitlers Raketenprogramm, das vom Westen als schwere Bedrohung wahrgenommen wurde, empfindlich zu stören.  

Im Nachhinein schien mir, dass es die Schreie der französischen, britischen, russischen Kriegsgefangenen waren, die wir in den winzigen Pausen platzender Bomben durch das offene Kellerfenster vernahmen.

Frau Müller, unsere Hauswirtin, die in Peenemünde als Sekretärin arbeitete, berichtete uns später, wie grauenvoll der Anblick jener war die von Phosphor überschüttet zu Tode verbrannt in den Maschen der sie umgebenen Drahtzäune hingen.

Wir wurden evakuiert. Mit weit geöffnetem Mund stand ich nur wenige Tage später auf dem Vorplatz des Berliner – S-Bahnhofs Alexanderplatz, den ich bereits kannte, da meine Eltern, 1937 eine Großkonferenz mit Präsident Heber J. Grant besuchten. Ich sehe ihn immer noch in kleiner Entfernung dasitzen, umgeben von Missionaren.

Statt der Häuser sah ich nun nur rußgeschwärzte Ruinen.

Mutter ging mit uns – mit meinem Bruder Helmut und meiner Schwester Helga sowie mir - nach Oberschlesien, wo ich 6 Monate lang weder die Schule besuchte, noch irgendwelche religiösen Zusammenkünfte, sondern lediglich mit einem ebenfalls verwilderten „Mormonenbengel“ allerlei Schabernack trieben, wo ich ellenlange polnische Flüche lernte. Vater kam im März 44 vom Genesungsurlaub zu uns nach Ratibor. Er verlangte unsere umgehende Rückkehr nach Wolgast. Er sah voraus, dass die Rote Armee bald als Sieger kommend in Schlesien einmarschieren würde. Zuvor hatte die deutsche Wehrmacht die Schlacht am Kursker Bogen, unter sehr hohen Verlusten an Menschen und Material, kriegsentscheidend verloren.

Wieder in Wolgast absolvierte ich, nun als Voll-Mitglied der „Flieger – Hitler- Jugend“ meinen ersten Start mit dem Schulgleiter SG 38. Ich flog in fünf, sechs Meter Höhe etwa 80 Meter weit. 

Mir wurde anschließend nahe gelegt mich den Schülern meiner Klasse in Groß-Mölln in Hinter-Pommern anzuschließen.

Dort wurden wir straff vormilitärisch ausgebildet.

Splitternackt paradierten die wir im Strandsand und übten Stechschritt, lernten Kriegslieder, aber wenig mehr. Frauen oder Urlauber gab es nicht.

Nun gut 14 Jahre alt erhielt ich eines Herbsttages eine saftige Ohrfeige von einem SA-Mann, der das große Hakenkreuzenblem als Armbinde über seinem braunen Oberhemd trug. In einem Großzelt hinter dem heruntergekommenen Hotel Böttcher, indem wir bis kurz vor Weihnachten wohnten, wurden wir geschult. Wir sollten verinnerlichen, dass unser Leben Adolf Hitler gehört. Bis dahin war zumindest mir nicht bewusst, dass es dem großen „Führer“ darum ging, uns Heranwachsende bald als gut vorbereitete Reserve und Kanonenfutter an die Front zu schicken.

Wir sollten keine eigene Meinung haben, sondern Gehorsam lernen.

Der kleine Nazi-Mann ereiferte sich, uns zu sagen, dass an allem Unglück die Juden schuld seien. Dabei fielen aus seinem Mund die Worte: „Schlau sind sie schon immer gewesen. Und ein besonders schlauer schrieb die Bibel…“ Ich meldete mich, aber keineswegs, weil ich etwa irgendwie fromm war, sondern das wusste ich besser. Er kam zu mir. Ich saß im Schulungszelt hinten. Er hörte mich sagen: „Nein, das ist nicht korrekt, die Bibel entstand im Verlaufe von Jahrhunderten.“

Peng! Das saß und brannte eine Weile. Auch wenn ich weit zurückliegend in meiner Heimatstadt Wolgast selten Missionaren unserer Kirche begegnete und ihnen noch seltener zuhörte, war doch einiges haften geblieben. Zudem besuchte ich gelegentlich die „Gottesdienste“ der evangelischen Gemeinde. Ich kann mich, bis heute, an gewisse Passagen der Predigten und Unterrichtsstunden erinnern.

So erfuhr ich schon früh, dass die Bibel ein Buch vieler Bücher zahlreicher Schreiber war. Das wenigstens war in meinem Gedächtnis haften geblieben. Gebetet habe damals ich nicht.

Gott kam in meinem Leben, zu dieser Zeit, nicht vor.

Da erstürmten Russen im Oktober 44 die Kleinstadt Gumbinnen in Ostpreußen, während die Alliierten Aachen, im äußersten Westen Deutschland, belagerten.

Wir wurden, wegen der rasant vorrückenden russischen Front, nach Ahlbeck, nahe Wolgast verlegt.

Im Winter 1945 begegneten wir dort wieder Mädchen.

Sie marschierten in Blöcken, wie wir, zum Fahnenappell.

Ihr Anblick entzückte nicht nur mich.

In ihren schwarzen Röcken sahen sie bezaubernd aus. Außer mir trugen die Jungen ebenfalls schwarze Uniformen. Ich ging blaugrau gekleidet in der Tracht künftiger Piloten und sah so aus wie ein Sechzehnjähriger. Das sagte mir jemand.

Eines Tages steckte man mir einen Brief zu. Ich öffnete ihn erst, als ich allein war. Von einem postkartengroßen Foto lächelte mich ein liebliches Mädchen an. Eine strahlende Schönheit. In harmonischen Kurven geschrieben leuchteten für mich die Worte: An Gerd – deine dich ewig liebende Inge Zühlsdorf. (Später sah ich sie oft. Wir wechselten zu keiner Zeit irgendein Wort. Ich wusste nicht, was ich hätte sagen können)

Anfang März nach Hause und aus der Schulpflicht entlassen, erhielten wir unsere Zeugnisse. Meins gehörte wohl zu den Schlechtesten. 16 Vieren und eine Zwei, und die ausgerechnet in Betragen, dass mir selber selten oder nie gefiel.

Warum mein Klassenkamerad Gerhard Schröder gerade mich und meinen Freund Richard Schwenk, samt dessen Schwester Gerda zur Konfirmationsfeier eingeladen hatte, blieb mir ein Rätsel.

Gerda, eine in meinen Augen, ebenfalls schöne Blondine, ein Jahr älter als ich, kam an jenem späten Nachmittag zu mit, nachdem wir Tortenstücke genossen hatten – etwas völlig Unbekanntes für uns, die keine reichen Bauern zur Verwandtschaft zählen konnten, und gleich nachdem Wein! herumgereicht wurde -: „Gerdi, Gerhard will immer wieder Brüderschaft mit mir trinken, aber ich würde lieber dich küssen!“

Das ließ ich mir nicht zweimal sagen. Wir genossen es sozusagen harmlos einander gern zu haben.

Überhaupt, dass Gerhard Konfirmand sei, blieb mir, wann immer ich daran dachte, unverständlich.

Keiner von uns Abgängern der Volksschule glaubte an Gott. Selbst noch ein, zwei Jahre später glaubten stattdessen viele Deutsche klammheimlich und wehmütig an Adolf Hitlers beste Seiten. Schließlich brach er den Fluch jahrelanger, allgemeiner Arbeitslosigkeit in ganz Deutschland. Er gab den Mutlosen, nach der demütigenden Niederlage nach dem Ersten Weltkrieg 1918 und der folgenden Hyperinflation wieder Hoffnung, allerdings gewürzt mit deftigen Parolen, deren Schändlichkeit zu viele nicht erkannten. Er zog - angeblich - einen Schlussstrich unter die Pflicht fortlaufender Reparationszahlungen in erheblicher Milliardenhöhe, die gemäß dem Versailler Vertrag von 1919 geleistet werden musste. Heutige können sich kaum ein Bild von der Lage deutscher Eltern in der Zeit zwischen 1919 und 1933 machen: Bereits während des letzten Kriegsjahres breitete sich Angst vor einer galoppierenden Inflation aus. Das plötzliche 

Misstrauen des Mittelstandes, die staatliche Finanzpolitik sei auf Täuschung der Öffentlichkeit aufgebaut, reizte und peitschte die Nerven aller. Vorsicht trieb die Händler zu überzogenen Reaktionen. Das künstliche Finanz-gefüge brach zusammen. Eine Schachtel Streichhölzer, 1910 für einen einzigen Pfennig zu erwerben, kostete im November 1923 schließlich fünfundfünfzig Milliarden Mark. Der Preis für eine einfache Briefmarke betrug 20 Milliarden.

Selbst kleinere Fabriken mussten, um das Geld zur Löhnung ihrer Arbeiter transportieren zu können, Pferdefuhrwerke zu den Banken schicken. In sechzig deutschen Notendruckereien spuckten die insgesamt 1723 Druckmaschinen pausenlos Geldscheine mit astronomischen Zahlen aus. Tag und Nacht liefen die Aggregate der Papierfabriken. In dieser Zeit der Verschärfung der Konflikte warnte der Utah-Senator Reed Smoot, der zugleich als Apostel der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage amtierte, den amerikanischen Kongress davor, den Bogen zu überspannen. Smoot erklärte, Deutschlands Bürger könnten durch die maßlosen Forderungen der Alliierten ihren Reparationszahlungen pünktlicher nachzukommen, in die Arme von Chauvinisten getrieben werden. Genau das sollte geschehen. Und auch ich wurde in den Strudel mit hineingezogen.

 

Hitler-Jugend-Führer gaben uns Mitte März 45 den Befehl, zur Unterstützung der Rote-Kreuz-Schwestern. Wir begaben uns zum Wolgaster-Fähre Bahnhof. Es würde, am späten Abend, ein Verwundentenzug aus Swinemünde erwartet.

Während wir dem unvorstellbaren Ereignis mit Erregung entgegensahen, hockte im kleinen Wartesaal ein beinloser Landser inmitten einer beachtlichen Anzahl von Seesäcken und sang Heitschi-bumbeitschi. Seine wunderschöne Stimme war leise und drang mir doch ins Herz.

Eine grobe Stimme raunzte dazwischen: „Los! Der Zug kommt!“ Wir stürzten ins Freie. Ich weiß nicht, was ich erwartete, doch war in mir noch das Bild aus einer der deutschen Wochenschauen von eleganten, blitzsauberen Verwundetenzügen. Aber schon, als sich die dunkle Silhouette der funkenschnaubenden Lok über der grauschwarzen Mahlzower Anhöhe abzeichnete, beschlich mich ein Gefühl des Jammers. Als wir das Bremsen vernahmen, rannten wir den Viehwaggons entgegen. Es war noch nicht völlig dunkel, sondern gerade hell genug, um mit Entsetzen die zerfetzten Planken zu sehen. Trotz des Fauchens der Lokomotive hörten wir die Hilfeschreie. Plötzlich war mir das ganze Ausmaß des Elends des Krieges bewusst. Meine Beine wurden weich, meine Glieder schlotterten.

Jemand schrie mit hoher Stimme der Empörung. „Sie haben den Zug beschossen!“ Aus anderer Richtung kam die Bestätigung: „Ja. Gerade jetzt, kurz vor Zinnowitz.“ Blitzschnell kam mir die Frage: Russische Ratta oder britische Spitfire? Da wollten sie nochmals zeigen, was sie können. Und das, obwohl wenigstens von einigen Dächern das aufgemalte Zeichen des Roten Kreuzes hoch heraufgeleuchtet haben musste.

Als die Schiebetür, die sich unmittelbar vor mir befand, von einem hünenhaften Waffen-SSler geöffnet wurde, schlug mir Gestank entgegen. Der erste Mann, der vor mir lag, war tot. Ein Zweiter tastete sich mir entgegen, fiel mir um den Hals: „Kamerad, Kamerad!“  Sein Kopf war, bis auf den Mund umwickelt, der Verband schwarz. Ich konnte ihn geradeso auffangen. Mich durchströmte ein Gefühl von brennender Liebe und ohnmächtiger Wut.

Wir legten ihn und die anderen so schnell und so behutsam wie möglich auf Handkarren, um sie zum Behelfslazarett „Wolgaster Zellmehlfabrik“ zu transportieren.

In einer der letzten Nächte unter deutscher Herrschaft, nachdem wir weitere Schwer- und Schwerstverletzten entgegennahmen, ertappte ich meine Mutter dabei, dass sie BBC-London lauschte. Gebeugt stand sie vor dem braunen Volksempfänger, ihre grüne Wolldecke um Kopf und Radio gewickelt. Unsere Schulungsoffiziere hatten uns gelehrt auf Volksverräter zu achten. Beispielsweise wenn wir das Bum-bum-bum-bom des Todfeinds hörten, müssten wir handeln und die NSDAP - Ortsgruppenleiter informieren, sei es Vater oder Mutter.

Als ich den Raum betrat drang genau dieses Signal bis auf mein Trommelfell.

In meinem Zorn fuhr ich sie hart an.

Sie kam ebenso zornzischend hoch. Ihre Augen funkelten herrschsüchtig. Sie wünsche nicht gestört zu werden. Ihre weichen brünetten Haare zerzaust, drückte die helle, nun verkniffene Stirn die ganze Kraft ihrer Persönlichkeit aus.

Ich war genügend empört und so bereit sie anzuzeigen: “Ich rette Leben und du, du glaubst deren Feind!”

Sekundenlang dachte ich: Geh! Tu deine Pflicht als guter Deutscher!

Es war ein lautes Tosen in mir. Es bestimmte mich: Strafe muss sein!

Eine leise, klare Stimme konterte sofort: „Nein!“

Zu meinem ewigen Glück, zögerte mein besseres Ich.

Ich stutzte, da ich mich so widersprüchlich wahrnahm. War das die Stimme meines Gewissens? In meiner Hilflosigkeit und aus Wut wegen der Einsicht, dass dieser, mein Krieg, verloren war, knallte ich die Tür ins Schloss.

Immer mehr Ostflüchtlinge trafen ein. Ihr meist kleines Gepäck wurde von uns in die umliegenden Dörfer auf kleinen Wagen gefahren. So schritt, eines nachts eine hochgewachsene Frau, eine ganze Stunde neben mir her, ohne ein einziges Wort zu sagen, bis wir in Hohendorf ankamen. Was in ihrem Innersten vorging wollte ich wirklich nicht wissen. Vielleicht war ihr Mann gefallen und sie schaute nur in ein endloses schwarzes Loch.

Ihren zum Turban gewickelten Schal sehe ich immer noch. Die Stadt füllte sich mehr und mehr mit unversehrten Soldaten aller Waffengattungen. Chaos.

Zurecht drückte sich jeder so lange wie möglich vor der immer noch eisern verlangten Pflicht mit einem Karabiner gegen erbarmungslos rollende Panzer zu fechten. Noch nie sahen wir so viele Uniformierte. Die Jüngsten bettelten uns an für sie ein Mädchen zu finden und wir knapp 15-jährigen wussten sehr wohl um was es ging.

Mein Gestellungsbefehl zum Volkssturm kam am Morgen des 22. April. Die Russen hatten gerade bei Stettin die Oderlinie durchbrochen. In meinem Wahn, den deutschen Sieg mittels der Wunderwaffe, doch noch für möglich zu halten. wäre ich nur einen Monat zuvor noch töricht und sorglos losgezogen. Zumindest wollte das mein Wunschdenken.

Die immer noch tönende Goebbelspropaganda zeigte Wirkung. Aber nachdem ich die blutjungen, verstümmelten Landser in meinen Armen gehalten, ihren Jammer wie meinen eigenen empfunden hatte, war ich nicht mehr wütend zu sehen, dass meine kleine, energische Mutter die Faust auf den Küchentisch schmetterte und beeindruckend laut ihr kategorisches: “Nein!” herausdröhnte. Sie drückte ihr Kreuz durch und konnte doch nicht das Angstflackern in ihren schönen grauen Augen verbergen. Vor all diesen furchtbaren Erlebnissen hätte ich ihren Befehl nicht respektiert. Nun aber war mir bange geworden. Die Furcht, ich könnte wirklich vernichtet werden, hatte ein schreckliches Gesicht bekommen.

Zwei oder drei Tage vor dem totalen Zusammenbruch der deutschen Front, abends, suchte ich meinen Freund Richard auf. Gerda kam mir entgegen. Sie schaute mich sonderbar an, aber sie interessierte mich zu dieser Zeit nicht. Ich hatte andere Sorgen. Es brodelte in mir. Vor dem großen Fall müssten wir noch etwas unternehmen. Wir liefen zur Saarstraße, wollten sehen ob Dabbert sich schon, wie zuvor die Plogs, in Richtung Westen zu den Amis abgesetzt hatten. Dann gab es da etwas zu klauen.

SA - Dabbert war schon auf und davon. Noch vor wenigen Tagen hatte er posaunt: “die Wunderwaffe kommt – der Endsieg!“

 Breitbeinig stand er, noch vor 14 Tagen, vor uns, oben auf dem kilometerlangen, fünf sechs Meter breiten Panzersperrgraben, den wir mit vielen Tausenden gemeinsam ausgehoben hatten.

Die Kaninchen auf die wir es abgesehen hatten waren ebenfalls geflohen oder noch zuvor in den Dabbert-Töpfen gegart worden.

Wir standen da und ärgerten uns. Mit seinem dicken Hintern, saß er wahrscheinlich neben seiner dürren Emma im rollenden Auto. Er musste überlaufen, zu den Amis statt von den Russen gefasst zu werden Kein Wehrmachtsoffizier, kein SSler wird es wagen ihn aufzuhalten, solange er seine Dienstmütze trug.

Plötzlich kam ein Polizist angeradelt.

An den Umrissen seines Tschakos erkannten wir das. Ein enorm schwacher Lichtstreifen fiel durch den vorgeschriebenen Verdunklungsschlitz seiner Fahrradlampe schräg vor ihm auf die schwarze Erde.

Aus unserer miesen Stimmung heraus, bewarfen wir ihn provokativ mit kleinen Steinen, Steinchen. Wir trafen ihn. Sofort sprang der große Mann vom Rad und dann über den niedrigen Zaun hinter dem wir uns befanden. Ich rannte den Hauptweg des Neuen Friedhofs hinunter. Wenigstens bis hinter den riesigen Komposthaufen musste ich gelangen. Da pfiff zeitgleich mit dem Knall eine Kugel nahe an mir vorbei. Er schoss noch einmal, ich stellte mich, zu Tode erschrocken, hinter den nächsten Baum. Da fand er mich: „Wer war der andere?“  Ich wollte noch den Helden spielen, erhielt ein Ohrfeige und sagte die Wahrheit.

Eine knappe Stunde später saß ich mit Richard, den sie meines Verrates wegen von zuhause abholten auf dem Wolgaster Rathausturm. Zur Strafe sollten und wollten wir Panzerwache halten. Waren die russischen Panzer noch dreißig oder nur drei oder zwei Kilometer von uns entfernt? An diesem späten Abend gab es nur diese eine Frage, die uns alle bewegte.

Gegen elf Uhr muss Gerda auf die Idee gekommen sein, zu meiner Mutter zu rennen und ihr zu erzählen, was sie wusste und vermutete. Mutter machte sich sofort auf den kurzen Weg zur Polizeistation, die sich im Rathaus befand. Sie war von meiner absoluten Unschuld überzeugt. Wer weiß, was sich die Polizisten letztendlich ausgedacht hatten. Unschuldige Kinder einsperren war das Einzige, was die Herren sich in ihrer Ratlosigkeit noch einfallen ließen. In dieser Überzeugung betrat sie - wie sie mir später erzählte - wutentbrannt die verqualmte Bude im Erdgeschoss, des Rathauses.        

Infolge dieser Überzeugung regte sie sich auf und griff die bösen Buhmänner mit scharfen Worten an. Es sei unerhört, in letzter Minute ihrer Machtausübung noch einmal die Muskeln spielen zu lassen. Sie verlange die sofortige Freilassung ihres Sohnes, der niemanden auch nur ein Haar krümmen könnte. Herrn Wallis, den Oberen, kannte sie persönlich. Der besuchte die Baptistenstunden und so seine Kinder. Das hätte sie von ihm nicht gedacht.

So ein frommer Mann! Die anderen vier oder fünf Männer pafften dicke Zigarren. Angesichts des Umstandes, dass binnen weniger Stunden die Russen sie festnehmen werden, waren sie hoch nervös. Sie saßen in der Todesfalle, wegen der berechtigten Vermutung, falls sie zu früh fliehen würden, könnten sie von den noch anwesenden fanatischen SS-Soldaten geschnappt und aufgehängt werden.  


                                                                        Wolgaster Rathaus                          

  Fahnenflucht galt als todeswürdiges Verbrechen.   Ihr Schicksal war besiegelt Stöhnend und pustend setzte sich der rotköpfige Wallis den Tschako (Helm) auf und bestieg die schmale Treppe zum engen offenen Raum, wo wir nichtsahnend vor uns hinstarrten. Wir hockten da inmitten des schweigenden Nachthimmels und wunderten uns über die Ruhe.

Warum hörten wir nicht das Wummern der feindlichen Geschütze oder das Getöse von Frontkämpfen? Noch dachten wir illusorisch.

„Schert euch nach Hause!“  Verwundert und verwirrt, wie ich war, warf ich noch einen Blick auf das im Sternenlicht blinkende Wasser des Peenestroms und des Spitzenhörn, wo ich gerne geangelt hatte.

Am nächsten Morgen fiel mir ein, dass die Conseurs und Schmidts ebenfalls geflohen seien. Nahe dem Gaswerk hielten sie in kleinen Buchten ebenfalls Kaninchen. Der Schmidtsohn hatte mir am Vortag einen Tipp gegeben.

Nichts, gar nichts warnte mich. Die kleinen Ställchen waren natürlich leer. Missmutig machte ich mich auf den Heimweg, wählte den kürzesten Weg. Der führte über die Schienen des Hauptbahnhofes zu dem des Hafens.

Fast am Ziel angekommen wurde ich heftig angeschrien: „Stopp!“

Gewohnt zu gehorchen, wenn ein Militär oder Uniformierten befahl, erstarrte ich. Ein blutjunger Soldat stand am schmalen Bahnsteig Er schlug die Hand vor seinen Mund. Dann wiederholte er scharf „Steh!“

 Mein instinktiver Gehorsam rettete mein Leben. Ich befand mich mitten in einem Minenfeld.

In meiner Verspieltheit sprang ich bislang von einer Schienenbohle zur nächsten, die ich gerade verlassen wollte. „Siehst du nicht die Hügel? Minen! Die hätten dich zerfetzt!“ Die Minen mussten sie gerade verlegt haben, denn nun konnte ich erkennen um was es sich handelte.

Wäre der Landser nicht gewesen…


Der Erste Russe

 

Am 30. April um acht Uhr morgens heulte etwas. Gleichzeitig bebte das alte Fachwerkhaus Langestraße 17. Die feindliche Granate flog vermutlich nur wenige Meter an den oberen Fenstern unserer Wohnung vorbei. Bevor ich nachdenken konnte, krachte es. Zwei Menschen, die auf der Straße in der Nähe des Rathauses standen und hinausschauten, wurden in Stücke gerissen.

Gegen zehn Uhr vormittags radelten zwei Soldaten die Wilhelmstraße entlang, wo Gerda und Richard wohnten. Ein Offizier der Marine und ein Unteroffizier der Wehrmacht. Sie zeigten ihre Maschinenpistolen und prahlten damit, 50 weitere Soldaten der Roten Armee „niedergemäht“ zu haben. Sie schauten auf ihre Uhren. Das musste etwas bedeuten.

Ein Fenster öffnete sich. Zu den vielen weißen Fahnen, die bereits an zahlreichen Fenstern um uns herumhingen, kam noch eine weitere hinzu.  Dann schrie der Unteroffizier. „Das ist Feigheit. Wir halten immer noch die Stellung!“ Sie fuhren weg in Richtung Hafen.

Richard zog mich mit sich. Gerda sah mich wieder seltsam an. Ihr Blick regte mich zu neuen Gedanken an: Was sagten ihre Augen?

Hat sie mich wortlos gefragt? „Du und nicht die Russen?“

Richard ging irgendwohin durch die Küchentür. Wir blieben. Wie schön sie aussah. Gerda sagte nun flüsternd: „Wenn dich keine will, nehme ich dich.“

Angst öffnete ihren Mund. Aus vielen Zeitungsberichten der nationalsozialistischen Presse wussten wir, dass die brutalen unter den Eroberer Frauen wie wilde Tiere jagten.

Sie standen bereits an der Schwelle

Meine Fantasie übernahm kurzfristig die Oberhand. Mein Freund kam binnen Sekunden zurück und schimpfte vor sich hin. Ein Ungeheuer überfiel uns jäh. Eine Detonation die nur eine Riesenbombe erzeugen konnte warf uns zu Boden.

Es musste in unmittelbarer Nachbarschaft gewaltiger Schaden entstanden sein. Langestraße 17 war nur einhundert Meter entfernt.

„Mutter!“  Meine Geschwister Helga und Helmut. Sofort wollte ich mir Gewissheit verschaffen und sei sie noch so schrecklich. Wie ein Irrer warf ich mich gegen die Haustür, die sich nicht öffnen ließ. Und wenn ich sie aus den Trümmern herausholen muss, ich will es wissen. Erst als Richard und Gerda mir halfen die verklemmte, nach außen öffnende Tür zu überwinden sollte es gelingen. Mit fliegenden Beinen kam ich an.  Unser Haus stand unversehrt da. Aber die großen Schaufenster der uns gegenüberliegenden Reuscheldrogerie waren zerborsten.

Gottseidank. Wenn das alles war. Kaum getröstet, rief eine hohe Stimme: „Sie haben die Peenebrücke gesprengt.“

Ich ging nicht hinein in unser Haus. Mich trieb es nun vorwärts. Wohin ich auch kam, überall dasselbe, es betraf weniger die kleinen Fenster.


Irgendwie wuchs, alledem zum Trotz, in mir die Lust zu leben. Wolgast war mit diesem Schlag, wenn auch vielleicht nur für wenige Stunden zur gesetzlosen Zone geworden. Niemandsland. Es gab weder die Polizei noch eine andere Ordnungsmacht mehr. Die glassplittrigen Öffnungen der Lebensmittelläden und des Gaugergeschäftes für Konfektions- und Schuhwaren am Marktplatz luden mich, nachdem ich umherstreunte, zur Selbstbedienung ein.

Ich widersprach mir nicht, ging die wenigen Schritte eiligst und betrat ungeniert den Bereich für Herrenkleidung zur Rechten. Ich gehörte nicht zu den Ersten, sah die magere Ausstattung des Ladens. Im Begriff schamlos zuzugreifen und zu klauen was mir begehrenswert erschien, beeinflusste mich ein schon früher erlebtes Gefühl das mir im Klartext sagte: Tu es nicht! Das erstaunte und lähmte mich, zunächst, - bis ich mir dreist herausnahm zu sagen: Ach was. Sei nicht so dumm. Es strömten immer mehr Leute ins mittlerweile sperrangelweit geöffnete Geschäft hinein.

In kurzem Moment sah ich. im Geist, das noble Gesicht des Besitzers Heller vor mir, wie er an der Kasse sitzt, während meine Mutter den Betrag entrichtet für meinen neuen Anzug mit den Knickerbockerhosen, den ich mehr oder weniger stolz ab 1943 sonntags trug. Die feine, leicht gezogene Nase verlieh diesem ruhigen Gesicht eine selten anzutreffende natürliche Vornehmheit.  Mir schien, er schaute zu, wie ich eine leichte, grüne Alltagshose an mich nahm. Die herumwirbelnden Menschen kamen mir nun sekundenlang vor wie irrsinnig Tanzende. Einige zankten sich. Alles raste, die Gedanken, das Blut, die Frauen. Mein Lebensgefühl wankte. Meine Wünsche wechselten hin und her.

Jetzt ist jetzt. Eine gute Zukunft wird es nicht geben.

Dennoch blieb das Licht der Hoffnung hartnäckig, während andere Wolgaster in tiefem Pessimismus sich und ihren Kindern Steine um die Hals banden. um miteinander in die Peene zu springen.

Mir schien, auch ich sei verrückt geworden. Es war ein stetes hin und her. Man muss doch ordentlich handeln. Und dann wieder: Mache ab jetzt mehr aus deinen Chancen, falls es noch mehr geben sollte. Die Hose noch in der Hand verließ ich den schrecklichen Ort. Ich wollte sie nicht mehr haben und legte sie auf die offene Luke zum Kellereingang, von wo sie bald verschwand. Inkonstant, wie ich war, kam nur Minuten später freche Furchtlosigkeit über mich: Mundraub ist erlaubt! Zum Kuckuck, es muss doch bei Anderson versteckte Schokolade oder wenigstens Bonbon geben. Von Ersterem gar nicht zu reden hatte ich seit Jahren edle Süßigkeiten entbehrt.

Während der Zeit vor unserer Verschickung nach Groß Mölln bin ich an der Fassade das Hauses hochgeklettert und durch das obere, immer offenstehende Fenster in die sonst verschlossene Wohnung eingedrungen um Mutters Zuckerdose um einige Gramm zu erleichtern.

So rannte ich los um nur nicht der Allerletzte zu sein. In der Tat, mindestens zwanzig Frauen suchten dasselbe wie ich, oder nur Margarine, Zucker oder Grieß. Natürlich, wegen der zunehmenden Ungewissheit, mussten sie etwas heimtragen, das die Kinder benötigten. Fast rücksichtslos mischte ich mit. Ich wusste noch nicht, dass ein verletztes Gewissen mit der Verkleinerung seines Potentials einhergeht, und, dass es durch stete Misshandlung sogar zu seinem Verstummen gebracht werden kann.

Ich fand ein verstecktes Margarineregal. Über meinem Kopf schrie jemand: „Ich habe es gewusst!“ Jemand griff danach. Frauen rissen dem Mann der auf der Leiter stand den Pappeimer aus den Händen. Der Karton zerbrach und die Kaffeebohnen fielen auf meinen Kopf und rieselten zu Boden. Eine schwanger gehende Frau fing an, Gläser durch die Luft zu werfen, voller Wut, weil sie nur Rote Bete enthielten und nicht gewünschtes Obst. Wo immer die Gefäße landeten, wurde der Boden dunkel gefärbt.

Höllisches Spektakel. Der Ladenbesitzer, Herr Anderson, erschien am Tatort. Er war ein kleiner 50-jähriger Mann mit großem kahlem Kopf. "Meine Damen! Meine Damen!" klagte er und rang seine weißen Hände. Eine der Frauen kam auf ihn zu: „Ich bin nicht ihre Dame!“ Sie warf ihm eins der Gläser vor die Füße. Der arme Mann, jetzt mit Saft bespritzt, schnappte nach Luft.  Doch wie sollten Männer jemals die Ängste der Frauen in dieser Zeit, der auf uns zu rückende russische Invasion, wirklich verstehen? „Die Feindarmee wird kommen und wir sind deren Opfer!“ 

Im Durcheinander hatte ich es geschafft, 16 Stücke Margarine einzusammeln, die ich, verpackt in einer Schachtel, mit nach Hause nahm. Dann kehrte ich zurück, um einen weiteren Diebstahl zu begehen, ohne mich mehr um mein Gewissen zu kümmern. Als ich um die Ecke unserer Straße bog, sah ich meinen 9-jährigen Bruder Helmut mit einem großen runden Käse, der fast so hoch war wie er selbst. Er kam den sanften Hang der Straße hinunter und rollte das Raubgut, das ja einem Rad glich direkt auf mich zu.  Nicht viel weiter die Straße hinauf befand sich der aus mehreren Stockwerken bestehende Großvorrat an Lebensmitteln von Herrn Kriwitz. Dort, wie überall sonst, beging die Bevölkerung aus Panik Ladendiebstahl in erheblichem Umfang, in der möglicherweise zutreffenden Annahme alles würde sonst in Russenhände fallen.

Es wäre leicht gewesen, einem 9-Jährigen solchen Besitz wegzunehmen. Doch das geschah nicht Das Bild meines kleinen Bruders und des riesigen Käselaibs wird für immer in meinem Gedächtnis haften bleiben. Der kleine blonde Wuschelkopf lachte mich an. „Warte“, dachte ich, „warte. Hier stimmt etwas ganz und gar nicht.“Die Erkenntnis, dass das, was wir getan hatten, doch nicht richtig war, und die Forderung, den Käse zurückzugeben, fielen im selben Atemzug. „Das ist Diebstahl“, schnappte ich. Er erwiderte meine Reaktion mit einem unbekümmerten Grinsen. Für ihn hat es einfach Spaß gemacht. Schließlich erforderte das Rollen eines so großen Objekts einiges an Geschick. Er gehorchte.

Allerdings entwickelte sich in mir nun ein völlig anderes Konzept. Ich kam zu dem Schluss, dass ich alles, was wir mitgenommen hatten, zurückgeben musste, und genau das habe ich auch getan, denn schlagartig wusste ich: Selbst die schlimmsten Russen würden uns nicht verhungern lassen. Aber, wenn wir alles vorzeitig aufteilen wird es zu selbstverschuldeten Engpässen kommen.

Plötzlich wollte ich wieder ein guter Deutscher sein.

Neugierig verließ ich den Keller, in dem die Frauen angsterfüllt, vor dem was ihnen nun drohte, dasaßen. Ein paar Minuten später sah ich den ersten russischen Soldaten.  Er bog von der Breiten Straße kommend in die Lange Straße, wo ich vor dem Besch-Uhrenmacher-geschäft so gut wie sorglos abwartete. Der große Mann kam die Waffe auf mich gerichtet näher und ich schaute in den höchstens drei Meter entfernten schwarzen Lauf seiner Armeepistole. Ich war erstaunt, weil ich eine ganz andere Vorstellung vom Feind hatte, und, weil ich keine Angst empfand.

Jahrelang hatte ich der Nazi-Propaganda zugehört, die von den Sowjets, das Bild von minderwertigen Menschen zeichnete. Zudem hatte ich die halb verhungerten, zerlumpten, elend dahin taumelnden Kreaturen gesehen. Wie Vieh wurden sie durch Wolgast in weiter westwärts liegende Gefangenenlager getrieben. Erbarmungslos, wie ich damals noch war, erkannte ich in ihnen nicht meine Mitmenschen.  Mir kam jetzt jedoch der Gedanke: „da befindet sie ein Held vor dir!“ Er trug einen hohen Hut aus dunklem Lammfell und über seiner Uniform einen weiten schwarzen Umhang.

Er verzog keine Miene.   Rundherum gab es Fenster, Türen und Ecken, aus denen ein tödlicher Schuss abgefeuert werden konnte. Er ging leichtfüßig weiter als sei ich Luft, zeigte keine Eile und schaute beim Weitergehen weder nach links noch nach rechts. Meine Augen folgten ihm nachdenklich. Lange nachdem er verschwunden war, blieb ich stehen, und fragte mich: „Sind sie wirklich so?“

Mir war noch nicht klar, dass es nicht die Uniform, nicht das Aussehen war, das Gut vom Böse trennte. So habe ich in nur wenigen Augenblicken eine der wichtigsten Lektionen meines Lebens gelernt. So seltsam es auch erscheinen mag. Irgendwie fühlte ich mich zu diesem Fremden hingezogen – wenn auch nur für ein paar Sekunden. Mir wurde klar, wie falsch meine Einstellung mein bisheriges Leben hindurch gewesen war.

Nur etwa eine dreiviertel Stunde später sah ich einen deutschen Fallschirmspringer, der seinen runden Stahlhelm in der Hand trug, und einen jungen russischen Offizier in Uniform. Ich ging etwas näher heran. Sie diskutierten, vor dem Gaugergeschäft, über die Zukunft und die Frage, was aus Deutschland werden würde, nachdem das Dritte Reich der Ära Adolf Hitler zusammengebrochen war. Die überraschende Antwort des fließend deutschsprechenden russischen Journalisten lautete: „Wir brauchen etwas, das alle Nationen zusammenhält.“

Da traf es mich! „Wir brauchen etwas, das alle Nationen friedlich zusammenhält.“ Mir schien ich würde Zeit überspringen. Ich sah Zusammenhänge. Ich vernahm noch, dass der gefangene Fallschirmjäger die implizite Einladung nicht ablehnte… „Es muss eine neue Ideologie geben!“


Das war es…Es betraf uns allesamt. Aber dann! Nur eine Stunde später rollten auf zahllosen primitiven Panjewagen hunderte vielleicht tausende neue Soldaten ganz anderer Art in unsere Stadt hinein. Horden hemmungsloser, wilder Männer füllten die Straßen. Ich überredete den alten Herrn Gottschalk, auch „Leller“ genannt, unseren Helfer in unserer kleinen Firma, mit mir die neue Szene zu erkunden. Zuerst war er überrascht, dass ihn die Russen nicht belästigten. Es dauerte jedoch nicht lange, bis ein sehr junger Soldat der Roten Armee, gekleidet in ein dünnes, dunkelgrünes Baumwollhemd, dem gebeugten, rheumatischen alten Mann seine goldene Uhr abnahm. Zwei große Tränen rollten über seine faltigen Wangen, als er sich umdrehte und gestützt auf seinem Stock, nach Hause humpelte.

Was er verloren hatte, war außer seinem Bett, sein einziger Besitz gewesen. Schreiende Frauen stürmten an uns vorbei, Soldaten verfolgten sie. Ein Schuss fiel und wir traten beiseite, um die wütende Menge von Räubern und Vergewaltigern an uns vorbeizulassen. Meine Verwirrung über alles, was ich gesehen hatte, war so groß, dass ich reflexartig meine rechte Hand hob und „Heil, Hitler“ rief, als ein älterer russischer Offizier auf mich zukam. Der Mann in seiner grünen Uniform muss meinen Schock bemerkt haben.

Er hätte über einen solchen Ausbruch verärgert sein und mich auf der Stelle erschießen können – schließlich befanden wir uns immer noch im Krieg! Fast Erwachsene wie ich standen noch unter Verdacht, im Dienst des „Werwolfs“ zu stehen, einer Gruppe die seit 44 unter diesem Geheimzeichen in Russisch eroberten Gebieten weiterkämpfen sollte: Und ich Narr, habe meinen faschistischen Hintergrund gezeigt.

Er sah mich, zum Glück, lediglich kopfschüttelnd an, hob den Zeigefinger mahnend wie ein weiser Vater, lächelte überlegen, und legte denselben Finger an die Stirn, drehte sich um und ging weiter. Später traten mir andere Soldaten mit ihren Stiefeln in den Hintern, nur weil ich sie auf meine zugegeben etwa dreiste Weise anschaute. Als die Schießereien zwischen Deutschen und Russen erneut begannen, flohen wir in unseren Keller. Dort saßen wir zwei Tage und Nächte lang in völliger Dunkelheit auf Holzbänken und lauschten dem Artilleriefeuer und den Explosionen. Deutscherseits kamen die Geschosse von der nahegelegenen Insel Usedom. Die Frauen achteten voll zusätzlicher Angst auf jedes Geräusch, das von oben kam. Wurde die Haustür geöffnet? Würden deren Schritte in den Keller führen? Würden Bestien in Menschengestalt sie angreifen?

Am dritten Tag kam eine große junge Dame hinzu. Sie setzte sich neben mich, weinte und erzählte den anderen Frauen in meiner Gegenwart, dass sie vergewaltigt worden war, wie sie geflohen sei und sich versteckt hielt.

Ich erfuhr Dinge die mir neu waren.  In ihrer Verzweiflung erinnerte sie sich an die Langestraße 17 und Frau Stolp, unsere Nachbarin. Sie hoffte, dort Schutz zu finden, denn die alte Dame war Mitglied der Kommunistischen Partei und eine persönliche Freundin von Rosa Luxemburg gewesen. Sie musste Sonderstatus genießen. Nur Frau Stolp konnte sie beschirmen Wie es das Schicksal wollte, war die Altkommunistin zwei Tage zuvor verstorben. Sie stürzte die steile Treppe herunter die zu ihrer Wohnung führte. Da die junge Dame Angst hatte, sich noch einmal auf die Straße zu wagen, saßen wir nebeneinander im kalten, dunklen Keller. Ich fand es äußerst angenehm zu wissen, dass mein Schoß zu einem Kissen für ihren Kopf geworden war. Völlig erschöpft weinte sie sich in den Schlaf. Mehrmals in der Nacht zuckte ihr Körper vor Angst. Sanft fuhr ich mit meiner Hand über ihren Kopf und ihre Wange, um sie zu beruhigen, und sie hatte nichts dagegen.

In der fünften oder sechsten Nacht schienen die Geräusche von draußen nicht mehr so heftig zu sein, also beschloss ich, wieder nach oben zu gehen, um in meinem Bett zu schlafen. Der alte Freund „Leller“ tat dasselbe. In der Ferne, einige hundert Meter entfernt, hörten wir noch immer das Grollen von Granaten. Im Handumdrehen fielen wir in den tiefen Schlaf.

 

Nach dem Krieg

 

Die Schießerei wurde am 8. Mai endgültig eingestellt. Ich wagte mich wieder auf die Straße. Überall, wo ich hinschaute, sah ich betrunkene russische Soldaten. Sie hatten eine Kuh an einen alten Bauernkarren gebunden, auf denen weinselige, jubelnde junge Soldaten saßen und durch die Straßen rollten. Das um ihren Hals gebundene Seil erstickte das Tier nicht ganz und gar, obwohl es gefallen war.  Es wurde gnadenlos über das Kopfsteinpflaster geschleift und hinterließ eine Blutspur. Meine Augen folgten der gemarterten Kreatur und die Gedanken, die mir in den Sinn kamen, waren: „Dies ist ein Sinnbild für Krieg und Sieg. So sieht es aus.“

Auffallend viele junge Frauen gingen schwanger. Ich vernahm mancherlei, wenn wir gemeinsam in langer Menschenschlange um Brot vor einer der noch intakten Bäckerei anstanden.

Eine alte Frau fragte: “Wie konntet ihr euch entschließen in diesen Zeiten ein Kind zu haben?“ Die Antwort lautete: „Oma, weißt du, was Soldaten uns sagten, wenn sie vom Fronturlaub heimkamen? Mädel, ich komme nicht wieder. Sie wussten es. Ich wollte etwas Lebendiges von ihm behalten!“

Sie hatten verwüstete Orte gesehen. Völlig verstört hatten sie zu viel erlebt. Ihre Ehemänner, Väter und Brüder waren nun Gefangene im unwirtlichsten Land der Erde, tot oder verkrüppelt. Es gab keine andere Hoffnung, keine andere Zukunft. Aber, wir sahen auch Männer der Roten Armee, die aus der rasenden Menge herausstachen, disziplinierte, gebildete wie der erste Russe, dem ich begegnete.

Ich erinnere mich an den Tag, als ein Konvoi installierter LKW-Raketen (Stalin Orgeln) vor unserem Haus anhielt. Inmitten disziplinierter Soldaten saß mein kleiner Bruder. Auf seinen strohblonden Kopf hatten sie einen riesigen, dunklen Stahlhelm gesetzt. Lachend reichten sie ihn herum wie eine Stoffpuppe und gaben ihm Kekse. Was sie amüsant fanden, war, dass der kleine Kerl ein braunes und ein blaues Auge hatte. Diese Männer waren äußerst zivilisiert, da keiner von ihnen das Fahrzeug verließ, um in unser Haus einzudringen um es auszurauben. Viele Einheimische beleidigten wahllos alle Russen. Das war wirklich nicht fair. Es gab Soldaten, die zu uns nach Hause kamen und versuchten, auf unserem Klavier zu spielen, aber sie waren fast immer freundlich. Zu diesem Zeitpunkt konnte ich mir noch nicht erklären, warum Menschen aus der gleichen Umgebung aus demselben Hintergrund kommend sich gut oder grottenschlecht aufführten.

 

Im Juli 1945 arbeitete ich für die Rote Armee auf der noch heute bestehenden Wolgaster Werft. Damals wurde dort Zellmehl hergestellt. Ein kleines, kohlegetriebenes Kraftwerk befand sich dort ebenfalls. Wir mussten brikettgefüllte Waggons entladen. Mir schien, dass viele Leute die hier arbeiten mussten, sich häufig in den riesigen Hallen versteckten. Pärchen schliefen zwischen den tausenden Säcken Zellmehl. Auch wir hatten es nicht besonders eilig mit unserer Schaufelei. Hin und wieder wurden wir von bewaffneten Rotarmisten kontrolliert. Dann legten wir los, dass es nur so staubte. Abends mussten wir unsere ehemaligen Schulranzen öffnen. Am Eingang schauten die Soldaten hinein. Wir nahmen stets ein paar Brikett mit nach Hause. Wir meinten, dass sei gerechten Lohn für die Zeit die wir zu opfern hatten. Ähnlich dachten die jungen Russen, die stets Machorka qualmten. Einmal zählte der Kontrolleur sieben kiloschwere Briketts und fluchte entsetzlich. Mit erhobenen sechs Fingern bedeutete er mir, wo die Grenze war. Ich sei ein Dieb. „Zapzarap nix karascho.“ Wir lernten, wir verstanden: Schließlich hätten wir uns an russische Gepflogenheiten zu orientieren. Es gab auch Zuckerrübenschnitzel aus denen wir Sirup kochten. Ich akzeptierte, dass etwa vier Kilogramm Schnitzel als tägliche legitime Beute galten. Da gab es Leute wie den 50-jährigen Friseur Bikowski, der zuvor Tabakwaren auf dem Schloßplatz verkaufte, wo sein kleines, schönes Haus einst, in unmittelbarer Nähe zur Peenebrücke stand. Die Druckwelle infolge der Brückensprengung hatte es dem Erdboden gleich gemacht. Er saß stets auf einem Tor Steg der Kohlewagen und rauchte. Sobald die russischen Aufpasser auch nur in Sichtweite kamen, klopfte er seine Schippe geräuschvoll gegen die Metallwand des Waggons und stöhnte laut. Ich fand ihn nie anders.

Aus Langeweile und Torheit schwammen meine Freunde und ich, während einer Mittagspause etwa 150 Meter auf die andere Seite der Peene, an das Ufer der Insel Usedom. Niemand durfte dieses kleine Stück Land betreten.  Nur teilweise durch Stacheldraht geschützt, lagerte dort eine riesige Ansammlung zurückgelassener deutscher Waffen. Denn dort befand sich eine der letzten Hauptkampflinien des Krieges: Dutzende große Holzkisten mit Munition aller Art warteten nur auf uns. Große Warnschilder die uns die Todesstrafe androhten beeindruckten uns nicht. Jungs bleiben Jungs – und manchmal sind sie einfach nur dumm! Innerhalb weniger Minuten schnappten wir uns Gewehre und begannen in die Luft zu schießen.

Munition, die wir gefunden und verwendet haben, war Leuchtspur-munition! Was für eine wunderbare Lichtshow!

Wir malten die erstaunlichsten Lichtstreifen in den endlosen blauen Himmel. Dass andere nun genau wussten, wo wir uns befanden, störte uns zunächst nicht. Schließlich konnten wir schnell schwimmen und uns verstecken. Ich für meinen Teil fühlte mich wie Robinson Crusoe auf seiner abgelegenen, freien Insel – einer Welt, die niemandem außer ihm gehörte. Allerdings lag Klein-Zinnowitz nicht im Pazifik – es war nur einen halben Kilometer von Wolgast entfernt.

Zu diesem Zeitpunkt ignorierten wir, dass die Russen immer noch rachsüchtig und wütend auf die Deutschen waren, dass sie uns packen und wirklich an die Wand stellen würden. Wir haben es mutig und mutwillig gewagt, ihre Gesetze zu brechen. Plötzlich hörten wir das typische Summen eines Tieffliegers. Bald sahen wir einen riesigen Doppeldecker auf uns zukommen. Wie ein bunter Käfer schwebte er heran. Nicht mehr als 80 Meter über unseren Köpfen. Wir starrten auf den großen roten sowjetischen Stern auf seinen hellblauen Flügeln. Wir sahen den Kopf des Piloten. Er aber konnte uns nicht entdecken. Sieben Gewehre waren auf dieses riesige Ziel gerichtet. Und unsere Mütter hielten uns allesamt für brave Jungs. Denn jeden Abend brachten wir Nützliches heim. Zu unserem ewigen Segen hat keiner von uns den Kopf verloren und geschossen.

Was oder wer hat uns vor diesem tödlichen Spiel gerettet? Ich weiß nur, dass es keiner von uns war. Der Name unseres rettenden Engels war Buena Bergemann. Er erschien plötzlich. Auch er war wie wir früher Mitglied der Hitlerjugend gewesen. Er tauchte unversehens hinter dem Stacheldrahtzaun auf und schrie: „Was zum Teufel macht ihr Idioten?“ Sieben besiegte, sonst so clevere Jungs legten beschämt ihre neu entdeckten Spielzeuge auf den Boden.

In diesem Moment bemerkten wir, dass in einiger Entfernung, nämlich in der Nähe der großen Brücke, etwa 800 Meter entfernt, ein Boot der Militärpolizei kreiste. Wenn die Militärpolizei uns erwischt, wäre das definitiv unser Ende. Wir mussten so schnell wie möglich fliehen. Zu viele Augen hatten unser Spiel gesehen. Zu viele Ohren hatten das Abfeuern unserer Pistolen und Karabiner gehört. Als wir, nach heftigem kraulen die Leiter zum Pier hinaufstiegen, dachten wir: „Wir sind außer Gefahr.“ Doch dort warteten die russischen Soldaten auf uns und zogen uns über die Böschung. Niemand kann alle Konsequenzen seines Handelns vorhersehen, selbst wenn seine guten Absichten auf Steintafeln geschrieben stünden, geschweige denn, wenn seine Motive böse wären. Wir standen fast nackt da, umgeben von Soldaten, die ihre Maschinengewehre auf uns gerichtet hatten.  Zitternd in unseren abgewetzten schwarzen Badehosen schauten wir auf die reglosen Bewaffneten.  Alles in uns und um uns herum erstarrte – sogar die Zeit. Endlich! Ein Jeep kam mit hoher Geschwindigkeit auf uns zu, gefolgt von einer Staubwolke. Ein riesiger Mann in grüner Uniform erhob sich, „der Stadt-kommandant“! Seine Brust war mit vielen Medaillen geschmückt. Neben ihm saß ein junger, dürrer Fahrer.

Sobald der Jeep zum Stehen kam, sprang der Offizier von seinem Sitz. Mit breiter Brust und schweren Schritten, den riesigen Kopf zum Boden gesenkt, schritt er auf uns zu, wie ein gereizter Stier. Er war zum Racheengel für alles geworden, was die SS und die deutsche Wehrmacht seinem Volk angetan hatten. Alle Augen waren auf ihn gerichtet. Er war offensichtlich bereit, alles zu vernichten, was ihm ungut erschien. Er kontrollierte die Szene vollständig. Ein Wort, eine Handbewegung seinerseits und alles, was wir zuletzt gesehen hätten, wäre das Blitzfeuer aus den „Spagin“-Maschinengewehren. Der Riese brüllte wie ein verwundetes Tier. Doch je länger er schrie, desto mehr hofften wir, dass die auf uns gerichteten Waffen nicht abgefeuert würden. Irgendwie hatte ich für ein paar Sekunden sogar die leise Hoffnung, dass sie uns gehen lassen würden. Wir wussten nicht, dass zwischen Leben und Tod die gefrorenen Ebenen Sibiriens oder Karagandas liegen und nur auf Kriminelle wie uns warteten. Viele Gedanken schwirrten in meinem Kopf herum und verursachten letztendlich das totale Chaos. Ich bin überhaupt zu keinem Schluss gekommen. Am Ende konzentrierte sich meine ganze Sehnsucht auf einen verrückten Wunsch: dass ein Wunder geschehen würde. Unser Arbeitsleiter Herr Kell ein bekanntes Mitglied der Kommunistischen Partei wagte es sich dem grimmigen Kommandanten entgegen zu stellen, während die Soldaten schweigend mit ihren Waffen dastanden und immer noch auf die Weisung ihres Kommandeurs warteten. In scharfem Ton sprachen drei Männer laut und schwangen ihre langen Arme hin und her, während der Wortfluss übersetzt wurde. Zuerst haben wir überhaupt nichts verstanden. Mr. Kell, mit der roten Schleife um den Arm, ein ruhiger, freundlicher Mann, schwor sein eigenes Leben, um uns zu retten. Er garantiere, dass so etwas nie wieder passieren wird. Das Unglaubliche geschah.

Der russische Offizier mit seinem grimmigen Gesicht und der übergroßen Nase erwies sich uns gegenüber barmherzig. Vielleicht hatte die SS seine eigenen Söhne erschossen, vielleicht hatten sie das gleiche jüdische Aussehen wie ihr Vater. Am Ende entschied er: „Lauft ihr Banditen!“

Wir rannten in alle Richtungen davon. Ich kroch in einen kleinen Raum im Maschinenraum, wo ich lange Zeit wie gelähmt saß. Zu Hause gab es kein einziges Wort darüber. Die schlimme Nachricht erreicht die Familie irgendwann, wenn alles der fernen Vergangenheit angehört. Was war wirklich passiert? Hunderte, ja, Tausende von Menschen, die weniger begangen hatten als wir, wurden in die Todesfallen von Konzentrationslagern wie Waldheim zum Sterben geschickt oder ihrer Gesundheit für immer beraubt. In den Gulag-Gefangenenlagern von Irkutsk litten Zehntausende die weitaus weniger als wir verbrochen hatten. Die meisten von ihnen kehrten nie wieder nach Hause zurück. Zwei meiner Freunde sollten ein ähnliches Schicksal erleben.

Kurz darauf machte ich mich auf die Suche nach einem geeigneten Ort, um die Kamera meines Vaters vor den Russen zu verstecken.   Sie hatten angeordnet, dass alle Fahrräder, Kameras und Radios abgegeben werden müssen. auch Klaviere usw. Ich entdeckte auf unserem Dachboden eine verschlossene Kiste, die ich öffnete, und fand antimormonische Literatur.  Bücher, die jeweils von Pastor Zimmer und Pastor Rößle verfasst worden waren. Vater hatte diese Werke offensichtlich gelesen, um eine Entscheidung über seine Zukunft zu treffen. Wenn er die Literatur unten im Bücherregal gelassen hätte, wäre ich wahrscheinlich nicht von Neugier angetrieben worden.  Aber jetzt reizte mich das Verborgene. Etwas Magisches erwartete mich. Etwas, das nur darauf wartete, entdeckt zu werden. Ich machte es mir unter einem der kleinen Fenster bequem und las hoch konzentriert beide – das des Pfarrer G. A, Zimmer: „Unter den Mormonen in Utah“ 1907 veröffentlicht, sowie das Werk Rößles „Aus der Welt des Mormonentums“ 1930.

Und das geschah, während draußen noch große Unsicherheit dominierte. Die Berichte dieser beiden Pastoren hatten eine seltsame, aber starke Wirkung auf mich. Sie waren fesselnder geschrieben als die Romane von Karl May, von den ich zuvor 5 oder sechs Bücher geradezu verschlungen hatte.  Mein Gefühl, dass hier etwas von großer Bedeutung für mein zukünftiges Leben vorlag, wuchs.

Mit jeder Seite, die ich umblätterte, kam mein Wunsch auf, die Religion und Kirche meines Vaters, der ich nur nominell angehörte, gründlich zu erkunden.

Allerdings wollte und konnte ich mich erinnern. 

Wenige Tage vor dem Ausbruch des 2. Weltkrieges wurde ich, auf Wunsch meines Vaters von einem sehr jungen Mormonenältesten in Wolgast, im Peenestrom getauft.   Um was es ging begriff ich als damals neunjähriger nicht, außer, dass es sich um etwas Gutes handelt. 

Es war mein Geburtstag. Geschenke erhielt ich nicht. Aber, als ich aus dem Wasser wieder auftauchte, fühlte ich pure Freude, die längere Zeit anhielt.

Ich staunte wenige Tage danach, dass mich gleichaltrige auf dem Schulhof spottend umrundeten und mich höhnisch einen „Heiligen“ nannten. Mir war damals keineswegs bewusst, dass ich nun der „Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage“ angehörte. Welch ausfallender Name.

Erst einige Jahrzehnte später erfuhr ich, dass es um das Jahr 160, im vorderasiatischen Raum eine gewisse Urchristengruppe gab die sich ebenfalls die „Gemeinde der Heiligen der Letzten Tage“ nannte und dass Kirchenvater Tertullian Teil von ihnen war.  F. Loofs, Dogmengeschichte, Halle Saale-Verlag 1950

Im Verlaufe der Kriegsjahre nahm ich nur kleine Bruchstücke von jener Religion   auf, die mein späteres Leben erfüllen wollte. Vater, ein Pazifist durch und durch, bedauerte, dass er wegen Hitlers ungerechtfertigte Kriege, seinen Einfluss auf mich verlieren würde. Die nächste Mitgliederfamilie lebte in 100 km Entfernung. Er ahnte es schon:

 Mutters Einfluss würde ich selten zulassen, und so stand ich bald eigenständig im Denken und Wollen da. Kurz vor Vaters Einberufung gab es noch ein mich vorübergehend be-rührendes Ereignis.  Am Strand von Zinnowitz verfolgte ich passagenweise ein längeres Gespräch, das die Missionare



                    Ältester Dzierzon, rechts Ältester Wächtler mein Bruder Helmut im Hintergrund neben unserem Vater.

Dzierzon und Rudolf Wächtler mit meinem Vater führten. Irgendwie ließ ich einiges, was sie sagten, in mein Herz sinken – und doch vergaß ich es, im Trubel der Kriegsjahre.

Einer der beiden Männer sagte sinngemäß: „Schließlich haben wir uns in der vorirdischen Welt. nach Ewigkeiten unserer Gottesschau, ziemlich gelangweilt. Gottes   Herrlichkeit war uns zur Selbstverständlichkeit geworden. Irgendwann fühlten wir Geistkinder Gottes uns einfach leer. Wir konnten keine Freude empfinden, weil wir Traurigkeit nicht kannten. Uns fehlte ein Maßstab, ähnlich so wie es Kindern superreicher Eltern ergeht.“

Die Lehre von unserem vorirdischen Dasein sei verloren gegangen. In den Theologien der Kirchen kam dieses Thema nicht mehr vor. 

Die Erschaffung des Weltalls und Planeten Erde – all diese Dinge hätten einen großen Zweck.

Zufälle alleine hätten nur Chaos zustande bringen können.

Ich hatte somit schon den berühmten Ariadnefaden flimmern gesehen, um ihn wieder aus den Augen zu verlieren.

Nun Rößles Werk in der Hand dachte ich lange nach. Erstens setzte ich bis dahin voraus, dass Pastoren keine leichtfertig gefassten Meinungen äußern dürfen. Zweitens, dass Unwahrheiten aus Geistlichenmund sich von selbst verbieten.   Rößle jedoch widersprach sich selbst und drittens, der Tonfall ließ auf Hass schließen, der Sachlichkeit kaum zulässt: Auf einer Seite behauptete er: „Unzählige Deutsche werden mit Lehren befleckt, die sie glauben machen, das sei alles himmlische Nahrung für ihre Seelen…  Diese gottlose Priesterschaft, die Tausende verführt hat, das Wort Gottes mit Füßen zu treten und die das Heilige durch den Staub zerrt... müsse entlarvt werden...  Aber dann glaubt Rössle, dass Joseph Smith vielleicht ein ehrlicher Mann war: „Sein Charakter ist sehr umstritten. Mormonen halten ihn für den größten Märtyrer des Jahrhunderts und den größten Mann, der in unserer Zeit gelebt hat. Seine Feinde nennen ihn einfach einen Lügner. Andere sagen, dass Joseph Smith selbst an seine fantastischen Offenbarungen glaubte und glaubte, er sei ein Instrument in den Händen Gottes.  Mit all diesen Fakten entwickelte er eine erstaunliche Fähigkeit, die Zukunft zu planen. Darüber hinaus verfügte er über Kenntnisse in Arbeits- und Geschäftsangelegenheiten. Seine Freundlichkeit und Liebe gegenüber allen Menschen wurde immer geschätzt, insbesondere von den bescheidenen und ungebildeten Menschen, die ihn verehrten.“ Rößle schlussfolgerte: „Staat und Kirche müssen sich vereinen, um den Mormonismus auszurotten. Ich kann es nicht laut genug betonen: Das Ziel der Mormonen ist es, die ganze Welt zu bekehren und damit die gesamte Menschheit zu versklaven. Das gesamte System ist auf dieses Ziel ausgerichtet. Dies ist der Zweck ihrer umfangreichen missionarischen Bemühungen. Man muss sich auch darüber im Klaren sein, dass der Mormonismus im Gegensatz zum Islam steht, obwohl er in vielerlei Hinsicht die gleiche Fähigkeit besitzt, sich an alle Traditionen, Situationen und Ansichten anzupassen, sogar bis zu dem Punkt, alle Glaubensrichtungen zu übernehmen.“ 

Um dem Ganzen die Krone aufzusetzen, fügte Pastor Rößle hinzu: „Diese nominell noch kleine, völlig andere Kirche wird eines Tages globalen Status erlangen. Diese amerikanische Kirche ist ein gefährlicher, oberflächlicher Glaube mit einem völligen Mangel an biblischem Wissen, unterstützt durch die Macht Satans. Unter dem Banner des Evangeliums verbreiten sie ihre Lehren. Aufgrund ihrer satanischen Kräfte wird die Mormonensekte zu einer Weltmacht und einer großen Gefahr für die Nationen der Erde werden.“   Ende der Zitate



Pastor Zimmer fand noch schlimmere Worte, obwohl er viele Mitglieder dieser Kirche persönlich kannte. Zwei Jahre lebte er mit ihnen gemeinsam. Sein Urteil wog also.


Wenn die bissigen Autoren geahnt hätten, welche Wirkung ihre Behauptungen auf Menschen meiner Art haben könnten, würden deren Feder immer noch unberührt in ihren Tintenfässern stecken.

Wusste Rößle nicht, welche typischen Voraussetzungen eine religiös- oder ideologisch ausgerichtete politische Bewegung von Weltrang haben muss, um den Rest der Menschheit zu versklaven?

Hitler, Lenin und Stalin, die tatsächlich die Versklavung der Menschheit anstrebten, mussten zunächst zu ihrem eigenen Schutz, einen militärisch ausgestatteten, hochdotierten Überwachungsapparat um sich herum aufbauen. Der nächste Schritt, den sie unternehmen mussten, bestand darin, Armeen, die aus Massen gekaufter, geistloser Menschen bestanden, mit Waffen auszurüsten. Sobald diese Strukturen deutlich sichtbar wurden, und Unschuldige willkürlich verhaftet wurden, konnte allseitig Angst auf Harmlose einwirken. Angst ist das Schlüsselwort zur Unterwerfung potentieller Opfer.

Aber Mormonismus erzeugt Freiheit des Denkens und Handelns.

Die Pastoren Rößle und Zimmer zeichneten leichtfertig Zerrbilder die tatsächliche Angst vor den Mormonen bewirkte. Bis ins 21. Jahrhundert hinein herrscht diffuse Ablehnung selbst unter sonst hoch Gebildeten, zumindest aber Desinteresse.

Während des Lesens der „Werke“ Zimmers und Rößles war mir klar geworden: Beide Pastoren empfanden sehr wohl großen Respekt vor der, dieser Religion innewohnenden Kraft. Zum anderen: Sie wollten ihrer Kirche dienen, die sie als perfekt und absolut gut betrachteten, und scheuten sich dennoch nicht etwas, eine Religion und ihre Menschen die ihnen lediglich als fremd und unbequem erschienen, vernichtend zu beurteilen. Charles Dickens (1812-1870) der scharfblickende, berühmte Autor von „David Copperfield“, „Oliver Twist“ und „A Christmas Carol“ hörte von den berüchtigten, auswanderungswilligen Mormonen – den englischen, walisischen, schottischen Mitgliedern der Kirche Jesu Christi. Dickens 38-jährig

der Heiligen der Letzten Tage. Auch er wollte sich ein Bild vom Wesen dieser Leute machen: „An einem Junimorgen im Jahr 1863 bestieg Charles Dickens das Segelschiff Amazon an einem Londoner Dock, um mit eigenen Augen zu sehen, was zu dieser Zeit ein bekanntes Phänomen geworden war: eine Gesellschaft von Mormonen, die nach Amerika und schließlich über die Grenzen der Vereinigten Staaten hinausgingen zu den Wüsten des Great Basin. Bis 1863 hatten bereits buchstäblich Tausende von Briten diese Reise und Wanderung unternommen, und die unkonventionellen Methoden der Mormonen waren bekannt geworden. Die Mormonen waren organisiert wie keine andere Gruppe. Sie hatten ihre eigene Schifffahrtsagentur, sie charterten Schiffe, sie hatten erfahrene Anführer, sie sorgten für die Überlandausrüstung, nachdem der Auswanderer an der Grenze angekommen war, und sie hatten eine Methode, den Armen durch die Selbsthilfegesellschaft Perpetual Emigrating FundCompany zu helfen. Diese einzigartigen Merkmale der mormonischen Auswanderung erregten die Aufmerksamkeit vieler, einschließlich Charles Dickens. Andere (darunter Lord Houghton, der in der Edinburgh Review vom Januar 1862 schrieb) hatten gesagt, die Atlantiküberquerung sei normalerweise nichts weniger als ein Albtraum gewesen, bemerkten aber, dass Mormonenschiffe wie eine Familie seien „mit starker und akzeptierter Disziplin, mit jeder Vorkehrung für Komfort, Anstand, und inneren Frieden." Diese Faktoren machten die Überfahrt eher zu einer humanen als zu einer gefürchteten Erfahrung, und Dickens bestätigt in seiner typisch beschreibenden Art die Ansicht, dass eine mormonische Auswanderung deutlich besser als die Norm war.

“Achthundert was? „Gänse, Bösewichte?“ ACHTHUNDERT MORMONEN. Ich, (Charles Dickens), war an Bord dieses Auswandererschiffs gekommen, um zu sehen, wie achthundert Heilige der Letzten Tage aussehen, und ich fand sie (zur Niederlage all meiner Erwartungen) so, wie ich es jetzt beschreibe. (Ich sprach mit) dem Mormonen-Agenten, der aktiv daran beteiligt war, sie zusammenzubringen..., um sie auf ihrem Weg zum Großen Salzsee bis New York zu bringen. Ein kompakt gebauter, gutaussehender Mann in Schwarz, ziemlich klein, mit sattem braunem Haar und Bart und klaren, leuchtenden Augen. Ein Mann mit einer aufrichtigen, offenen Art und einem unbeugsamen Blick; dabei ein Mann von großer Schnelligkeit. Ich glaube, er hatte keine Ahnung von meiner Unkommerziellen Individualität und folglich von meiner immensen unkommerziellen Bedeutung: „Das sind sehr gute Leute, die Sie hier zusammengebracht haben.“ „Ja, Sir, das sind sehr feine Leute.“  (Charles Dickens) der UNKOMMERZIELL schaut sich um: „In der Tat, ich glaube, es wäre schwierig, irgendwo anders 800 Menschen zusammen zu finden und unter ihnen so viel Schönheit und so viel Kraft und Arbeitsfähigkeit.“ Geschichtssektion der BYU, Provo

Anders als Rößle kannte ich bereits eine Anzahl Missionare dieser Religion, deren Erscheinung ich als angenehm empfand. Ebenso missfiel mir nicht was sie lehrten, soweit ich wusste und es verstand. Es ging um eine Weltanschauung die nun, wenn auch sehr, sehr langsam meine eigene werden wollte.

Bereits 1936 kamen die ersten unserer Missionare in meiner Heimatstadt an. Das erfuhr ich später. Johannes Reese, der Freund meines Vaters, erklärte zunächst seine Abneigung:

 


Sommer 1937. Links:  Elder Larson, mein Vater, Wilhelm Skibbe, Johannes Reese, Frau Schmidt und Elder Holt.

 

„Wenn ihr missionieren wollt, warum geht ihr dann nicht nach Afrika? Wusstet ihr nicht, dass Europa schon vor mehr als 1000 Jahren christlich wurde?“

Als Antwort stellte ihm Elder Holt die Frage: „Glauben Sie, dass alle Christen, Christen sind?“ Das erschütterte Johannes‘ Selbstvertrauen. Diese wenigen Wort    fielen auf fruchtbaren Boden. Reese las statt Antimormonen-Literatur fortan die ganze Palette neuzeitlicher Offenbarungen und war sowohl verblüfft wie erfreut. Sechs Jahre danach, nur wenige Monate bevor die russischen Streitkräfte in Wolgast einmarschierten, sagte Herr Johannes Reese, in einer meiner Klavierstunden in geradezu feierlichem Ton: „Ich fühle es deutlich, deine Kirche verbreitet weitaus mehr Wahrheiten als jede andere.“ Und dann, wenig später, irgendwann, fügte er hinzu: „Joseph Smith ist ein wahrer Prophet!“ Er schaute mir direkt in die Augen nachdem er mit seinen langen, eleganten Fingern die letzten Akkorde eines neuen Stückes gespielt hatte, Jetzt, oben auf dem Hausboden, als ich noch Zimmers Hassbuch in den Händen hielt, berührte es mich. Reeses Bekenntnis gehörte nun zu den ersten farbigen Steinen eines riesigen Mosaiks, das ich bislang nur flüchtig und in groben Umrissen sah. Aber, der Alltag sollte bald meine gegenwärtige Sichtweise verdunkeln und meine zeitweise erhabene Stimmung dämpfen.

In jenen Tagen des intensiven Studiums feindlicher Stimmen, dachte ich an weit Zurückliegendes. Fast Vergessenes sah ich wieder, und es war mir nicht unangenehm: Ich erinnerte mich, ich war wahrscheinlich erst 5 Jahre alt und hielt eine kleine Papierfahne mit einem aufgedruckten Hakenkreuz in der Hand. Ich war sehr stolz. Die braun gekleideten SA-Männer mit ihren glänzenden goldenen Instrumenten hatten mich glücklich gemacht. Was für eine Freude war es gewesen, dem Tambourmajor, mit seinem reich verzierten, mit Kordeln bestickten Taktstock, zuzusehen! Wie er ihn herumwirbelte, ihn dann hochwarf und wieder auffing. Mir kam es so vor, als wären alle Zuschauer genauso fasziniert wie ich. Immer noch verzaubert von allem, was ich gerade gesehen hatte, kehrte ich nach Hause zurück. Als ich ankam, saß Vater wie eine Statue mit seiner großen Bibel auf seinem Lieblingssitz. Als ich vor ihm stand, schüttelte er seinen kahlen Kopf. Er sah mich und meine bunte Flagge deutlich unzufrieden an und forderte mich auf, näher zu kommen. Er nahm mir einfach die schöne Fahne aus der Hand, was mich traurig machte. Kurz darauf, vielleicht auch erst ein Jahr später, erhielt ich meine einzige Tracht Prügel von ihm. Das lag daran, dass ich zuvor die Haustür unseres Vermieters, Herrn Eckdisch, geöffnet und ihm frech gesagt hatte, er sei ein „Judenschwein.“ Dieser pummelige, fröhliche kleine Mann, Vater von zwei erwachsenen Kindern, muss direkt zu meinem Vater gerannt sein und ihm gesagt haben: „Ihr Sohn hat mich beleidigt.“ Ich wurde von Vater herbeigerufen. Er legte mich mit dem Gesicht nach unten auf sein Knie, zog einen Filzschuh aus und schlug mich! Es tat nicht wirklich weh. Die Worte hallten immer wieder in perfekter Harmonie mit dem Rhythmus des Pantoffels: „Vergiss es nie, mein Sohn: Alle Menschen sind Kinder Gottes! Verstehst du? Alle Menschen sind Kinder Gottes!“

Mutter erzählte später, dass es um 1936, viele Gespräche zwischen Vater und unserem Vermieter, Herrn Eckdisch, gab. Vater versuchte ihn vor der miserablen Zukunft und den bevorstehenden Ereignissen zu warnen. „Sehen Sie, Herr Eckdisch, lesen Sie es selbst“, und er zitierte Hesekiel 37:21: „Und so spricht der Herr, Gott; Siehe, ich werde die Kinder Israel aus den Nationen herausführen, wohin sie gegangen sind, und ich werde sie von allen Seiten sammeln und ich werde sie in ihr eigenes Land bringen.“ „Seien Sie weise, verkaufen Sie Ihre Häuser, nehmen Sie das Geld, kehren Sie in das Land Ihrer Vorfahren zurück.“

Er hätte Herrn Eckdisch auf andere ähnlich lautende Verse hingewiesen. Dazu gehörten Prophezeiungen von Joseph Smith, der 100 Jahre zuvor vorhersagte, dass Juden aus den entlegensten Winkeln der Erde in ihrem Heimatland Palästina versammelt würden. Mein Vater soll gesagt haben, dass ein jüdischer Konvertit namens Orson Hyde, den Joseph Smith berufen hatte, 1838 nach Palästina reiste, um das Land für die Rückkehr der Juden zu weihen.

Die Bemühungen Vaters waren erfolglos; Herr Eckdisch hätte nur mit den Schultern gezuckt. Dieser kleine „Mormone“ konnte ihn nicht davon überzeugen, alles aufzugeben, wofür er gearbeitet hatte. Sein Leben in Deutschland sei gut. Vater wies Herrn Eckdisch auf Hitlers Programm, bezüglich der Juden, hin. „Nein“, beharrte unser Vermieter: „Wir Juden haben alles überlebt, was die Vergangenheit uns angetan hat. Wir werden auch Herrn Hitler überleben. Ich bin Jude polnischer Nationalität. Deutschland ist heutzutage ein zivilisierter Ort.“

Die Einwanderung hätte die Familie Eckdisch nur 4 000 Dollar gekostet.

Die fünfte Aliyah (Einwanderungswelle) brachte zwischen 1933 und 1936 etwa 170.000 Juden nach Palästina. Die Prophezeiungen und die falsche Hoffnung standen in scharfem Kontrast zueinander. Nur wenige Monate später stürmte die schwarze SS das große Haus in der Wilhelmstraße 53. Innerhalb weniger Minuten löste sich der vermeintliche Schutzstatus in völlige Verwirrung auf.

Ja, ich kann in etwa sein Gesicht sehen – ich kann mich sogar an seinen Namen erinnern. Der starke Mann mit der schwarzen Mütze, auf deren Vorderseite ein silberner Totenkopf prangte hieß P.

Die Blicke, die er mir kleinem Wicht zuwarf, waren kalt. SS-Männer, Bürger von Wolgast, schoben die vier verängstigten Mitglieder der Familie Eckdisch schnell auf einen wartenden Lastwagen.

Irgendwann müssen diese polnischen Juden Warschau erreicht haben, denn im Oktober 1944 traf eine Postkarte aus einem polnischen Ghetto ein. Die Wahrheit ist, dass ich, Gerd, diese Post, abgestempelt in Warschau, in meinen Händen hielt:Sie bestand aus nur sieben Worten: „Vater tot, Mutter tot, Lotte tot. Jakob.“

Jakob, der kräftige Sohn unseres Vermieters, hielt mich oft auf dem Schoß, als ich noch ganz klein war, ebenso wie Lotte, die etwa 20 Jahre alt war. Irgendwann fragten wir uns, wie oft dieser Familie die gut gemeinten Worte eines Mormonen namens Wilhelm Skibbe reumütig in den Sinn kamen.

Nach den Erlebnissen des Sommers 1945 war ich gegenüber Mutter höflicher.

Ich befragte sie wiederholt Und so erfuhr ich mehr Wichtiges: 1937, als sie gerade 29 Jahre alt war, diagnostizierte man bei ihr fortgeschrittene Tuberkulose. Sie wurde in die Universitätsklinik Greifswald eingeliefert. Ihre Röntgenaufnahmen zeigten sieben bohnengroße Löcher in der linken Lunge. Die Chirurgen beschlossen, die betroffene Lunge still zustellen. Vater, der das Schlimmste befürchtete, schickte eine Karte nach Demmin, weil dort die Missionare stationiert waren. In seiner Post bat er sie, in die Klinik zu kommen, um Mutter einen Segen zu geben.

Als Bruder Latschkowski das Zimmer betrat, in dem Mutter neben anderen Frauen lag, winkte sie ihm zu. Er zuckte mit den Schultern und ging zu ihrem Bett, wobei er zum Ausdruck brachte, dass er keine Ahnung hatte, wer sie sei. Mutter klärte die Situation schnell: „Ich hatte einen Traum, in dem ich Sie bereits kennengelernt habe.“ Vater kam herein und dankte Bruder Latschkowski für die prompte Antwort auf seine Bitte, worauf hin der Älteste verwundert antwortete, dass er von einer solchen Karte nichts wüsste. Sein Besuch kam aus einem unbestreitbaren Gefühl zu Stande. Es wäre sozusagen ein deutlicher Hinweis gewesen in diese Stadt zu reisen, zu dieser Klinik, um Julianne Skibbe zu finden. Der Schleier bisheriger Unsicherheit fiel sofort. Drei Seelen wussten, dass Großartiges geschehen wird.

Der Älteste gab ihr einen Priestertumssegen. Am nächsten Tag beschlossen die Chirurgen, vor der Operation eine zusätzliche Röntgenaufnahme zu machen. Verblüfft, nahezu ungläubig untersuchten sieben Ärzte das neue Röntgenbild. Immer wieder. Kopfschüttelnd hieß es: „Das ist ein medizinisches Wunder! Wo sind die Löcher, der ersten Röntgenaufnahmen?“

Keine Verwechslung. Auf beiden Platen stand ihr Name geschrieben.

Mutter und wir wurden nach diesem Ereignis viele Jahre lang untersucht. Sie lebte dann über 50 Jahre lang ein Leben in vollkommener Gesundheit.

 

Auf Befehl der sowjetischen Militäradministration

 

 

Bereits im Oktober 1945 mussten wir unser Geschäft wieder eröffnen um Holzpantoffel herzustellen. Niemand wies mich ein. Ich legte eins der 5 m langen Sägeblätter auf die gummigepolsterten Räder unserer riesigen Bandsäge und los ging es. Zum Glück bekam Vater vor Jahren Arbeitsurlaub um mehrere tausend „Keile“ anzufertigen. Diese Rohlinge standen mir nun zur Verfügung. Ich legte die vorhandenen Schablonen auf und schnitt täglich 60 Stück Holzsohlen aus, höhlte sie von Hand und verlieh ihnen Hacken. Mutter war stolz auf mich. Die Kunden – zumeist Kleinbauern - sahen darüber hinweg, dass es keine Kunstwerke waren die sie erwarben. Nahe 16 geworden hatte ich Fortschritte gemacht. Das Geschäft blühte. Bauern bezahlten mitunter in Naturalien: Kartoffeln und Mohrrüben. Das war ein großes Plus in Zeiten zunehmenden allgemeinen Hungers. Es kam auch unseren Angestellten gut, denn sonntags nahmen sie an unsren Mahlzeiten teil und die waren dann unbegrenzt. Frau Behringer wirkte als Hausgehilfin. Sie zeigte mir sehr bald ein Foto. Zwei bildschöne Mädchen posierten dort. „O, sagte ich, die Rechte sieht aus wie eine Filmschauspielerin.“

„Mein Dorchen!“ erwiderte sie stolz. Anderntags erschien “Dorchen“ die blonde neunzehnjährige Schönheit in meiner Werkstatt. Strahlend aus Lebenslust stand sie da. Sie kam ohne viel Umwege auf das für sie Wesentliche zu sprechen: „Ich habe eine sturmfreie Bude im Gaugerwohnhaus. Besuche mich mal.“

„Wann?“

„Heute Abend, wenn du willst!“

Was sturmfreie Bude bedeutete wusste ich noch nicht.

Der Abend wurde wunderbar. Schnaps und Zigaretten wurden mir angeboten...

aber bei aller Dummheit verzichtete ich auf Alkohol. Ich versuchte zu rauchen. Hustete und so weiter. Sie wohnte zusammen mit ihrer Freundin in einem gut eingerichteten Zimmer mit Ehebetten.

Aber dann richtete sie im Beisein ihrer Freundin an mich die Frage: „Soll ich mich mal ausziehen?“ Meine Seele im Begriff laut zu jubeln: „Ja, bitte“, streifte mich ein Wort Vaters: „Rühre niemals eine Frau an, es sei denn sie ist deine eigene!“

Das hatte er mir während seines letzten Fronturlaubs eingebläut. Innerlich lachte ich damals, nun wusste ich um den Sinn seiner Warnung.

Wochen später fragten mich einige Jungen wie es mir geht, Dorchen habe sie mit der Pest infiziert.   O, mein guter Vater!

Ich kann mich nicht erinnern ob ich damals auch Gott dankte. Und dennoch, mein Glaube wuchs. Rößles und Zimmers Hassschriften waren es, die mich zu Besserem bewegten.

Im Juni 1946 wurden wir von den Missionaren zur Bezirkskonferenz nach Schwerin eingeladen. Mutter fühlte sich nicht gut. Helmut, nun 10-jährig, bot sich an mit zu kommen. Normalerweise dauerte die Zugfahrt von Wolgast aus, etwa fünf Stunden. Aber nichts war in den ersten beiden Nachkriegsjahren so ungewiss wie eine Reise mit der Reichsbahn.

Die Menschen kamen aus dem Süden um im Norden bei Landwirten Teppiche oder Gemälde gegen Kartoffeln einzutauschen. Oft waren die Züge heillos überfrachtet.

Wir fanden glücklicherweise nach jedem Umsteigen Sitzplätze. Natürlich hatte ich vergessen, wo in der großen Stadt das Treffen stattfand. Vielleicht hatte mir niemand die Adresse genannt. Später sah ich die Plakate in der Stadt hängen, die zu diesem Fest einluden. Doch im momentanen Umfeld gab es keine Hinweise.– Das Plakatieren wurde von den örtlichen Behörden erlaubt, weil „die Mormonen“ damals noch als die von den Nazis diffamierte Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage galt. Es war spät geworden. Nach sechs Stunden Verspätung fühlen wir uns ein wenig verloren. Hunderte, wenn nicht Tausende Menschen spazierten an diesem lauen Spätsommerabend auf den Hauptstraßen, der Lübecker und der Wismarschen. Sie genossen den Frieden.

Mindestens jeder Zweite musste aus dem Osten vor der Roten Armee geflohen sein. Es schien, als hätte es nie einen Krieg gegeben. Alles sah unglaublich ruhig aus. Es gab nirgendwo Spuren des Krieges. Ich fand vor allem erstaunlich so viele Männer zu sehen. Wo kamen die alle her? An wen sollte ich mich wenden?

Es gab tatsächlich eine Summe unzähliger Stimmen, denn es schien mir, als wehe nicht die geringste Brise. Die Worte breiteten sich weithin aus.

 

Mir kam der Gedanke, dass ich nach dem Polizeipräsidium fragen könnte.

Plötzlich mitten im buchstäblichen Gewimmel sprach ich eine Dame an, die in Gesellschaft mehrerer Leute daher kam… „Schließen Sie sich uns an!“ sagte sie. Mehr nicht. Binnen Sekunden vernahm ich, dass sie über eine gerade beendete

Samstagversammlung sprachen. Der Name Neumärker ließ aufhorchen. Das war der Mann der mich eingeladen hatte, und die Dame hieß Elli Polzin, Flüchtling aus Stettin. Mitglied jener Kirche deren Menschen und Versammlungen ich nun näher kennen lernen wollte.

Die Art wie sie Helmut und mich einlud mit ihren Kindern ein Lager auf dem Fußboden zu teilen, blieb mir, wie ihr ganzes Wesen, unvergesslich. Es war diese selbstverständliche Treue zu den Idealen des Mormonismus, die sie ein halbes Jahrhundert danach immer noch ausstrahlte. Eine so kluge, selbstbewusste, humorvolle Frau, der zwei Jahre später das Glück vergönnt war ihren Ehemann wiederzusehen, der als Sanitäter an der "Ostfront" eingesetzt wurde, und dann langjähriger Kriegsgefangener war, in einem Land, in dem die Sieger selbst Hunger litten. Am Sonntag saßen mein Bruder und ich in der Versammlung der Frauen, denn als zur Klassentrennung aufgerufen wurde, blieben wir sitzen.



            Foto: Bundesarchiv Bahnreisen 1946 -47 in Deutschland zwischen Juli und Oktober

Sehr selten, dass ich auf diese Weise reiste.

 

Es hieß die Priestertumsträger würden sich in einem Nebenraum versammeln. Ich trug doch noch keinen Grad des Priestertums, deren niedrigsten die Jungen ab dem 12. Lebensjahr erhielten, wenn sie würdig und tätig sein wollten.

Fasziniert hörte ich die FHV-Leiterin Rowolt (oder Ruwolt) sprechen. Es war die Stärke und Größe ihrer Geisteshaltung mit der sie sich uns mitteilte: „Ich wohnte in Hamburg, verlor mein Heim, meine beiden Söhne meinen Ehemann, aber nicht meinen Glauben...“

Dann kam ein betagter Herr, ein Ältester. Er zog uns aus der Frauenschaft heraus.

Wie sehr haben wir uns dann dort gelangweilt. Obwohl wenigstens ich die gute Atmosphäre dieser Gruppe von etwa 30 Männern spürte. Es scheint so zu sein, dass Frauen mehr und intensiver ihr Herz befragen und es sprechen lassen, als die Vernunft. Ist es nicht wahr, dass Abinadi in einem Extremfall, den Priestern Noas geradezu, einen Vorwurf daraus machte, dass sie zu "verkopft" seien: „Ihr habt euer Herz nicht dazu gebracht, es zu verstehen, darum seid ihr nicht weise gewesen." Mosia 12: 27

Alle kommenden Jahre hindurch, zuerst aber während der langen Heimfahrt, von Schwerin nach Wolgast stand mir dieses flächige, ruhige Gesicht der Dame Rowolt vor Augen. Diese Frau musste durch bitterste Prüfungen gehen. Sie verlor aber nie jenen Geist der aus Menschen Heilige machen kann.

Bevor Vater heimkehrte, erfuhr ich, dass meine Freunde Richard und Gerhard Lange, entgegen ihrem Schwur gegenüber Herrn Kell, unserem Retter, nachts hinübergeschwommen oder gerudert waren, zur immer noch waffenstarrenden Insel um sich mit je einem Karabiner und passender Munition einzudecken. Sie gingen bei entsprechender Mondkonstellation wildern. Bald darauf fehlte ihnen der dritte Mann, der Aufpasser. Den sollte ich ersetzen. Falls die russische Armeepatrouille auftaucht sollte ich pfeifen. Aber ich hatte Angst und verweigerte mich. Meiner Feigheit wegen wurden sie ertappt und umgehend zum Zehner-ukas verurteilt. Sollte ich mir Vorwürfe machen?

Ja, vielleicht.

Aber als beide drei Jahr später, 1949, anlässlich der Gründung der DDR durch Staatspräsident Wilhelm Pieck begnadigt wurden, traf ich Richard wieder. Ich kam damals aus Prenzlau, dort befand ich mich als 19-jähriger noch in der Lehre in einem Baumschulen-Unternehmen. Zum Kurzurlaub kehrte ich zurück nach Wolgast.

Erstaunt sah ich, dass jemand der mir fremd war, auf „meinem“ Sofa daheim, lag. Ich konnte ihn nicht gleich erkennen. Er schlug die Decke zurück. Da war nur ein Gerippe, mit Menschenhaut überzogen: „Richard?“

Was er berichtete wage ich nicht zu schreiben. Sadisten mit roten Armbinden hätten sie mit Hunger und Schlägen traktiert. Eine weitere, möglicherweise ausgesuchte Schikane bestand darin, den Jungen freien Blick auf die Frauen- und Mädchen zu geben, die wie ihre männlichen Leidensgenossen auch unter Liebesmangel litten. „Ich wusste nicht wohin, meine Familie ist abgehauen nach Schweden, angeblich mit einem Fischerboot.“ Richard warf mir meinen Freundesverrat nicht vor. „Sie kamen mit Hunden.“ Daraus folgerte: Sie hätten auch mich geschnappt. Lapidar fügte Richard hinzu: „Meine Leber ist kaputt, aber ich gehe in den Westen, hier kann mir keiner helfen.“

Im Herbst 1946, unmittelbar nach Richards Verhaftung und Einweisung ins Lager Waldheim, trafen erneut Missionare in unserer Gegend ein. Es war die Zeit nachdem Vater aus einem Gefangenenlager in Frankreich geflohen war, besuchte uns Elder Walter Krause. Ein Mann um die 35, mit starken Gesichtszügen, gezogene Nase und sympathischem Auftreten. Vater nahm ihn zwar wahr, doch er kämpfte mit seinen Depressionen. Er entrann der Schwerstarbeit in einem französischen Kohlebergwerk durch riskante Flucht.

Zur Verursachung seines Zustandes zählte die Kriegsberichterstattung. In den letzten Kriegstagen sprach der deutsche Soldatensender u.a. von heftigen Kämpfen um den Brückenkopf Wolgast, dreimal sei die Stadt zurückerobert worden. In dunklen Tagträumen sah er seine Familie unter Trümmern liegen. Die Ungewissheit trieb ihn an. Seit Kindheitstagen durchlitt er als Halbwaise an der Seite eines nunmehr stets trunkenen Vaters, depressive Phasen. Beide trauerten endlos um den Verlust der Mutter meines Vaters.

Ich stand an der Bandsäge als er in meine Werkstatt kam. Dann sah er Mutter und Helmut, sowie Helga wohlauf. Daraufhin brach er zusammen. Monatelang nach der unerlaubten Rückkehr zu seiner Familie verließ er nicht das Bett. Alte Depressionen fielen aus neuen Gründen über ihn her. Uns, bei guter Gesundheit und in einer eher heiteren seelischen Verfassung zu sehen, war wohl ebenfalls zu viel für ihn, den Mann mit großem Mitgefühl. Er kämpfte gegen sich selbst, Das führte zu Zwangsdenken.

Erst im Frühling 1949 wurde mein Vater für fast zwei Jahrzehnte Herr seines Selbst. Verdiente verhältnismäßig viel Geld, erwarb ein Haus in der Wolgaster Bahnhofstraße. Mutter war mit ihm sodann zwanzig Jahre glücklich, bis er zurückfiel in schwere Depressionen und schließlich Suizid beging. Kategorisch hatte er jede fachärztliche Hilfe verweigert.

 

Trotz aller Wunden, die er bei alliierten Bombenangriffen erlitt kam Walter Krause zu uns, allerdings auf Krücken. Er gehörte zu den Überlebenden der Zerstörung der Stadt Dresden im Februar 1945. Er ließ, nur Monate nach dieser Tragödie seine Familie in Cottbus zurück, um eine Mission für seinen Gott zugunsten vieler desorientierter, verzweifelter Menschen zu erfüllen.

Der damalige Missionspräsident Richard Ranglack klagte: „Walter wir brauchen dich!“

Unglaublich! Walter gehorchte. Er fand ein reifes Feld vor, das abgeerntet werden konnte. Innerhalb weniger Wochen wurden 50 Personen Mitglied der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage. Johannes Reese und sogar ich waren daran beteiligt.

Reese hielt seit Monaten zuvor in unsren Wohnräumen Hausversammlungen ab, da es in unserer Gegend keine autorisierten Lehrer unserer Kirche gab. Etwa 20, manchmal auch mehr Leute kamen zusammen. Allesamt Flüchtlinge, die nach dem Zusammenbruch seelisch ermüdet dahinlebten. Ich hatte ihnen Traktate gegeben, die frühere Missionare bei uns zu Hause hinterließen, und die ich zwischen der Anti-Mormonenliteratur vorfand. Ich lud irgendwann auch meinen Freund Hans Schult ein, der später als Distriktpräsident Ostberlins wirkte.

Reese nahm mitunter, ohne Mutter zu fragen aus unserem Briefständer Post meines Vaters, die seit etwa einem Jahr aus Norwegen kam, im Mai 1945 allerdings abriss. Dann sagte er in die Runde: „Hier ist wieder eine Epistel von Wilhelm Skibbe“ Tatsächlich enthielten die Briefe stets Betrachtungen biblischer Zitate, die Vater mit den Lehren der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage verband. Vater war wirklich ein Denker. Er fand die Theologie sei großartig, weil sie obenan die Liebe stellte, die jedes Menschen Willen respektierte. Selbst der allmächtige Gott würde niemals eingreifen, wenn wir es nicht erbitten.  Gott wünscht zwar, dass wir uns unserer Schwächen bewusst sind, doch nie wird er Menschen erniedrigen. Im Gegenteil.

Selten erwähnte Vater Episoden oder Fragen die ihn oder Mutter betrafen. Wir vernahmen eines Tages, bevor Walter Krause kam, die Worte der Ehefrau Willi Dunkers: „Kann man sich den Mormonen anschließen.“ Johannes Reese erwiderte: „Ja! Guten Gewissens.“

Allerdings rang er mit sich selbst ob er auch die Lehre von der Möglichkeit der Vergottung des Menschen mittragen könne. Dies erfuhr ich erst später. Er wurde nie Mitglied, verschenke aber zahllose Bücher Mormon an Andersgläubige mit Widmung. Man kannte ihn weithin. Er spielte zu Gottesdiensten evangelischer Richtungen und ebenfalls bei katholischen Messen.

Walter Krause kam in diese Situation hinein. Er predigte stets in gehobener Stimmung. Wir fühlten seine tiefe Überzeugung von der Echtheit des Geistes des wiederhergestellten Evangeliums. Er vertiefte meinen Glauben und den der Chust- Schult- und Weberfamilie, die dann allen Stürmen zum Trotz lebenslänglich dabeiblieben. Der erste dieser Konvertiten war Max Zander, ein belesener Gartentechniker, der seinen Freund Johannes Reese nach guter Literatur gefragt hatte. Herr Reese gab ihm ein Buch Mormon. Max war total überrascht. „Ist das wirklich wahr?“

„Geh und besuche ihre Versammlungen!“, antwortete mein Klavierlehrer. Max tat es. Er hörte Walter Krause aufmerksam zu. Er spürte die Seelenkraft dieses Mannes und die Macht der Einzigartigkeit der Lehren einer verfemten Kirche. Es war überwältigend für ihn. Ich erinnere mich an diese beeindruckenden Stunden der Inspiration. Es ging um die Fragen nach dies- und jenseitigem Glück. Joseph Smith lehrte: „Eine Religion die mir nicht mehr Glück in diesem Leben geben kann, vermag es auch nicht in der jenseitigen.“

Wertvoll sei Abrahams Wort, wie es im Buch „Köstliche Perle“ festgehalten wurde: „da ich gewahr wurde, dass mir mehr Glück und Frieden und Ruhe beschieden sein würden, trachtete ich nach den Segnungen der Väter und dem Recht, wozu ich ordiniert sein musste, um in ihnen zu walten; da ich selbst ein Nachfolger der Rechtschaffenheit war und auch wünschte, jemand zu sein, der viel Erkenntnis besaß, und ein besserer Nachfolger der Rechtschaffenheit zu sein und mehr Erkenntnis zu besitzen und ein Vater vieler Nationen zu sein, ein Fürst des Friedens, und wünschte, Belehrungen zu empfangen und die Gebote Gottes zu halten, wurde ich ein rechtmäßiger Erbe, ein Hoher Priester, der das Recht innehatte, das den Vätern zugehörte.“ Vers 2

Gebote seien zwar Grenzsteine oder Zäune, die uns vor den häufig schweren Folgen von Übertretungen schützen wollen.

In einer Ansprache kam in diesem Zusammenhang ein dazu passendes Beispiel vor: Eines Großbauern Zuchthengst übersprang die Hürden und fraß vergiftetes Saatgut.

Sehr bald nachdem er mehr gelesen hatte, wollte Max Zander im späten November im offenen Wasser getauft werden. Der Tag wurde bestimmt und dieser begann um Mitternacht mit minus 17 Grad Celsius. Walter Krause musste mit einer Axt die zwölf Zentimeter dicke Eisschicht, des sogenannten Pferdegraben am Peenestrom aufbrechen, wobei ich ihm half.

Und so, nach späterer Taufe der Mitglieder der Zanderfamilie kam es, dass bald darauf in Wolgast die erste Gemeinde der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage in unserer Umgebung gegründet wurde. Es wurden immer mehr. Menschen unterschiedlichster Gesinnung fanden zu fast verlorenem Glauben an einen liebenden Gott zurück. Es gab natürlich Gegenwind und es ereigneten sich kaum vorstellbare Dinge, wie in diesem Fall, den Walter Krauses Tagebuch festhielt. (Veröffentlicht 2005 durch Edith Krause, „Walter Krause in seiner Zeit“): „Im April 1947 sollte Gerd Skibbe einen Auftrag seiner Mutter erfüllen: in das Dorf Mahlzow auf der Insel Usedom fahren, um dort Fisch zu kaufen. Ich war froh, mit ihm zu gehen; denn wieder hatten wir so die Gelegenheit, über die Grundsätze des Evangeliums nachzudenken. Schwester Julianne Skibbe, Gerds Mutter, packte ein Paar Holzschuhe für die Frau des Fischers ein. Sie fragte Edith Schade ob sie mitginge- Sie stimmte zu. Also gingen wir zu dritt hinunter zur Peene, wo wir eine Fähre bestiegen, die uns zur Insel brachte. Bei der Ankunft erfuhren wir, dass Offiziere der sowjetischen Armee die Pässe aller Reisenden überprüften. (Walter vermutete gleich etwas Schlimmes) „Was ist das alles?“ dachte ich mir... Die sowjetischen Offiziere kontrollierten die Pässe. Gerd und Edith kamen ohne Ausweise. Sie wurden gebeten, nach rechts zu gehen. Ich hatte meinen Reisepass dabei, der in vier Sprachen ausgestellt worden war. Bruder Suhrmann (nach dem Krieg führend im Kohlebergbau Sachsens) hat ihn für mich besorgt. Mir wurde gesagt, ich solle nach links gehen. Nachdem alle rund 30 Personen kontrolliert worden waren, durften die Personen der rechten Seite weiter gehen.

So waren Gerd und Schwester Edith Schade frei, den anderen wurde jedoch gesagt, sie... würden unter Bewachung bleiben. Gerd und Edith besprachen die Situation und kamen dann, um mir zu sagen, dass sie unbedingt bei mir bleiben würden. Ich lehnte ihr Angebot ab, weil ich angesichts der vielen russischen Offiziere um Ediths Sicherheit fürchtete. Die beiden änderten ihre Meinung jedoch nicht. Nach einiger Zeit traf ein riesiger Militärlastwagen ein. Man sagte uns, wir sollten hinaufklettern und uns auf den Boden setzen, während die sowjetischen Soldaten uns mit Maschinengewehren bewachten... Diese erzwungene Fahrt über die wunderschöne Insel Usedom hat uns nicht gerade gefallen. Die 42 Kilometer lange Reise endete im Ort Heringsdorf. Der Lastwagen hielt vor einer der alten Ferienvillen...Dort wurden die Menschen aufgeteilt und in verschiedene Räume des Gebäudes geschickt. Wir drei wurden getrennt… Während wir warteten, fiel die Dunkelheit über die Welt. Einer nach dem anderen wurden wir dem Kommandanten vorgeführt, der ebenfalls in einem abgedunkelten Raum saß. ... Schwester Schade erzählte uns später, dass sie wegen der Dunkelheit Angst hatte, weil sie nur die Stimme des Dolmetschers und des Mannes hören konnte, der viele Fragen stellte. Irgendwo in der hinteren Ecke quietschten die Betten ...Zu diesem Zeitpunkt wussten wir noch nicht, dass Gerd Skibbe der erste war, der interviewt wurde. Er wurde sodann freigelassen und wartete auf uns ... Schließlich wurde mir mitgeteilt, dass man mich mit einem Nazi-Führer namens Schwede-Coburg (Nazi-„Gauleiter“ des pommerschen Parteibezirks) verwechselt hätte, dem man nicht entkommen lassen wollte. Der Kommandant sagte mir, dass ein „Bruder“(Gerd) und eine „Schwester“ (Edith) auf mich warteten, die bei keinem ihrer Verhöre Angst vor ihm zeigten. Und, dass wir alle die gleiche Geschichte erzählten. Wir dürften gehen. Bevor ich den Raum verließ, schüttelte der Beamte mir die Hand, öffnete seine Uniformjacke und sagte mir, dass auch er gläubig sei. Er trug ein Madonnenbild an einer Kette.

Als wir uns wieder auf der Straße befanden, senkten wir den Kopf, um ein

Dankesgebet zu sprechen. Dann gingen wir die Straße entlang, um nach Wolgast zurückzukehren.

Da nun Schwester Schade diese Holzschuhe zu tragen nicht gewohnt war, gingen wir nur bis Koserow. Dort wollten wir um eine Rast bitten. ... Gerd kannte den örtlichen Bäcker und klopfte bei ihm. Es war nach 2 Uhr morgens. Der Bäcker sagte uns, wir sollten zur Scheune gehen, wo wir auf dem Stroh schlafen könnten.

Kaum hatten wir uns niedergelassen, brach ein heftiges Gewitter los. Es regnete eimerweise. Wie glücklich waren wir, in dieser Scheune zu sein, wo es warm und trocken war! Die Liebe und Loyalität meiner treuen Gefährten gaben mir Hoffnung und Kraft, die Arbeit des Herrn voranzutreiben.“ Zitatende

 

Ich erlebte in diesem Frühling 1947, wie ein Offizier der Militärstreife, von einem seiner Soldaten erschlagen wurde. Ich stand drei Meter entfernt, wollte eine Kinokarte kaufen. Ein Muschik, der im Vorraum der Kinokasse, in einer Nische stand hielt in seiner Hand eine zwei-Liter-Milchkanne. Da muss Schnaps drin gewesen sein. Der Mann mit der Armbinde „Militärpolizei“ wollte dem ohnehin Betrunkenen dieses Gefäß abnehmen. Jemand hinderte ihn, denn es waren weitere etwa drei oder vier Rotarmisten die sich das Getränk wohl teilen wollten. Der blutjunge Soldat schwenkte die Kanne und schlug sie dem Armeepolizisten mit voller Wucht mitten auf den Schädel. Obwohl das Opfer sofort zu Boden sank, erlitt der nicht mehr junge Streifenführer weitere tödliche Schläge. Einer der vom Schnaps benebelten bemerkte mich erst jetzt. Seine Augen rotierten und ich lief um mein Leben.

 

 

Gerhard D. – ein Sonderfall

 

Damals erhielt Walter Krause Unterstützung durch den aus Sachsen stammenden Gerhard D., der ein ganz besonderer Missionar war, 19 Jahre alt und verdorben bis auf die Knochen. Missionspräsident Walter Stover hatte ihn berufen, da seine Familie einen guten Ruf besaß und Gerhard selbst – allerdings nur vorgegaukelte - Zeichen von Loyalität und Glauben an den Tag legte.

Walter Krause wurde noch nicht umgehend auf Gerhards verborgenen Ehrgeiz und dessen Leidenschaften aufmerksam sonst hätte er ihn ohne weiteres nach Hause geschickt. Doch das Schicksal lief schneller als erwartet. Meine Mutter und ich bemerkten als erste, dass mit diesem jungen Mann auffallend einiges nicht stimmte. Wir fanden ihn rauchend im Holzschuppen meines Vaters, einem Raum voller zundertrockenem Holz und Holzspänen. Es stand inmitten vieler alter deutscher Fachwerkhäuser, die Hunderte von Jahren überdauert hatten. Nervös schwang Gerhard seine Arme durch die Luft, um den Geruch und die Tabakrauchwolken zu vertreiben, aber ohne Erfolg. 

Gerhard sollte mir beim Holzschneiden in unserer kleinen Fabrik helfen. Es kümmerte ihn wenig. Er saß lieber im warmen Wohnzimmer. Als ich eintrat verbarg er sofort ein Buch. Das machte mich misstrauisch und neugierig. Nach willkürlich aufgeschlagenen und gelesenen 2 Seiten fragte ich ihn: „Warum hast du Boccaccios „Decamerone“   zu uns nach Hause gebracht?“ Er zuckte mit den Schultern und antwortete herablassend: „Ich bin alt genug dafür.“

Dies war die Situation, als Gerhard sich dann, zwar widerwillig, herbeiließ, mir beim Holztransport aus dem Wald, 15 km von Wolgast entfernt, zu helfen. Wir hoben die schweren, zwei Meter langen Baumstämme auf den Lastwagen, ein altes, langsames Fahrzeug, das mit Holzgas betrieben wurde, denn Benzin gab es selten. Erschöpft kletterten wir auf unsere Ladung und ließen uns von der Sonne und der sanften Frühlingsluft den Rücken wärmen, während der Lastwagen nach Hause kroch. Als wir das kleine Dorf Zemitz erreichten beschloss Gerhard zu provozieren: Er zog sein Hemd aus. Zu meinem Entsetzen sah ich die leuchtenden Farben der Nazi-Flagge mit dem Hakenkreuz auf seinem Unterhemd.

Als wir durch das neue Grün der langen Dorfgasse fuhren, saß er wie eine Statue da. Jeder hätte ihn mit dem rot-weiß-schwarzen NAPOLA-Emblem sehen können. (NAPOLA bedeutet Sonderschule für künftige Führer im Dritten Reich Adolf Hitlers, auch Werkstatt um Spione auszubilden) Das Wappen umgab seine Brust wie ein Feuerring. Ich hatte das Gefühl, ich sollte vom rollenden Lastwagen herunterspringen. Seit dem verlorenen Krieg waren bereits zwei Jahre vergangen. Zwei Jahre voller Blicke auf die Ruinen und die Qual all dessen, was der barbarische Hitlerfaschismus hinterlassen hatte. Auch wenn es den meisten Deutschen schwerfiel, sich allen Anordnungen der Sowjetmacht zu beugen, widersprachen Handlungen wie diese, die Gerhard an diesem Tag an den Tag legte, jeder Vernunft. Das war eine freche, unverzeihliche Provokation. Wenn uns nur einer mit Verantwortungsbewusstsein gesehen hätte, wären wir unweigerlich hinter Gittern gelandet. „Bist du verrückt geworden?“ Er griente nur.  Unter diesem Zeichen musste nicht nur jede Familie Deutschlands großes Leid erdulden, sondern ganz Europa litt immer noch. Tausende Städte Europas, zwischen Coventry und Stalingrad waren dem Erdboden gleichgemacht worden.

Plötzlich verstand ich, warum Gerhard es in Abwesenheit Walter Krauses liebte, unsere Treffen zu leiten. Die meisten Mitglieder waren alt genug, um Gerhards Eltern zu sein. In der Anfangszeit standen wir auf, um Kirchenlieder zu singen.

Befehle zum Aufstehen und Hinsetzen wurden vom anmaßenden "Missionar“ G.D. gegeben. "Hoch!" und „runter!“ forderte er, als wären wir seine Untergebenen. Zu meiner Überraschung waren alle neuen Mitglieder gehorsam und niemand beschwerte sich. Es könnte sein, dass sie dachten, dies gehöre dazu und sei die richtige Art, sich fügsam zu verhalten. Ich traute mich noch nicht, es Walter Krause zu sagen. Hätte ich es nur getan.  Aber ich wollte nicht schon wieder ein Verräter sein. Wenige Tage nachdem Gerhard D. seine politischen Neigungen törichterweise offengelegt hatte, wurde er in Stralsund - einhundert Kilometer von Wolgast entfernt - von Offizieren der Roten Armee verhaftet.

Zu diesem Zeitpunkt saß er im Wartesaal der ersten Klasse im Bahnhof. Dieser war den Offizieren und Zivilangestellten der Roten Armee vorbehalten. Hin und wieder überprüfte jedoch die sowjetische Militärpolizei die Pässe aller Anwesenden. Gerhard, wie wir später vernehmen mussten, sprach perfekt Russisch.  Er liebte Wodka und, wie wir dann erfuhren, musste er sich auf der Napola Marienburg, Ostpreußen, ein großes Repertoire an schmutzigen Witzen angeeignet haben, um als Ostagent in Russland befehlsgemäß operieren zu können.

Natürlich besaß er keinen gültigen Pass. Bei der NAPOLA wurde Gerhard jeglicher Religionszugehörigkeit entwöhnt.

Armer Walter Krause!

Nach der Festnahme Gerhards wurde Walter vom Kommandanten nach Stralsund vorgeladen. Dieser Beamte teilte ihm mit, dass Walter Krauses Leben für die russischen Behörden nicht viel wert sei, wenn sich ein solches Ereignis wie oben beschrieben wiederholen würde. Allerdings, Walter hatte sich in den vergangenen Monaten ein ausgezeichneter Ruf erworben. Das könnte der Kommandant gewusst haben. Missionar Krause kümmerte sich um Waisenkinder aus Mitgliederfamilien und andere in Not geratene. Er mischte sich grundsätzlich nicht in politische Diskussionen ein.

 Ich begegnete ihm 1968, anlässlich eines Kirchentreffens in Ostberlin. Er winkte mir zu. Ich zuckte die Achseln. Er kam auf mich zu und erzählte mir, wer er sei. Er wünschte wieder mein Freund zu sein.

20 Jahre lang musste er durch verschiedene Gefangenenlager, in Sibiriens Kohlebergwerken gehen. Er arbeitete in heißen, wassergefüllten, lebensgefährlichen Löchern. Dort hatte er reichlich Gelegenheit, seine faschistischen Pädagogen zu verfluchen, die ihn als einen zunächst dressierten und dann verstoßenen Hund zurückgelassen hatten.

Hin und her gerissen zweifelte ich letztlich an Gerhards Redlichkeit. Irgendwo, tief in unserem Inneren, scheint es einen Mechanismus zu geben, der es uns nicht erlaubt, Misstrauensgefühle schnell abzustreifen. Obwohl wir es manchmal vielleicht sollten. Ich sagte ein paar leere Worte. Schmerz muss er gespürt haben, tiefen Seelenschmerz, als er sah, dass ich ihn ablehnte. Was er dringend brauchte, wäre ein ehrliches Willkommenswort und eine Umarmung gewesen. Mein damaliges Verhalten bedrückt mich bis zur Stunde. Er verstarb bald darauf. Ich hätte Gutes für ihn tun können, wenn nicht meine Bedenken die Oberhand erlangt hätten. Es war die Sorge, dass sie ihn zu einem Sowjetspion umgedreht haben könnten.

Uns war seit langem bewusst, dass wir ständig von der „Stasi“ argwöhnisch beobachtet wurden. Meine Schuld Gerhard kühl behandelt zu haben werde ich weiter zu tragen haben. Er war schließlich zu uns zurückgekehrt.  Wir „Mormonen“, insbesondere die Leitenden, zu denen ich damals gehörte, galten zu dieser Zeit noch als Mitglieder einer, in kommunistischen Augen, gefährlichen amerikanischen Sekte. Wir mussten besonders vorsichtig sein. 1968 herrschte noch das gegenseitige Unbehagen... Unser Warten in Ungewissheit war zu jener Zeit, einer Ära der Bitterkeiten geschuldet. Das berühmte Weihegebet von Präsident Monson (1976) auf den Radebeuler Hügeln gesprochen, lag noch in weiter Ferne. Irgendjemand übermittelte dann allerdings den Text dieses besonderen Gebetes dem Überwachungssystem, - was später sehr zu vermuten war -. In ihm bat der damalige Apostel Monson jedenfalls um einen Segen des Allmächtigen für die kommunistische Regierung.   Da gab es keinen Fluch. Das änderte die Position unserer Kirche und verschaffte uns DDR-Mitgliedern nach 1980 Anerkennung durch die Regierungsbehörden. Diese sanfte Weise des Umgangs mit radikal Andersdenkenden in Führungsstellen sollte schließlich zum Bau eines Tempels im Osten führen.

 

Im Jahr 1947, sowie 1948 musste ich die Lebensmittelrationen, die uns die Kirche aus Utah geschickt hatte, an bedürftige, sowie Nichtmitglieder liefern. So transportierte ich ein- bis zweimal pro Woche die Pakete durch ganz Mecklenburg und Vorpommern. Sie enthielten Fleischkonserven, Mais, Tomaten, Pfirsiche und Beutel, sowie dann Säcke voller Weizen.

Aufgrund meines schlichten Kirchenpasses erlaubten mir der zuständigen Beamten zweimal in Sonderwagen zu reisen, die den russischen Generälen vorbehalten waren. Ihre Haltung überraschte mich.

Unsere Kirche verfügte seit 1936 über ein gut funktionierendes Wohlfahrts-Programm, um ihren Mitgliedern und Freunden in Not zu helfen. Tausende Tonnen Weizen wurden an die Menschen in Deutschland geliefert. Die Russen gaben ihr Einverständnis (unterzeichnet vom Militärkommandanten in Karlshorst), dass das Rote Kreuz und die Sowjetische Militärverwaltung zusammen mit der Kirche beliefert würden. Das bedeutete in der Praxis, dass mindestens die Hälfte aller Lieferungen zugunsten weltlicher Institutionen erfolgten.



Präsident Ezra T. Benson war der Erste der bald nach dem Krieg gegen Einwände amerikanischer Autoritäten, die Bensons Sicherheit in Gefahr sahen, vor Ort auftrat um mit eigenen Augen das ganze Ausmaß des Elends zu sehen, das über deutsche, aber auch andere europäische Städte gekommen war.

Bis 1949 gingen zahlreiche kleine Weizenbehälter durch meine Hände, ebenso wie viele andere Lebensmittel, Kleidung und Schuhe, die alle mit der Bahn transportiert werden mussten. Ich habe nie ein Paket verloren. Völlig fremde sahen mich oft mit den schweren Containern auf dem Bahnsteig kämpfen und halfen mir. Ich musste diese kostbaren Geschenke unserer Mitglieder in den Vereinigten Staaten nie verteidigen. Ich war mir des Vertrauens, das mir entgegengebracht wurde, immer bewusst und war sehr vorsichtig. Das Jahr 1947 war die Zeit, in der Millionen Menschen unter schwerem Hunger litten.  Ich erinnere mich, wie ich im eisigen Winter 1947 im Warteraum „Bahnhof Zoo“ in West-Berlin ein dickes, verwildert aussehendes Mädchen wie einen bösartigen Wachhund auf einem großen Kartoffelhaufen sitzen sah.

Damals sollte in Westberlin eine Konferenz stattfinden. Vater hatte sich aufgerafft und begleitete mich. Durchgefroren in der Wartezeit gingen wir in das S-Bahnrestaurant Friedrichstraße. Heiße Brühe wurde angeboten. Unglaublich! Wie gut sie schmeckte. Plötzlich fragte ich mich, woher die Fettaugen kamen, die obenauf schwammen. Ich konnte es mir erst erklären als ich die in den Trümmern umherstreunenden Katzen sah, die dort Jagd auf alles machten, was sie überwältigen konnten. Wir machten uns wieder auf den Weg. Doch es lagen noch einige Wartestunden vor uns. Der Kälte wegen begaben wir uns in das fast isoliert dastehende Postamt am Stettiner Bahnhof. Wenig später kam Walter Krause herein: „Ich suche euch!“ In der einstigen 4-Millionenstadt, in der es noch drei Millionen Frierende gab, fand er uns! Das hielt ich für sehr bemerkenswert. Er wollte uns nur mitteilen, dass die Konferenz ausfällt.

Alte und behinderte Bürger starben an Hunger. Typhus war weit verbreitet. Rückblickend war es wirklich ein Wunder, dass ich in den ständig überfüllten Zügen fast immer einen Sitzplatz gefunden habe.   Nichts war für mich gefährlich, außer die schönen Augen gleichaltriger Mädchen, wenn sie mich anleuchteten... aber ich war gehorsam und sagte mir: „Sei brav, Gerd, eines Tages wirst du die beste und schönste junge Dame finden und sie eines Tages heiraten.“

Auf meinen Reisen sah ich viele Städte in Ostdeutschland.  Nicht alle waren so zerstört wie Hamburg.

Schwerin, Greifswald und Stralsund, Orte die ich oft aufsuchte, blieben von den Luftangriffen der Alliierten unbeschädigt, Berlin, Demmin, Neubrandenburg, Dresden und zahlreiche andere Wohnorte lagen jedoch weithin in schwarzen Trümmern. Es war deprimierend die allgemeine Hoffnungslosigkeit vieler älterer Frauen zu sehen und zugleich die lauten Tanzvergnügen anderer zu hören.

Jahre später wurde mir klar, dass die Hand Gottes das deutsche Volk nicht ungestraft ließ. All das Böse, das Naziland über die Köpfe seiner Mitmenschen brachte, hatte schlimme Folgen. Sah Nephi dieses selbstverschuldete Elend nicht lange vor meinem Tag voraus? “… so spricht Gott, der Herr… O ihr Anderen, habt ihr der Juden gedacht, meines Bundesvolkes aus alter Zeit? Nein; sondern ihr habt sie verflucht und habt sie gehasst und habt nicht danach getrachtet, sie zurückzugewinnen. Aber siehe, ich werde euch das alles auf euer eigenes Haupt zurückbringen; denn ich, der Herr, habe mein Volk nicht vergessen“ 2. Nephi 29:4-5

File:German SS uniform. Peaked visor ...Gleich nach dem Zusammenbruch des sogenannten 3. Reiches, der Nationalsozialisten wurde bekannt, dass Millionen Juden, nur weil sie Juden waren, in Konzentrationslagern zusammengepfercht und dann verbrannt wurden. Es traf sie allesamt, Kinder und Mütter, Uralte und Hinfällige Menschen. Plötzlich war das Entsetzen groß. Von diesem Ausmaß der Vergehen hatte nur wenige Kenntnis. Es wurde wohl verborgen. Ich sah im Geist den Totenkopf des SS- Mannes P. den er als Kokarde an seiner Dienstmütze trug. So dachte auch zurück an die Familie Eckdisch und fragte mich: “Warum die Europäer, insbesondere die Deutschen, die Juden verfolgten? Wie konnte es jemals zu Großverbrechen dieser Größenordnung kommen?“, und in diesem Zusammenhang fragte ich mich selbst:

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Kam das Verderben nicht auf unser eigenes Haupt zurück?

Walter Krause wies darauf hin, dass die Kirche seit dem vierten Jahrhundert Juden drohte, dass Bischöfe wie Ambrosius von Mailand und Cyrill von Alexandria sie grundlos bösartig behandelten. Sie wollten sich, aus nachvollziehbaren Gründen nicht „christlich“ taufen lassen. Luther hasste sie, weil sie auch seine Glaubensversion ablehnten.

Ich war erstaunt: Zum Ersten was ich in der Bibel in meinem 17. Lebensjahr herausfand war, dass die mehrfachen Weissagungen sowohl Verheißungen wie Warnungen aussprachen: Wenn du auf die Stimme des Herrn, deines Gottes, hörst und alle seine Gebote, die ich dir heute gebe, hältst und danach handelst, wird der Herr, dein Gott, dich erhöhen über alle Nationen der Erde.Deuteronomium 28: 1

Aus der Sicht der Beobachter des 21. Jahrhunderts steht fest, die Anzahl der Nobelpreisträger jüdischer Herkunft zu allen anderen verhält sich prozentual zur Gesamtweltbevölkerung wie hundert zu eins. Niemand kann es leugnen: Die Israeliten sind ein besonderes Volk. Null-Komma-Null-Zwei Prozent aller stellen mehr als jeden Fünften höchstausgezeichneten!

 

Aber die Warnungen desselben Thorakapitels lauteten ebenso extrem: „Wenn du aber nicht auf die Stimme des Herrn, deines Gottes, hörst und nicht alle seine Gebote und Satzungen, die ich dir heute gebe, hältst und nicht danach handelst, dann werden all diese Flüche über dich kommen und dich erreichen:

Verflucht bist du in der Stadt, und verflucht bist du auf dem Feld … Der Herr wird den Fluch, die Verwirrung und die Bedrohung auf dich loslassen bei allem, was du unternimmst, bis du schon bald vernichtet und vertilgt wirst, deiner bösen Taten wegen, weil du mich verlassen hast.“  Verse 15-20

Mehr Antworten fand ich in den Werken des evangelischen Pfarrers und Hochschullehrers Hartwig Weber. „Antisemitismus ist ein Produkt heidnischer Zeiten, das von Christen offiziell und im Prinzip zur vollen Blüte gebracht wurde … Nach dem Toleranzedikt von Konstantin dem Großen konnte sich der Antisemitismus entfalten und wurde universell und dauerhaft. Die christliche Kirche machte es zu einem wichtigen Bestandteil ihrer Lehren ... Gregor von Nyssa nannte die Juden im Jahr 370 „die Feinde der Barmherzigkeit, Verfechter des Teufels, Hasser des Guten …“ Im Jahr 1215 forderten sie auf dem 4. Laterankonzil, dass alle Juden und Araber eine Erkennungsmarke tragen sollten. Infolgedessen wurden Juden verpflichtet, gelbe oder rote Hüte und einen gelben Ring am Mantel zu tragen. Jüdinnen mussten ein Band auf ihrer Haube tragen. Die Geschichte des Christentums ist seit den Tagen Konstantins eine Geschichte der Verschmelzung von Macht und Krieg…“ „Jugendlexikon” S. 330

Keine Szene ist vergessen, nichts, solange wir aneinander Interesse finden. Die alten Bilder von Menschenkindern, die wir nie sahen und doch von deren Lebenskampf wir eine Vorstellung haben, sie alle spielen mit, unser Weltbild zu formen.

Bedauerliche Tatsache ist, dass Luther, der Retter Europas vor der Allmacht und der Verdorbenheit Roms, zur Judenhetze aufrief. Seine Kirche befreite sich keineswegs von dieser Last, bevor die Niederlage Hitlers sie dazu zwang ihre Mitschuld einzugestehen. Wahr ist allerdings auch, dass es in Nazideutschland, mormonische Gemeindepräsidenten gab, die Judenfeindlichkeit zeigten oder zuließen, obwohl sie damit entgegen ihrer Religion handelten. Aber die Linie der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage war immer auf die Sammlung Israels ausgerichtet und nicht auf deren Zerstreuung. Unser Präsident und Prophet Howard W. Hunter (1904-1995) erklärte offiziell: "Sowohl die Juden als auch die Araber sind Kinder unseres Vaters, beide Völker sind Kinder der Verheißung und als Kirche ergreifen wir keine Partei. Wir schätzen beide Völker, ihr Wohlergehen liegt uns am Herzen."  Lehren der Präsidenten der Kirche.

Pfarrer Hartwig Weber ist ehrlich: „Weder die evangelischen noch die katholischen Kirchenleitungen konnten sich aufraffen, (während der Nazizeit) offen für die verfolgten Juden einzutreten. Die Kirchen selbst waren von einem latenten Antisemitismus durchsetzt. Nur dort, wo die eigene Sicherheit und Macht auf dem Spiel standen, traten die Kirchen dem NS-Staat entgegen…das Schicksal jüdischer Minoritäten war demgegenüber zweitrangig. Unter den Christen gab es etwa 300 000 Juden als Gemeindemitglieder. 1933 standen 29 Juden in kirchlichem Dienst… 1941 forderte die Kirchenkanzlei der Deutschen Evangelischen Kirche die Kirchenbehörden dazu auf, „geeignete Vorkehrungen zu treffen, dass die getauften Nicht-Arier dem kirchlichen Leben der deutschen Gemeinden fernbleiben…“  Hartwig Weber „Religion“ rororo , Rowohlt

 

1948 gab es mehrere Begebenheiten, die entgegengesetzter nicht konnten

 

Berlin-Frage – Wikipedia

 

 Links die drei Westsektoren, rechts das

kommunistische Ostberlin   

                                              

 

 

Seit Mai 1945 mussten die Sowjets auf Basis von Bündnisverträgen zwischen den Siegermächten USA, Großbritannien und Frankreich zulassen, dass die Alliierten, Truppen in Berlin stationierten. Die Kommunisten unternahmen danach viele Versuche Westberlin in den Ostblock einzugliedern, indem man die westlichen „Besatzer“ aufforderte ihre Koffer zu packen und zu verschwinden – und wenn es nicht im Frieden ging, dann musste man eben nachhelfen. Es ging, dann bereits ab 1948 auf „Biegen und Brechen“. Zwischenziel der sowjetischen Außenpolitik war es ohnehin ganz Deutschland zu vereinnahmen. Zunächst musste der Störfaktor Westberlin ausgeschaltet werden, der jedoch lag inmitten des roten Ostens.

 

Das geteilte Deutschland zwischen 1945 und 89

 

Erster Anlauf:  

In der Nacht zum 24. Juni 1948 sperrten sowjetische Truppen alle Zufahrtswege nach Westberlin.  Die Versorgung der dort lebenden 2.2 Millionen Menschen war gefährdet. Das war klarer Rechtsbruch. Wen aber sollte das kümmern?    Hauptsache für den Personenkreis um Ulbricht war die Idee, dass die „Amis“ kapieren, dass sie damit aufgefordert sind nachzugeben, ihren Platz zu räumen       und dass sie dem Kommunismus zu erlauben haben siegreich zu sein. Die Regierung der Vereinigten Staaten handelte wütend, entschlossen und angemessen klug. Nachgeben: Nein. Gewalt? Nein! Das Kalkül des Kremls war durchschaubar:  Wenn 2 Millionen nach Brot rufen, das Westberlin spätestens nach zwei Monaten nicht mehr im Angebot  hat, weil der erforderliche Nachschub an Mehl aus Westdeutschland unterbleibt, muss die DDR einspringen und die Versorgungslücke schließen. Doch aus dem östlichen Geniestreich wurde nichts. Es wurde eine Luftbrücke eingerichtet. Eingeflogen wurden Güter wie Nahrung, Brennstoffe und anderes. Noch lagen, zu dieser Zeit, besonders in Ostberlin, große Stadtteile in Trümmern. Noch war die Stimmung gegenüber den Besatzermächten in Ost und West nicht gut. 

 

Gail S. Halvorsen, the world's Candy ...Es war Gail Halvorsen ein Mitglied der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage, der mittels einer umgesetzten guten Idee, einen entscheidenden Anteil zur Verbesserung des Verhältnisses beitragen sollte. Immerhin hatten die Westalliierten erheblichen Anteil an der Verwüstung zahlreicher Städte Deutschlands. Er „bombardierte“ nun, 1948, die Stadt mit Süßigkeiten.  Candybomber wurde er genannt. An kleinen Faltschirmen befestigt hingen Schokoladen.

Oft sind es nur scheinbare „Kleinigkeiten“ die das   Gute bewirken.

Die Sowjetunion gab die Blockade erst am 12. Mai 1949 auf.

Nun allerdings war die Feindschaft zwischen Ost und West eine Endgültige, und zwar weltweit

Spiegel 9-1948 : „Das russisch besetzte Nordkorea wurde zur »Volksrepublik« ausgerufen. Mit eigener Verfassung, einem 200 000-Mann-Heer und Hammer und Sichel als Hoheitszeichen. Die politische Taufe des längst geborenen Bankerts Nordkorea ist ein erstes offenes „Gardez“ (ein Ausdruck der im Schach verwandt wird) der Russen an die UNO. In Moskau waren die Alliierten übereingekommen, nur eine gemeinsame Regierung für das russischbesetzte Nordkorea und das amerikanische Südgebiet zuzulassen. Einer UNO-Kommission, die dazu freie Wahlen durchführen sollte, wurde die Einreise in die russische Zone verboten…

Die neugebackene Volksarmee Nordkoreas marschierte im Paradeschritt durch die ebenfalls neu gebackene Küstenhauptstadt Gensan. Über hundert russische Offiziere auf der Ehrentribüne salutierten. Auch zwei amerikanische Verbindungsoffiziere waren gekommen. Sie bereuten es bald. Eine aufgeputschte Menge riss ihnen die Uniformen vom Leibe und prügelte auf sie los. Die Russen salutierten ungerührt weiter. Der US-Oberbefehlshaber in Korea, General John Hodge, protestierte bei seinem russischen Kollegen…“

Ununterbrochen lief im Osten die Propagandamaschine. Sie wurden nicht müde alles Westliche zu diskreditieren und alles Kremlnahe in den Fantasiehimmel zu heben. Jeden Tag, Jahr für Jahr erschienen die Meldungen durchweg in Schwarzweiß. Wenn im roten Prag eine Modenschau stattfand dann war das ein Zeichen der Lebensfreude, aber wenn in London die Königin mit einer goldenen Kutsche ausfuhr, war das reine Dekadenz. Uns schien es oft, als genüge nur ein Missverständnis und Schwarz würde auf Weiß in aller Härte aufprallen.

Im Osten wurden die Getreideernten noch eingebracht wie im Mittelalter, während drüben Mähdrescher zur Alltäglichkeit gehörten. Wir lebten mit der Unsicherheit. Einerseits wären wir nicht überrascht, wenn Westberlin angegriffen würde, andererseits war klar, dass dies nicht geschehen wird. Russlands Wunden die ihnen der Krieg zu gefügt hat, waren nicht geheilt. Seit Hiroshima fürchteten beiden Seiten ihr feindlicher Gegenüber würde zum Letzten aller Mittel greifen. Die Vorstellung einer atomar verseuchten Welt erschreckte selbst die härtesten Machtidioten. Rein zahlenmäßig sah es zwar wie ein Kinderspiel aus, die bereitstehenden Divisionen im Zeichen der Sowjetflagge einzusetzen um die Alliierten aus der ehemaligen deutschen Hauptstadt zu vertreiben. In den drei Westsektoren gab zu dieser Zeit nur 12 000 Soldaten insgesamt, davon etwa die Hälfte US-amerikanischer Militärs. Denen gegenüber standen rund 200 00 sowjetische Truppen die Berlin umrundeten und weitere 180 000 auf ostdeutschen Boden mit 7 500 Panzern und 800 Bombern einschließlich Jagdflugzeugen.  Prof. Beier-Red – möglicherweise aber ein anderer unter den kommunistischen Zeichnern – stellte damals mehrere Karikaturen die dazu passten, die spaßig aussahen und todernst gemeint waren. Eine davon zeigte einen auf dem Nordpol des Globus sitzenden Rotarmisten, er steckt den Schaft der mit Hammer und Sichel bestückten roten Fahne in den Bauch der Mutter Erde. Er, mit der Budjonny-Mütze, hat auf ihr Besitzerrecht im Wortsinn, Uncle Sam dagegen nicht, der sich sorgenvoll den Kopf kratzt, denn seine Position auf dem Erdball wird ihm von dem kess lächelnden Sowjetmenschen definitiv strittig gemacht. Frechheit siegt. Der Russe macht, dass der Ami abrutschen muss, von diesem Erdball, denn dieser Ball bietet nur eine einzige Sitz- und Bleibemöglichkeit. Der Amikapitalist ist dazu verurteilt die Erde für immer zu verlassen.

Unerwartet sagte mir eine Pädagogin meiner Kirche Ungutes voraus. Sie wusste, dass ich hin und hergerissen war, sobald mir eine Dorfschönheit ihre Liebe anbot, was nicht gerade selten vorkam. Selbst Vater, der immer noch gegen seine Depressionen ankämpfte, musste etwas bemerkt haben. Gelegentlich erhob er sich für einen Tag vom Lager und nahm vorübergehend am Leben teil. Er fasste es in die Worte: „Was finden die Weiber an dir kleinem Kerl?“

Recht hatte er. Ich war nur 1.65 groß. Allerdings immer lebhaft und positiv.

Die unverheiratete Dame die über bemerkenswerte Sprachkenntnisse verfügte, urteilte oder spekulierte gern über die Zukunft anderer, auch über die meiner Freunde. Mir sagte sie: „Für dich wäre es das Beste, du stirbst früh.“ Mir sagte sie: „Für dich wäre es das Beste, du stirbst früh.“ Das hätte ich nicht ernst nehmen sollen, oder wenigsten bedenken, dass sie sich um meine ewige Zukunft sorgte.

Ich hätte lachen sollen. Doch das Gegenteil war der Fall.

Ich sehe mich am Karfreitag 48 in der ersten Reihe des Opernhauses Rostock sitzen, um gegen geringes Entgelt, Richard Wagners „Tannhäuser“ zu hören.

Machtvoll drangen die Worte:  Hoch über aller Welt ist Gott Und sein Erbarmen ist kein Spott!“  Der wegen seiner Liebesaffären büßende Tannhäuser suchte die Vergebung.

Ich, 1946

 

Ich heulte buchstäblich in mich hinein. Wochenlang! Nein noch hatte mich nicht, wie Tannhäuser, in den Venusberg begeben, aber die Versuchung gab es. Und wer weiß? Das Urteil stand bereits fest, falls doch: Du bist zu weich, besser für dich bald zu sterben.

Und dann kam das andere Ereignis: Eines Freitags im Oktober, als ich in unserem Maschinenraum Holzschuhe zurechtschnitt, kam Mutter herein. Sie überreichte mir ein Telegramm: „Gerd, ich brauche deine Hilfe, komm bitte sofort. Walter Krause.“ Ich stoppte sofort den Motor, schaute auf die Uhr und befand mich 30 Minuten später am Bahnhof. Es war die einzige Möglichkeit zu reisen. Mein Ziel lag in 100 Kilometer Entfernung. Es war später Morgen.  Die Fahrt wurde etwa 25 Kilometer vor meinem Ziel unterbrochen.  Die Bahnbeamten teilten uns mit, dass die Bahnstrecke gestört sei. In den nächsten 8 bis 10 Stunden würde es keine Züge in Richtung Berlin geben. 

Ich musste eine Entscheidung treffen. „Na ja“, dachte ich mir, „ich muss einfach laufen…“ Fünf Stunden später erreichte ich hungrig und erschöpft Prenzlau. Walter Krause schüttelte mir die Hand und sagte: „Gerd, wir brauchen den Schlüssel zu den Versammlungsräumen, damit wir morgen unseren Gottesdienst haben können. Mir geht es nicht gut genug, um Bruder Popanz zu besuchen. Er selbst ist krank.  Würdest du uns die Schlüssel besorgen?“ Neubauer Popanz (einer der ersten deutschen Missionare nach dem Ersten Weltkrieg) lebte mindestens 10 Meilen von Krauses entfernt. Also lief ich am nächsten Tag noch einmal etwa 35 km.

Am nächsten Tag, nachmittags gegen 14 Uhr, öffneten wir die Tür zu dem kleinen, aber feinen Zimmer. Ich hatte keine Ahnung, dass dies eine der besten Versammlungen meines Lebens werden würde. Wir hielten unser Treffen im ersten Stock ab. Im Raum direkt unter uns feierten junge Leute eine Party mit sehr lauter Musik.  Es war ein heißer Nachmittag. Wir waren zu sechst oder zu acht und sangen: „Wir danken Dir, o Gott, für Propheten.“ Elder Krause, einziger Sprecher für die nächsten dreißig Minuten, begann zu reden und ich hörte seine ersten Worte. Für mich waren es auch die letzten. Ich fiel in einen tiefen Schlaf. Es war wunderbar. Ich bin sicher, dass ich euch im nächsten Leben dieselbe wahre Geschichte erzählen werde. Hier segneten mich höhere Mächte mit herrlichem Glück, denn genau in dieser halben Stunde konnte ich die wunderbare Kraft eines wahrhaft Heiligen Geistes spüren. Es war, als ob sanfte Wellen wieder und immer wieder liebevoll streichelnd über meinen ganzen Körper glitten. Vor mir stand ein Tisch. Auf ihm lag mein Kopf. Das Großartige nahm ich sonderbarerweise deutlich wahr, obwohl ich fest schlief. Und das obwohl es von unten her sehr weltlich herauf dröhnte, dieses Stampfen vieler Füße auf hartem Parkett, das Wummern und Tosen eines Schlagzeuges. Ich erhielt trotz der entgegengesetzten Umstände die Bestätigung, dass Joseph Smith in seiner Zeit der Sprecher Christi war. Wieder und wieder lehrte er, dass jeder Mensch über einen freien Willen verfügt den niemand, selbst Gott nicht, antasten darf, dass jedermanns Rechte          Joseph Smith 1805-1844

ewig sind. Nur die Geflechte aus Fehlentscheidungen, infolge der uns angeborenen Selbstsucht, können das jedem bestimmte Glück beeinträchtigen. Um ungetrübte Seligkeit zu erlangen sollen wir Christi Gebote halten. Städte sollten übersehbar große Gartenstädte sein in denen jeder jeden kennt, was aufkommender Kriminalität entgegenwirkt. Gesetzesübertreter sollten nicht in Zellen eingesperrt werden, sondern in Bildungseinrichtungen. Bodenschätze gehören allen, nie Einzelnen. Über alledem muss jedem die Würde des anderen wichtig sein. Gott kann man nicht dienen, außer man ist dem Nächsten dienlich.

Genau 50 Jahre später berichtete ich in meiner Ansprache an die Mitglieder in Prenzlau von diesem Erlebnis. Nach dem Treffen kamen Edith Krause und Luise Eckert auf mich zu und sagten: „Ja, wir können uns an diesen Tag erinnern und an die wunderbare Wahrnehmung eines beglückenden Geistes, den wir deutlich spüren konnten. Es war auch für uns eine besondere Zeit."

 

1948 fand das große „Freud-Echo“ Treffen in Westberlin in der Waldbühne statt. Ungefähr 5 000 Mitglieder der Kirche und ihre Freunde kamen zusammen. Teile der Ansprache des Präsidenten der Ostdeutschen Mission, begleiten mich bis heute, da ich nun im 95. Lebensjahr stehe. „Pflegt das Familiengebet.“ sagte Walter Stover. „es bindet eure Herzen stärker zusammen als alles andere in der Welt.“ Jedenfalls fasste ich seine Rede, so zusammen.

 

2006 wurde ich auf kuriose Weise an diese Großzusammenkunft erinnert. Wir standen nach einer der Versammlungen der Herbstkonferenz der Kirche in Salt Lake City zusammen. Etwa zehn oder mehr Leute bildeten einen Kreis. Die Mehrheit wusste wer ich bin. Wir tauschten unsere Erinnerungen aus. Ingrid, meine Frau, stand neben mir.

Aus fünf Metern Entfernung schaute mich eine sehr schlanke Frau intensiv an. Ich zuckte hilflos meine Achseln. In der folgenden Gesprächspause sagte sie: „Aber Gerd du weißt wer ich bin! Ich bin Hildchen aus Berlin. Du hast doch mit mir auf dem Heuboden meiner Eltern geschlafen!“

Das Schweigen der Anwesenden und ihre Augen sprachen Bände.

So kannten sie mich nicht.

Es dauerte einige zäh hinfließende Sekunden, - Heuboden? … in Berlin? – Da fiel es mir wie Schuppen von den Augen: „Das war 1948 während des „Freud-Echos!“ Sie nickte freudig und die andern schauten immer noch verlegen. „Wir waren damals rund 200 Leute die auf dem erwähnten riesigen Heuboden deiner Eltern ein Nachtquartier gefunden hatten.“ Auch Westberlin lag ja damals noch weithin in Trümmern. Wo, wenn nicht auch an solchen Plätzen hätten wir sonst Platz gefunden? Da oben hätte sie – ich weiß es bis heute nicht – direkt neben mir gelegen. Das Aufatmen der uns umringenden Leute endete mit Lachen.

Im Frühjahr 1949 verließ ich Wolgast und wurde Lehrling in einer Baumschule in Prenzlau. Max Zander hatte mir das ermöglicht. Auch er zog nach Prenzlau und wurde Berufsschullehrer, ausgerechnet in meiner Klasse. Da auch die Familie von Walter Krause nach Prenzlau gezogen war, wurde ich ihr Untermieter.

Unter dem Titel „Baumschule“ hatte ich mir etwas ganz anderes vorgestellt. Ich fühlte mich wie ein Sklave und wollte dieses Kapitel meines Lebens so schnell wie möglich abschließen. Allerdings sollte es noch weitere zweieinhalb Jahre dauern, bis ich meine Ausbildung mit der Note „sehr gut“ abschließen konnte. Bis Mitte Juli 1949 lebten wir in den alten Armeegebäuden der Stadt. Dann wurden diese riesigen Gebäude von der neu gegründeten Volksarmee-Armee beansprucht. Drei Monat bevor aus der Sowjetzone die DDR wurde.

Gemälde nach dem Wolgaster Maler Schöngrün

 

 

Viele Jungs meines alters ließen sich locken, in der Armee ein sorgenfreies Leben zu führen. Wo immer sie zuvor beschäftigt waren verdiente niemand monatlich mehr als 250 Mark. Die Werber boten ihnen 800. Wer ohnehin arbeitsscheu dachte, unterwarf sich der damit verbundenen Hirnwäsche. Selbst dem Dümmsten war klar, dass der sich ihnen aufdrängende Kommunismus auf jene Unterwerfung aller ausgerichtet war, die Herr Pfarrer Rößle in seinem Machwerk, der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tag vorwarf. Hatte er nicht wörtlich formuliert: „Das Ziel der Mormonen ist es, alle zu bekehren, um die gesamte Menschheit zu versklaven. Das gesamte System ist darauf ausgelegt, dieses Ziel zu erreichen.“ Flossen nicht aus seiner Feder die denkwürdigen Sätze:

„Diese nominell noch kleine, völlig andere Kirche wird eines Tages globalen Status erlangen. Diese amerikanische Kirche ist ein gefährlicher, oberflächlicher Glaube mit einem völligen Mangel an biblischem Wissen, unterstützt durch die Macht Satans. Unter dem Banner des Evangeliums verbreiten sie ihre Lehren. Aufgrund ihrer satanischen Kräfte wird die Mormonensekte zu einer Weltmacht und einer großen Gefahr für die Nationen der Erde werden.

 

Die Bolschewisten Stalins strebten die Weltmacht an.  Das Hissen der roten Fahne über den Zentren der USA war längst beschlossene Sache.

Wir lasen nicht nur die über der Ostzone von Ballons abgeworfenen Flugblätter die aus Händen westlicher Menschenrechtler kamen. Sie berichteten, wie Angehörige der Kreml - Opposition in Russlands Weiten, als angeblich unverbesserliche Kriminelle sich zu Tode schuften mussten. Wir hörten Westsender und vernahmen Berichte von Frühheimkehrern aus sowjetischer Gefangenschaft. All wussten sehr wohl, um was es ging. Aber Geld stinkt nicht.

Dort in den „Alsen-Kasernen“ fanden bis Juli 49, auch unsere Kirchentreffen statt und direkt über uns versammelten sich die Zeugen Jehovas. Eine Gruppe von etwa 40 Personen. Gelegentlich besuchte ich ihre Gemeinde, um zu erfahren, was andere glaubten. Wir unterhielten uns freundlich miteinander. Dreizehn Monate später erklärte die Regierung die Zeugen Jehovas für verboten.

Kurz bevor das geschah, gab die kommunistische Administration den „Zeugen“ die Gelegenheit sich zu blamieren. Ein abgekartetes Spiel sollte folgen. Die leitenden Männer der Zeugen Jehovas durften eine Großversammlung abhalten. Sie konnten die Versammlung nach Belieben gestalten. Ich war dabei als sie wunderbare Jerusalem Lieder vortrugen. Sie verkündeten: in wenigen Jahren wird Jesus seine Herrschaft auf Erden antreten...

Ungefähr 600 Leute kamen zusammen, - mindestens 500 aus reiner Neugierde - gegenüber vielleicht 50 der frommen Gegenseite.

 

Natürlich musste den Unerfahrenen jeder Satz den die Redner aussprachen weltfremd, verworren und verschroben erscheinen. Dann kam es zu einem Wortgefecht. Ein Kommunist erklärte: „Ich saß 12 Jahre im Konzentrationslager. Ich weiß, einige von euch ebenfalls. Wir Marxisten mussten mitleiden, wenn zusätzliche Schikanen auch über uns verhängt wurden, und das nur weil verbohrte „Zeugen“ sich weigerten die Mütze vom Kopf zu ziehen, wenn ihnen ein SS - Mann begegnete. Wir schämten uns, aber wir übten Disziplin, um nicht eine Steigerung des Zorns unserer Todfeinde herauszufordern.“

Eine halbe Stunde ging es hin und her. Die Atheisten gewannen, wie sie sich zuvor schon ausgerechnet hatten, Pluspunkte, ihre Gegenüber nicht. Es war eine Propagandashow, die mir etwas mehr Verständnis für beide Seiten gab.

 

In der Baumschule leistete ich im Vorsommer 50, harte Arbeit und sehnte das Ende meiner Dienstzeit herbei. Noch lagen mindestens 18 weitere mich strapazierende Monate vor mir.

Damals, in den letzten Junitagen, traf ich, auf der Uckerpromenade einen alten Klassenkameraden wieder, Dieter Kavelmann. Stolz trug er die blaue Uniform der Volkspolizei. (Kasernierte Polizei)

Ich hörte, dass er jetzt in derselben Kaserne lebte, in der ich einige Wochen lang wohnte.

 Eine liebliche, sehr junge Dame schmiegte sich an seinen Arm. Über uns ertönte das Zischen und Dröhnen eines modernen, düsengetriebenen, sowjetischen Kampfflugzeuges. Er sollte zu einem der Zeitzeichen der neuen Gesellschaftsordnung werden, die weltweit siegen wollte. Ich schaute mir Dieters geflochtene silberne Schulterlitzen an. Trotz seiner knapp 21 Jahre war er bereits zum Oberrat befördert worden. Das entsprach nahezu dem Rang eines Oberstleutnants. Allerdings wirkte er älter und reif. Er blickte scheinbar durch mich hindurch und machte eine Bemerkung über die Zwangsjacke, die ich trug. Ja, ich war nichts weiter als ein armer Lehrling, der ich bleiben würde.  Er dagegen war jemand. Ich hasste meinen Job noch mehr als meine eigenen Schwächen. Dieter erkannte, dass ich nur aufgrund meiner starken moralischen Grundsätze nicht den Willen aufbrachte, den Vertrag mit meinem Baumschulen-Chef zu brechen. Er lachte mich aus. Er sah nicht nur glücklich aus, er war es. „Komm zu uns!“, lockte er: „du hast eine vormilitärische Ausbildung, wie ich. Wir suchen solche Leute. Komm und mache mit!“ In meinen Ohren klang es auf jeden Fall eine Weile, wie Musik. "Ja!", schmunzelte er: „Du hast einen klaren Kopf für Ideologie. Ich kenne dich doch!“ Er malte ein fabelhaftes Bild mit leuchtenden Farben.  „Armer Gerd, du verdienst nur 50 Mark im Monat. Wenn du zu uns kommst, erhältst du stattdessen umgehend fast zehnmal so viel. Verlasse deinen Chef, der dich nur ausnutzt.“ Während dieses Gesprächs blickte er wieder auf die schlanke Blondine an seiner Seite herunter. „Nach 6 Wochen wirst du alles haben, was Männer verlangen. Du kannst reden und siehst gut aus. Mädchen mögen dich.“ Die Dame neben ihm lächelte wieder. Ich fühlte, wie mein Gesicht vor Scham und Neid rot wurde. Mir ging danach nur eine Frage durch den Kopf: „Wenn du, Gerd, die Lehre hinwirfst, wer wird das Sagen haben? Wer wird dein Gott sein? Kann Lüge die Wahrheit töten?

Das Einzige, was uns vor Irrtümern und Verwicklungen bewahren kann, ist der entschlossene Wille, nach der Wahrheit zu suchen.

Im Hintergrund erschien die dunkle Gestalt Josef Vissarionovich Stalins deutlich vor meinen Augen – der kalte Ausdruck seines Gesichts, ein Gesicht, das an so mancher Straßenecke und in vielen Amtsgebäuden zu sehen war. Sonderbar, anscheinend liebten immer mehr Leute diesen Mann, der wie Hitler das Leben von Millionen Menschen zerstört hatte. Er war ein Massenmörder.  Diese Tatsache wurde, mittels Propagandatricks, anscheinend verdrängt.

Ich werde nicht zulassen, dass Menschen in seinen Diensten mir Stalins rote Farben ins Gesicht malen. Der Wille eines bösen Mannes, der die Welt unterwerfen will, wird mich nicht zwingen. Stalins Uhr geht anders als meine. Sie bestimmte nun den Rhythmus des Lebens meines Freundes Dieter.  Ich wusste, dass ich nicht dazu geboren war, so zu sein, wie er. Ich hatte Einsichten gewonnen, die er nie gesucht hatte, die er allenfalls für Illusionen hielt.

Doch kurz nach diesem Gespräch gab ich dem Zeitgeist „ein wenig“ nach. Ich brachte die ganze 30-köpfige Gärtnerklasse dazu sich der Freien Deutschen Jugend (FDJ) anzuschließen. Wir sollten damit ausdrücken, dass wir uns den positiven Zielen der neuen Weltordnung nicht widersetzen. Die FDJ war damals noch eine nichtkommunistische Organisation in der Kritik und Selbstkritik geübt wurde. Ich selbst war zuvor eingeladen worden an einer Zusammenkunft von etwa 25 Teilnehmern zu besuchen. Es gefiel mir wie der Gruppensekretär ein überzeugendes Beispiel gab. Er kritisierte die Praktiken des aufkommenden Bürokratismus in der DDR. Zu viele Leute liefen mit Aktentaschen durch die Gegend und zu wenige in Arbeiterkleidung.  Was er unterschlug war die Tatsache, dass es in weiten Teilen Ostdeutschlands kaum Industrie gab.

Hier dominierte der Agrarbereich. Doch vor der superschweren Landarbeit drückte sich nahezu jeder. Noch gab es zu wenig Technik. Gepflügt wurde mit Pferden.  Noch war monogermes Zuckerrübensaatgut, die das mühselige Vereinzeln der Pflanzen später erübrigten, ein Wunschtraum. Mähdrescher wollten in der DDR erst irgendwann gebaut werden.  Dafür liefen immer mehr Polizisten durch die Gegend. In Orten von wenigen Tausenden, wie Prenzlau, gab es mindestens achthundert.  Des prokommunistischen Sekretärs anschließende Selbstkritik klang ehrlich, er müsse sich noch mehr bemühen ein perfekter Mensch zu werden.

Wie sehr gerade dieser Aspekt doch den Idealen meiner Kirche entsprach.

 

Da brach der Koreakrieg aus

 

Im Sommer 1950, hingen riesige Banner aus den Fenstern unserer ehemaligen Tagungsräume in Prenzlau, Alsenstr. 1. Diese roten Stofffahnen waren 20 Meter lang. Sie trugen die Inschrift: „Grüße an unsere Brüder in Korea, die gegen die US-Imperialisten kämpfen.“ Damit sollte darauf hingewiesen werden, dass die Aggression aus Südkorea und den Hintermännern aus den USA kam, und dass die friedliebenden Nordkoreaner zu hilfesuchenden Opfern geworden seien. Sollten die jungen Volkspolizisten, – rund fünfhundert Mann – allesamt, wie in vielen anderen ostdeutschen Städten, an die Seite der Nordkoreaner transportiert werden? Unmöglich war das nicht. Da war er nackt, der Haken, Leute wie mein Dieter könnten ins Feuer hineingezerrt werden.

Intuitiv war mir klar, dies war ein anderer rücksichtsloser Griff der Stalinisten – in diesem Fall mit Hilfe der nordkoreanischen Genossen – nach der Vorherrschaft über unseren Globus.

 

Allerdings, mittlerweile, da meines Wissens weiter nichts Nennenswertes geschah, hatte dieses Ereignis meine zum Positiven neigende Meinung nicht völlig geändert.-

Zu diesem Zeitpunkt war ich bereits zum Schulleiter der 600 Lehrlinge gewählt worden. Ich hielt ein paar Reden vor den Jungen und Mädchen, wollte sie an mich binden und meiner Stimme Gehör verschaffen. Die Idee von der Völkerfreundschaft die derzeitig in allen DDR-Medien hochgelobt wurde, musste mir gefallen, obwohl sie als Propagandamittel missbraucht wurde.

Nach großen spirituellen Erfahrungen im Evangelium hinkte ich nun auf beiden Seiten. Sonntags war ich engagiertes Mitglied der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage und im Alltag Sympathisant der guten Seiten des DDR-Systems. Allerdings wuchs in mir die Zahl der unbeantworteten Fragen.

Dann zeigten sie uns FDJ-Funktionäre im Prenzlauer Kino angebliche Beutefilme, die beweisen sollten, dass die verdammten Amerikaner damit angefangen hatten.  Nur wer das wirklich wollte, konnte glauben, dass der angebliche Aggressor Südkorea im Bündnis mit den USA am ersten Kriegstag, dem 25. Juni 1950, um 60 km zurückgeschlagen wurde.

Meine Begeisterung für die FDJ litt unter diesen unzumutbaren Schiefdarstellungen. Doch der nicht unentwegt aufmerksame Mensch gewöhnt sich an alles, zumal, wie in diesem Fall, alles fernab geschah.

 

Sonntags kam gelegentlich ein Ortspolizist als Beobachter in unsere Versammlungen. Max Zander leitete unsere kleine Gemeinde von ungefähr 30 Mitgliedern, die Hälfte waren Jugendliche. Bruder Fiebig, ein ehemaliger Pferdeknecht und ich fungierten als seine Ratgeber. Fiebigs Ansprachen mögen simpel gewesen sein, aber sie ließen jeden erkennen, wie stark seine Überzeugung war und sein Wille der Kirche zu dienen, die ihn innerlich größer machte. Alle mochten den gut fünfundsechzigjährigen Alleinstehenden, der nun in einem mehr als bescheidenen Altersheim lebte.

Uns bewegten die Zeugnisse der Mutter Eckert. Eine ihrer Schilderungen blieb mir in lebhafter Erinnerung. Sie, aber nicht ihr Ehemann, schloss sich in den frühen 30 er Jahren der Kirche an, zu einer Zeit als es in Deutschland sechs Millionen Familienväter gab die seit Jahren schon arbeitslos dahinvegetierten. Sie erhielten damals nur knapp 7 Mark Wohlfahrtsunterstützung pro Woche von einem Staat der unter den Versailler Reparationszahlungen von jährlich 2 Milliarden Goldmark litt.

 

Ehemann Eckert, obwohl schmal gebaut, verdiente als Grobschmied sein Geld. Er wurde seitens unserer Missionare befragt, ob seine Frau Teil-Zehnten zahlen darf.  Sie selber hatte kein Einkommen. Schmied Eckert, seinem Wesen nach gutmütig, sagte zu: „Unter der Bedingung, dass ich immer ausreichend zu essen habe.“ Dann kam jener Tag an dem Mutter Eckert ratlos in ihrer Küche stand. Das Wirtschaftsgeld war aufgebraucht. Hinlänglicher Vorrat, außer einigen Kilogramm Kartoffeln, Salz und Zucker, war nicht verfügbar. Was sie ihrem Mann vorsetzen konnte wusste sie bei bestem Willen nicht. In ihrer Verzweiflung betete sie in sich hinein: „Vater im Himmel, die Missionare deiner Kirche gaben meinem Mann die Verheißung: Du wirst nie hungrig sein!“

Eine Stunde später klopfte es. Ein Bekannter trug einen Wassereimer. Er nahm das Tuch herunter. Sie sah bis oben gefüllt pfundschwere Barsche: „Heute bissen sie wie verrückt!“ Mutter Eckert schluckte. Er fing sie auf dem nahe gelegenen Uckersee.  Seine Frau hätte noch Barsche vom Vortag: „Mir kam der Gedanke, dass Eckerts große Fischfreunde sind.“

 

Der erwähnte Polizist kam nach einer meiner Reden zu mir. Ich hatte über den großen Evangeliums-Grundsatz des ewigen Fortschritts meditiert. Dem Mann gefielen vermutlich einige Passagen: „Ich komme nicht zurück.“

Dies bedeutete, dass die „Mormonen“, nach der Einschätzung dieses Kontrolleurs, keine Staatsfeinde seien.

Hin und hergezogen nahm ich ein Jahr später im August 1951 an den 3. Weltfestspielen zu Berlin teil, auch weil ich neugierig und lebenshungrig war.

Die Einladung zu diesem Großereignis war breit angelegt. Alle Idealisten, die friedens- und freiheits-liebenden Studenten und Jugendlichen aus aller Welt sollten sich in Berlin zusammenfinden und einander näherkommen.

Allesamt sollten ihre Talente und Überzeugungen zur Schau stellen. Ich ahnte nicht im Mindesten, dass es die bis dahin weltgrößte Sex Party werden sollte. Wir reisten in Güterwagen. Sie waren mit Stroh und primitiven Holzbänken ausgestattet worden.

In Berlin angekommen, hatten wir einen langen Fußmarsch vor uns. Immer wieder stoppte unsere Marschkolonne, aus der ich bald ausscherte. Da saß dann, mitten auf dem grauen Bürgersteig, ein Dreißiger in einem Blauhemd der FDJ, das ich nie trug. Ich kannte ihn. Das war der Prenzlauer Baptistenprediger!

Bei der drückenden Schwüle der Witterung, war ihm wahrscheinlich vom vielen Umherrennen schlecht geworden. Bleich hockte er auf dem grauen Straßenpflaster und stöhnte. Junge Leute umrundeten ihn, ohne mehr als flüchtige Notiz von ihm zu nehmen. Ich ging auf ihn zu, sprach ihn an. Wir betrachteten einander verwundert. Was suchst du hier, dachte ich. Du passt hier doch nicht her. Bist du übergelaufen zu den Atheisten? Wenn du wüsstest, was du für ein Bild abgibst. Möglicherweise dachte er dieselben Fragen an meine Adresse. “Ein Mormone bei den Kommunisten?”

„Ich will nur studieren und sehen, dann urteile ich!“ rechtfertigte ich mich vor mir selber. Aber tatsächlich zog mich die “rote” Welt in jenen Stunden stärker denn je zuvor an. Ich hatte mich bei meiner Tante Berta angemeldet die nahe dem Alexanderplatz wohnte, nicht weit entfernt von dem Ort wo der Prediger und ich einander trafen.

Am nächsten Tag sah ich, wie die Menge der Jugendlichen zugenommen hatte. Die blauen Hemden waren die Farbtupfer in dieser völlig grauen Stadt, in der immer noch die schwarzen Ruinenflächen dominierten. Alle Kinos Ostberlin, alle Kulturstätten standen uns unentgeltlich zu Diensten. Ähnlich verhielt es sich mit der Verpflegung.

Unvergessen die Stimmung der Tausende, insbesondere als Swjatoslaw Richter, einer der Sendboten des Kremls, im Friedrichstadt – Palast, das erste Klavierkonzert von Tschaikowski im Friedrichstadt-Palast für uns spielte. Wie seine Hände über die Tastatur flogen sah ich erregt, weil ich ihm nahe genug saß. 

Die Fülle großartiger Harmonien wollte nicht enden. Es riss uns fast in den Himmel. Ich fühlte wie die wahrhaft göttliche Musik selbst den geringsten Gottlosen erfasste.  Das bewies die Menge der Hände, ihr rhythmisches Klatschen danach, in das ich begeistert einfiel. Alle in ihren Blauhemden waren aufgesprungen, ebenso die ausländischen Gäste. Und dieser anhaltende Jubel war echt. Gemeinsam wanderten wir von einem kostenlosen Konzert (vorgetragen von weltberühmten Künstlern) zum nächsten. Es war ein erhabenes Gefühl, mit so vielen Menschen in besten Absichten verbunden zu sein. Die Stunden vergingen wie im Flug. Eine tschechische Blaskapelle spielte im Freien auf dem Mont Klamott – dem Berg der aus den Trümmern ehemaliger Wohngebäude entstanden war. Die goldenen Instrumente leuchteten an diesem späten Tag unter dem noch blauen Himmel. Hunderte Menschen lagen neben mir im Gras. Dann sah ich neben mir eine zarte, sehr junge Hand. Ohne darüber nachzudenken, was ich tat, legte ich meine Rechte auf die des Mädchens. Es vergingen ein oder zwei Minuten, bis ich ihr Gesicht sah. Es lächelte mich an. Sie muss achtzehn gewesen sein. Wort- und regungslos lauschten wir gemeinsam den anheimelnden böhmischen Volksweisen. Erst als wir aufstanden, fing ich an, Unsinn zu reden. Wir begleiteten uns gegenseitig zwei Stunden lang nach Hause, nachdem die Nacht hereinbrach. Wir umrundeten weite Teile des Alexanderplatzes. Wir gingen nicht Hand in Hand, sondern lässig Seite an Seite. Ich weiß nicht mehr, worüber wir sprachen, aber im Laufe des Abends, sahen wir immer mehr Mädchen und Jungen, die in Hausnischen und anderen Plätzen sich aneinanderklammerten und ihrer Lust hemmungslos freien Lauf ließen. Irgendwann blieben wir vor dem Haus meiner Tante stehen, Mehner Straße 9. Es war das Einzige im Umkreis von zwei- oder dreihundert Metern, das noch intakt dastand. Zwischen den schweren Ziegelfragmenten hing noch der Brandgeruch längst vergangener Nächte des Schreckens. Darüber wölbte sich ein klarer Sternenhimmel. Ich sah im Geist die beiden gelähmten alten Damen, die jahrelang bei jedem Luftangriff unter den Esszimmertisch gekrochen waren, und Gott jedes Mal darum gebeten hatten, beschützt zu werden. Hatten sie es bewirkt, dass dieser Hausteil noch immer dastand? Oder war es lediglich ein glücklicher Zufall gewesen?

„Hast du ein eigenes Zimmer?“

Diese Frage war das Ergebnis meines inkonsequenten Verhaltens.

Nur ich konnte so naiv sein. Sie sagte: „Keine Sorge, ich habe einen Gesundheitspass.“

Ich habe mich selbst verdammt!

"Ich bin Mormone!“ das platzte aus mir, ein wenig gequält, heraus.

Sekundenlang bereute ich meinen Status. Dieser winzige Zeitraum jedoch legte offen, wie anfällig ich Mensch für Versuchungen war.

Ich redete wieder. 

Das ist wahr.

Sie verstand nichts: „Ich bin als Waise unter Jungen aufgewachsen, die mich nie gefragt haben…“

Mit großer Bitterkeit im Herzen, drehte ich mich um.

Ihre Welt kannte keine Leute wie mich.

Ich ließ ich sie einfach dastehen, weil ich mich in der Dahlemer Gemeinde sitzen sah. Sie musste mich als Idioten betrachten. Mit den ersten Schritten kam ich mir vor, als würde mich eine Zentnerlast niederdrücken. Ich hätte wegen der Widersprüchlichkeit meiner Natur heulen können.

Sie wird mich verflucht haben. Und ich habe die ganze Nacht sehr unruhig geschlafen. Am nächsten Morgen, auf dem Weg zur Kirche, zogen mich FDJ-Wachen aus der S-Bahn am Bahnhof Potsdamer Platz heraus. Es handelte sich um die letzte Haltestelle Ostberlins.

Ich wollte wiederum ehrlich sein, trug zwar nicht das blaue Hemd, aber immer noch mein FDJ-Abzeichen am Revers. Die leitenden Kommunisten wussten, welche Anziehungskraft der reiche Westen, gegenüber der Armut im Osten ausübte. Sie wollten verhindern das ihre Anhängerschaft sich nach Westberlin begab, wo man Schokolade kaufen konnte, falls man Ost- gegen Westgeld eingetauscht hatte. 

Ich bin einen langen Weg gelaufen und kreuzte dann erst die Sektorengrenze.  Nach langer Zugfahrt sah ich endlich das brandneue Gebäude meiner Wahl in Dahlem. Es befand sich in der Nähe des Missionsbüros in der Hirschsprungallee. Dieses noble Haus kannte ich seit 1946.  Traurig und innerlich zerrissen saß ich dann in der Kapelle unter vielleicht 150 Mitgliedern. Ich hatte ziemlich weit vorne Platz genommen, wo die beider Damen saßen die als Untersucher gekommen waren, die kurz vor Beginn, auch von mir wissen wollten, wer Joseph Smith sei.

Mein Gesicht für zwei drei Minuten aufgehellt, musste nun wieder meinen Kummer widerspiegeln. Jedenfalls nickte mir ein amerikanischer Missionar, etwa meines alters, ausgesucht freundlich und aufmunternd zu. Das tat mir gut. Ich schaute noch einmal in seine Augen. Ja, er meinte mich.

Es war das schönste, erhebendste Lächeln, das ich bis dahin auf dem Gesicht eines männlichen Mitmenschen gesehen hatte, das mir galt. Sicherlich standen mir meine Selbstvorwürfe der vergangenen Nacht immer noch ins Gesicht geschrieben.

Täuschen konnte ich nie. In der Sonntagsschule besprachen sie eine Passage aus der Bergpredigt. Ehrlich gesagt interessierte ich mich viel mehr für mich selbst – ich sehnte mich danach zu wissen, ob es eine Wahrheit gab, die mich aus meiner schwierigen Situation endgültig befreien würde.

Ich erinnerte mich der Kriegstage als ich im Wohnzimmer unserer Flurnachbarin Frau Stolpe stand. Über dem eisernen, altmodischen Bett ihres dreißigjährigen Sohne Fritz hing ein Christusgemälde.

Der forschende Blick Christi, den ihr Ehemann präsentierte, war, wie mir schien, erfüllt von Mitgefühl für unsere Schwächen und schlecht bestandenen Prüfungen.  Ich dachte an Situationen die wir ungefestigten Menschen so leichtfertig auf uns zukommen lassen, statt ihnen beizeiten aus dem Weg zu gehen. Aber. ER weiß um unsere guten wie um unsre weniger guten Wünsche und Verlangen – insbesondere diejenigen, die unserer Seele langfristig schaden könnten. Denn, die Seele vergisst nichts. Das ist ja der Grund warum wir handeln sollten, wie ER uns liebevoll rät.

In diesem Raum befand sich auch ein Gemälde, das ein Mädchen zeigte, die nackt, in etwa zwanzig Meter Entfernung vom Maler, auf einem kleinen Felsen stand, der Seewind blies ihr ins Gesicht, ihre schönen Haare flatterten, sie aber reckte sich. Damals war ich wohl erst 13, und doch zog mich ihr Anblick schon magisch an. Die alte Dame sagte: „Es ist ein Symbol für Freiheit!“

 

 Meine Absicht war nicht, zu lauschen, sondern vielmehr aus unmittelbarer Nähe zuzusehen und zuzuhören, wie zwei Missionare interessierten anderen Frauen die Erste Vision Joseph Smiths erklärten. Plötzlich faszinierte mich das Gespräch. Ja, es ist wahr. Joseph wusste, was wir glauben. Etwas das Menschen wie ich als schön empfanden: Gott der Allmächtige und sein Messias kümmern sich um unser Glück, das uns nicht in den Schoß fällt, das erworben und auf ihren Rat hin bewahrt sein will.

Was zählte, war nicht so sehr, was diese jungen Männer sagten, sondern wie sie die Prinzipien erklärten, die nur wenigen von Beginn an gefallen. Es gab nicht die geringste Spur von Fanatismus oder Heuchelei. Auf einfache, anschauliche Weise malten die Missionare die Szene, in der Joseph niederkniete, wie die Macht des Zerstörers auf ihn fiel – und dann standen in einer himmlischen Vision zwei Lichtpersönlichkeiten in der Höhe über ihm.

Einer von ihnen rief Joseph beim Namen, zeigte auf die Person neben ihm und sagte: „Das ist mein geliebter Sohn, höre ihn.“ War dies nicht das große Ereignis, nach dem sich die alten Heiligen gesehnt hatten? Die Lehren Christi wurden nach seinem Tod geändert. Menschen wurden nun seit Tausenden von Jahren in die Irre geführt. Nicht die frommen Exerzitien sind es, die Beseligung machen, sondern der zum Guten angewandte Wille.

Christus versprach, dass er zurückkehren würde. Dies berichtet die Bibel. Das Erstaunen Joseph Smiths muss groß gewesen sein!

Mir schien, die beiden Hörerinnen seien angenehm berührt worden. Falls sie nun zu ihrem Pfarrer gegangen sein sollten, was zu vermuten ist, wird er so reagiert haben, wie in tausenden Fällen zuvor andere seiner Amtsgenossen: Um Gottes Willen, die Mormonen sind eine gefährliche Sekte. „Mormonen sind keine Christen“, das sind Seelenfänger. Mormonen sind gefährlich, weil sie dies und jenes glauben. Diese Kirche lehnt die in Nicäa 325 verkündete Lehre vom Dreieinen Gott ab.“ “Religion Dispatches“ of May 27th, 2011

Ich traf in zahllosen gesuchten Diskussionen nicht einen Geistlichen der auch nur annähernd erklären konnte, was das ist, die Trinität.

Damals, 1951, hatte die Evangelische Kirche Deutschlands noch nicht zugegeben, dass die Lehre vom Dreieinen Gott in der Bibel nicht vorkommt. Zu diesem Eingeständnis gelangt sie erst 70 Jahre später. „Die Diskussion um die Trinität begann im vierten Jahrhundert nach Christus. Sie ist sehr philosophisch geprägt, da die Lehre von der Trinität in der Bibel nicht explizit vorkommt.“ EKD  2020

Die Bibel entfaltet keine Trinitätslehre. Es existiert kein Kapitel in der Heiligen Schrift, das dieses anscheinend wichtige Thema aufgreifen würde…“ Aleksandar Vuksanović „Entwicklung der Trinitätslehre in den ersten drei Jahrhunderten", St. Galler Studientag 2016.

Die Bischöfe zu Nicäa wurden im Jahr 325, bewusst verleitet eines größenwahnsinnigen Kaisers Fantasiegeschöpf als ihren Gott anzuerkennen, was schließlich zu Religionskriegen und Ketzerverbrennungen führte. Konstantins Ansprüchen und Wünschen mussten sich alle beugen oder in die Verbannung gehen.

 

Greifswald

 

Einen Monat später, nach Abschluss meiner Ausbildung, meldete ich mich zusammen mit Hunderten anderen Bewerbern beim Berufsbildungsinstitut für Lehrer an. Es wurde „berufspädagogisches Institut“ genannt. Ich wollte Lehrer in der Erwachsenenbildung werden. Mir stand vor Augen, mein Wissen in wichtigen Fächern zu erweitern, um dann meine Einsichten an möglichst zahlreiche zu vermitteln. Sie sollten, wie ich, nachdenklicher die Frage nach dem Sinn des Lebens und nach Gott stellen.  Ich wusste längst, dass viele in dieser Sache oberflächlich urteilten.   Für das Studium brachte ich die notwendigen Voraussetzungen mit.

 

Die Monate vor Weihnachten vergingen so schnell, als wären sie nur Tage. Obwohl weitaus mehr Zeit aufgewendet wurde dialektischen Materialismus-Leninismus zu lehren als Psychologie und Biologie, fühlte ich mich gut. Endlich hatte ich Zeit für Wissenserwerb, anstatt mich mit Spaten und Rechen auf den Feldern, im Regen oder Schnee, im Wind und auf steinhartem Boden abmühen zu müssen. Hier am Institut musste ich nie auch nur einen Finger beugen.  Ich habe mich mit Freude in mein Studium vertieft. Meine Liebe zur Politik und zur Geschichte machten es mir leicht. Wochentags war ich Student des Marxismus, aber sonntags aktiver Mormone. Zunächst hatte ich keine Probleme damit.

 

Im Fach Biologie wurde Morganismus-Weißmanismus scharf verurteilt, die Lehren von Mitschurin und Lyssenko dagegen seien wissenschaftlich korrekt.

Lyssenko behauptete kühn und unredlich, „dass die Eigenschaften von Kulturpflanzen und anderen Organismen nicht durch Gene, sondern nur durch Umweltbedingungen bestimmt würden.“ Ich sage nicht, dass ich damals schon den Schwindel durchschaute.  Ein wenig misstrauisch war ich schon. Lyssenko hat mit seinen Thesen in der Sowjetunion zwischen 1953 bis 1960 schwere Missernten etwa in Kasachstan verursacht. Von Stalin geliebt und gefördert, meinte er, drei Monate Sommer würden ausreichen Mais zu ernten.

Er lehrte die Pflanzen würden sich sehr schnell an die örtlichen Gegebenheiten anpassen. Aber genau das passierte nicht, auch nicht in der vierten Generation. Mais wurzelt tief, schon bevor die Maiswurzeln auf den Nullgradbereich stießen verkümmerten sie.

In Kasachstan taut der Erdboden aber nur bis zu einer Tiefe von 40 cm auf. Die Schuld für örtlich gravierenden Hunger wurde den Bauern zugeschoben die ohnehin nur entsprechend den Weisungen der Partei agieren durften.  Indirekt sollte bewiesen werden, dass gesellschaftliches Sein das gesellschaftliche Bewusstsein bestimmt. Angelegt war das Ganze zur Bestätigung anderer Thesen des „wissenschaftlichen Atheismus“ und damit des „wissenschaftlichen Kommunismus“.

 

Im Herbst 1951 fanden unsere Kirchenversammlungen zu Greifswald in einem separaten Raum einer örtlichen Kneipe statt. Wir kamen zu sechst zusammen. Manchmal waren auch sieben oder acht Mitglieder anwesend. Es störte mich nicht, dass das Lokal klein und voller Rauchgerüche war, dass es nach abgestandenem Bier roch. Da viele neue Studenten in die Stadt zogen, bot ihnen die Universität in Greifswald jedes noch so kleine Zimmer und Zimmer als Unterkunft an. Infolgedessen verweigerten uns die örtlichen Behörden die Erlaubnis, einen eigenen Treffpunkt einzurichten, sodass unsere Gottesdienste in dieser Bar abgehalten wurden, die sonntags für die Öffentlichkeit geschlossen war. Neben dem Ausschank befand sich der Club- und Schlafraum für die Studenten, mit denen ich das erste Semester am Institut verbrachte.

Da es zwischen ihrem und unserem Zimmer nur eine provisorische Schiebetür gab, konnten sie während unserer Treffen jedes gesprochene Wort hören. So fanden sie heraus, dass ich, ihr Mitstudent, ein „Mormonenprediger“ war.  Eines sonntags hielt Bruder Arnold Riemer eine Ansprache. Er war von Beruf Maler und jetzt Neukonvertit. Er war neben mir der einzige aktive männliche Erwachsene. Als er zu sprechen begann, hörten wir bald aufmerksam zu. Zuerst beschrieb er eine Situation, die im Buch Mormon aufgezeichnet ist.

Missionar Ammon kämpfte kraftvoll gegen marodierende Banditen, wehrte sie effektiv ab und galt aufgrund seiner ungewöhnlichen Stärke als eine Art Übermensch oder als Inkarnation des „Großen Geistes“. Als Ammon vor König Lamoni stand – der ebenfalls abergläubisch auftrat – sagte er einfach: „Ich bin ein (normaler) Mensch; ...der am Anfang nach dem Bilde Gottes geschaffen wurde. Sein Heiliger Geist hat mich berufen, dieses Volk zu lehren, damit es weiß, was gerecht und wahr ist.“ Alma 18:34. Das war es. Im Zusammenhang mit jeder Art Religion und Politik kann es nur darum gehen zu erlernen im Umgang mit sich selbst und anderen gerecht und wahrhaftig zu sein. Das war die ursprüngliche Botschaft, eine dringende Forderung, seit Apostelzeiten.

Arnold sprach perfekt über die Grundsätze der Gerechtigkeit. Wie ein Künstler spielte er eine wunderschöne Melodie auf den Saiten seiner eigenen Seele. Je nachdenklicher ich zuhörte, desto mehr wollte auch ich Ammon zustimmen, einem Mann, der die Grundsätze der Tugend vehement verteidigte. Es war einer dieser Vorträge, bei denen Redner und Publikum Ort und Zeit vergessen. Dieser ungeübte Sprecher hatte eine unsichtbare Verbindung zwischen uns und einer höheren Welt geschaffen.

Pure Inspiration ließ uns den Kneipengeruch vergessen.  Unsere bisherige politische Welt der Propagandalügen war nichts anderes als höllische Realität.  Ihr Ziel bestand darin die Machtausübung einiger weniger zugunsten erbarmungsloser Diktatoren zu festigen. Mir kamen wieder die verheerenden Fehlurteile der Pastoren Zimmer und Rößle in den Sinn.

Später, im Dezember 1951, hielt Karl Kleinschmidt, der berühmte evangelische Domprediger aus Schwerin, ein angeblich großer Denker und Mitglied der atheistischen Partei SED, eine Ansprache an uns Studierende und Lehrkräfte. Ich machte es mir auf dem Balkon des hässlichen Altbaus, Stralsunder Straße 1, gemütlich und hatte einen perfekten Blick auf Pfarrer Kleinschmidt. Er hielt eine äußerst kontroverse Rede. So wie ich bislang gelegentlich versucht hatte, Feuer und Wasser zu mischen, tat er es ebenfalls.

Mit großer Energie vermittelte Karl Kleinschmidt den Eindruck, er zöge neue Erkenntnisse aus gewissen Quellen. Wir haben jedoch sehr wohl vernommen, wie es in seinem Kopf rumpelte. Er erzählte eine Geschichte über einen seiner Pastoralbesuche bei einem 80-jährigen Mann der freimütig zugab: „Oh je, Sie müssen wissen, Herr Pastor, Sie sind zum falschen gekommen. Vor mehr als 20 Jahren bin ich aus der evangelischen Kirche ausgetreten. Ich bin Kommunist!“

„Na dann“, habe er geantwortet: „in diesem Fall bin ich gekommen, um einen gleichgesinnten Genossen zu besuchen. Glückwunsch! Du liegst nicht falsch, du bist der richtige Mann. Ich bin ebenfalls Kommunist“

Mir schien, dass nicht nur mir die Art und Weise missfiel, mit der sich dieser Vertreter des atheistischen Staates und der evangelischen Kirche verhielt.   (Kleinschmidt war Leitungsmitglied des atheistischen Deutschen Kulturbundes)

Das war ein Spagat.

Ich schaute in mich: Gerd, versuchst du das nicht ebenfalls?

Jemand, aus Reihen der 300 Anwesenden, fragte ihn ob er als moderner Pfarrer damit einverstanden sei, dass Kleinkinder quasi gegen ihren Willen getauft würden, um so Mitglied einer speziell ausgerichteten Kirche zu werden.  Da dachte ich: „Hier wird er straucheln!“ Aber zu meiner Überraschung wies sein breites Gesicht nicht die Spur von Überraschung aus. Er zögerte keine Sekunde, obwohl jeder die Berechtigung dieser Anschuldigung erkannt haben müsste. Keck wandte sich der 50-jährige Geistliche an den Fragesteller: „Genosse“, sagte er, „wenn du heiratest und Kinder hast, werden sie dann nicht automatisch Bürger deines Staates? Ist das ein Verstoß gegen den freien Willen?“

Seine kühn-freche Hinweg - Erklärung wurde, wohl auch wegen ihrer Schlauheit, mit viel Applaus akzeptiert. Die Mehrheit in diesem Saal musste wissen, dass Pfarrer Kleinschmidt, die Wahrheit frisierte. Aber, der Druck des Augenblicks wurde auf null reduziert.

Nach dem Vortrag Pastor Kleinschmidts wusste ich, was ich zu tun hatte. Ich werde meinen Beifall für die nächste Lesung, falls sie ebenso windschief daher kommt zurückhalten.

Kurz darauf leitete Dozent Kirchberg eine Diskussion über Maxim Gorkis Roman „Die Mutter“. Er schloss mit den Worten: „Aus Verantwortungsbewusstsein und Liebe zur DDR sind wir verpflichtet, Provokationen zu unterbinden. Wir müssen, wenn die Klassenfeinde sich quer stellen Widerstand leisten.  Wenn jemand sich als Feind der DDR erweist muss er den staatlichen Organen ausgeliefert werden!“  Das hieß im Klartext, zeige jeden Oppositionellen an, auch wenn es dein Vater oder deine Mutter ist.

Kannte ich das nicht schon, aus der Nazizeit?

Ich saß, an jenem Tag, unter den 100 Hörern, in der ersten Reihe. Alle, außer mir, klickten mit ihren billigen Schuhen oder klatschten. Der elegante 30-jährige Kirchberg starrte mich an. Er stellte mir sofort die Frage: „Widersprichst du mir?“, zuerst nur mit den Augen, dann akustisch. Mit seiner kompromisslosen Ideologie und seiner 1,80 m großen Statur überragte er mich nicht nur körperlich. Insbesondere alle Frauen auf dem Campus betrachteten ihn als einen der überlegenen Intellektuellen. Einige Mädchen himmelten ihn an. Seinem ganzen Wesen nach, schien er nicht der Typ zu sein, der die Peitsche gegen seine Mitmenschen einsetzte. Bislang nutzte er seinen natürlichen Charme, um Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Seine hoch gezogenen Augenbrauen bedeuteten mir, ich hätte meine Weigerung, ihm nicht zu applaudieren, zu rechtfertigen.

Es fiel mir nach der Rede Pastor Kleinschmidts nicht schwer, deutlich Stellung zu beziehen: „Ich halte es für ungerecht, jemanden nur wegen konträrer Ansichten Strafe anzudrohen.“

Da ich keine Szene machen wollte, sprach ich allerdings leiser als sonst. Kirchberg antwortete: „Das ist eine grundsätzliche Frage! Wir tragen Verantwortung für unsere junge Republik. Wir haben schon genug Feinde! Hier geht es ums Ganze!”

Jetzt brannte es in mir. Ich würde nicht zurückweichen: „Ein Lump ist ein Lump ob er braun oder rot ist!“

Er war alt genug. Er musste wissen, dass es Naziart war sonst unschuldige Leute hinter Gitter zu bringen die sich lediglich dem unredlichen Zeitgeist widersetzten. Er war doch ebenfalls Zeitzeuge.

Offensichtlich schien Kirchberg, wegen des Grades der Berechtigung meiner nicht ungefährlichen Erwiderung, für den Augenblick leicht verunsichert.

Jetzt gab es für beide Seiten keinen Ausweg. 

Natürlich wurden wir beobachtet.

Meine Mitschüler hatten den Hörsaal ja noch nicht verlassen. Es musste sich herumgesprochen haben, dass ich „Mormone“ war.

Aber es gab noch einen zweiten, Richard Wunderlich, der nie an unseren Treffen teilnahm und der bis dahin in einem sächsischen Uranbergwerk gutes Geld verdiente.

Beim Abendessen saßen wir gemeinsam am Tisch, als ein Witz erzählt wurde, der nicht gerade gesellschaftsfähig war. Ich verließ meinen Platz, Richard blieb dort und lachte mit den anderen. Er sagte: „Ich bin kein so zimperlicher Mormone wie er!“ Kirchberg musste vermeiden, im falschen Licht zu erscheinen. Nämlich, dass ich ihn in eine Diskussion verwickelte, die ihm Unbehagen bereiten könnte. Also sagte er laut und bewusst unhöflich: „Das Proletariat wird uns fragen: „Wer wen?“ Ich habe den Hintergrund dieser dummen Frage sehr gut verstanden. Es war die törichte Machtfrage, die alle moskautreuen Kommunisten denen stellten, die pro- demokratisch dachten.

Ich hatte bis dahin (Dezember 1951) mit zahlreichen Menschen unter vier Augen gesprochen. Da war auch nicht einer gewesen, der dem derzeitigen kommunistischen Regime rückhaltlos positiv gegenüberstand. Aber die Wahlen die abgehalten wurden zeigten exakt das unehrliche Gegenteil.

Wer in weitem Umkreis wusste nicht, dass in Russland (in der UdSSR) angeblich fast 100 Prozent der Bevölkerung den Stalinismus liebte, dass aber dort die Angst vor Repressalien durch die Staatspolizei (GPU, oder NKWD) die Tagesordnung bestimmte. Kirchberg beendete das Gespräch mit gedämpfter Stimme: „Sicher sind Sie klug genug, um zu wissen, dass es keinen Weg zurück in die Vergangenheit gibt.“ Er sah mich ernst an: „Sie sind gefährlich für die Gesellschaft. Sie haben hier zu viele Freunde.“ Ich nickte heimlich. Jeder in unserem Institut hegte, wie ich, seine eigenen Zweifel. Das alles geschah nur drei Tage vor den Weihnachtsferien.

Wir reisten gemeinsam in die gleiche Richtung zu unseren Familien.

Wir setzten die Diskussion im Zug fort.

Beide wussten, dass binnen kurzer Zeit eine Entscheidung fallen musste. Entweder ich kroch zu Kreuze, oder ich werde das Institut verlassen.

Hatte Kirchberg jemals über die Möglichkeit nachgedacht, in die freie westliche Welt zu fliehen. Hatte er nie Meinungsverschiedenheiten mit seinen Kameraden? Die Flucht war einfach – man stieg in den Zug, in Berlin aus und lief mehrere Meter. So einfach war das vor dem Mauerbau (im August 1961):

 

Als ich Herrn Kirchberg, nach den kurzen Ferien, meine Entscheidung mitteilte, war er schockiert. An seinem Gesicht konnte ich erkennen, dass er damit nicht gerechnet hatte. Sondern eher meinen Gesinnungswechsel. Verärgert bestand er auf gründliche Neubetrachtung unserer Überzeugungen. Er hatte nämlich zugegeben, dass ich weder bösartig, noch dumm oder feige sei.

Zu dieser Zeit war er noch der Überzeugung, dass seine Ideologie jeden redlichen Bürger gewinnen müsste. Es durfte nicht sein, dass ein kleiner Frommer über stärkere Argumente verfügte! Außerdem sei ich doch der „geborene Lehrer!“

Wörtlich: „Ich werde Ihren Rücktritt nicht akzeptieren, bis wir die Angelegenheit weiter geprüft haben.“ Glaubte er, er könnte mich umdrehen?  Meinte er wirklich er sei imstande „religiösen Unsinn“, wie er es nannte, zu beseitigen? Ich nahm sein Angebot für weitere Gespräche an – und auch das überraschte ihn.

Kirchberg sowie der Direktor, Herr Roderich Schmidt und ich trafen uns sodann 5 Abende im Stalinzimmer, in den Räumlichkeiten des Greifswalder Instituts, Marktplatz 1. Hin und wieder kam Stanke, der Parteisekretär, hinzu. Die Idee, dass ich das Institut aus ihnen unverständlichen Gründen verlasse, gefiel auch anderen Lektoren nicht. Sie erwiesen ihre Entschlossenheit, meinen Glauben an Gott zu erschüttern. Ihre scharfen Argumente gingen hin und her.

Ich hatte jedoch das Gefühl, dass sie guten Willens seien. Sie bemühten sich, mich von der verheerenden Rolle zu überzeugen, die das Christentum im Verlaufe der Geschichte der Menschheit spielte. Damit konnten sie nicht punkten, das wusste ich besser als sie. Für mich war Religion sowohl Herzensangelegenheit, wie der Vernunft.

 

Am ersten Abend ging es querfeldein. Ich spürte den Hass der Lektoren auf die Kirchen und ich brachte zum Ausdruck, dass ich „Mormone“ bin, wegen deren Fehlentwicklung. Es war nicht einfach, diesen Neuanhängern der „Diktatur des Proletariats“ zu verdeutlichen, dass die Geschichte der christlichen Religion entgleiste, sobald sich Diktatoren erdreisteten die Führung der noch jungen Kirche zu übernehmen. Mir war klar, dass Gewalt und das Evangelium Christi einander ausschließen.

Diktatoren sind immer Todfeinde des Individualrechts jedermanns, gleichgültig was sie sonst noch vertraten. Andererseits garantiert Christus uns das Recht auf Entscheidungsfreiheit. Er ist der Erlöser von allen Zwängen. Berühmt sind seine Worte: „Die Wahrheit wird euch freimachen.“ Joh. 8: 32

Er bekennt unmissverständlich, dass ihm die Hände gebunden sind, wenn wir nicht wollen. Matt. 23: 37

Ein typischer Diktator gegenüber dem freien Glauben war Bischof Damasus von Rom. Im Jahr 366 beschloss er Papst zu werden. Er stellte die Machtfrage. Sein Amtskollege Ursinus stand ihm im Wege. Damasus heuerte einen Schlägertrupp an um die Anhängerschaft des Ursinus zu vernichten. Beides gelingt ihm. Heute zählt ihn die römische Kirche unglaublicher Weise zu den legitimen Sukzessoren Christi. Ich sah es meinen Gesprächspartnern an. Das wussten sie nicht. „Zu den übelsten Charakteren der Geschichte zählt ein weiterer Bischof der Kirche: Ambrosius von Mailand.

Er ist ein Kriegshetzer, er übte seine Macht als Kaiserberater brutal aus. Er verbot jede Religion innerhalb der Grenzen des riesigen römischen Reiches. Nur die von Damasus von Rom gebilligte „Kirche“ habe ein Existenzrecht. Griechische Tempel ließ er schleifen. Juden sagte er den Kampf an.“

 Ich sprach ihnen offensichtlich aus dem Herzen. Ich biss mir jedoch auf die Zunge und verkniff mir zu sagen: Lenin sei der Geistgenosse dieser beiden Kirchenfürsten. Niemand konnte leugnen, dass Lenin zum roten Terror aufrief.

Aber ich hatte noch ein Beispiel: Bischof Otto von Bamberg. Viele Historiker rühmen ihn als Muster der Sanftmut. 1128 lässt er, mit dem „Recht“ des militärisch stärkeren, den Herovit Tempel zu Wolgast, meiner Heimatstadt schleifen: „Da gibt es einen gusseisernen Brunnen. Er steht auf einer Freifläche vor dem Rathaus. Am äußeren Rand gibt es 8 oder 10 Bilder die an die wichtigsten historischen Ereignisse der Stadt erinnern.

Eins zeigt, wie das sogenannte „Christentum“ seit dem 4. Jahrhundert handelte.   Bis 1128 glaubten die Bürger dieses alten Herzogtums an Herovit. Nun mussten sie ihn entgegen ihrer wahren Überzeugung verleugnen. Das konnte nur Heuchelei hervorrufen.

Links ist ein Soldat mit einem riesigen Schwert zu sehen, daneben ein Mönch-Priester. Er soll diese Heiden in einem provisorischen Zelt taufen. Sie stehen nackt in einer riesigen Holzwanne, die bis zu den Knien mit Wasser gefüllt ist. Sie hatten keine Wahl. Bischof Otto von Bamberg segnete sie, doch in Wirklichkeit ging es nur um die Sicherung politischer Interessen der Herzöge Wratislaw und Bogislaw. Es war Vergewaltigung von Menschen zugunsten der Vorherrschaft zweier Diktatoren. Russland wurde schon im Jahr eintausend der Wille damaliger Diktatoren aufgezwungen...  Ich will frei in meinen Entscheidungen sein.“

 

Wahr ist, diese Männer zu Greifswald, verachteten mich nicht. Im Gegenteil. Nur Stalin, dessen Büste den Raum dominierte, starrte mich grimmig an. Der Hauptpunkt den meine Gegenüber nun ins Feld führten bestand in den Verweisen, dass wir dem Tierreich entstammen. Für einen Schöpfer, wie ihn die Bibel beschreibt, sei kein Platz. In der Tat, das war der fragwürdige Teil meiner Weltanschauung. Aber, der entscheidende Punkt ist die unterschiedliche Definition des Begriffes „Mensch“. Die allgemeine Vorstellung meint das Sichtbare, - das sterbliche Wesen - mormonisches und urchristliches Verständnis meint dagegen das Unsichtbare: „Der Mensch ist Geist.“ Lehre und Bündnisse 93: 33. Dieser ist nicht das Produkt der Evolution. Darwinismus ist folglich nur die Hälfte der Geschichte. Tatsache sei, dass das Buch Mormon durchaus – wenn auch nur indirekt – zwischen Heutemenschen und voradamitischen unterscheidet. 2. Nephi 9: 21 und Mormon 3: 20

 Ich habe gehört, dass es eine christliche Splittergruppe Italiens gab, die Bagnolesen. Sie behaupteten, ihre Schöpfungslehre stamme aus Apostelzeiten, und die sagt: “nachdem Gott das Weltall schuf, überließ er die Lenkung der Dinge der Natur.“  Henry Charles Lea „Geschichte der Inquisition im Mittelalter Bd. I S. 109

Und es kommt ein Fakt hinzu. Meine Kirche lehrt mit Blick auf den Schöpfungsakt: „Die Götter wachten über die Dinge die sie befohlen hatten, bis die Dinge gehorchten.“ Köstliche Perle Abraham 4: 18 Für mich folgt daraus, dass Evolution ein Werkzeug Gottes war. Seit meinem siebzehnten Lebensjahr wusste ich, dass die Bibel zwei Schöpfungsberichte kennt, den elohistischen Gen 1:1-2:3 und den jahweistischen Gen 2:4-3:24 Architekt Elohim schuf alle Dinge zuvor geistig, während Christus (Jahwe, oder Jehova) als Baumeister wirkte. „Mormonen glauben buchstäblich, dass wir Ebenbilder und Kinder der ewigen Götter sind. Das deutet Goethe an.“ Roderich Schmidt fragte sofort ein wenig aufgebracht: „Wo steht das geschrieben?“  Ich verwies auf „Faust“ I, den Missionar Walter Krause lange Passagen hindurch oft in Privatgesprächen auswendig zitierte. „Wir stammen aus den Gefilden hoher Ahnen…“ Das liegt doch tief in uns. Wir sind die Erbauer von Palästen mittels Wissens“. Bienen und andere Insekten bauen instinktiv was wir bewusst tun. Wer verlieh ihnen diese Fähigkeit?  Immerhin fand ich gewisse Anerkennung. Umso eifriger bemühten sich meine Gesprächspartner mich auf ihre Seite zu ziehen.

Möglicherweise waren wir Beteiligte am Schöpfungsakt.

Allgemein nimmt man an, dass Zufälle Leben hervorbrachten. Ich halte es für logischer daran zu glauben, dass alledem ein Plan vorausging. Die Antworten die ich gab, verblüfften.

 Der Kern der Heilslehre der „Mormonen“ lässt sich indessen mit wenigen Worten ausdrücken: Wir sind ewige, in ihren Entscheidungen freie, auf eigenen Wunsch ins Fleisch gefallene „Intelligenzen“.

Damals allerdings verfügte ich noch nicht über die Erkenntnis, dass Origenes (185-254) genau das lehrte.  Er war nachweislich der Spitzen-Theologe der christlichen Akademie zu Alexandria.  Fälschlich werden deren Lehren von großkirchlichen Theologen immer noch als „Origenismus“ bezeichnet und damit auf ein Minimum an Glaubwürdigkeit reduziert.

Immerhin lehrte und beschrieb Origenes (185-254) nebst Hippolytos von Rom, die später einheitlich von der Mehrheitskirche verworfene Theologie: Der Himmel sei die Heimat der Seele jedes Menschen derer die zur Familie Adams gehören.  Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft 3. Völlig neu bearbeitete Auflage Vierter Band Kop-O

Ich hatte es 1948 tief in meiner Seele gespürt, dass dauerhaftes Glück in Unfreiheit nicht gedeiht. Was ich allerdings nicht sagte, war, dass unser Prophet Joseph lehrte, dass es Satan war, der „gegen Gott rebellierte und versuchte, die Freiheit des Menschen zu zerstören, die der Herr, Gott, uns gegeben hatte“. Wir sind dafür verantwortlich, das zu behalten, was wir bereits (im vorirdischen Leben) erworben haben – das Recht auf Handlungsfreiheit. Dies ist das Fundament, auf dem die Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage aufgebaut ist.

Als ich 1945 las, wie unverfroren die lutherischen Geistlichen Zimmer und Rößle behaupteten und geradezu schworen: „„Das Ziel der Mormonen ist es, alle zu bekehren, um die gesamte Menschheit zu versklaven”, wusste ich, das ist gelogen. Ich bin mir nicht sicher, ob ich damals, in Greifswald, hinzugefügt habe: „Euer Staat wurde gemäß der ‚Diktatur einer Partei‘ errichtet.“ In Wirklichkeit diktierte nicht die Arbeiterklasse, sondern ein einzelner Mann, und der sitzt im Kreml. Das wäre allzu provokativ gewesen. Aber, meine Erkenntnis, dass der zu jener Greifswalder Zeit noch andauernde Koreakrieg Beweis genug war zu sagen: Ziel der kommunistischen Diktatur ist die atheistische Weltherrschaft. Mir scheint, ich hätte das angedeutet, denn sie fragten mich: „Du wusstest, dass hier der Marxismus-Leninismus Basis aller anderen Lehren ist, warum kamst du her? Ich erwiderte: „Es gibt eine Reihe von Übereinstimmungen. Alle Mitglieder meiner Kirche glauben an den Fortschritt, wie ihr. Dass die Schätze der Erde niemals zugunsten von Kapitalisten ausgebeutet werden dürfen. Sie gehören dem Volk. Wir sind grundsätzlich gegen Ausbeutung Wir sind für eine Weltregierung die künftige Kriege ausschließt und nicht zuletzt sind war überzeugt, dass Bildung Krisen lösen kann.“

Jeden Abend hatten sie 2 Stunden Überzeugungsarbeit eingesetzt, ich aber auch. Schließlich durfte ich ein letztes Wort sagen, bevor sie mich freiwillig entließen. Mir lag daran noch einmal zu unterstreichen, dass meine Kirche ungemein stark betont, dass Menschenrechte heilig sind, dass unser Verständnis jede Religion oder Ideologie ablehnt die Gewaltanwendung (außer in Kriegszeiten zur Selbstverteidigung) zulässt: Meine Religion lässt sich vielleicht am Besten mit den Worten Friedrich Schillers beschreiben: „Alle Menschen werden Brüder, wo Sein (Gottes) Flügel weilt!“

 

 

Neuanfang

 

Am 17. Januar 1952 kam ich im Dorf Cammin an, wo sich für mich eine neue Tür öffnete. Ich wollte meinem Freund Fischermeister Kurt Meyer helfen. Er hatte vom Staat rund 180 Hektar Seefläche gepachtet.  Wo sollte ich sonst hingehen? Die Kirche wünschte, dass wir vor Ort helfen sollen Zion zu errichten. Eine Flucht in den Westen schloss ich also aus. Kurt – der wie seine Frau Helga treue Mitglieder waren - sagte zu, mir tausend Quadratmeter Land zu übergeben um den Start zur Bildung einer kleinen Baumschule zu ermöglichen, im Gegenzug sollte ich ihm unentgeltlich helfen. Meinen Schlafplatz sollte ich im ausgebauten Dachboden des kleinen Meyer-Hauses finden, das malerisch an einem großen See gelegen war. Aber, es wartete bereits das nächste Problem auf mich. In unmittelbarer Nachbarschaft gab es eine sehr freundliche Dame...

 In den folgenden Wochen ernteten wir Rohr auf den zugefrorenen Seen.

Ich schob ein Schneidegerät vor mich her, das die Stängel absäbelte.

 Am frühen Morgen glitzerte in den ersten Sonnenstrahlen ein dicker weißer Reif auf den Spitzen des schlanken Schilfrohrs. Als wir unter strahlend blauem Himmel unserer Arbeit nachgingen, fielen mir die Eisflocken ins Gesicht, aber ich war glücklich. Als Belohnung für meine damalige Arbeit erhielt ich eine kostenlose Unterkunft, sowie herzhafte Mahlzeiten. 

So wurde ich Teil der Familie Meyer. Nur wenige Wochen später erhielt ich Post von meinen Freunden im Institut. Sie schrieben: Direktor Roderich Schmidt, der „Superkommunist“, sei verhaftet worden. Er hatte Stipendiengelder unterschlagen, um eine seiner Schülerinnen zu gewinnen, die jedoch die Geliebte des Parteisekretärs gewesen sei...

Einen Monat später kam die Nachricht, dass die Lehrerausbildungsstätte – das berufspädagogische Institut - geschlossen wurde.

 

Gegen Ende Februar tat die Sonne ihr Bestes. Sie weichte das Eis auf unseren kleinen Seen. Insbesondere in Ufernähe, brachte sie es zum Schmelzen. Auf dem Teschendorfer See lagen noch mehr als 400 Bündel Schilf. Kurt indessen musste einen Termin beim Zahnarzt in der Stadt einhalten, und er sollte und wollte danach noch kranke Freunde besuchen. Er bat mich, die Schilfbündel zu retten. Beschäftigt mit dieser Aufgabe, zerbrach das Eis immer wieder und ich befand mich dann knietief im eisigen Wasser. Obwohl es nicht lebensbedrohlich war, war es sehr unangenehm. Ich war dankbar für den Schutz, den meine Gummistiefel boten. Mein Bemühen verlief sehr langsam. Gegen 17 Uhr begann es dunkel zu werden und es lagen immer noch viele Bündel auf dem Eis. Denn bis zur Straße, von der ein Weitertransport möglich war lagen fast zweihundert Meter Weg vor mir.   Entschlossen, sämtliche Bündel zu retten arbeitete ich daher weiter in der Dunkelheit, bis ich meine Arbeit endlich erledigt hatte. Ich beschloss, nicht über den See nach Hause zu gehen, obwohl einsetzender Frost das Eis wieder härtete.

Ich kam zu dem Schluss, dass ich den sehr viel längeren Weg um den See herum nehmen sollte. Gut gelaunt trat ich meinen 3 km langen Marsch zurück nach Hause an. Über mir malten die Sterne ein Bild der Schönheit und erinnerten mich daran, woher ich gekommen war und wohin ich einmal zurückkehren wollte. Es machte mir nichts aus, dass ich teilweise bis auf die Knochen durchnässt daher marschierte. Die Bewegung wärmte mich. Der Gedanke, dass ich zumindest sowohl in meinem Herzen, wie in meinem Kopf frei war, machte mich immer wieder glücklich. Als ich durch die letzte Tür eintrat, sah mich Helga, die Dame des Hauses, an, als wäre sie schockiert.  Sie konnte die Tränen nicht verbergen. Sie stotterte: „Gerd! Und ich dachte, du wärst ertrunken.“

Aber, was ich erst später erfuhr, unsere Nachbarin bangte an jenem Abend ebenfalls um mein Leben. Hinter den Gardinen hätte sie gewartet.

Der Nachtfrost kehrte zurück. Kurt und ich konnten das restliche Schilf auf anderen Seen ernten.

Ich grub, sobald der Boden aufgetaut war, mit meinem Spaten täglich mehr als hundert qm um. Und im März reiste ich in die Stadt, um die Vorräte zu kaufen, die ich für den Beginn meines kleinen Abenteuers brauchte. Von einer nahen gelegenen Baumschule ließ ich mir zuvor 1500 Rosenwildlinge, 1 000 Mahaleb (Unterlagen für Sauerkirchen sowie 1000 Apfelwildlinge des Typs 9 zuschicken.

Im Abteil des Zuges, das ich öffnete saß unsere freundliche Nachbarin. Mir schien sie sei bekümmert. Ihr gefiel, dass ich mit ihr, einige Minuten, harmlos plauderte. „Sie sind ein Schatz!“ sagte sie und fuhr weiter.

An diesem Reisenachmittag kam ich zurück, ging in den kleinen Warteraum, der auch als örtliche Kneipe und als geselliger Treffpunkt für die Männer des Dorfes diente. Das sollte schwerste Folgen nach sich ziehen. Ich kann mich nur an ein paar hin und her fliegende Worte erinnern, weil es mich damals nicht interessierte. Außerdem wurde disharmonisch gesungen.

Bald darauf erfuhr ich, dass der Bürgermeister unseres Dorfes – Herbert Schindler – verhaftet wurde. Ein Mann in seinen Dreißigern, der seines Charakters wegen, allgemein hochgeschätzt wurde.

Eine Woche verging und Schindler war immer noch nicht zurückgekehrt. „Gerd, der Bürgermeister ist nicht zurück“, murmelte Helga, „die Bauern vor Ort verdächtigen dich.“ Da ich mir keines Fehlverhaltens bewusst war, vergaß ich unser Gespräch in der Küche und wandte meine Aufmerksamkeit der Arbeit des Tages zu. Am Ende dieser Woche der allgemeinen Angst um Herbert Schíndler, spazierte ich auf dem Heimweg vom Dorfkino durch den Park hinter dem alten Schloss. Aus der Dunkelheit tauchten drei schwarze Silhouetten von Männern auf, die schnell auf mich zukamen. Meine Augen hatten sich an die Dunkelheit gewöhnt und ich erkannte Neumann und Schulz, den Dritten nicht, kräftige Gestalten: „Du warst es!“

"Verräter! Mit den Frauen anderer Leute herum poussieren!“

„...Wir werden dich ersäufen.“

In der Tat, das schwarze Wasser des Camminer Sees war nur zehn Meter von uns entfernt. Es blieb mir nur noch eines zu tun. Ich musste ihrem Sinn für Gerechtigkeit vertrauen. Ich musste die angetrunkenen Männer beruhigen. Was die Vorwürfe gegen mich bezüglich der Ehefrauen anderer Männer und der Verhaftung des Bürgermeisters angeht, hatte ich wirklich keine Ahnung, außer dass ich ein Stück Kuchen von einer der Frauen des Dorfes erhalten hatte und mich dafür bedankte.

Da ich ruhig blieb, statt zu zittern, beruhigten sich auch die Männer vorübergehend.

„Na ja“, polterte Neubauer Neumann in höhnischem Ton „wir werden es schon herausfinden… Alles wegen eines Liedes... Du hast das Geld gebraucht, nicht wahr? …Die Stasi hat dich belohnt… 60 Mark – Judas‘ Lohn.“

Die geisterhaften Schatten rückten näher und ich befand mich, wie eine Fliege, im Spinnennetz. In einem Eid vereint hielten sie mir ihre Fäuste unter die Nase. Es stimmte definitiv, dass ich so arm war wie eine Kirchenmaus. Geriet ich vielleicht unter Verdacht, weil ich nie in ihre örtliche Bar ging? Neumann, der mir wirklich gefährlich erscheinende, stattliche Mann, dessen Sohn zu seinem Stolz Literaturgeschichte studierte hatte mehrere Versuche unternommen, Helga, Kurt Meyers Frau, zu umgarnen. Aber sie hätte ihn immer abgewiesen. Das hörte ich von Kurt.

Ich wusste auch: Neumann hasste mich vom ersten Tag an. Regelmäßig kam er abends an den See, um Fässer zu füllen, die er im Winter und Sommer auf einem Schlitten transportierte, um sein Vieh zu tränken. An jenem Kinoabend ließ er mich seine Überlegenheit spüren, indem er sich demonstrativ streckte und auf mich herab sah Er gab mir das Gefühl, ich wäre nichts als ein bettelarmer Bösewicht. Plötzlich drehten sie mir den Rücken zu und stolzierten davon. Mehrere Tage hindurch musste Herbert Schindler polizeiliche Verhöre über sich ergehen lassen. Er kam zurück, als wäre nichts passiert.

Er wirkte wieder locker, wie immer. Ich musst ihn sprechen. Im total verwahrlosten Schloss befand sich sein kleines Büro. Er bot mir einen Stuhl an. Mit unsicheren Händen zündete er sich eine Zigarette an und begann dann frei zu reden. Zunächst entlastete er mich: „Ich weiß, wer mich bei der Stasi anzeigte. Du warst es nicht. Ich habe es schon gewissen Leuten mitgeteilt.“  Er gestand, dass es von seiner Seite als Bürgermeister und wichtigsten Mann seines Dorfes dumm gewesen sei, an einem öffentlichen Ort ein natürlich verbotenes, altes deutsches Kriegslied zu singen: „Wir fliegen gegen England, Bomben auf England …“ – „Bomben über dem Land der Engel“. Er sei betrunken gewesen.

Sein Song war und blieb jedoch eine Verehrung des Faschismus und ein Lob auf den Krieg. Die Strafe für solches Verbrechen betrug nach dem kommunistischen „Gesetz zum Schutz des Friedens“ fünf Jahre Gefängnis. Als ich an jenem für ihn folgenreichen Nachmittag meinen Kopf kurz ins Wartezimmer des kleinen Bahnhofes steckte, bestand die Möglichkeit, dass ich ihn bewusst belauscht haben könnte.

Aber daran konnte ich mich nicht erinnern.

Dann schaute er mir direkt ins Gesicht. Er sagte was ich bereits wusste: „Die Männer in diesem Dorf mögen dich und Kurt nicht!“ Verklausuliert sagte er: Ihr macht euch mit eurer Religion zu Außenseitern.

Mir war klar warum die Inquisitoren Herbert ungeschoren entließen. Hätte er gesungen „Bomben auf Moskau“, er wäre jahrelang hinter Gittern verschwunden und ich wäre verloren gewesen. Doch England und Amerika waren Vertreter des räuberischen Kapitalismus und damit Todfeinde des Kommunismus.

Befriedigt ging ich meiner harten Arbeit nach.

Am Abend des 5. April ging ich erschöpft und früh zu Bett. Auf dem Gramelower See hatte ich Stellnetze vom Vortag gehoben und mehrere große Hechte gefangen, sowie stattliche Barsche von deren Verkauf ich ein Drittel der Preise erhielt. Das Schwierige daran war stets der Bootstransport. Ein kleines Geräusch weckte mich, ungefähr um Mitternacht. Eine Frau schlüpfte durch die kleine Tür. Elise? Sie näherte sich. Es war unsere Nachbarin, eine vom Leben enttäuschte Frau. Die Mutter zweier sehr junger Söhne, kam an meine Seite: „Er ist weg!“ Sie trug einen leichten Morgenmantel, öffnete ihn, als sei ihr zu warm.

Ihr Mann, ein kleiner, erfolgloser Bauer, verließe sie immer wieder tagelang. "Er ist kein Unmensch, aber er ist unhöflich zu mir, als wäre ich seine Magd. Er stellt die verrücktesten Behauptungen auf." Sie wäre für sein Versagen verantwortlich. Die Schweine würden Rotlauf bekommen und krepieren, und seine Zuckerrüben wären die kleinsten. Statt ihr Geld zu geben, hätte er Kunstdünger kaufen müssen. Dann war er wieder großzügig und nun befand er sich wieder irgendwo in der Ferne. Sie möchte geliebt werden... Ich fasste zu!

Doch ehe ich wieder, mich selbst kontrollierend, denken konnte, wurde ich plötzlich von einer beispiellosen Schwärze überschattet.

Die dunkelste Nacht war nichts dagegen.

Dieser Schock saß.

Nie zuvor und danach vernahm ich ähnliches.

 Ich wusste, dass ich ohne diese Erfahrung schweres Unrecht begangen hätte. Fest stand, es geht immer um die Folgen… Die Seele vergisst ja nichts.

All unser Tun geht mit uns. Wie sagte mein Vater: „Was finden die Weiber an dir kleinem Kerl?“

Fünf Monate blieb ich vernünftig.

Dann meldete sich die Natur machtvoll zu Wort. Ich dachte, gegen meine Ideale, wie die Mehrheit meines alters.

Eines Septembertages fragte mich Neumann, einer der drei Männer, die mich bedroht hatten, ob ich daran interessiert wäre, ein paar Mark zu verdienen, indem ich sein Feld egge. Es war eine Aufgabe, die ich noch nie zuvor übernommen hatte. Und da ich nun dachte, dass die Herausforderung Spaß machen könnte, stimmte ich zu. Vielleicht dachte er, er würde mir einen Gefallen tun, um sein früheres Verhalten wiedergutzumachen.  Um mich für sich zu gewinnen, war er an den See gekommen, wo ich damit beschäftigt war, die Fischernetze zum Trocknen über lange Stangen aufzuhängen. Er gab mir Anweisungen, welches seiner Pferde das Beste sei, aber ich wusste nichts über Pferde. Wie würde ich nun den Unterschied zwischen einem dunkelbraunen Pferd und einem Rappen erkennen? Jeder im Dorf wusste, dass ein alter Zigeuner ihn überredet hatte, den Hengst zu kaufen, den ich dann auswählte. Es war ein gutaussehendes Biest. Und das stand neben drei anderen. Es war nicht der Gaul, den ich anspannen sollte.

Mir ging es gut und ich war zufrieden mit mir und meiner Arbeit um 16 Uhr. Ich hatte noch einen halben Hektar zu bearbeiten.  Allerdings drehte sich mein Gedankenrad leidenschaftlicher als je zuvor. Elise, an die ich erneut Tage lang zurückgedacht hatte, feierte am nächsten Tag ihren Geburtstag und ihr Mann soll nach Berlin gereist sein. Es war die „derbe Liebeslust“, wie Doktor Faustus sie nach Goethes Tragödie nannte. Jetzt wollte ich eine heimliche Ehe führen – wenn auch nur eine kurzlebige.

Ich dachte ungeniert über Details nach. Alle aufkommenden Bedenken schob ich von mir.  Ich hatte mich entschieden. Diesmal werde ich zum ersten Mal in meinem Leben vorsätzlich Böses begehen.

 Mit diesen Gedanken im Hinterkopf folgte ich dem kraftvollen Hengst, wie er die fast 4 Meter breite Egge mühelos über das gepflügte Feld zog. Gerade als ich den Schlusspunkt hinter meine Entscheidung setzte, fielen mir die viel zu langen Zügel aus der Hand. Ich hatte sie zu kurz und nicht fest genug gehalten. Ich bückte mich sofort, um sie aufzuheben, aber das nervöse Pferd rastete aus und der Huf seines Hinterbeins landete in meinem Gesicht. Ich wusste noch nicht, dass mein Wangenknochen gebrochen war.  Ich flog durch die Luft. Es war erstaunlich, dass ich nicht das Bewusstsein verlor, sondern mich auf Händen und Knien auf der weichen braunen Erde wiederfand, während Blut aus meinem Mund und meiner Nase tropfte. Mir kam sofort der Gedanke: „Schädelbasisbruch.“ Der zweite Gedanke war: „Das geschieht dir recht.  Lieber Gott, vor Jahren bat ich:  sollte ich jemals vorhaben, schweres Unrecht zu tun, bitte halte mich auf, wenn nötig auf die harte Tour!“

Ich erkannte selbstverständlich nicht das Ausmaß des Schadens. Alles, was ich spürte, war ein dumpfer Druck, dessen ganze Auswirkung jedoch noch weit weg zu sein schien.  Und meine Gedanken blieben glasklar.

Ich hoffte, mir würde der große Schmerz erspart bleiben.

Was mich jedoch am meisten überraschte, war die Erkenntnis, dass ein so großer, so mächtiger Gott die Wünsche eines kleinen, gebrechlichen Menschen nicht ignoriert hatte.

Ein Junge, der in der Nähe Gänse hütete, sah den Unfall. Er stand plötzlich mit offenem Mund vor mir. Zu meinem eigenen Erstaunen stand ich auf und bat ihn, das Pferd am Kopf zu packen und zum Stall von Herrn Schulz zu führen. Im Moment musste ich Hilfe für mich selbst finden. Auch ohne viele Worte hätte der Junge gewusst, was zu tun war. Ich begann zu marschieren, zunächst tapfer.

Nach etwa 200 Metern hatte ich noch fast 800 vor mir, bis ich nach Hause kam. Unterwegs traf ich den alten Knecht eines früheren Großbauern. Ich nannte ihn beim Vornamen und nahm das Taschentuch ab, das ich an meiner rechten Kopfseite hielt, und fragte ihn: „Wie sieht das aus?“

Er sank zu Boden wie ein Baum der gefällt worden war. 

Ich hatte ja keine Ahnung, dass mein rechtes Auge aus der Höhle hing, groß und rot wie eine reife Tomate. Meine Verletzungen boten also einen beängstigenden Anblick. Warum sollte ein so kraftvoller Mann sonst in Ohnmacht fallen? Als er Sekunden danach wieder zu Bewusstsein kam, sagte er kein einziges Wort. Er rannte davon. Als ich das Haus betrat, warf Helga einen Blick auf mich und wiederholte mehrmals, verwirrt, die gleiche Anweisung: „Um Gottes Willen! Lege dich daher!“

Sie eilte zum nächsten Telefon und rief das Krankenhaus an, in dem Erika, ein Mitglied der Kirche, als leitende Krankenschwester arbeitete.

Als Helga völlig außer Atem zurückkam, versuchte sie ihr Bestes, mich zu trösten. Ich brauchte ihre Beruhigung nicht wirklich. Die Betäubung hielt an. Während sie mich wusch, und meinen Kopf streichelte sagte sie: „Ich hatte letzte Nacht einen Traum. Oh, oh! - Aber es wird nicht tödlich sein. Es wird nicht tödlich sein!“  Ich antwortete ihr nicht.  Eine halbe Stunde verging und wir erhielten die Nachricht, dass Erika und der Krankenwagen im Nachbarort Godenswege angekommen waren, wo die Straße endete ... Erika ließ mitteilen: der Weg nach Cammin sei unpassierbar, „der Fahrer hat Angst, dass wir im Schlamm stecken bleiben. Bitte findet Pferd und Wagen, um ihn hierher zu bringen.“ Bald darauf legten sie mich auf einen Karren mit losem Stroh und transportierten mich über die Hügel und Unebenheiten des offenen Feldwegs. Über mir spielte der Herbstwind in den riesigen Kronen der Ulmen. Ich schien ein erweitertes Bewusstsein für alles um mich herum zu haben. Ich sehnte mich nach medizinischer Hilfe und Schutz und befürchtete nun, dass die Hölle jeden Moment Realität werden könnte. Zu meiner Erleichterung traf nach wenigen Minuten der Krankenwagen und Krankenschwester Erika ein, die nicht aufgehört hatte, den Fahrer davon zu überzeugen, das Risiko einzugehen, uns zu finden.

Erika saß dann schweigend und blass, wie mir schien, neben mir, hielt meine Hand, fühlte meinen Puls und gab mir dann eine Spritze. Ich kannte sie schon seit Jahren. Sie war eine sehr große, schöne Mormonin, die auf ihrer eigenen Suche nach der Wahrheit zur Kirche konvertierte – ich hatte sie immer gemocht. Der einzige Nachteil, den ich fand, war, dass ich mindestens 10 Zentimeter kleiner als sie war. Im Krankenhaus angekommen, legten sie mich auf eine Trage, die sich kühl anfühlte. Mehrere Ärzte standen um mich herum und schüttelten den Kopf. „Wir können nichts tun!“ Die anderen waren überrascht wegen meiner Seelenruhe und den Frieden, der mich zu umgeben schien

Allerdings wusste ich, woher es kam. Ich hatte die Prügel als Strafe akzeptiert, und in gewisser Weise machte es mich glücklich. Hätte ich rebelliert, wäre ich von einem Schock zum nächsten gerutscht. Mein Schlaf war tief, drei Nächte lang schlief ich in den sanften Armen von „Morpheus“. Aber am vierten Tag hatte ich das Gefühl, als würde ein Pendel an derselben Stelle in meinem Kopf auf eine riesige Glocke schlagen.

Ich dachte, ich würde definitiv verrückt werden, wünschte und bat inständig um weitere Opium-Injektionen. Der Schmerz raubte mir jeden weiteren Gedanken.

“Nein!“

Gegen Mitternacht bekam ich Besuch vom renommierten Chirurgen, Dr. Kloesel. Ich versuchte sehr, mich zu beherrschen und hörte auf zu betteln. Er plauderte mit monotoner Stimme mit der Nachtschwester. Ich konnte nicht anders als zuzuhören und fiel darüber in einen tiefen Schlaf, aus dem ich am nächsten Morgen nahezu schmerzfrei aufwachte.

Am Abend kam Erika zu Besuch und ich fragte sie: „Wie sehe ich aus?“ Sie sprach leise: „Dein Auge ist fast wieder in seiner Augenhöhle.“ Sie war immer noch besorgt und kam jeden Abend, der folgenden Woche nach ihrer Schicht, um eine Stunde mit mir zu verbringen. Der alte Militärarzt, Doktor Buhts sagte ihr, dass er in 8 Jahren Militärdienst in zwei Weltkriegen so etwas noch nie gesehen hätte. „Wie kann ein Auge durch innere Blutungen doppelt so groß werden? Man muss meinen, dass es in diesem Zustand platzen würde.“

 Jetzt verstand ich den alten Traktorfahrer, ich sah aus wie der Glöckner von Notre Dame. Ich musste lachen – er hatte etwas wie aus einem Horrorfilm gesehen.

Ich erinnerte mich, als sie nun allabendlich neben mir saß, an das Jahr 1948 und die seltsamen Gefühle, die meine Seele damals erfassten.

Nach einer Konferenz wurden wir zu einer Seefahrt, von Warnemünde aus, eingeladen. Sie stand an jenem Tag nahe mir, an der Reling des Dampfers und schaute auf das bewegte Wasser der Ostsee. Wir empfanden wohl beide dasselbe: Schade!

Am nächst folgenden Silvester wollten die Wolgaster mit einigen anderen HLT-Jugendlichen in Neubrandenburg gemeinsam feiern. Mein Freund Ulrich Chust und ich sind – weil wir nicht genug Geld hatten – nach Neubrandenburg gelaufen.

Natürlich war dieses bescheidene Treffen nicht zu vergleichen mit dem großen Tanz- und Spielfest im großen Mormonensaal zu Cottbus, das ich aus demselben Grund 1946 besuchte. Jene Mitglieder hatten diese Veranstaltung mit viel Engagement, Ideen und Charakter vorbereitet.  Aber auch die kleine Party im Jahr 1948/49 hatte ihren Reiz. Am späten Nachmittag begleiteten uns die 4 Mädels aus Neubrandenburg zum Bahnhof, der uns entlang der 150 km langen Bahnstrecke zurück nach Wolgast bringen sollte.

Allerdings war die Wanderung, die wir – querfeldein unternahmen, nur halb so lang. Erika trug einen beige-braunen Mantel und ich fühlte mich in ihrer Nähe wohl. Das war so. Damals mussten wir Bahntickets kaufen, bevor wir den Bahnsteig betreten durften.

In einer Holzkiste stand ein Schaffner. Er lochte unsere 20-Pfennig-Tickets. Weil Erika so groß war, gab ich ihr zwei. Wir hatten Spaß, lachten und lächelten uns an. Wortlos wussten wir damals, dass wir einander mehr bedeuteten, als wir jemals zum Ausdruck bringen würden.

Jetzt, 4 Jahre später, schaute ich sie liebevoll an, obwohl sich die Camminer Bäuerin noch in meinem Kopf befand. Ich habe also bestimmte einander ausschließende Bilder gleichzeitig gesehen. Wenn Erika gewusst hätte, was nachts noch in meinem Kopf und vor erst wenigen Monaten in meinem kleinen Zimmer vorging, hätte sie mich wahrscheinlich nicht mit ihren Besuchen verwöhnt.

Nun, das war ich. Meine damalige Absicht war es gewesen, eine Ehe völlig zu ruinieren.   Andererseits wusste ich, dass ich Erika immer mochte. Ich hatte jedoch nie ernsthaft darüber nachgedacht, sie zu heiraten. Dennoch: ihr Gesicht mit diesem besonderen Ausdruck strahlte das Licht einer reinen Seele aus.

Ich habe sie einfach bewundert und geschwiegen. So seltsam es auch schien, in den Wochen, nachdem ich nach Cammin zurückkehrte, war das Gefühl vorhanden, dass Erika trotz unseres Größenunterschieds die Mutter meiner Kinder sein würde. Es gab Zeiten mit dem Gedanken sie schon seit einer Ewigkeit zu kennen. Immer wenn ich an die Silvesterparty dachte, kehrten diese Vorstellung zurück.

Vier Monate später schrieb ich ihr und fragte ob sie einen Mann wie mich heiraten würde.

Natürlich habe ich das ziemlich förmlich formuliert, wie es damals für einen gebildeten Deutschen üblich war. Ihr "Ja" kam prompt.

Als dies bekannt wurde, erhielt sie Warnungen aus unterschiedlichen Kreisen: „Heirate diesen Kerl nicht – er ist ein Charmeur“, „Er ist eine verkrachte Existenz“, „Schau dir nur seine Vergangenheit an.“

Erika weigerte sich, diesen Leuten zu glauben.

Aber was nun?

Ich hatte zwar über 800 Mark erspart indem ich Versicherungspolicen einsammelte, doch die Hälfte dieses Betrages verlor ich umgehend, wegen Verlust einer großen Rechnung. Der Betrag konnte nicht eingezogen werden und ich haftete dafür, gegenüber der Versicherungsgesellschaft So verlor ich 500. Vom Rest musste ich einen Anzug kaufen, um auf dem Standesamt angemessen gekleidet zu sein.

Es stand die große Frage im Raum: Wo könnten wir wohnen? Auf keinen Fall in Cammin. Aber in Neubrandenburg bestand Wohnraumknappheit. Rotarmisten hatten noch in den letzten Tagen weite Teile der Innenstadt niedergebrannt. Während des Krieges lebten dort 25 000 Menschen, nun infolge des Zuzugs von 20 000 Flüchtlingen die im Osten alles verloren hatten, lebten die Menschen zusammengepfercht.

Neubauten entstanden nicht, oder nur wenn jemand genug über Geld verfügte um eigenständig ein Haus zu errichten. Nur Handwerker, wie Klempner oder Dachdecker konnten Summen um 40 000 Mark aufbringen.

Dennoch setzten wir den 3. Juli 53 als Hochzeitstag fest.

Kurz zuvor wurde Erika, wegen ihres aktuellen Gesundheitszustandes, untersucht. Das vernichtende Urteil der Ärzte lautete Endokarditis lenta! Ob es wirklich die damals noch unheilbare Form der Herzinnenhautentzündung war? Immerhin wurde diese Diagnose jedoch von anderen Ärzten in Frage gestellt. Wie auch immer.

Sie dürfte nicht heiraten. Würde sie schwanger wäre das ihr sicherer Tod.

Sie gab mir ihr Versprechen zurück. Als Erika mir das mitteilte saßen wir im kleinen Versammlungsraum unserer Kirche beieinander.

Ich nahm es nicht an, wollte glauben, dass ihr die Ehe gut tun wird. Neuvermählte mussten allerdings generell getrennt leben. Jahrelang. Wäre da nicht eine Dame gewesen, die Erikas Lage erkannte… eine Altkommunistin die Erika liebte. Sie besaß hinlänglich Einfluss im Stadtrat und verschaffte uns, von einem Tag zum anderen, eine kleine Mansarde. Zweimal zehn Quadratmeter groß, Küche und Wohnraum. Und mein Vater, wieder genesen, schenkte uns eine Couch. Er würde mir auch 2 000 Mark geben, für meine dreieinhalb Dienstjahre zu seinen Gunsten.

Wir konnten die kleine Wohnung noch zwei Tage vor der Eheschließung wirklich gemütlich einrichten.

Welch ein Glück.

Zum Standesamt musste ich in Räuberzivil gehen, da der Schneider meinen maßgefertigten Anzug erst einen Tag später, statt wie versprochen am Morgen des 3. Juli ausliefern könne. Die Standesbeamtin musterte mich unübersehbar misstrauisch. Denn, wie sah ich aus? Einem Landstreicher ähnlich, sichtlich unreifer als die Braut stand ich da. Ich bin ziemlich sicher, dass sie dachte, diese Ehe hält keinen Monat. Aber sie tat tapfer ihre Pflicht.

Erika ging dagegen ausgezeichnet gekleidet. Anschließend segnete Walter Krause uns. Auch er hegte sehr wahrscheinlich insgeheim seine Zweifel. Auf dem Wohnzimmertisch der Mutter Erikas standen Vasen mit fast einhundert rosaroten Schnittrosen der Sorte „Comtess Vandal“.  Ich hatte sie ja im Vorjahr veredelt, diese eintausend fünfhundert Wildlinge, nun stand das ganze Feld in voller Blüte und nebenan gediehen hunderte Apfel-Okulate. Im Herbst sollten sie verkauft werden.

Die Räume die wir als unser Heim beziehen durften, waren früher die Dienstbotenunterkünfte im Dachgeschoss. Unter uns lebten vier hochrangige Staatsbeamte. Weitere prominente Personen wohnten in unserer unmittelbaren Nachbarschaft. Sie und wir galten fortan als „Hausgemeinschaft“. Nach kommunistischen Idealen musste das so sein.

Wegen dieses Umstandes sollte unmittelbar nach der Hochzeit der erste Schritt, nach Beginn meines neuen Lebensabschnittes, ins Verhängnis folgen.

 

Tag X

 

Eine Hausgemeinschaftsversammlung wurde wegen des gerade mit Hilfe von Sowjetpanzern niedergeschlagenen Arbeiteraufstandes zu Berlin anberaumt. Exakt vier Wochen waren vergangen, nachdem Staatsgewalt den Arbeiterwillen platt walzte. Es gäbe dringenden Schulungsbedarf. Erika, nichts Gutes ahnend, - denn sie wusste, dass ich mein Herz auf der Zunge trage, - beschwor mich, in der Zusammenkunft, die sie schwänzen wollte, den Mund zu halten. Wir konnten uns vorstellen, dass die hiesigen prominenten Herrschaften die aktuell politisch-kritische, Lage schönreden würden. Nicht nur in Berlin, in der ganzen DDR hatten die Arbeiter gestreikt. Sie sollten laut Regierungsbeschluss für weniger Lohn, mehr leisten. Theoretisch hätte das Arbeiterbegehren Maßstab des Handelns der kommunistischen Regierung sein müssen, entsprechend der Diktatur eben der Arbeiterschaft.  Alles stand Kopf, insbesondere die Logik.  Nach dem Lehrbuch war ein Arbeiteraufstand im Arbeiter- und Bauernstaat nicht vorgesehen. Die Schuld für das eigentlich Undenkbare musste dem Klassenfeind zugeschoben werden. Den Spitzenkommunisten war es wichtig, wieder die Kontrolle über die Massen zu erlangen. Und das, ganz im Sinne Josef Stalins. Dieser angeblich gütige Vater aller Erdenbewohner war gerade verstorben. Alle, die zwischen der Beringstraße und der Elbe lebten, sollten nun erkennbar trauern, obwohl sein tyrannisches Tun und Lassen offen zutage lag.

Der Leiter dieses Treffens (zu dem 20 Personen kamen) war Herr Wolf, zuvor Oberst unter Generalfeldmarschall Paulus, Kommandeur der 6. deutschen Armee in Stalingrad (Wolf konvertierte während seiner Gefangenschaft zum Antifaschismus). Er war clever genug diesen Gesinnungswechsel zu Geld und Rang zu machen. Im besten Mannesalter stand er einer der Blockparteien vor, der NDPD, die ehemalige Hitlerfreunde ebenfalls in Richtung Links umdrehen wollte, indem sie vortäuschte „anders“ als kommunistisch zu sein. Sie sei nationaldemokratisch orientiert. Wolfs Wirkungsbereich umfasste ein Zehntel des Gesamtstaates. Ihm diente ein erheblicher Stab ähnlich Gesinnter. Morgens fuhr sein Chauffeur einen makellosen BMW vor. Zu dieser Runde gehörte Frau Dr. Edith Ackermann, etwas 35, unverheiratet, die hinreichend gewitzt war, ihren Vorgänger im Amt des Bezirksarztes wegen dessen häufiger Trunkenheit zu ersetzen.

Neben ihr saß die Kreisärztin Frau Dr. Händel. Dann Herr Kreisvorsitzender Tesch, ein – wie ich glaube, redlicher Mann. Der Bürgermeister eines nahegelegenen Dorfes, der junge baumlange W. Eichler, ein Mann von bestem Ruf, neben ihm seine Ehefrau, Kreispionierleiterin, und andere saßen geduldig da. Es ging um die Reinwaschung hoch Krimineller.

Herr Guter mit Ehefrau waren ebenfalls gekommen. Er, eine starke Persönlichkeit. Sie bewohnten ebenfalls eine Luxuswohnung, immerhin amtierte er als Kreissekretär der SED jener Partei die aus ehemaligen Sozialdemokraten und Altkommunisten bestand, der niemand widersprechen durfte. Von vorne herein war dieser Parteien-Zusammenschluss eine trickreich vorbereitete „Heirat“ von überzeugten Demokraten und super-überzeugten Antidemokraten, die unter Normalbedingungen auf äußerst wackligen Füßen gestanden hätte. Niemals wäre solche Verbindung zustande gekommen, wäre da nicht die Allmacht und List gewesen die wirkungsvoll aus dem Kreml und aus dem Hause des obersten deutschen Diktators Ulbricht kam.

Entgegen den auf dem Tisch zutage liegenden Fakten stellte Herrn Wolf den Arbeiteraufstand unverfroren falsch dar, aber eben so, wie die Regierenden es wünschten. Wahrheit sei doch ohnehin immer relativ. Dabei blieben die Tatsachenwahrheiten nach Belieben eingesperrt.

East German uprising of 1953 - Wikipedia

Foto DPA 17. Juni 1953

 

Der Westen - via Radio RIAS (Radio im amerikanischen Sektor) - hätte die Arbeiter, zum Tag X, aufgehetzt. Jeder in diesem Raum wusste, das war eine Erfindung derer die in Erklärungsnot feststecktendass Ulbricht das Unmögliche verlangte: Mehr Arbeit für weniger Geld.  Die Normen wurden willkürlich erhöht. Das empörte zuerst die Bauarbeiter Ostberlins, die erst seit Kurzem mit dem Wiederaufbau der Ruinenstadt begonnen hatten.

Das eigentliche Übel bestand aber im Missverhältnis des aufgeblähten Staatsapparates mit seiner ungeheuren Zahl an Waffenträgern aller Kategorien zu den Werteschaffenden.  17 Millionen Menschen lebten in der DDR. Bereits im Sommer 1952 gab es 100.000 "Kasernierte Volkspolizisten" (KVP). Diese heimliche Armee war bereits mit Panzern, Flugzeugen und Schiffen ausgerüstet worden. Auf je 170 Bürger kam 1 Polizist, der mindestens doppelte so viel verdiente wie ein Arbeiter. (Und gegen Ende der DDR, 1989, gab es zusätzlich für jeweils 200 Einwohner ein Überwacher bzw. hauptamtlichen Stasimitarbeiter.)

Ich, der zufällig in der gleichen Gegend wohnte und der einzige, nahezu ohnmächtige Mensch war, hätte schon in der ersten Minute platzen können. Sie logen einander die Taschen voll. An einer nicht zufällig vorhandenen Schultafel, malte Exoberst Wolf ein Schema, das belegen sollte, auf welch angeblich schäbigem Weg die CIA den Tag X - den Streiktag - vorbereitet hätte.

Erikas Bitte hielt mich lange fest. Aber dann platzte meine Geduldsfaden.

In diesem Raum gab es auch nicht eine Seele, die nicht wusste, dass den Arbeitern bitteres Unrecht zugefügt wurde.

Panzer aus sowjetischen Wartehallen herbei zu rufen um unbewaffnete Menschen einzuschüchtern, das war ein Skandal

Ich protestierte, ich musste: „ihr würdet anders reden, wenn dieser Staat eure Privilegien einschränken würde!“ Shakespeares Hamlet befand sich hinter mir: „Sei ehrlich zu dir selbst und daraus folgt wie Tag der Nacht, du kannst nicht falsch sein gegen irgendwen.“

Mein Statement war zwar ehrlich, aber angesichts der Situation - frech und gefährlich, aber dennoch angemessen und notwendig Alle im Raum starrten mich an. Alle waren hin und hergerissen. Ihr Gewissen wird sich zu Wort gemeldet haben. Erika wäre bestürzt davongelaufen. Ich wusste, dass ich nicht vom „Teufel geritten wurde“ und fügte hinzu: „Mit einer Ausnahme:  sie glauben selbst nicht was hier behauptet wurde.“

Ich konnte es nicht zurücknehmen, ohne mich selbst zu verletzen.  Ich konnte es nicht ungeschehen machen. Ex-Oberst Wolf sah mich stirnrunzelnd an. Dennoch – ich war der einzige anwesende Arbeiter.

Er versuchte sofort, instinktiv, die Situation zu retten. Ich hatte immerhin die Elite der beiden besten Parteien der Welt beleidigt. (Dr. Händel und Dr. Ackermann waren keine Parteimitglieder, unterstützten aber deren Prinzipien.) Kreisparteisekretär Guter und seine junge Frau, der Landrat und seine Frau sowie andere schüttelten nur den Kopf. Insgeheim musste selbst dem Verbohrtesten klar, sein dass meine Anschuldigung zu Recht bestand.  Und sie wussten, dass ich jung verheiratet war.

Ich sollte nun den Namen der Person unter den Anwesenden nennen die ich für unbedingt DDR-loyal hielt, die glauben konnte, dass 1 und 1 gleich 1 ist. So dumm war ich nicht, darauf zu reagieren. Eine Entschuldigung wurde mir abverlangt. Aber ich verweigerte das.

Dann sagte Herr Wolf: „Na ja, Sie sind noch sehr jung!“

Das war Gutwilligkeit.

Das wollte ich bedenken. Es war ein Schritt zum Bau einer begehbaren Brücke. Er schaute mir in die Augen, als wollte er sagen: „Sei vorsichtig! Denke an deine Frau und ihr Glück!“

Vor mir sah ich Erika, die Hände flach vor dem Gesicht. Mir war klar meiner Widerrede musste eine Strafe folgen.

Auch das akzeptierte ich aus Einsicht. Ich sollte eine Geldsammlung zugunsten der „Nationalen Front“ organisieren. Das war sowohl fair wie unzumutbar.  

Erika wartete auf mich“! Stur durfte ich mich nicht aufführen. Eine Sammlung für das Rote Kreuz wäre mir lieber gewesen.

 Erika verschwieg ich die dumme Geschichte. Aufregen durfte ich sie auf keinen Fall. Und sie wollte glauben ich wäre brav gewesen, so fragte sie nicht nach.

Als ich konsequenterweise in den beiden folgenden Abenden Geld einsammelte, wurde ich verhaftet. Ich hatte von einem Polizeioffizier eine Spende verlangt. „Zeigen sie mir ihre Lizenz!“

Die besaß ich nicht, nur einen Sammelschein.

Er führte mich ab. Im Hauptquartier der „Volkspolizei“ berief ich mich auf den Auftrag den mir die Ehefrau des Parteisekretärs der SED gab.

Die Polizeichefs lachten.

Jetzt konnten sie mich packen: „Du lügst!“ 

„Ruft doch Frau Guter an!“

Sie zögerten zunächst. Beim Ranghöchsten anzurufen war gewagt. Ich saß nahebei und ihre Stimme war laut genug, dass ich Bruchstücke des kurzen Gesprächs mithörte. „Lassen sie den Mann laufen!“

 

 

Wieder verriet ich Erika nichts

 

Doch ich gelobte mir, mich, ihretwegen fortan zu beherrschen, und mich aus allen politischen Belangen herauszuhalten.

Es dauerte nur ein paar Wochen, bis ich wieder in Schwierigkeiten geriet.

Erika nahm meine Hände, sah mich sehr ernst an und gestand: „Ich bin schwanger.“ Ich geriet in Angst – meine Schuld.  Die Ärzte des Krankenhauses, in dem sie arbeitete, hatten sie gewarnt: Die Geburt eines Kindes wäre zu viel für sie. Ihr Herz könnte es nicht ertragen.

Wenn sie schwanger würde, müsste sie sofort eine Abtreibung vornehmen lassen. Mit naiver Überzeugungskraft wollte ich sie ermuntern dem Rat der Ärzte zu folgen.  Sie schüttelte jedoch entschlossen den Kopf und fügte dann ruhig hinzu: „Ich bekomme unser Kind!“

Der Frühling und Erikas Zeit zur Entbindung nahte. Otto Krakow, unser Gemeindepräsident, gab ihr auf meine Bitte hin einen besonderen Segen. Alles würde gut gehen.

Stunde für Stunde arbeiteten dieselben Ärzte, die sie vor diesem Ereignis gewarnt hatten, daran, ihr Leben zu retten. Ich saß im Flur des Krankenhauses. Dann hielt ich es nicht mehr aus und rannte draußen herum, ging ins Kino. Nur ein paar Sekunden nachdem ich dort Platz genommen hatte später rannte ich wieder zurück. Vor dem Kreißsaal legte ich meinen Kopf in meine Hände und betete und flehte: „Bitte, Vater, sie hat einen Priestertumssegen erhalten. Lass es wahr werden.” Um elf Uhr nachts hörte ich keine Schreie mehr. Dr. Klösel kam bald darauf zu mir. Er legte seine Hand auf meine Schulter. Sie hätten ihr Evipan injiziert: „Sie ist durch. Sie haben einen gesunden Jungen!“- und mit einem Seufzer fügte er an: „Gratulation!“  Ich, erleichtert, den Freudentränen nahe, fast sprachlos, bedankte mich. Sie hatte die schmale Brücke überquert, die sie zurück ins Leben führte.

Bewundernd sah ich, am nächsten Tag meinen Sohn. Wie das klang: Mein Sohn. Ich war selig. Er war so zart und schön. Erika wählte den Namen Hartmut für ihn.

Sie wurde nach der Geburt nicht nach Hause entlassen.

Sobald ich nach ungeliebter Gärtnerarbeit nachmittags konnte, stand ich vor dem Zimmer in dem sie, neben anderen, neuen Müttern, lag, manchmal sogar mit Hartmut. Direkt neben dem Fenster stand ein großer Apfelbaum in voller Blüte. Sie hatte gute Sicht auf dieses Symbol glücklichen Lebens.

Später erzählte sie mir, dass sie in Gedanken meine Hände festhielt – dass es meine Liebe und meine Gebete waren, die ihr halfen, eine tiefe, dunkle Schlucht zu durchwandern. Gemeinsam priesen wir unseren Gott für ihre Genesung, für seine Barmherzigkeit und Liebe, für Hartmut.

„Wenn du nun nur eine Arbeit finden würdest die du nicht hasst!“

Gegen Weihnachten 1953, wurde ich als Gutachter berufen. Ich sollte den Wert einer riesigen, vernachlässigten Obstplantage einschätzen. Es handelte sich um Tollenseheim. 12 km entfernt von unserem Wohnplatz. Es erhob sich umgehend die Frage: Ob ich das 10 ha umfassende Gelände gegen Fest-Entlohnung übernehmen würde. Allerdings besaß ich zur Betreuung nichts als meine beiden Hände, einen, für diese Aufgabe, zu kleinen Kopf und eine Handsäge. Wir handelten einen Monatsverdienst von dreihundert Mark aus. Bislang verdiente ich knapp 200. Erika lobte mich. Zudem verkaufte ich 500 Rosenbüsche und 600 Apfelbäumchen. Das war Geld für mehr Möbel, falls wir eine größere Wohnung bekämen. Wir genossen es Eltern zu sein. Selbstverständlich gaben wir unser Bestes um die kleine Neubrandenburger Gemeinde zu unterstützen, wir, bzw. ich versäumten keine der drei wöchentlichen Zusammenkünfte. Mir gefiel die Nähe zu Bruno Rohloff, damals 65, zu Max Pielmann einem intelligenten Konvertiten des Jahres 49, Otto Krakow und den anderen. Allesamt hatten sie ein ereignisreiches und passagenweise unseliges Leben als Gefangene oder Verwundete und Leidende des Krieges hinter sich.  Ottos Knie waren betroffen,

doch sein Wille erwies sich als stets optimistisch. Schier unglaublich war die Geschichte Brunos und doch nicht ungewöhnlich. Ähnlich erging es zahllosen, deren Eltern und Freunde aus dem Giftbrunnen gewisser Geistlicher getrunken hatten. Gelernter Buchhändler, schloss Bruno sich 1929, aus tiefster innerer Überzeugung unserer Kirche an, nachdem er das Buch Mormon vom ersten bis zum letzten Satz gelesen und kritisch betrachtet hatte. Sogleich erhoben sich, nach seiner Zuwendung zur Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage, schwere Proteste. Die von kirchlichen "Wahrheitsverkünder" stammenden Klischees kamen böswillig zum Vorschein. Seine Mutter, Anna Zabel-Rohloff, lief in heller Aufregung, als sie davon erfuhr, zu ihrem Pfarrer Wohlgemut in Pasewalk: "Was soll ich tun, mein Sohn hat sich den Mormonen angeschlossen?"

                                      

                                                    Links von Anna, Bruno

 

Sie versuchte ihr Bestes, und schrieb: „Lieber Bruno, wie wir soeben (Ende Juli 1929) erfuhren gehörst Du nun dem Mormonen Klub an, mehr als das, Du willst Dich von ihnen taufen lassen, und noch mehr, Du wünschst dasselbe für Deine beiden Kinder. Was soll ich davon denken? Hast Du den Verstand verloren? Wir können uns keineswegs Dein Verhalten erklären. Welcher Teufel hat Deine Sinne überwältigt, dass Du Dich einer teuflischen Gesellschaft anschließt? Reicht Dir die lutherische Wahrheit nicht aus? Willst Du damit sagen, Du hättest keine Kenntnis? Der liebe Gott hat Dir doch einen normalen Verstand geschenkt. Ich kann aus alledem nur schließen, dass Du Dich hier in Pasewalk als Heuchler verhalten hast. Du erwartest von Gott Hilfe und dienst dem Teufel. Aber irre Dich nicht, Gott lässt sich nicht spotten. Wahrlich Du solltest wissen, dass da geschrieben steht. "Wer die Seinen nicht versorgt ist ärger denn ein Heide." Hast Du gar keine Bedenken Deiner Kinder wegen? Du willst Deinen Kindern die Gnade rauben die ihnen bereits durch die heilige Taufe geschenkt wurde? Mehr als das, willst Du einen Fluch auf Dich und Deine Familie und Deine Enkel ziehen? ... Bedenke wer den heiligen Geist empfing und dagegen sündigt kann nicht mehr erlöst werden.... Denke daran welche Herzschmerzen Du uns verursachst. (tatsächlich starb Brunos Mutter fünf Monate später am 16. Januar 1930) Was würde Pastor Wohlgemut dazu sagen, wenn er noch lebte? Wird er nicht am Jüngsten Tag als Zeuge gegen Dich dastehen? ... verlasse diese Sekte! ... Deine Eltern und Arnold“ 1960 Walter Rohloff, „Tagebuch“ bzw. „Under the wing of the Almighty” bei Amazon 

 

Mein Fazit lautete damals bereits: alle trinitarisch orientierten Kirchen und Gemeinschaften setzen ihre Vollkraft ein um den „Mormonen“ Seitenhiebe zu versetzen. Ich las damals eine Tolstoi-Biographie. In der sagt der berühmte russische Graf und Schriftsteller mehrfach, dass er die Lehren und Bräuche der ROK für Aberglauben hält. Seine Kirche, die Russisch-orthodoxe exkommunizierte ihn 1901, weil er obenan die Existenz eines trinitarischen Gottes nicht anerkennen konnte. In diesem Zusammenhang fragte ich selbst, warum die Trinitarier sich nicht scheuen, ihren Trinitarismus als generelles Bekenntnis hochzustellen, obwohl bekannt ist, dass er der Kirche von heidnischen Kaisern aufgezwungen wurde.  Biblisch ist er nicht. Das wissen die Theologen sehr wohl, die in seinem Namen erfolgten Verbrechen gehören zu den schlimmsten der Geschichte.

 

Wir hätten ein glücklicheres Leben führen können, gäbe es nicht den, eindeutig von Moskau geschürten, kalten Krieg. Er nahm an Intensität, wie uns zeitweise schien, Tag um Tag zu.

Wir fühlten die Bedrohung des Friedens permanent. Unsere, die DDR- Nachrichten verfluchten die bösen Amerikaner, die Westnachrichten, die wir mit Erikas kleinem Radio empfingen, sagten das Gegenteil. Moskau polterte, Washington gab sich gelassen. Das Ziel der Sowjetpolitik über dem Weißen Haus die Rote Fahne zu hissen, erschien nicht mehr als illusorisch.

Mich bedrückte zudem, dass ich meiner neuen Aufgabe nicht gewachsen war. Mehr als sechshundert hochstämmige, uralte Apfel- und Birnenbäume mussten gefällt oder radikal gestutzt werden. Die Baumkronen befanden sich bezogen auf die Hälfte des Bestandes in zweieinhalb Meter Höhe und wiesen eine Breite von sechs Metern aus. Bienen gab es in weitem Umfeld nicht. Die Ernten würden mager ausfallen. Schädlingsbekämpfung könnte kostspieliger sein als der zu erwartender Ertrag. Jeder Apfel müsste mit einem Stangengerät gepflückt werden.  Das einst ansehnliche Gewächshaus lag in Trümmern. Andererseits bestand keine Aussicht einen besseren Job zu bekommen.

Zum gesamten Areal der Tollenseheimer Obstanlage, das sich über 600 m Länge und 400 Metern Breite erstreckte, gehörte auch die (spätere Schule für Landtechnik), sowie unfruchtbare Brachflächen. Tollenseheim selbst war ursprünglich als Superhotel konzipiert. Beide Teile waren eng miteinander verbunden. 

Dort traf ich auf Herrn Maque, den ehemaligen kommunistischen Kreissekretär von Neustrelitz. Er amtierte nun als Direktor der Polit-Schule für Kader Landwirtschaftlicher Genossenschaften (LPG). Ich unterstand ihm nicht und doch kontrollierte er mein Tun und Nichttun. Er gehörte zum Kreis jener fünf Menschen, von denen ich annehmen durfte, dass sie das DDR-System uneingeschränkt liebten – auch weil es ihn schützte und gut entlohnte.  Er erwies sich sehr schnell als kalt berechnender Egoist. Nicht nur die Frauen mochten ihn. Sein gut geschnittenes Gesicht beeindruckte. Und nicht wenige fielen auf seine Werbungen herein. Jeder, der ihn nicht näher kannte, sah in ihm eine starke Persönlichkeit.

Gelegentlich hörte ich seinen Vorträgen ungewollt zu, wenn er in meiner Frühstückspause, im Nebenraum seine kruden Ansichten laut genug preisgab. Mit Nachdruck betonte er, dass die Arbeiterklasse des Westens ihrer Verelendung entgegen geht, aber im Osten wird das Gegenteil der Fall sein.

 

Für den Ausbau der künftigen Schul-Gebäude wurden ihm enorme staatliche Fördermittel gewährt. Letztlich soll diese Einrichtung im Wesentlichen der Indoktrination des Marxismus-Leninismus dienen. Ende 1954 verfügte er über einen riesigen Finanz-Überschuss, den er für elementare Vorarbeiten (Aufmaß und Planung) hätte verwenden sollen.

Was er damit anstellte?

So traf an einem Dezemberabend des Jahres eine große Ladung Sport- und Ruderboote auf ‚Tollenseheim’ ein Mir schien, dass da ein Irrtum vorliegen musste. Hausmeister Paul schob mich beiseite. Der Fahrer nickte nur. Nein, die Papiere besagten eindeutig: Auslieferung an die Bezirks-LPG Schule, Tollenseheim, bei Neubrandenburg. Wir kratzten uns die Köpfe und zuckten die Achseln. Paul Schmidt und ich waren Menschen, die unterschiedlicher kaum sein konnten. Er, eins achtundachtzig, extrovertiert und athletisch gebaut, ich, schmal wie ein indischer Hungerkünstler. Ich liebte es zu meditieren, Paul war lebensprühender Akteur. Ich liebte meinen kleinen Sohn, er seinen Hund. Aber über den Wellenbinder, ein Speedboat, das wir als erstes auf dem großen LKW entdeckten, wunderten wir uns gemeinsam.

Paul begab sich ins Haus um Herrn Herbert Maque, den Chef, zu informieren. Ich fragte mich in der Zwischenzeit, ob unsere noch kleine LPG-Schule sich ein Boot dieser Klasse leisten konnte, das schätzungsweise dreißigtausend Mark kostete. Er kam eiligst an.

Herbert M., ungefähr fünfzigjährig, schritt auf seinen langen dünnen Beinen schnell und federnd. Von dem Augenblick an, als er sich dem großen Ferntransporter näherte, hatte der schneidige SED-Genosse Maque vorübergehend keine Augen mehr für die vorbei flanierenden, jungen Lehrgangsteilnehmerinnen.

Seine Sinne richteten sich vor allem auf den als Vorderkajütboot ausgestatteten Flitzer. Wie ein Wiesel rannte er um den LKW herum, schwang sich auf die Pritsche und mahnte nun auch die anderen zur Hilfe herbeigerufenen Männer: „Vorsicht, Vorsicht. Seid bloß vorsichtig mit dem Motorboot.” Tatsächlich kümmerte sich Maque ausschließlich um das teure Luxusboot persönlich. Kaum hatte es Platz gefunden in seinem wintersicheren Unterstand, wandte er sich wieder höheren Aufgaben zu, - oder dem was er für lebenswichtig hielt. Etwas, das er überhaupt nicht verheimlichte. Die Paddelboote, darunter eine teure Vierer-Gig , wurden einfach unter einem der alten Apfelbäume gestapelt, so wie man rohes Holz lagert. Niemand, der ihm auch nur ein paar Minuten lang zugehört hätte, wie er mit seinem feurigen Temperament die Ausbeuter aller Eigentumskategorien verurteilte, hätte geglaubt, dass Genosse Maque sich solche Rechtswidrigkeit gestattete.  Auch er bestätigte damit indirekt die Regel, dass sich die Vernunft der Prinzipienlosen, der Leidenschaft unterwirft.

Als ich kurze Zeit später an der zwei Kilometer von Tollenseheim entfernt liegenden Fernverkehrsstraße F 96 drei etwa 20- jährige Mädchen weinend sah, ahnte ich etwas. Ich fragte nach, und die Antwort lautete

"Wir waren ihm nicht zu Willen!"

Direktor Maque schickte sie mit einer schriftlichen Erklärung, die albern war, in ihre Genossenschaftsbüros zurück. Es machte ihm offensichtlich nichts aus, Tatsachen zu verdrehen. Er galt, schon wegen seines Parteiabzeichens als respektabler Mensch.

Paul und mir musste er nicht weismachen, er benötige den Flitzer für Besorgungen in Neubrandenburg. Mit dem Lieferwagen „Framo“, der ihm ja zur Verfügung stand, war er allemal schneller. Selbst wenn Maque das Schnellboot bis zur Tür eines Lebensmittelgeschäfts hätte vorfahren können, blieb der Benzinverbrauch eines Wasserfahrzeugs pro Kilometer Fahrt mindestens doppelt, wenn nicht sogar dreimal so hoch. Eindeutig war es sein Vergnügungsfahrzeug. Als angeblich ergebener Verteidiger eines Staatssystems, das sozial gerechter gegenüber seinen Bürgern sein wollte, agierte er verräterisch.

Wie lange kann das gut gehen?

Die acht oder zehn Paddelboote und die Vierergig lagen noch tagelang draußen.
Einer der sie überragenden Apfelbäume bot aber keinen Schutz, vor zu erwartenden Unwettern.
Die hohen Baumkronen boten auch keinen Schutz vor fliegenden Pfeilen und rotweißen Messstäben. Techniker hatten sie in die Garage gestellt und möglicherweise längst vergessen. Bedenkenlos wog ich, an einem der Arbeitstage zwischen Weihnachten und Silvester eine der speer-ähnlichen Stangen. Verwegen schleuderte ich sie, aus der offenen Garage, in der, zwischen zerkrümelten Briketts, auch der Lieferwagen “Framo” stand,

Mein Stab flog hoch über die Boote hinweg vielleicht mehr als zwanzig Meter weit. Paul, mit seinen strammen Muskeln, ein ehemaliger, wider Willen-Waffen SS-ler, übrigens,- und sehr selbstbewusst, war überzeugt, er würde gewiss doppelt so weit, wie ich Knirps werfen. Aber schlecht gepackt, noch mieser geworfen. Krachend bohrte sich die stählerne Stabspitze in den millimeterdünnen Rumpf der aus Mahagoniholz gefertigten Vierergig. Sie hatte genau so viel Geld gekostet, wie Paul und ich zusammen in einem halben Jahr verdienten. Der schwere Mess-stab vibrierte noch, als wir aufgeschreckt hinliefen um dem entsetzlichen Bersten und Brechen des dünnen Bootsrumpfes ein Ende zu bereiten.

Wir schauten als erstes zum schräg rechts oben liegenden Fenster des alten Stammhauses, das wie eine Villa aussah. Weder Herbert Maque noch seine Wirtschaftsleiterin Inge ließen sich blicken. Sie hatten es also, zum Glück, nicht gehört. Paul, kühn wie immer, verzog keine Miene seines ohnehin ruhigen, großflächigen Gesichtes. „Schnell!”, sagte er. Ich half ihm. In meinem Hinterkopf regte sich die Befürchtung, Paul würde mir die Schuld in die Schuhe schieben. Natürlich wollten wir keinen Skandal. Gemeinsam schuldbewusst, aber gerissen genug, trugen wir das irreparabel zerstörte Sportboot gemessenen Schrittes ins nahe liegende ehemalige Hühnerhaus. Diese Behausung war eine aus morschen Brettern bestehende ziemlich große Baracke. Schlau gedacht bauten wir sämtliche Paddelboote davor auf. Wenn es gut ging, kam es nicht heraus, bevor der große Neubau stand und das konnte noch zwei, wenn nicht drei Jahre dauern. Sollten wir uns irren? Aber zunächst war da der Gedanke, den wir ebenfalls teilten: Nach uns die Sintflut.

Hingegen sagt ein altes deutsches Sprichwort: “Nichts ist so fein gesponnen, dass es nicht käme ans Licht der Sonnen!“

 

Stegebauer

 

Für das Vorderkajütboot des Herrn Maque musste ein Anlegesteg gebaut werden. Hausmeister Paul machte sich an die Arbeit. Gegen die Grundregel verzichtete er darauf, Leinen zu spannen, an denen entlang die Pfähle zu rammen wären. Sein Machwerk sah dementsprechend aus. Eher einem zufällig entstandenen Schrotthaufen ähnlich, als einem Werk von Menschenhirn und -hand, stand das Unding krumm und windschief da, sogar gefährlich wacklig. Eine Schande! Als ich auf dem von Paul zusammen geschusterten Laufsteg entlang ging, wurde mir schlecht. Meine Mitarbeiterpflicht war, ihm zu sagen, dass er vielleicht ein guter Ehemann und bestimmt ein hervorragender Hundeliebhaber sei, aber vom Stegebau keine Ahnung hat. Danach muss er versucht haben, ebenfalls ohne Schnur, die ungleichen Bretter auf die Verbinder zu nageln. Während ich nun versuchte, meine kritischen Bemerkungen zu relativieren (wie man heute zu sagen pflegt, wenn man aus Gründen der Höflichkeit die Wahrheit zu verbiegen beabsichtigt) kam ein sonderbarer Lehrgangsteilnehmer anspaziert, ein großer, steckendürrer Mann. Von Gesicht und Gestik wirkte er wie ein Sektenprediger des vergangenen Jahrhunderts. Er kam uns vor wie einer, der gerade in einen sauren Apfel gebissen hatte. Für einen Meisterlandwirt hätte ihn wohl niemand gehalten. Der Mann setzte die großen Schritte ganz bedächtig. Als er die Bescherung sah, wurde sein langes Gesicht noch länger. Er schlug buchstäblich die Hände über dem Kopf zusammen und blieb nachdenklich stehen. Soviel Mist auf einem Haufen hätte er noch nie gesehen. „Abreißen!” Dieser Mann war ein Brigadier! Kommandieren konnte er schon. „Abreißen?”, fragte Paul, gleich wutentbrannt. „Rüchtig!”, erwiderte der große Dünne und machte eine weitere abfällige Bemerkung. Paul zog mich beiseite, zu den Pfählen hin, die ungeordnet im Gras herumlagen: „Den Kierl schmiet ick int Woter!” ("Den Kerl schmeiße ich ins Wasser!", flüsterte er. Wahrscheinlich sah Paul selber ein, dass er keine Glanzleistung vollbracht hatte. Nur, er wusste nicht, wohin mit dem Ärger.  Ich kannte ihn. Dieses Zucken seiner Augenlider verriet das Ausmaß seines mit Erregung gepaarten Leichtsinns. Hinterhältig fragte er den Bauernbrigadier, ob der für ihn noch einen guten Rat parat habe. Arglos, die hohe Stirn gefurcht, erwiderte der etwas schrullige Fremde zustimmend: Am seeseitigen Ende des Anlegesteges müsste ja sowieso noch der Kopf des Laufsteges gerammt werden. Er, an Pauls Stelle, würde restlos alles ‚abräumen’ und dann da, in dreißig Meter Entfernung einen starken Pfahl hinstellen und von ihm ein kräftiges Seil zum Land spannen und dann... Lebhaft machte der uns beiden so großmäulig erscheinende Mensch die dazugehörigen Arm- und Handbewegungen. Sogar mich reizte sein Befehlston. Paul nickte mir vielsagend zu und fragte den Mann, ob er sich denn auch zutraue, mit ihm und uns aufs Wasser zu fahren, um ihn vor Ort zu beraten. Schließlich käme es ja auf den Eckpfosten an und den könnte man gleich in den weichen Seeboden hineinstoßen. Kurioserweise akzeptierte der Fremde. Warum nicht? Echt treuherzig schaute Paul jetzt drein. Das Mienenspiel unseres künftigen Opfers drückte dagegen eindeutig seine Hilfsbereitschaft aus.  Und so machte der Ahnungslose mit seinen Halbschuhen einen eleganten, akkuraten Satz vom Land ins Boot, das sich immerhin in gut einem Meter Entfernung von ihm befand. Er wankte nur kurz, setzte sich dann bedächtig auf die kleine Heckbank, zupfte seine Hosennaht zurecht, zog eine Shagpfeife aus der Hosentasche, stopfte sie aufreizend langsam mit Tabak, entzündete sie seelenruhig, sog den Qualm in sich, blies ihn selbstzufrieden in die blaue Frühlingsluft und schaute sich um. Offensichtlich genoss der ein wenig snobistische Ackerbauer die Aussicht auf die Schönheit der Landschaft, während er paffte und geduldig der Dinge harrte, die kommen sollten. Paul hatte indessen den kräftigsten unter den herumliegenden Pfählen ausgesucht. Er richtete ihn auf. Das war fast ein Mast, dazu knochentrocken und deshalb nicht zu schwer. Scheinbar fachsimpelnd weihte Paul mich in Details seines Planes ein. Als hielte er seinen ärgsten Kritiker schon am Genick, schüttelte Stegebauer Paul den Pfahl, wie man im Herbst einen Pflaumenbaum rüttelt. 

Wir nickten. 

Wir meinten bei uns, über dem zwei Meter tiefen Wasser, wenn wir da denn angelangt wären, würden wir den Starkpfahl mit Schwung fast einen Meter tief in den weichen Grund hineindrücken. Paul zog sein flächiges Gesicht schief und kniff sein linkes Auge zu.  Auf Plattdeutsch sagte er "Ich trete auf den Bord und du auch." Ich war längst mit dem Späßchen einverstanden und lachte vergnügt. Dieses Bild! „Naja”, dachte ich, „ein Bad im Freien hat noch niemandem geschadet!” Uns beiden war natürlich klar, dass das Oberflächenwasser des Tollensesees Anfang April sich trotz tagelanger Sonneneinstrahlung kaum erwärmt haben konnte. Dafür war der See zu tief. Sobald man bloß die Hand in seinen Rachen steckte, biss das Wasser noch kräftig zu. Mit unseren Gummistiefeln durch Wasser und Morast patschend, trugen wir ein zweites Langholz zum kleinen Ruderboot, schoben es so behutsam, wie es uns möglich war, zwischen die Schuhe und Beine unseres gemütlich rauchenden Gastes. Sobald wir uns von Land abgestoßen hatten, schaukelte der Kahn in den Wellen, die durch das Gelege hindurch wogten. Aber das war ungefährlich, obwohl der Nordostwind auffrischte. Das Schaukeln des Kahns kam uns wie gerufen. Wir überaus erfahrenen und eitlen Bootsmänner grinsten einander an. Vor Ort angekommen nahmen wir den ersten Pfosten, steckten mit ziemlicher Anstrengung seine spitze Nase ins bewegte Wasser und richteten ihn einigermaßen aus. Wir hatten noch so viel Zeit uns an unseren Berater zu wenden. „Rüchtig so!”, bestätigte der kühne Bauer. Das untere Ende unseres Pfahles war vom Eigengewicht bereits vier, fünf Dezimeter tief in den weichen, tonigen Grund eingedrungen. Entschlossen spannten wir unsere Muskeln. Paul griff weit nach oben, allzu weit allerdings. Er wollte die Schwere seiner gut neunzig Kilogramm zur vollen Geltung bringen. Gleichzeitig sprangen wir auf den schmalen Bord, des grünrot getünchten Ruderbootes. Jetzt gab es keine Rettung mehr. Jetzt kippte der lange, aufreizende Kerl samt seiner Shagpfeife über Bord. Jedenfalls war dies die bunte, auch von mir verinnerlichte Illusion.

Aber, wieso denn ich?  Es machte nur Patsch! „Äh und Bäh!”, schrie ich.

Mehr nicht, und ruderte schon gewaltig und peitschte das Eiswasser atemringend, das mich in den Hintern und in den Hals biss, den ich schwanengleich so hoch wie möglich reckte. Dabei genoss ich eben noch das Plinkern dieser himmelblauen Hausmeisteraugen und die Vorstellung, wie der andere das erfrischende Bad nimmt. Urplötzlich hatten meine flatternden Hände äußerst heftig und dennoch sehr vergeblich in die kühlen Frühlingslüfte hineingegriffen. Gewaltig trieben mich die Urinstinkte an.  Schnell, schnell! An Land, an Land! Ins Trockene! Mit einem einzigen Blick, während ich noch eisern kraulte, sah ich Paul. Der klebte noch am Pfahl. Mit seinen Füßen hatte er das Boot ungewollt weit von sich gestoßen.  Vom Brustkorb abwärts kam ich mir vor wie ein Eisklotz. Dicht unter meinem Bewusstsein dagegen klapperten meine Zähne wie spanische Kastagnetten. Land unter Füßen, wandte ich mich sogleich wieder um. Da! Immer noch, wie ein verstörtes Affenbaby, mit enorm verkürzten Armen und Beinen, klammerte Exelitesoldat Paul sich verzweifelt an den kräftigen und doch nun so unverlässlichen Pfahl. Die Wellenspritzer nässten schon seinen Hosenboden, denn sein Halt neigte und neigte sich, wenn auch ganz langsam. Ich war fasziniert. Noch zwei Sekunden vielleicht. Länger hielt ihn das Holz nicht über Wasser. Da tat er einen urigen Schrei. Heftig, wie ein startender Schwan, mit seinen Schwingen auf das Wasser einschlagend, krächzte er markerschütternd: „Himmel….. und Wolkenbruch!”

Weiter kam er nicht.

Es verschlug ihm die Luft. 

Ein paar hastige Bewegungen noch, dann hatte auch er den Schilfstreifen erreicht. Mit wilder Kraft richtete sich der bibbernde Gardesoldat auf. Statt dankbar zu sein, dass sein Herz noch schlug, schrie er, je weiter er in Sicherheit kam, Unanständiges.  Der unschuldige Meisterbauer, für den dieses Bad bestimmt war, nahm erst jetzt die Pfeife aus dem Mund. Er machte eine salbungsvolle Geste, bevor er uns Anweisungen gab. Ich hörte es kaum noch und rannte so schnell ich konnte. Später sagte er: Man muss immer versuchen, sicher zu stehen oder sich gut am Boot festzuhalten. Wie er. Er klemmte den Pfeifenstiel zwischen seine roten Lippen, und demonstrierte, wie er sich verhalten hätte.

 

Die Liegewiese

 

In den Märztagen 1956 glaubte ich, es sei gut, das Gras auf der so genannten, eintausend Quadratmeter großen Liegewiese, abzubrennen. Ohne zu bedenken, dass Feuer im Freien, wenn es trockene Nahrung findet sich auch seitlich und somit, wenn auch langsam, gegen die Windrichtung ausbreiten kann. Ich entzündete die Grasfläche mindestens zweihundert Meter weit von der Hühnerstallbaracke entfernt, in der die demolierte Vierergig, die Ruderbote, und die Kanus sorgfältig übereinandergestapelt lagen. Allerdings kam vom Flächenbrand angesaugt, im Handumdrehen mehr Wind auf. In zwei Richtungen breitete sich das Feuer aus. Das Hauptfeuer lief auf die versteckten Boote zu.

Und schon züngelten die Flammen in die fünf herrlichen Omorikafichten hinein. Sie standen direkt vor der für mich so wichtigen Baracke.   Wütend auf mich, riss ich die wie Zunder brennenden Clematis Ranken herunter.

Ich entdeckte, erschrocken bis ins Mark, dass die Flammen schon unmittelbar an den dürren Brettern des flachen Hauses leckten. Immer wieder warf ich mich mit meinen blauen Latzhosen mitten hinein ins knisternde Feuer, bis mir die Luft ausging. Ich wälzte mich in den Flammen. Von bösen Vorstellungen getrieben, hörte ich die Gespenster lachen.

So schnell wie er aufgekommen war, brach der Spuk zusammen. Zwar perlte noch Teer vom Pappdach, doch er entzündete sich nicht mehr. Mein Kopf sank auf die Brust, ich atmete tief auf.

Herbert Maque sah eine halbe Stunde nach dem letzten Aufbäumen des gefährlichen Feuers die schwarze Wiese und die teilweise angesengten Omorika. Er strich, seine langen Beine behutsam setzend, um den Hühnerstall herum und hielt den markanten Kopf wie ein witternder Fuchs. Bemüht, die ärgsten Spuren zu verwischen, arbeite ich auf dem Gelände eifrig, buddelte ein Loch um die wenigen nur halbverbrannten Ranken einzugraben und dachte besorgt, jetzt zeigt er dir seine Zähne. Doch als Maque näherkam, schaute er mich eine ganze Weile nur vielsagend an, als wollte er ausdrücken: Jetzt sind wir quitt! Du begingst, wie ich, nur eine Dummheit, ohne Folgen.

Es war ihm also nicht einerlei gewesen, dass ich ihn eine Woche zuvor mit einer Dame in bestimmter Position gesehen hatte, als ich in sein Büro hereingestürmt kam. Das geschah, weil ich meinte, er hätte mich hereingerufen. Vielleicht wären wir wirklich quitt gewesen. Doch es gab da die noch nicht entdeckte Gig, und, hätte ich keine weiteren Fehler begangen.

Denn, mich manchmal nur auf mein Gefühl verlassend, redete ich bei Gelegenheit mit mir unbekannten Leuten offen über meine nicht staatskonformen Ansichten. Ich selber hatte in den ersten Nachkriegsmonaten zu viel gesehen. Verschiedene Exbaltendeutsche und andere Augenzeugen, vor allem ostpreußische Flüchtlinge, hatten mir zudem entsetzliche Geschichten erzählt, die allesamt bewiesen, dass nicht wenige Offiziere der Roten Armee, die Raubgier ihrer Soldaten zuließen.

So erfuhren wir auch mehr und mehr Einzelheiten, von Ereignissen in Russland, die Ähnliches bewiesen. Wie brutal nämlich die kommunistische Allmacht mit Oppositionellen umging. Bei mir waren all diese Berichte gut aufgehoben. Sie bestätigten mich in meiner Ablehnung und Gesinnung: diese neue Gesellschaftsordnung darf sich nicht durchsetzen. Ich werde mich ihrer Ideologie widersetzen, wo ich kann. Mitunter war ich deshalb unvorsichtig und sprach darüber mit Leuten die ich lediglich für vertrauenswürdig hielt. Hin und wieder hörten wir, dass es Menschen gab, die unser Vertrauen nicht verdienten. Was hätte ich antworten sollen, wenn mir die Männer des DDR-Staats-sicherheitsdienstes jemals die Frage gestellt hätten, warum verbreitest du Antisowjetgeschichten?   

 

Irene

 

Schulleiter Maque lud häufig Gastdozenten in sein Haus. Darunter befand sich eine freundliche, fünfundzwanzigjährige rotblonde Dame, die Vorlesungen im Fach Philosophie hielt. Sie hieß Irene K., sah gut aus, war ein wenig korpulent und von ganz und gar offenem Wesen. Sie lachte gerne, aber sie hatte etwas an sich, das Männer nicht unbedingt mögen. Sie konnte herausfordernd frech blicken. Maque stellte sie kurze Zeit später als feste Lehrkraft ein.

Am letzten Apriltag 1956 grub ich, gut dreihundert Meter vom Haus Tollenseheim entfernt, mit einem Spaten eine Ackerfläche um, die mit Tomatenstauden besetzt werden sollte. Da sah ich die Philosophiedozentin unerwartet auf mich zukommen. Selbst wenn ich sie nie gemocht hätte, allein die berechtigte Vermutung, dass sie ihr graues, gutsitzendes Kostüm für mich angezogen hatte, blieb nicht ohne Wirkung, denn alle Lehrer und Schüler befanden sich im Kurzurlaub.

 Nur sie und mich gab es noch.

Ringsum standen im Geviert riesige Birnenbäume, die selten oder nie Früchte trugen. Das Gelände lag unmittelbar am friedlich blinkenden See. Sie lächelte schon von weitem, als sie den Weg zwischen den gerade grünenden Apfelbäumen herunterkam. „Ich muss doch mal gucken, was unser Gärtner den ganzen lieben, langen Tag so treibt.” Ihre helle Stimme vibrierte.

 „Ob er überhaupt was zuwege bringt?”, lachte ich zurück. Sie schaute mich freundlich an, als wollte sie sagen: Einen Tag vor dem ersten Mai, am Nachmittag, müsse man es nicht übertreiben. Sie lade mich zu einer Tasse Kaffee ein. Sie möchte mit mir über die biblischen Paulusbriefe reden. „Es faszinierte mich, dass du sie kennst!” Einmal hatten wir darüber gesprochen und ich hatte geäußert, die zweitausend Jahre alten Briefe enthielten noch so manche, für uns interessante Botschaft.   „Und welche?”, wollte sie daraufhin wissen. „Dass wir tun müssen und in die Tat umsetzen, wovon wir überzeugt sind, dass es richtig ist.”

„Das liest du da heraus?”

„Der Kern der Paulusaussagen ist keineswegs, was die Protestanten daraus ziehen, sondern eher umgekehrt: dass der Mensch ernten wird, was er sät.”

Ihre Erwiderung lautete: „Das klingt ja nicht unvernünftig!” Natürlich war ihr völlig gleichgültig, was ich mit kritischem Blick auf die Lehre beider Großkirchen meinte. Die Sonne wärmte uns, während wir plauderten. In einer ihrer nächsten Vorlesungen käme das Thema Glaube und Wissen vor.  „Mach’ Schluss für heute, lass uns oben gemütlich Platz nehmen und darüber reden.” Ich wollte nicht nein sagen. Sie war so höflich gewesen nicht zu formulieren: Was du denkst, ist trotz alledem kurios.

In ihrem Zimmer umfing mich augenblicklich ein Gemisch aus Nelkenduft und dem Geruch von ‚Großer Freiheit’.   Aus der Diskussion über Paulus, Luther, Bauernkrieg und evangelischer Rechtfertigungslehre wurde natürlich nichts. Schade! Denn ich verdammte die Ansichten jener schwachsinnigen Protestanten, die meinten der liebe Gott würde schon alles richten, wenn sie nur an seinem Namen und ihrem vagen Glauben an ihn festhielten. So jedenfalls, mit derartigem Selbstbetrug, kann die Welt kein besserer Wohnplatz werden! Aber eben darum geht es, wird es immer gehen, solange wir uns nicht zum Tierhaften zurückentwickelt haben.  Ich war entschlossen, der klugen Dame zu sagen, dass die Welt selbstzerstörerischen Charakter hat, weil ihr Liebe fehlt, jene Liebe die ihre Echtheit durch gewisse Selbstlosigkeit beweist, denn ich war gewillt mich von ihr nicht, auf Kosten des Lebensglückes meiner Frau, einwickeln zu lassen. Vielleicht kann man einmal Herzen ersetzen, die Treue nicht.

Auch aus dem Kaffeetrinken wurde nichts, denn ich nahm Selterswasser zu mir. Sie saß, die Beine übereinander geschlagen auf dem Sofa.

Ich glaube, dass ich stocksteif an ihrem Zimmertisch saß und halb verlegen, halb verwirrt, mit den Fransen ihrer gehäkelten Decke spielte. Sie sprach über Homers Nymphe Kalypso und in spöttisch lockendem Ton über Männer wie Odysseus, Calypsos Verehrer. Sie sei jedenfalls keine ‚schön dumme’ Penelope, die artig daheimsitze und unentwegt wartend bloß Strümpfe für ihren Mann strickte, während der eine andere bezirze. Sie nickte, als ich sie anschaute. „Meiner sitzt jetzt irgendwo in Rostock bei einem Weibsbild herum und spielt den Seelentröster!” Ich werde nicht einen Augenblick länger hier oben in ihrem Zimmer herumhocken, sondern lieber zu meiner kleinen Familie zurück radeln. Gerd, du bist nicht der Mann, der umfällt.

Es ist besser inkonsequent zu sein, als verräterisch.  Ich lenkte, abschließend, das Gespräch auf meine Ansichten zum Kommunismus. Man kann leicht von andern verlangen, sich korrekt zu verhalten. Die Dozentin lächelte, aber nur aus Höflichkeit. Sie schätze Leute, die denken können.

Nicht gerade versteckt war meine Attacke auf die marxistischen Weltverbesserer, die alles verändern und verbessern wollten, außer sich selbst. Herbert Maque und diese Frau vor mir, würden alles tun, um mir zu beweisen, wie gut und schützenswert die DDR und ihr Sozialismus seien. Gleichzeitig zeigten beide nicht das geringste Schutzinteresse gegenüber seiner und meiner Frau. Würde ich auch nur kurz berühren was mir untersagt ist, müsste ich auf mein Recht verzichten, den Kommunismus vehement abzulehnen. „Die ganze Philosophie nützt nichts, wenn wir sie einfach so deuten, wie es uns momentan passt!“ Obwohl meine Worte wenig präzise waren, glaube ich, dass sie verstand, was ich meinte. Frau Irene sah mich an wie jemand, der über den Rand ihrer Brille schaut.

Sie stimmte mir zu, zumindest teilweise, wenn auch mit brüchiger Stimme. Ihre Augen blitzten plötzlich vor Wut, weil ich aufstand. Ich ging davon.

 Wenige Tage später saß ich wieder an dieser, im Tollenseheim, nach Nordwesten gerichteten, großen Fensterwand und schaute sehnsüchtig

 

Foto: Touristinfo Neubrandenburg     18 qkm Tollense 4 qkm Lieps

 

auf den weit unten im Tal liegenden langgestreckten, wunderschönen See. Seinen geschwungenen Buchten folgte mein Blick zu gerne.  Das herrliche von riesigen Buchen-beständen und seinen großen Hügeln umrahmte Gewässer lockte mich stärker denn je zuvor. Seine ihn umgebenden Mischwaldhänge umrahmten ein Gemälde wie von Claude Monets Hand gemalt.

 Da kam ein fremder, stattlicher und auffallend gut gekleideter Mann in die geräumige Veranda herein, ein Buchhalter, wie ich richtig vermutete, der mir nur kurz seinen Namen nannte und nach knapper Frage neben mir am Mittagstisch Platz nahm. Ohne uns je zuvor gesehen zu haben, fassten wir zueinander schnell Vertrauen. 

Ich hätte wissen müssen, dass nur drei Meter entfernt, über uns, ein Lautsprecher hing, in den ein Mikrofon eingebaut worden war. Maque wollte doch unbedingt mithören, was seine Schüler privat sagten. Hausmeister Paul hatte mir das schon Wochen zuvor erzählt und mir, in Maques Abwesenheit den großen metallenen Schaltschrank gezeigt und erklärt wie das funktioniert.  Ich wusste allerdings, dass der Herr der Schule und seine blutjunge blonde Geschäftsführerin Inge gegenwärtig, mit dem Kajütboot, sich auf dem Weg in die 10 Kilometer entfernte Kreisstadt Neunbrandenburg befanden.

Es war dieses Gefühl von innerer Übereinstimmung, das mich in den vielen Jahren nie verlassen hatte, das Gespür wie weit und wem ich mich öffnen durfte und wem nicht. Es dauerte nicht lange, bis wir die übertriebene Parteiloyalität der Philosophiedozentin Irene ins Visier nahmen.

Er war Theaterkritiker – und ich, sagte ich, versuche, „Theater“ zu schreiben.  Wir kamen kurz zurück auf die Ansichten der Lady Irene. Ich plauderte aus, dass sie überaus freundliche Männer gerne hat. Da lächelte er. Er kannte sie. Sie gehöre zum neuen Frauentyp. Er lachte erneut, aber sein Lachen klang hart. Nach einer Weile des Schweigens wechselten wir erneut zurück zum ursprünglichen Thema: Über den XX. Parteitag der KPdSU und die Absetzung Stalins, tauschten wir unser erstaunlich komplementäres Wissen und unsere Meinungen aus. Wir verdammten den Aufmarsch von Panzern gegen Unbewaffnete, und dass in Polen antikommunistische Demonstrationen ebenfalls gewaltsam beendet wurden. Mein Gesprächspartner wusste, was ich noch nie zuvor gehört hatte, und ich wusste von Ereignissen, die in sein Bilderbuch passten, als hätte er schon lange danach gesucht. Wir konnten kaum ein gutes Haar an der Verwirklichung dieses Sozialismus lassen.

Warum kam mir nicht in den Sinn, dass Irene die Philosophielehrerin, eventuell mithörte?

Die Rohheit eines Systems, das uns keine Wahl ließ, quälte uns. Zu viele Leute, deren Namen und Gesichter wir sehr gut kannten, hatten sich für ihre Karriere entschieden, obwohl sie ähnlich wie wir dachten und fühlten. Andererseits war uns bewusst, dass die große Geschichte so chaotisch, wie sie zum Dritten Reich Hitlers verlaufen war, sich niemals wiederholen darf. An sich war ein Experiment wie der Sozialismus berechtigt.

Aber nicht als Abenteuer ohne Rücksicht auf Verluste. Bereits der Urgrund, den Lenin in der Sowjetunion gelegt hatte, erschien uns beiden als unerträglich. Mehr als das. Nicht wenige kommunistische Funktionäre handelten wie die „Elitechristen“ des vierten Jahrhunderts. Diese frommen Typen hatten es gewagt, der ganzen zivilisierten Welt den Stempel eines erbarmungslos-diktatorischen "Christentums" aufzunötigen. Sie legten die Basis für die spätere Inquisition. Nach diesem Muster agierten die Staatsmänner des jetzigen Ostens Einmal würden die Historiker offenlegen, wie viele Millionen Menschenleben zwischen 1917 und 1937 infolge dieser Art der Revolution allein in Russland vernichtet wurden. Beide Jahrgang 30, hatten wir vieljährige Erfahrungen, mit dem auf uns zielenden pausenlosen Propagandatrommelfeuer des Stalinismus, hinter uns. Wie so viele andere hatten auch wir uns wundgerieben an den uns unsympathischen Parolen, die in uns undifferenzierten Hass auf den “Kapitalismus” hervorrufen sollten.

Hass sollte gesät werden. Er musste als Pflanze des Verderbens aufgehen!

Wir empfanden sehr stark, dass es den maßgeblichen Kommunisten vorrangig um die Vernichtung der Demokratie ging. Das war es, was uns wie die Vorstufe zur Sklaverei erschien. Als einziges Mittel zum Überleben unserer prodemokratischen Ansichten blieb uns nur der Versuch einander in der Ablehnung zu bestärken. Ähnliches wagten Hunderttausende in diesem Lande, vielleicht sogar Millionen. Und doch war es nur ein Aufblasen der Backen gegen den gewaltigen Oststurm.

Ziemlich unvorsichtig bezeichnete ich in jener Mittagsstunde Lenins Dekret über den Boden als glatte Lüge. Lenin habe nie anderes als die schließliche Verstaatlichung des Bodens gewollt. Die bitterarmen Muschiks jedoch, an die sich das Dekret richtete, mussten glauben, wenn sie sich auf Lenins Seite stellten, dann bekämen sie selbst, für immer, ein Stückchen Land zu eigen. Die vom mörderischen Krieg ausgezehrten, von Heimweh, Hunger, Läusen und Tod geplagten Russen hörten auch heraus, dass Lenin den Krieg sofort beenden wolle. Ja, dass sein erstes Dekret überhaupt ihrem ureigensten, dringlichsten Wunsch entsprach: „Alle Frieden! Frieden!” Von klaren aber auch unnennbaren Hoffnungen getrieben, mussten sie in Lenin den Erlöser sehen.

Vorausgesetzt sie würden seinen Aufrufen Folge leisten, gelangten sie durch einen einzigen Schwenk ihrer Hüften aus der Hölle direkt ins Paradies.
Wir beide glaubten, dass Lenin vorsätzlich so verfänglich geschrieben hatte. Sein wahres Gesicht zeigte er, nur drei Jahre später, in seinem Brief „Tod den Kulaken!”, den man, wie ich es selbst getan hatte, in jeder Lenin-Gesamtausgabe nachlesen konnte. Eine ganze Klasse, nämlich sämtliche Mittelbauern Russlands, gab er - wenn auch aus dem berechtigten Zorn über einige tatsächliche Verbrecher - unterschiedslos dem Verderben preis. Das waren Millionen Todesurteile! Jeder mit einer Pistole bewaffnete Neidhammel, der glaubte, er hätte noch eine offene Rechnung mit diesem und jenem Mittelbauern, kam mit Leninsätzen daher, um an sich zu reißen, wonach ihn gelüstete. Namens der Partei und der Wahrheit wurden Menschen aus Machtgründen schutzlos.

Bauern wurde das Saatgut gestohlen, Soldaten sinnlose Befehle erteilt. Nonnen wurden verhaftet und alle zogen die Köpfe ein, weil angeblich Klassenkampf herrschte. Wehe dem der aufmuckte.

Die Zeitung vom 22. Januar 1956 hatte ich aufgehoben. Den Ausschnitt trug ich bei mir. Ich zeigte, meinem Gesprächspartner, zwei Passagen, die mir ins Auge fielen. Auf einer Innenseite der Zeitung des Zentralkomitees der SED “Neues Deutschland” wurde #berichtet, wie der Frankfurter Obermagistralrat Dr. Julius Hahn, Mitglied des westdeutschen Arbeitsausschusses der Nationalen Front aus einer Tagung heraus verhaftet wird: „Wir sitzen, hatten gerade das Hauptreferat gehört...plötzlich beim Mittagsmahl stürmen auf ein Trillerpfeifenzeichen 20 uniformierte Polizeibeamte in den Saal, riegeln ihn ab, verlangen in barschem Ton von den Anwesenden die Ausweise…”

Das Blatt der Kommunisten (der SED) “Neues Deutschland” beklagte das Ausmaß der Gewalt: den Einsatz von Trillerpfeifen und das Verlangen Ausweise vorzuweisen. Das sei nicht zu rechtfertigende Brutalität.

Und wie sollen wir das nennen was in 1953 in Ostdeutschland geschah, als Panzer einen Arbeiterstreik niederwalzten? Und wie das was die Bolschewisten trieben?

Er oder ich fügten hinzu: „Bilder, Originalbilder aus den Tagen der Nachrevolution müsste man sehen, dann wüssten wir, was in Russland zwischen 1917 und 1956 wirklich geschah, das wir gutheißen sollen.“ Das hier, in der Ostpresse, vorgespielte Mitleid galt Dr. Hahn, den Sympathisanten der Kommunisten:  Berthold Brecht, der große ostdeutsche Theatermann, wurde in diesem Zusammenhang zitiert. Auf dieses Brechtzitat legte ich den Finger. „Eurem Bruder wird Gewalt angetan, und Ihr kneift die Augen zu! Der Getroffene schreit laut auf, und Ihr schweigt? Der Gewalttätige geht herum und wählt sein Opfer, und Ihr sagt, uns verschont er, denn wir zeigen kein Missfallen. Was ist das für eine Stadt, was seid Ihr für Menschen? Wenn in einer Stadt ein Unrecht geschieht, muss ein Aufruhr sein…”  „Der gute Mensch von Sezuan“

Wer aber empfand Mitleid mit den nicht verbrecherisch handelnden Kulaken der Leninzeit? Und was passierte im sogenannten Arbeiter- und Bauernparadies? 

         Er und ich befanden uns in Aufruhr.  Zunehmend seit Jahren. 

Wir erlebten hautnah, dass schon Ende 1945 sämtliche Landeigner die mehr als 100 Hektar bewirtschafteten, alles verloren: Haus und Hof und Viehbestände. Nun 1956 drohte der Staat sämtlichen Bauern eine besondere Art der Enteignung an.  Die bis dahin selbständig arbeitenden Besitzer sollten Lohnempfänger werden, indem sie zwangsweise gemeinsam in Genossenschaften leninscher Art, Weisungen ausführten.

Wir unterschieden sehr wohl zwischen gewaltsamen und freiwilligen Zusammenschlüssen, die es ebenfalls gab, wenn auch sehr selten.

Tag für Tag flohen DDR-Bürger in den Westen, die ihren Besitz gegen die Freiheit eintauschten. Meine Gedanken mussten, wegen der Behauptung, die meine Kirche erhob, dass es bald nach dem Tod der Apostel einen Abfall von den echten Prinzipien gab, immer wieder zurück in das 4. Jahrhundert wandern. Damals übten angeblich fromme Männer um Ambrosius von Mailand denselben Glaubensterror den Lenins Schergen praktizierten. Gnadenlos wurden da wie hier zehntausende Familien ins Unglück gestürzt, die sich weigerten nach der Pfeife eines Diktators zu tanzen. Ambrosius und Lenin trieben ihre Fraktionen in jahrelange Kriege, da gegen Ostgoten, die zu hunderttausenden in Italien siedelten und Toleranz übten und hier dieselbe Art der Machkämpfe unter sehr stark ähnelnden Parolen. Ambrosius und Lenin wollten die einzig Guten sein. Wer sich gegen sie stellte, wollte das Böse.

Ambrosius „Kirchen“-politik sollte Menschen bis ins 19. Jahrhundert hinein quälen.   

Wir sprachen in sehr scharfem Ton über einen Fall absolut ungerechtfertigter Aufruhr-Niederschlagung in der SU. Da war der nur wenigen bekannte, jedoch zuverlässig überlieferte Aufstand der Kronstädter Matrosen, 1921, gewesen.

Nur dreieinhalb Jahre nach der Errichtung der Sowjetmacht klagten die Matrosen der Schlachtschiffe “Sewastopol” und “Petropawlowsk”, dass die Arbeiter in den Kronstädter Staatsunternehmen der Sowjetunion „wie die Zuchthäusler zur Zarenzeit” behandelt wurden.

Auf Lenins Befehl hin ließ Kriegskommissar Trotzki die Aufständischen zusammenschießen. Da hatten Mitmenschen eben nur Mitleid gezeigt, eben das was Bertolt Brecht sich wünschte, indem er forderte: „Wenn in einer Stadt ein Unrecht geschieht, muss ein Aufruhr sein!“ Doch gerade die Partei, der auch Bert Brecht diente, zerschmetterte gnadenlos den Aufstand Mitfühlender.
Wie passte das zusammen?

Buchhalter Günter vermochte es mir sehr anschaulich zu schildern, wie die Truppenteile der Roten Armee über das Eis des finnischen Meerbusens vorrückten und wie sich die Artilleristen der eingefrorenen Schlachtschiffe vergeblich gegen den Sturmlauf ihrer in Weiß gekleideten Waffenbrüder verteidigten. Ich stimmte ihm zu: Wenn das wahr sei! Dann hätte man Lenin allein für diese Ruchlosigkeit in Ketten legen müssen. 

Gerade, als ich das aussprach, fiel mein Blick auf das Gerät zu unseren Köpfen. Vor Schreck blieb mir der Bissen im Halse stecken. Die Ikone des Kommunismus hatte ich besudelt. So dumm zu sein, wie ich, musste bestraft werden.

Eine Minute später hörte ich, wie Irene K. die Treppe herunterstieg.

Das typische Klappern ihrer hohen Absätze klang allein schon bedrohlich. Ich sah diese blitzenden Augen, als sie sich uns näherte und wusste Bescheid.

Als leibhaftiger Racheengel wird sie sich nun erweisen. Aber wir hatten doch leise gesprochen. „Die Empfindlichkeit eines Mikrofons der neuen Generation ist beträchtlich.” Dieser Satz eines Technikers kam mir in den Sinn.  Namens der Diktatur des Proletariats waren wir der Dozentin, wenn sie wollte, ausgeliefert. Ich werde ihr die Stirn bieten!

So, so, sagte der andere Teil meiner Selbst: du wirst deinen großen Schnabel zuhalten du bist Familienvater und Ehemann.

Aber, trotzte ich ziemlich hilflos, die einzige Diktatur, die mein Gewissen je dulden wird, ist die meiner eigenen Vernunft über die Leidenschaft.

„Dafür schuldet ihr mir Rechenschaft!”, hörte ich sie schon im Voraus tönen und sogleich sahen meine inneren Augen Männer der Stasi. Dafür, dass wir uns herausgenommen hatten, sie persönlich zu kränken. Dafür, dass wir uns herausgenommen ihre Partei und den großen Denker Lenin beleidigend zu kritisieren. Sie wusste nun, dass wir Ulbrichts System als seelenknechtend betrachteten. Ihrerseits gab es, selbstverständlich, keinen Zweifel an der Richtigkeit des Weges, der Zwang als politisches Mittel einschloss. Sie war mehr als eine Dienerin des Systems und wir ihre Verlierer.  Innerlich verteidigte ich mich ununterbrochen gegen eine mögliche Anklage: Zwang, gleichgültig, von wem angewandt, verkehrt die beste Sache der Welt in ihr Gegenteil.

Wisst ihr das nicht? Erniedrigte Frauen müssten unsere Gefühle verstehen können. Dozentin Irene ging an uns vorbei. Nur einen einzigen, wenn auch sehr sonderbaren Blick gab sie mir.

Es ereignete sich nichts, noch nicht. Doch Ungewissheit kann schlimmer sein als die ungute Gewissheit. Das war es, womit sie regierten. Es braute sich etwas Gefährliches gegen mich zusammen. Es lag in der Luft.

Einige Tage später, Mitte Mai erfuhr ich, dass mein Gesprächspartner, der Buchhalter Günter, wahrscheinlich verhaftet worden sei, oder, und das war nicht auszuschließen, er hatte sich in den Westen abgesetzt. Jedenfalls sei er spurlos verschwunden. Das war natürlich zweierlei! Im Westen zu sein oder im Gefängnis zu sitzen. Verhaftet! Herbert Maque und andere hatten es mir schon mehrfach zu verstehen gegeben: Wer gegen die DDR hetzt, der spricht der Friedensfeinde Sprache. Einige Tage nachdem ich vom Verschwinden Günters erfuhr, fauchte mich die Philosophielehrerin im Waschraum an: „So nicht!”

Was meinte sie mit diesem unbestimmten, unvollendeten Satz? Ich holte mein Fahrrad aus dem Keller, wollte heimfahren. Da sah ich Braun, einen der neu eingestellten Lehrer, neben Irene K. stehen. Er löste seinen Arm, den er um ihre Schulter geschlungen hatte. Braun kam dann auf mich zu. Er war klein, sogar ein wenig kleiner als ich. Sein Ausdruck allerdings war der eines Giganten. Er machte scheinbar vielsagende Gesten. Ich betrachtete seinen kahlen Kopf, seine glatten Züge, um ihm nicht in die provokant ausforschenden, hellen Augen blicken zu müssen. Unter dieser Schädeldecke bildeten sich Worte und Sätze gegen mich. Das war nicht zu übersehen. Nicht so sehr überraschte mich deshalb, dass er formulierte: „Wir werden sie wohl hoppnehmen müssen!” (Er meinte wir werden dich hinter Gitter bringen müssen) Braun schien zu wissen, was ich dachte. Er sagte: „Wegen subversiver Tätigkeit.”  Erst als ich mit meinem Rad davonfuhr und seine und ihre Blicke im Rücken zu spüren glaubte, fiel ich in Panik. So leicht hatte der Neue es daher gesagt, als hätte er gemeint, morgen ist auch noch ein Tag zum Teetrinken.

Bezog er sich auf das Abbrennen der Wiese?  Hatten sie die zerstörte Gig entdeckt?  War, was die Dozentin über die Abhöranlage vernahm, nur der I-Punkt?

Reimten beide sich des Buchhalters Günters Bemerkungen wegen noch mehr zusammen?  War Günter ein Spitzel gewesen?

Du wirst für die unverzeihliche Sünde bezahlen.

Lenin durfte alles. Im Namen der Revolution durfte er tun, was er für erforderlich hielt, selbst wenn sämtliche Nicht-roten allesamt daran verreckt wären. Wo gehobelt wird, da fallen Späne.

Ich ließ zu, dass es in mich hinein hämmerte: „Heiligtümer besudelte niemand ungestraft. Du hast ihre Sache in den Dreck getreten. Geschieht dir recht, wenn sie dich hoppnehmen.“ Mit diesem Schock, die Gitterstäbe vor Augen, fuhr ich heim. Ich trat in das Pedalen und schwitzte vor Aufregung. Otto Krakow, mein Gemeindepräsident und zugleich mein väterlicher Freund, beruhigte mich. „Subversiv? Was heißt das? Tollenseheim steht doch noch. Bange machen gilt nicht! Lass dich nicht ins Bockshorn jagen!”  Er hatte gut reden. Das Wochenende verging. Am Montagmorgen versicherte ich mich, ob Braun die Gig entdeckt haben könnte. Nein. Es geschah so gut wie nichts, außer dass meine Gefühle verrücktspielten.  Hatte ich mich umsonst aufgeregt? Hausmeister Paul ging in dieser Woche überraschend von Tollenseheim weg und ich beschloss, dasselbe zu tun. Am Sonnabend den 2. Juni 1956, las ich in der Presse, die in der Veranda der LPG-Schule auslag, die Produktionsgenossenschaft werktätiger Fischer “Tollense” suche umgehend zwei Saisonarbeiter,

Das schien mir das ein Wink des Himmels zu sein. Zögern? Nicht eine Minute.

Herbert Maque legte sein ernstes Gesicht in tiefe Falten und entließ mich erstaunlich zurückhaltend sofort aus der Pflicht.

Eigentlich war er nicht mein Vorgesetzter. Die Kündigung hätte ich beim örtlichen Landwirtschaftsbetrieb Groß Nemerow (ÖLB) einreichen müssen…

 

Als Fischereihilfsarbeiter auf Zeit

 

Erika, meine Frau, schlug die Hände über dem Kopf zusammen: "Das ist die unterste Stufe auf die du dich dann begibst!“  "Na und? Das ist meine Chance, wo soll ich sonst hin? In ein Büro wo ich über dem Studium toter Zahlen einschlafe?" Ich sollte die Männer allesamt sehr gut kennen lernen. Buchhalter Adolf Voß hob die Stirn als er mich sah und betrachtete: „Sie gehören hier nicht her. Das sind alles raue Gesellen…“ Ich lachte. Raue Gesellen haben meistens ein gutes Herz. „Na, ja,“ seufzte er: „für sechs Wochen!“

„Hast du schon einmal bei windigem Wetter in einem kleinen Boot gestanden?“ lautete die Frage des Vorsitzenden Bartel, Überlebender des 2. Weltkrieges und ehemaliger Gefangener in Russland: „Ja, bei Kurt Meyer, Cammin, aber schon früher auf der Peene, in Wolgast!“

Für sechs Wochen!“ erwiderte er.

Es begann mit einer Nachtschicht – und die hätte gleich die letzte meines Lebens sein können. Es waren allesamt fast verfaulte niedrige kleine Fischerkähne.

 

 

Das waren die Männer mit denen ich lange Jahre zusammenarbeiten sollte:

 

Görß, dritter von rechts, war allen in jeder Hinsicht weit überlegen, darüber hinaus furchtlos und ehrlich.

 

Beladen mit den Großnetzen ragten sie nur gut vierzig Zentimeter über dem Wasser-spiegel. Die Netze sahen ebenso verrottet aus, wie der kleine Schlepper, ein uraltes Motorboot. Der wurde von einem ballernden 12 PS Dieselmotor angetrieben. Dieser Kutter wies am Bug ein faustgroßes Loch auf. Seine drei Wasserkammern waren groß genug um 5 Tonnen Fische aufzunehmen.

Aber ich ahnte gleich. 5 Tonnen Fische fangen, an einem Tag? Dann sähe alles hier, einschließlich der grünen kleinen Baracke, nicht so primitiv aus. Mir wurde das Heckteil im rechten Kahn zugewiesen. Kaum einen Kilometer hinaus auf den tiefschwarzen Tollensesee angekommen, zuckten erste Blitze. Das Wasser geriet in immer heftigere Bewegung. Die nur knapp einen halben Meter über glattem See aufragenden Bordwände der nebeneinander liegenden Zugnetzkähne boten nun bei zunehmendem Wellengang wenig Sicherheit. Da stand ich nun und wurde vom aufgeregten See bespritzt. Ich nahm die vor mir liegende Schaufel und entleerte mein Boot vom eindringenden Wasser. Vom aufkommenden Sturm geschüttelt stießen beide Kähne rhythmisch gegeneinander.  Dabei nahmen wir immer mehr Seewasser über. Mein Partner Kurt, ein wegen Alimentenklagen aus Westdeutschland in den Osten geflohener Familienvater ärgerte sich über die Spritzer und über mich. Er war betrunken und nahm an, ich hätte ihm absichtlich eine Ladung Wasser ins Gesicht geschaufelt. Sofort hob er seine Pätsche (Ruder) und ich duckte mich instinktiv hinter den Netzballen. Nur deshalb traf er mich nicht. Das Gewitter ging so schnell es gekommen war vorbei.  Was wir mit dem ersten Zug in dieser Nacht fingen war erbärmlich. Meine Aufgabe bestand darin knapp 200 Meter der zwölf Meter hohen Netzwände über Bord zu hieven, während die beiden „Vorder“fischer mit ihren Rudern den Kahn parallel zum Land vorwärts zogen. Dann liefen die Stahlseile der Winden ab. Nach zweihundert Metern wurde geankert und das insgesamt 400 Meter lange Zugnetz wurde heran gewunden.  Nachdem das mit Muskelkraft getan war, ruderten wir wieder aufeinander zu, ankerten erneut im Schilf und zogen mit Windenkraft das Netz zurück in die Arbeitsboote. Alles in der Hoffnung im riesigen Wadensack zehn Zentner Fische vorzufinden. Aber es waren nur wenige Kilogramm minderwertiger Plötzen. Nach vier Nächten Wadenfischerei fühlte ich mich erschöpft, weil ich nicht gewohnt war, tagsüber zu schlafen. Es gelang mir einfach nicht ins Traumland zu gehen. In der fünften Nacht, die uns guten Fang bescherte, fiel ich gegen 3 Uhr morgens auf der Eismiete um. Es oblag mir, aus dem schützenden Mantel Sägemehl, die im Winter vom See eingesammelten Eisblöcke herauszuholen, um schließlich die in Holzkisten liegenden Fische zu kühlen. Keine Ahnung, wie lange ich ohnmächtig auf der weichen Schutzschicht, in dieser warmen Sommernacht, lag. Dennoch, die Arbeit sagte mir zu, weil es immer wieder die Nerven spannte, was da mit dem nächsten Hol zu erwarten war. Tatsächlich, eines Tages, nach längerer erfolgloser Fischerei wurden wir überrascht. Direkt hinter den Trümmern der ehemaligen Torpedo-versuchsanstalt gelang es uns, einen Riesenschwarm großer Barsche zu fangen. Alles sah zuvor trostlos aus.

Zwei Tonnen exzellenter und weitere zwei Tonnen kaum weniger wertvoller Fische füllten die Kammern des dickbauchigen Kutters. Von da an ging es aufwärts. Tag für Tag brachten wir tonnenweise Qualitätsfische auf die Sortierbank. Wir belieferten auch Berlin.  Und, wie das Leben so spielt: Mikusch, ein junger Familienvater setzte sich im Juli 1956 alleine in den Westen ab, - als politischer Flüchtling, wie er sehr wahrscheinlich vorgab - und ich durfte bleiben und seine Stelle einnehmen… Sie nahmen mich, wenige Wochen später, auf meine Bitte hin als gleichberechtigtes Mitglied in ihr Genossenschaft auf: „Siehst du!“ sagte ich mir „nur die Sache ist verloren, die man aufgibt.“

Sie akzeptierten, dass ich nicht mit ihnen Schnaps oder Alkohol anderer Art trank. Sie akzeptierten, dass ich sonntags nicht arbeiten wollte, sondern mit Erika und Hartmut „zu Kirche“ ging. Sie fanden es fremd, dass ich immer ein Buch mitnahm. Sie akzeptierten sogar meine kleine Reiseschreibmaschine.

Wenn wir bei ungutem Wetter zu sechst in der Fahrerkabine und beim Höllenlärm des großen Dieselmotors mit seinen gewaltigen Schwungrädern eng beieinandersaßen, hielt sie der eine oder der andere geduldig auf Knien, denn die Festzeitung, die ich machte, verhalf ihnen zum Lachen über sich selbst, da ich sie spassvoll skizierte.  Sie fühlten, dass ich sie gerne hatte. Jeder von ihnen hatte seine Sonnenseite. Kurt, der mich in der ersten Nacht bedrohte, lag nach einer durchzechten Nacht unter dem großen schäbigen Tisch der Fischereihütte, allerdings umgeben von fünf seiner Mitfischer. Sie hatten unfertigen „Rumtopf“ konsumiert. Das war es, was mich oft bekümmerte. Kurz danach lag Kurt wieder betrunken mitten auf dem Netzboden. Einer stieß ihn unsanft mit seinem Stiefel. Ich sagte: „Wie soll der Mann aufstehen, wenn du ihm in den Hintern trittst!“, auch das wurde akzeptiert. Kurts unselige, neue Frau, die Mutter seiner beiden Töchter, weinte sich eines Tages bei mir aus. Er schlug sie, brach in seiner Wut ihren Arm. Er konnte die vielen Niederschläge die er in Kriegs- und ersten Nachkriegszeiten erlitt, nicht wegstecken. Nun verdiente er nicht genug. Wegen der aus dem Westen erfolgreich geführten Alimentenklage musste er Lohnabzüge hinnehmen. Er wohnte miserabel. Er hasste sich selbst wegen seiner Alkoholsucht. Dann lag er im Krankenhaus. Die Ärzte wussten keinen Rat. Ich besuchte ihn. Zum ersten Mal in meinem Leben nahm ich die Hand eines Mannes um sie länger fest zu halten. Am nächsten Morgen kam Bärbel, seine Frau zu mir: „Kurt hat die Nacht durchgeschlafen, das Fieber ist wieder runter. Es geht ihm besser.“

Eigentlich ist es normal. Jeder braucht ein wenig Anerkennung. Ich hatte versucht, sie ihm zu geben. 

Fritz Biedersteadt war ein völlig anderer Typ. Wenn er trank und vom „Dienst“ spät heimkehrte wurde er gelegentlich vom Ehebett seiner Lebensgefährtin verbannt.

Dann musste er in einer anliegenden Dachkammer seinen Rausch ausschlafen. Darüber lachte er, sich selbst verspottend und zugleich selbstbewusst. Als vierzehnjähriger ergab sich für ihn die Möglichkeit hochherrschaftlicher Diener zu werden und zwar im Berliner Haus der Freifrau von Stein. Nie verwandte diese Dame von Welt, der er jahrelang angehörte, ein niederes oder tadelndes Wort, oder gar ein Schimpfwort. Aber es gab im vornehmen Haus einige weibliche Bedienstete, die einander nicht immer mit Freundlichkeiten bedachten.  Er lernte dort ausgesuchte Höflichkeiten und betont gutes Benehmen einerseits, andererseits das pure Gegenteil. Er konnte sich elegant  

Fritz 1905-1965       ausdrücken, ausgenommen, nachdem ihm der Alkohol die Selbstkontrolle nahm. Ein ganzes Jahr hindurch standen wir, tags oder nachts gemeinsam an der eisernen Handwinde und kurbelten das Zugnetz gegen den Wasser - und Bodenwiderstand ans Ufer, zu uns heran. Er malte seine Vergangenheit in vielen, aber nie übertriebenen Farben. Fritz war ein Erzähltalent und Stimmungsmacher. Er gab mir einen Rückblick in die 20 er Jahre der mich zur Frage führte, ob es je unter uns Erdenkindern eine Zeit gab, in der Menschen ihr kleines Glück, wenigsten für eine beachtliche Weile ungetrübt durchleben durften? Meister und Fischereipächter Ernst Peters Senior, stellte ihn 1921 als Hilfsarbeiter ein, nachdem Freifrau von Stein sich gezwungen sah, ihren Lebensstil zu ändern. Der alte Peters war Neujahr 1929 am Ende. Der Strick an den er sich erhängen wollte, war bereits befestigt, an einem Balken seines großartigen Wohnhauses am Neubrandenburger Oberbach. In seiner Verzweiflung gab er die letzten Pfennige für Schnaps aus. Da fingen seine Getreuen mit ihren Fangnetzen, die unter Eis von Loch zu Loch gezogen wurden auf einen Schlag 20 Tonner Brassen allererster Klasse. Fische nach denen die Berliner Großhändler seit Wochen vergebens riefen. Die Jüdinnen waren versessen darauf. Für mehr als drei Seiten wurde dieser Fang zum Glücksfall. Zigtausend Goldmark fielen dem dauertrunkenen Mann in den Schoß. Mit Links legte er dem Kämmerer der Stadt die Pachtsumme auf den Tisch. Er bezahlte seine Schulden.  Aber ihm und seiner Familie wurde es nicht zum Segen. Der Teufel Alkohol behielt ihn im Griff.

Die Zeit verging wie im Fluge.

Aber ich wollte verantwortungsbewusstes Subjekt sein.

ich wollte so gut es ging gegen Unfreiheit ankämpfen.  Es gab zu viele Anlässe aufzubegehren, um zu schweigen. Das jedoch war nach wie vor gefährlich. Mehr und immer mehr Bürger sahen, dass die Lebensweise die ihnen der Staat aufzwang zu einer für sie unerträglichen Bürde wurde. Sie packten ihre Koffer und flüchteten in die Freiheit.

In der Nähe von Cammin begegnete ich, schon Jahre zuvor, als ich die Hagelversicherungsscheine gegen Provision verteilte, ein junges Bauernehepaar. Es handelte sich um die Besitzer von 60 ha Land und Wiesen. Die schmale Mutter trug ein vielleicht einjähriges Kind auf dem Arm, das Größere hielt sie an der Hand. Sie schaute mich mit einem Augenausdruck an, der mir unvergesslich blieb. Er stand in Lederstiefeln daneben, ein Mann wie aus dem Bilderbuch. Er schaute mich ebenso ernst an. Seit 200 Jahren seien sie Bewirtschafter derselben Scholle. Unternehmer, wie er, waren dem Staat ein Dorn im Auge. Nun spüre er den Druck alles zu verlieren zunehmend.  Ehe das Wirklichkeit wird, müsse er handeln: „Wir gehen in den Westen!“ Alleine das offen zu sagen war im Land des „real existierenden Sozialismus“ gewagt. Aber er schätzte mich richtig ein. Einer wie ich würde ihn nicht verraten. Es war die Summe der vielen kleinen geschickt oder plump angewandten Schikanen, die ihn forttrieb.  Sie wurde von Leuten ausgeübt, die glaubten nun sei ihre Stunde gekommen. Er wird seine Kinder nicht Lehrern überlassen, die deutsche und europäische Geschichte fälschten.  Ständig behauptete die SED-Presse, mit der Veränderung der Besitzverhältnisse in ihrem Sinne, würde mehr Gerechtigkeit geschehen. Nicht die organisch heranwachsenden Erfordernisse sollten den weiteren Entwicklungsverlauf bestimmen, sondern die Parteiprogramme Suslows, Stalins und Ulbrichts. Aber in jeder Ehe würde sich der Partner zu Recht auflehnen, wenn mit ihm lieblos, „nach Programm“ verfahren würde. Seitens des Staates flogen die roten Signale und Kommandos rasend schnell.  Immer wieder wurde auch den Bauern vorgeschrieben was sie zu tun und zu lassen hätten. „Ich weiß selbst was ich als Landwirt zu tun habe!“

Das in etwa war der Inhalt unseres Gesprächs, ein oder zwei Tage vor der Flucht dieser liebenswerten Menschen.

 

Hermann Göck, Vorsitzender der Bezirksparteikontrollkommission der SED, Altkommunist, Bewunderer Ernst Thälmanns, den er persönlich kannte, war Ehrenmitglied und Berater unserer Genossenschaft. Ich kannte ihn bereits seit Sommer 1956, kurz nachdem ich ihr Mitglied wurde. Es gab regelmäßig wiederkehrende Schulungen die in unserer kümmerlichen Baracke abgehalten wurden. Der überaus gutmütig Bezirksfischmeister Jochim, eine ehemaliger Ostpreuße hielt sie ab, und Göck kam gelegentlich dazu, der dringend wünschte, wir würden geschlossen in seine Partei eintreten. Aber keiner wollte.

Im Gegenteil. 

 

Ende August 57

Bild: Jochen Milster Da bin ich schon ein Jahr lang dabei - hier im kalten Sommer 1957 - links außen. So sah die Zugnetzfischerei aus.

Wir erlebten eine ziemlich deftige Auseinandersetzung zwischen Göck und Görß. Otto Görß war, was erst Monate später offen zutage lag, ein technisches Genie. Er baute dann die erste Unterwasserschneidemaschine die funktionierte. Kein Ingenieurbetrieb der DDR brachte das bislang zustande. Obwohl es dafür dringenden Bedarf gab. Auch er wollte aus dem Elend hochkommen. Er verglich westdeutschen Wohlstand stets mit der Armut des Ostens. Selten nahm Otto ein Blatt vor den Mund.

Da saßen wir 14 Genossenschaftler beieinander in diesem 4 mal 4 Meter kleinen „Kulturraum“ und vernahmen Eduard Jochims und Hermann Göcks Lobreden auf die Vorzüge des Sozialismus der DDR-Prägung. Göck eins achtzig groß, schlank von angenehmen Äußeren schwärmte noch, als Otto Görß, Vater von sechs Kindern, ihn kühn unterbrach: „Ich habe als Soldat während des Krieges weite Teile der Sowjetunion gesehen, sowohl die unendlich vielen strohgedeckten Hütten der russischen Kolchosbauern, wie auch die staatlichen Kulturpaläste.: „Ihr macht alles mit dem Daumen der Gewalt.“ Das sagte er in Plattdeutsch: „Ji moken allens mitn Dumen!“ Dabei drückte ihn nach unten auf eine unsichtbare Platte, mit leicht gequältem Gesichtsausdruck. Otto wurde Binnenfischer in der Hoffnung er könne seine Familie leichter ernähren und neue Fangideen entwickeln. Aber die künstlich niedrig gehaltenen Fischpreise hinderten ihn zu mehr Wohlstand zu kommen. Die steinharte kommunistische Machart verursache Magendrücken. Er bekräftigte: die Rücksichtslosigkeit mit der die Ost-Welt befriedigt aber auch reglementiert und unterworfen werden sollte, läge brutal offen. Ausgerechnet mich schaute der Altkommunist so an, als sollte ich ihm Beistand gegen die Argumente Ottos leisten. Offenbar war Göck unbeirrbar davon überzeugt, dass die neue Generation gar nicht anders konnte, als seinen umdüsterten Ideen, die er für taghelles Licht hielt, begeistert zu folgen. Ich gab den aufmunternd gemeinten Blick zwar freundlich, wie ich glaube, zurück, konnte mich jedoch nicht bremsen. In mir lebten ja all diese Widersprüche, hier wenige großartige Sowjetsoldaten und da die ungeheure Masse der Primitiven. Hier die kleine Gruppe Idealisten die eine bessere Welt unter eigenen Opfern hervorbringen wollen, Männer wie Herr Kell der uns dummen Bengel vor dem Abtransport nach Sibirien bewahrte. 

Da aber war die unübersehbare Menge Karrieristen die nichts weiter wünschte als persönliche Vorteile erlangen. Leute die nur „absahnen“ wollten, die auch dann noch wegschauten, als offensichtlich wurde, dass Nordkorea Südkorea verwüstete, mit dem Ziel die ganze Halbinsel in Besitz zu nehmen, als niemand mehr leugnen konnte, dass Stalins Direktiven den Hungertod von Millionen Ukrainern verursachten. Dies geschah in einem Land das prädestiniert war, riesige Weizenüberschüsse hervorzubringen.  Und ich sah im Geist immer noch das rote Banner am Friedländer Tor auf dem in Großbuchstaben, noch vor wenigen Tagen frech geschrieben stand: Stalins Geist lebt! 

Aber, wie glücklich waren Abermillionen vor drei Jahren zu hören dieser Tyrann, der wochenlang Todeslisten erstellte, sei tot.

Aus vielen Elementen des roten Parteiprogramms ließ sich, wie aus dem braunen Hitlers, Schaum schlagen, mehr nicht.

Nicht laut, doch deutlich, nach diesen Reflektionen, zitierte ich die Parteipresse des Vortages: „Da muss sich vieles von Grund auf ändern! sagte selbst Chruschtschow.“

Göck reckte seinen langen Hals noch länger. Seine Augen rollten vor Schreck und ich fuhr fort: „Ich habe auch die Zeitungsberichte des „Neuen Deutschland“ vom 4. März 56 aufbewahrt. Walter Ulbricht erklärte dort, was keiner erwartet hätte: Stalin ist kein Klassiker des Marxismus. Damit distanziert er sich vom Persönlichkeitskult um Stalin. Und dann, Chruschtschows Enthüllungen…“

Göck unterbrach mich, ziemlich erbittert: „Welche Enthüllungen?“ Rostig klang seine sonst klare Stimme. Meinte er wirklich wir seien blind? Mich trieb es zu sagen: „Und Walter Ulbricht räumte auf der Berliner Bezirksdelegiertenkonferenz ein, dass Josef Stalin zum Nachteil der gesamten Sowjetgesellschaft die falsche These vertreten habe: mit der Entwicklung des Sozialismus verschärfe sich der innersowjetische Klassenkampf. Das führte zu Mord und Totschlag.“

Göck räusperte sich, während ich meine eigenen Bilder sah, die ihm nicht gefallen hätten.  Er schaute mich durchdringend an, überrascht, dass da jemand aus dem Nichts auftauchte und sich herausnahm ihm, dem namhaften Funktionär Steine in den Weg zu legen.  Alle anderen schwiegen, die Augen Otto Görß leuchteten. Neumann und Gräf, der Brigadier hassten ohnehin alles Neue, insbesondere was da aktuell politisch passierte. Sie lebten geistig immer noch im vergangenen Jahrhundert, das hatten sie mir mehr als einmal deutlich zu verstehen gegeben.  

Göck irrte. Sein Denken war utopisch.

Ich schwieg jetzt. Aber meine Gedanken gingen weiter

In meiner Kirche habe ich gelernt, dass Unwahrheiten niemals dazu beitragen, ein solides Fundament zu bilden. Die von loyalen Kommunisten erfundenen „Volkswahlen“ waren im Grunde eine freche Lüge. Wehe dem, der den ihm ausgehändigten Zettel nicht gehorsam faltete und unbesehen in den Schlitz einer Urne steckte. Auf jeden Fall standen auf diesem Papier - Wahlzettel genannt - nur die Namen von Menschen, die kaum jemand kannte, die sich bereit erklärten, ein Mandat anzunehmen, das selten ihre wahren, tatsächlichen Überzeugungen widerspiegeln konnte. Die oberste Priorität dieser gewählten Amtsträger bestand darin, falls sie überhaupt gefragt würden, den Willen der Mitglieder des kommunistischen Politbüros durchzusetzen.  Sehr selten gab es Ausnahmen von dieser Regel, etwa wenn es sich lediglich um ein ethisches, also unpolitisches, Problem handelte, das den Mitgliedern der Volkskammer vorlag, wie beispielsweise im Fall der Frage ob Abtreibungen generell erlaubt sind.  

Ja, es gab Wahlkabinen. 

Jeder, der da hineinging, musste ein „Klassenfeind“ sein, Feind der herrschenden Regierung. Mit solchem Schritt brandmarkte sich die mutige Person selbst.

Ich sah Göcks hagerem Gesicht an, wie es in ihm arbeitete, wie sehr er sich ärgerte. „So nicht!“ zürnte er. Aber das änderte nichts daran, dass die SED-Parteipresse, vieles, - was ich jemals innerlich oder vorsichtig kritisiert hatte, bereits in den Frühlingstagen des vergangenen Jahres, - bestätigte. Große Teile der mehrstündigen Geheimrede Chruschtschows vor Spitzenfunktionären seiner Partei kamen nun Stück für Stück zutage. Lange hallte in mir ein Satz Göcks nach, den er zum Abschluss dieser Schulungsrunde formulierte: „Entweder man steht links oder rechts, wer zwischen die Fronten gerät wird zermalmt.“ Wenigstens das war ehrlich gesagt.

 

Gewagte Schritte

 

Ich suchte einen Weg, eher einen Umweg, mich politisch pro demokratisch einzumischen. Vielleicht versuche ich ein Theaterstück zu schreiben, das eben sowohl unverfänglich wie deutlich widerspiegelt, dass es eine Schande ist, Menschen wegen ihrer Gesinnung zu verfolgen. Es musste klar sein, dass erst die Umsetzung einer Bosheit strafbar ist.

Ich musste einen weiten Umweg gehen, um die Willküraktionen der Partei wirkungsvoll anzuprangern. Es sollte ein Stück sein, das auch aufgeführt wurde. Bis zu diesem Zeitpunkt hatten ungefähr 1.5 Millionen ostdeutsche Bürger die Flucht ergriffen. Sie flohen, wie der ehemalige Erzkommunist Wolfgang Leonhard, vor dem schmerzhaften Druck den „die Partei“ ausüben durfte. Niemand verließ Haus und Hof, der es sich nicht gründlich überlegte.

Niemand ist glücklich, wenn er mit dem Knüppel vorwärtsgetrieben wird, selbst wenn es ein Paradies wäre, das ihn erwartet. Das war meine Grundidee.

Ich müsste sie weit in der Geschichte zurücklegen.

Die spanische Inquisition wurde schon zu oft und wirkungslos beschrieben, aber nicht die Jahrhunderte währende Drangsalierung der zwangsgetauften Mauren Spaniens durch angeblich linientreue Christen.

Ich las alles was erreichbar war und zu dieser Tragödie gehörte.

Wahrscheinlich 711, von zerstrittenen westgotischen Fürsten ins Land gerufen, überquerte der Berber Tarik mit einigen tausend Kämpfern die Straße von Gibraltar. Nach sieben Jahren lag ihnen ein Großteil der iberischen Halbinsel buchstäblich zu Füßen.  Im Jahr 730 standen sie bereits vor den Pyrenäen.  Erst  der fränkische Hausmeier Karl Martell  stoppte ihren Siegeslauf in der Schlacht von Tours und Poitiers 732. Unbestritten ist, dass die arabische Kunst und Wissenschaft auf ganz Europa positiv wirkte. Im Zuge der Reconquista wurden die Mauren Schritt für Schritt zurückgedrängt, doch sie hinterließen nicht nur großartige Bauwerke, sondern auch erstaunliches Wissen in Sachen Mathematik, Philosophie und Medizin. Was mich aber schon Jahre zuvor beeindruckte war die Tatsache ihrer toleranten Umgangsweise mit denen, die in ihnen ihre Todfeinde sahen. Als die christlichen Reiterheere 1085 Toledo rückeroberten zog ihnen Bischof Bernard von Toledo mit seiner unversehrten, kompletten Gemeinde kreuztragend entgegen. Die Legende „Der Islam oder das Schwert“ erwies sich im Wesentlichen als Christenpropaganda.

Meine Absicht war, großen Arabern, wie den persischen Arzt Zakariyyā al–Razis (865-925), das Wort zu geben, das im Berufungsbrief jedes Politikers und Lehrers geschrieben stehen müsste: „Unser Beruf verbietet uns, jemandem Schaden zuzufügen: Mein Gott leite mich, in der Wahrheit und nichts als in Liebe und Wahrheit zu leben.“ Das sagte er zu einer Zeit als Großfürst Wladimir von Kiew, Ukrainer und Russen mit Waffengewalt in die Knie zwang. Jeder hatte seine sich „christlich“ nennende Diktatur aus politischen Gründen anzuerkennen. Gemäß seinem arroganten Wesen drohte er Menschen den Tod an, falls sie sich seinen Befehlen widersetzten: Ihr müsst euch taufen lassen. „Auf diese Weise wurde das christlich-orthodoxe Bekenntnis zur russischen Staatsreligion.“

Diesen Geist übernahmen die Kremlherren seit je. Diesen Gegensatz zum ursprünglich toleranten Hellenismus und dem Christentum wollte ich herausstellen. Konnte das gelingen?

Ein kleiner, naiv-armseliger Tollensefischer wagte es, ein bis an die Zähne bewaffnetes Riesenungeheuer zu attackieren?

 Al–Razis lehrte dagegen ermutigend, dass des Menschen Seele nach Vollkommenheit in Freiheit strebt.

Und nach ihm, war da Abd er–Rahman III. Dreißig gute Jahre hindurch bis 961.  regierte er wie ein Richter des alten Israel, den südlichen Teil der spanischen Halbinsel, das Kalifat Cordoba.  Er realisierte das große Koranwort, das auch in der Bibel geschrieben steht: Gott ist Liebe. Schon als zwanzigjähriger Fürst des Kalifats Cordobas begriff er, was

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jedes guten Regenten Pflicht ist, nämlich allem Glaubens- und Gesinnungsgezänk zum Trotz anzuerkennen:dass jeder Mensch unantastbare Rechte besitzt, die Gott ihm gewährte.“ Abd–er Rahman wusste, dass eine Veredlung der Welt unmöglich ist, wenn deren Führer verwildern.

Da war mein Bezug: Ideen, gleich wer sie hegt, die irgendeine Form der Diktatur stützen, ebnen der Verwilderung den Weg.

Meinen, vor diesem Hintergrund, verfassten Dramenentwurf „Philipp und seine Maurisken“ legte ich im Friedrich - Wolf- Theater Neustrelitz vor. Eine Woche später luden mich die Dramaturgen zum Gespräch ein:Sie haben einige sehr schöne Verse geschrieben, aber von Theater haben sie keine Ahnung. Das Stück ist unspielbar. Hier, studieren sie Harald Hausers „Himmlischer Garten“ besonders die Regieanweisungen.“ Danach würden sie mich einladen und mir zeigen, was sich vom Standpunkt der Theaterleute aus rund um die Bühne herum ereignet.

Ich sah ein, dass mein Vorsatz, im Verhältnis zu meinem Können, zu groß war. Ich schlug deshalb diese Möglichkeit praktisch aus, - bis auf später.

Ich wusste nicht, dass die Theaterverantwortlichen mich, Horst Blume, dem Leiter der damals gerade gebildeten Gruppe „Junge Autoren“ empfohlen hatten. So erhielt ich überraschend eine Einladung zu einer Arbeitstagung.

Was ich dort dann erlebte schreckte mich sofort wieder ab.

Es galt obenan den Sozialismus Ulbrichts hoch zu loben und selbst das offensichtlich Böse gutzureden.

Es dauerte nicht lange und sie warfen mich vor die Tür, nachdem ich meine Überzeugung nicht versteckte.

Diejenigen die dort das Sagen hatten, wünschten keine Diskussionen. Sie ahnten, worauf ich wirklich hinauswollte: „Schreiben kannst du, aber was soll das, deine Schwärmerei für uralte Herrschaften und den philosophischen Idealismus?“

 Der berühmte, dort anwesende Alfred Wellm meinte es gut mit mir: „Du solltest schreiben, wie du deinen Glauben überwunden hast. Das wäre doch hoch interessant!“ Natürlich überprüfte ich unentwegt meine Glaubensansichten. Die Umstände und meine Wesensart trieben mich immer wieder an, jeden Satz meiner Grundüberzeugung zu hinterfragen.

Jetzt aber wollte ich es gründlicher wissen.

Ich sehe immer noch den unaufgeräumten Dieselschuppen unserer Fischerei. Ich stand, wenige Tage nach meinem Hinauswurf aus der Gilde der Jungautoren, den Blick himmelwärts gerichtet: „Lieber, großer Gott. Ich muss mit Bestimmtheit wissen ob die Kirche, der ich angehöre, die Kirche Jesu Christi ist!“

Damit unterstellte ich, dass all meine positiven Erfahrungen, das Produkt meiner Wünsche sein könnten. Was ich bislang erlebte, reichte nicht aus, im kommenden zähen Kampf um Recht und Wahrheit zu bestehen. Ich versprach Missionsarbeit zu leisten und Vollzeitmissionare auf einige Jahre hinaus mit der Hälfte meiner Jahresendauszahlung zu unterstützen. Ich versprach, wenn ich eine starke Antwort erhielte entsprechend zu handeln. 

Zunächst ereignete sich diesbezüglich nichts.

 

1957 bescherte uns nicht nur einen kalten Sommer, sondern auch klägliche Herbstfänge und folglich der Buchhaltung großes Pech. Obendrein trösteten die wortführenden Männer sich mit allzu schädlichen Mitteln. Ich sah nun auch meine Fischerzukunft am seidenen Faden hängen. Mitten in diese miese Situation hinein, schenkte mein Vater Wilhelm meiner Familie einen besonderen Urlaub in der Schweiz. Den hätte ich uns in den Jahren seiner Krankheit verdient. Wir hatten, schon ein Jahr zuvor erfreut vernommen, dass unsre Kirche in der Schweiz einen Tempel eingeweiht hatte. Nur auf Bildern konnten wir das schöne Bauwerk bewundern. Ich nahm Urlaub und Erika war hoch erfreut.

 

Erster Tempelbesuch

                          

Über Frankfurt am Main ging es nach Darmstadt. Dort legten wir einen Zwischenaufenthalt ein. Wir mussten zum Einwohnermeldeamt gehen, um die Staatsbürgerschaft der Bundesrepublik Deutschland zu erwerben. Genau das wusste auch die Stasi. Aber noch konnten sie dagegen nichts unternehmen. Noch standen die Grenztore offen. Mit unserem DDR-Pass hätten uns die Zöllner nicht in die eidgenössische Schweizer Republik einreisen lassen. Zu meinem Erstaunen lief alles problemlos ab. Ich vermute, einige Formalitäten wurden vorab geklärt. Binnen einer halben Stunde erlangten wir eine zweite deutsche Staatsbürgerschaft. In diesen dreißig Warteminuten schaute ich mich um. In diesen Büroräumen hingen flächendeckend Steckbriefe von Mördern, Sie suchten zudem 18 namentlich bekannte Schwerstverbrecher. Ich dachte, du großer Himmel, was für eine Welt. Was wird uns die Zukunft noch bescheren? 

Die zunehmende Verstädterung der Gesellschaft entfremdet die Menschen voneinander. Während des Wartens dachte ich, in diesem Zusammenhang, auch an die Pläne und Lehren des von zahlreichen Großkirchen verfemten Joseph Smith. Sein Plan war allen Familien 2 000 qm Land als „ewiges“ Erbteil zu übergeben, um dort ihr Wohnhaus zu errichten und den Rest zur Selbstversorgung zu nutzen. Keine Stadt sollte mehr als 20 000 Menschen haben. Nicht wenige spotteten. Aber wie sehr sie damit im Unrecht lagen wurde erst sehr viel später deutlich. In solchen Siedlungen kennt jeder nahezu jeden. Das musste sich positiv auswirken!

Damals konnte ich natürlich noch nicht ahnen, dass die „Datschenpolitik“ in der Sowjetunion, die ab Stalins Tod, 1953, sich quasi zunehmend als Retter in der Not erwies. Offizielle Statistiken belegten bald, dass, diese 600 qm pro Familie, die ihnen der Staat zugestand, die Hälfte aller Gemüse- und Obstarten des Riesenlandes produzierte. 

Als wir uns im Gemeindeheim der Darmstädter Mitglieder meiner Kirche versammelten, überreichte mir der dortige Hausmeister einen Brief Walter Rohloffs (Erikas Jugendfreund da sie im selben Haus groß wurden, und der nun in Utah lebte) „Lieber Gerd, liebe Erika, der Mann der euch diesen Brief aushändigt übernimmt umgehen eine bessere Stelle. … Geht nicht zurück zu den Kommunisten. Wenn ihr vom Tempel heimkehrt bleibt in Darmstadt… ich bereite alles vor, dass Ihr ein Jahr später auswandern könnt…“ Der Gedanke, USA-Bürger zu werden erschien mir überaus verlockend. Doch Erika widersprach: „Ich lasse meine Mutter, nicht im Stich…“ Ich musste auch zurück an den Sommer 1952 denken. Damals besuchte Präsident David O. McKay Berlin. Wir ostdeutschen Mitglieder vernahmen seine direkt an uns gerichteten Worte: „Bleibt in den Gemeinden in denen ihr wohnt. Bemüht euch die Kirche dort aufzubauen. Ich verspreche euch, ihr werdet euere Kinder nicht an die dort wortführenden Ideologen verlieren, wenn ihr selbst treu seid und eure Familiengebete pflegt.“ Wie sehr er Recht haben solle. So reisten wir weiter, Richtung Süden, im Bewusstsein DDR-Bürger wider Wunsch und Willen zu bleiben.

Wir kamen mitten in der Nacht in Zollikofen an.  Am Morgen sahen wir noch nichts von den ragenden Bergen, denn es regnete. Ich ging in den Tempel, fast wie ein Analphabet in die Schule. Das Interieur im Eingangsbereich entsprach dem eines Luxushotels. Dieser helle, riesige dicke Teppich, diese wunderbaren Möbel, Sessel, Stühle und Tische. Große Blumenpracht. Es verschlug mir fast die Sprache, es war mir zugleich angenehm und fremd. Diese ausgesuchte Freundlichkeit der in völliges weiß gekleideten Tempelarbeiter die uns, den aus dem Osten angereisten siebzig Mitgliedern, entgegengebracht wurde.   verstand ich überhaupt nichts. Hauptteil war das sogenannte „Endowment“, die Begabung. Zunächst war da, für mich, kein eigentlicher Höhepunkt, keine Manifestation höheren Geistes. Aber da war dennoch etwas, das mein Leben lang bei mir blieb, die Gewissheit, dass es mehr nicht geben kann, nicht diesseits.  Wir wurden alle in ein Garment gekleidet. mit Zeichen versehen, getragen als Unterwäsche. Und, es war ein reales, wenn auch unsichtbares Samenkorn, das in uns gesenkt wurde, dem das Potential innewohnt unentwegt dem Licht entgegen zu wachsen.

Das ahnte ich bereits während der damaligen Tempeltage.  Mir kam während der Rückfahrt in den Sinn, dass ich Berichte von abgefallenen Mitgliedern und ausgesprochenen Mormonenfeinden gelesen hatte. Sie sprachen verächtlich von den Tempelsymbolen, Zirkel und Rechteck. Das sei, sagten sie, wie das ganze Tempelritual, geklautes Gut aus dem Vermächtnis amerikanischer Freimaurer. 

In der Tat, die Maurer besaßen Ähnliches. Joseph Smith selbst war wie die engsten seiner Führungsebene, Meister der Loge zu Nauvoo. Ich fragte mich in jener Nacht: „Woher stammt es wirklich?“ Ich gelobte mir das herauszufinden. Kommt es aus dem Tempel Salomos? Und ist es vielleicht noch älter? 40 Jahre später sollte ich entdecken, dass diese Annahme unumstößlich korrekt war.

 

 

                                            HLT Tempel Zollikofen Schweiz

 

1994 las ich Albert Champdors Werk: „Das ägyptische Totenbuch“. 60 Elemente fand ich, die sich mit den Hauptaussagen des mormonischen Tempelrituals in erstaunlicher Übereinstimmung befanden. Noch wichtiger war für meine Familie, dass wir im Tempel nicht nur für Zeit, sondern für ewig, aneinander gesiegelt, (aneinandergebunden) wurden, was unverbrüchliche, eheliche Treue voraussetzt.  Während wir durch die Nacht von einem D-Zug mit hoher Geschwindigkeit wieder Richtung DDR befördert wurden, sah ich im Geist den von Scheinwerferlicht angestrahlten weißgold leuchtenden Schweizer-HLT-Tempel. Erst jetzt leuchtete es auch in mir, die Erinnerung an das Ungewöhnliche des Erlebten. Etwas das ich jedem gönne.

Und da hatte sie uns wieder, die DDR-Realität. Und die war, verglichen mit dem Schweizer Lebensstandard schrecklich mager. 

Wieder ging es hinaus auf den geliebten, immer noch geizigen Tollensesee.

 

Eines Morgens begegneten wir, an der Einfahrt zum Oberbach, wo alle Boote sehr langsam fahren mussten, Herbert Maque. Er kam mit seinem Flitzer bis auf zwei Meter Entfernung zu uns heran. Ich stand auf dem Deck des donnernden Kutters. Er schaute mich mit weit aufgerissenen Augen grimmig an und sagte mit lauter Stimme, damit es jeder meiner Kollegen hören sollte: „Da habt ihr nun den Teufel an Bord!“

Wie sich später erwies, hatten sie nicht den Sinn dieser Anklage verstanden. Sie winkten ihm fröhlich zu, als hätte er sie gegrüßt.  Ich jedoch wusste: Jetzt hat er die kaputte Vierergig entdeckt. Kein anderer als ich kam für dieses Verbrechen in Frage.

 

Fritz und Genossen

 

Schon Ende Oktober 57 bemerkte Buchhalter Voß lapidar: „Männer, wenn kein Wunder geschieht, sind wir Weihnachten zahlungsunfähig!”

Die nach dieser Warnung folgenden Fangversuche, mit dem großen Zugnetz auf den kleinen Landseen und der Lieps, waren so gut wie erfolglos geblieben.  Hastig ging es zu. Wir stolperten und liefen hinter den Traktoren anliegender Genossenschaften her, da sie unsere Kähne über wegloses Gelände schleppten, oft bis zum späten Abend, um den nächsten See zu erreichen.

Aber die Schwerstarbeit wurde nicht belohnt. Erschöpft schlief ich wieder unruhig. Wer weiß wo sich die Fische versteckten. Es gab sie doch. Vorsitzender Bartel verkniff das Gesicht. Er zeterte mit denen die laut stöhnten:  Mensch Leute, wer bloß auf den Augenblickvorteil starrt, der darf sich über kärgliche Ernten nicht wundern: „Ich habe schon vor Jahren mehr Aal- und Hechtbrut kaufen und in die Gewässer einsetzen wollen.“ Aber das hätte er nur tauben Ohren gepredigt. Seit eh und je habe er befürchtet, dass der Pleitefall eintreten könnte.

Nur die Camminer Seen,- die seit kurzem unsere waren, weil der Staat Kurt Meyer die Möglichkeit einer weiteren Bewirtschaftung entzog,- zeigten sich freigebig. Für die dort angelandeten Qualitätsfische Zander, Hechte und Schleien erhielten wir fast fünftausend Mark. Das jedoch reichte nicht hin die Löhne zu zahlen und die Kosten zu decken. Und nun stand der Dezember vor der Tür und damit die Gefahr, dass die Seen zufroren, die erst wieder betreten werden konnten, wenn der Eismantel dicker als 5 Zentimeter war.  Dann kann man das große Garn in einem entsprechenden Loch versenken und per Leinen wieder in gewisser Entfernung herausziehen, meisten dann allerdings erfolgreich. Unter der Eisdecke, besonders bei Schneebedeckung, sind die Fische blind.

Geräuschvoll trieb der Nordwest an diesem düsteren Dezember- Nachmittag, die ersten Schneeflocken vor sich her. Das Jahr war gelaufen.

Aus.

Die Genossenschaft war pleite.

Für diesen Tag war ohnehin eine Schulungsrunde angesagt, weil wir es anscheinend nötig hatten auf die von der SED vorgezeichnete Linie gebracht zu werden. Die beiden Bezirksfischmeister Jochim und Stöckelt werden uns daneben die Leviten lesen.

Ich sah Fritz Biederstadt ankommen.

Wie ein Treidler gegen das Seil, stemmte sich der untersetzte, nun gut fünfzigjährige Fritz Biederstaedt gegen den Wind. Stoßweise zerrte der Sturm an seiner grauen Schiebermütze.

Seine Joppentaschen verrieten, dass er zwei Schnapsflaschen mit sich trug. Die Männer der Kernmannschaft legten immer zusammen. Dafür reichten die Pfennige allemal. Ich ahnte, wie die Frauen sie hinterher ausschimpften.

Das zum Überleben Notwendigste konnte man zum Glück einigermaßen billig erwerben. Und dann brachten wir Fischer ja oft, selbst nach mageren Fängen, Barsche und andere Fische heim, aus denen die erfahrenen Ehefrauen wunderbare Mahlzeiten zubereiten konnten.  Vieles gab es immer noch nur auf Vorlage der monatlich ausgegebenen Lebensmittelmarken, deren Abschnitte, von den Verkäufern, wohl aufbewahrt wurden. Pro Person 1380 g Fleisch, - 46 g pro Tag, - 815 g Fett und zweieinhalb Pfund Zucker im Monat.

Wer mehr haben wollte, musste es kostspielig in den HO-Läden einkaufen.

Meine Mitfischer murrten seit Monaten und ich hörte dann nur schweigend zu: So viel Arbeit für so wenig Lohn.

Der SED - Staat war ihrer Meinung nach der Hauptschuldige an ihrer Armut, Er gab ihnen für viele wertvolle Fische zu wenig Geld. Tatsächlich trachteten die Finanzexperten der DDR - auf Weisung des Politbüros der SED-Regierung - danach, das Preisniveau der Löhne, Mieten und Nahrungsmittel auf dem Level des Jahres 1937 zu halten. Das konnte nicht funktionieren.

Meine Kollegen verteidigten sich, als sie getadelt wurden, zu wenig unternommen zu haben, so hätten sie sich das Leben in der Binnenfischerei, mehr als 10 Jahre nach dem Kriege, nicht vorgestellt. In den langen Monaten Dezember, Januar, Februar, März lebten sie - und nun traf es auch mich - von Vorschüssen, die wir im kurzen Frühling und Sommer wieder abzahlen mussten. (Manchmal ließen die Verhältnisse das Fischen nicht zu.) Dieses Teufelsloch war groß und die Hoffnung, da endgültig herauszusteigen, klein. Die Bauernbank gab ungern Kredite für Löhnung: “Warum investiert ihr nicht? Warum dies nicht, warum jenes nicht?” So hieß es bei den Bankern. Lieber rannte Fritz Biederstaedt dann, in seiner Eigenschaft als zweiter Vorsitzender der Genossenschaft, zum Steuerberater Hermann Köppen, der sich auch als Geldverleiher hervortat. Köppen nahm zwar höhere Zinsen, doch er meckerte ihn nicht an. Von Seiten der Bank lautete die Predigt: „Genosse Biederstaedt, da stellen sie zuerst mal ein Konzept auf, wie sie die Rückzahlungsraten einschließlich der drei Prozent Zinsen pünktlich leisten wollen.”

„Ück bün (ich bin) aber kein Genosse”, (kein Parteimitglied) pflegte er sich vor dem Bankchef kopfwiegend zu entschuldigen. Beim Geldmann Köppen ging das wesentlich kultivierter zu: „Prost, Herr Biederstaedt, auf gute Zusammenarbeit!” Dieser Mensch wusste, was sich gehörte.

Aus dem Kognakschrank holte der höfliche Geldverleiher stets das Beste. „Wohlsein, Herr stellvertretender Vorsitzender! Sie werden das schon machen. Sechs Prozent sind für sie doch keine Hürde.”

Diesmal jedoch sah er sich genötigt bereits im Dezember bei Herrn Hermann Köppen anzufragen.

Blödes Wetter!

Die sechs Prozent Zinsen seien keine Hürde, aber der verdammte Nordnordwest hatte die Fische in unerreichbare Seetiefen gejagt. Was den Tollensesee betraf konnten, mit den verfügbaren Mitteln, ohnehin allenfalls 5 Prozent der Seefläche befischt werden. Was soll ein Fischer, wie Biederstaedt, unter solchen Umständen anderes tun, als abwarten und sich dieses Abwarten auf möglichst angenehme Weise verkürzen? Nämlich da drinnen in der Holzbaracke, wo seine Mitfischer ihn und das, was er mit sich trug sehnsüchtig erwarteten.

Als Fritz um die letzte Ecke seines Weges bog blieb er stehen, als hätte er einen kleinen Schlaganfall erlitten. „Düwel uk!“ („Teufel auch!“)

Das hatte er vergessen.

Der wahre Grund für seine Vorahnung war klar: Er würde zum Hauptschuldigen erklärt werden, wegen seiner permanenten Anstiftung zur Trinkerei. Der fast brandneue F 8 des Bezirksrates verriet, was ihn nun erwartete! Er, der zweite Chef, hätte bei der angesetzten Besprechung pünktlich zur Stelle sein müssen und dann lammfromm zuhören sollen und müssen! Wo er so spät herkäme, werden sie ihn fragen. Ob es Wichtigeres gäbe als eine politische Lektion?   Ausgerechnet er, der aus dem politischen Gefängnis entlassen wurde, musste weitergebildet werden.

Ja, sie ließen ihn 1946 einsperren, nachdem er mit einem, von Soldaten des Zweiten Weltkriegs weggeworfenen Revolver in der Liepser Wildnis auf Wildschweinjagd gegangen war, bis einer aus seinen eigenen Reihen ihn verriet. Niemand sonst wusste, dass er die Waffe in einem Suppentopf seiner Küche versteckt hatte. Fritz hatte das verbotene Ding gerade geputzt, als die Sowjetpolizisten hereinstürmten…

Aber der Kommunistenchef Ostdeutschlands Wilhelm Pieck begnadigte ihn, sowie meine beiden Freunde 49.

Tapfer betrat Fritz den verwahrlosten Vorraum zum Schulungs- und Kulturraum.

Doppelt werden ihm die beiden Parteigenossen nun zusetzen, es wäre alles eine Frage des gesellschaftlichen Bewusstseins. Und jetzt erst recht wird die alte Leierei losgehen: “Wann wollt ihr endlich mehr für eure Zukunft tun? Ihr müsst mehr Satzfische kaufen! Wo man nix reinsteckt, da kommt auch nix ‘raus! Jetzt ist Karpfenextensivwirtschaft angesagt“

 Lächelnd zwar, aber innerlich ärgerlich, wird er ihnen die großen, grünlichgelben Zähne zeigen und es zum Scherz ummünzen: „Ganz meine Meinung!” In Wahrheit aber möchte er sagen und ihnen an den Kopf schmettern, was er wirklich dachte: „Lüd, woväl Geld häm wie all de Johren tun Fenster rut, in den See rinner schmeten.” ("Leute, wie viel Geld haben wir in all den Jahren zum Fenster hinaus und damit in den See hineingeschmissen.  Nämlich die teuren Fischsetzlinge)"

Natürlich war er ein Freund von richtigen Besatzmaßnahmen. Aber, die fünftausend Mark für die Maränen war auch solch ein Fall von sinnlos vergeudeten Finanzen.

Ein Glück, dass die beiden Genossen auf Kosten des Rates des Bezirkes die Rechnung für ihre wahnwitzige Idee bezahlt haben. Er dachte an die angeblich fünf Millionen winzigen Brütlinge, die sie damals in ein Eisloch gegen alle Vorschrift in Ufernähe geschüttet hatten, weil das Eis so brüchig geworden war. Laut Lehrbuch hätten sie über tiefem Wasser in die Freiheit entlassen werden müssen.

So lütt!”, sagte er mir eines Nachts, als wir gemeinsam das schwere Netz heran kurbelten. Die winzigen Dinger bestanden ja nur aus Augen. Wie wollten die da unten in der Finsternis ihr Futter finden? Das sollte eine Beisatzmaßnahme sein?

Die beiden angereisten Fischmeister Jochim und Stöckelt hatten schon vor Jahren Stock und Bein geschworen, es sei hoch an der Zeit, den Tollensesee mit Maränen-Setzlingen zu spicken, er brächte alle Parameter vor, die zur erfolgreichen Maränen-wirtschaft führen würden…

Fritz hatte wiederholt den Zeigefinger an die Stirn gelegt: Was für ein Blödsinn!

Offensichtlich hatte er nun, bevor er eintrat, die Flaschen irgendwo versteckt.

Ernst Stöckelt, der erst gut dreißigjährige, unterbrach seine offizielle Rede. Sein schwungvoll geformter Kopf ruckte herum. Biederstaedt nickte ihm herzhaft zu, zog die Mundwinkel herauf, ganz verbindlich, ganz der Alte, der nicht verlernt hatte, wie ein Diener seinem Herrn in einer kritischen Situation zu gefallen wusste. Er zog unnachahmlich seinen beachtlichen Bauch ein und zwängte sich durch den engen Spalt zwischen der grauen Zimmerwand sowie den vier Rückenlehnen der Stühle des Buchhalters, Bartels und der beiden Bezirksfischmeister. Da musste er partout durchschlüpfen, weil er unbedingt seinen Stammplatz neben Otto Görß einnehmen wollte, der auf der entgegengesetzten Tischseite saß.

Er hätte ja auch auf der Türschwelle, neben mir, Platz nehmen können. Während er sich so durchkämpfte, ruhten aller Blicke auf ihm, wenige missbilligend, die anderen amüsiert. Das genoss er. Erst vor vierzehn Tagen hatten ihn beide, Reiniger und Bartel, zusammengestaucht. Sogar sein Freund Otto Görß war ihm grob über den Mund gefahren. Da hatte er nämlich in Neverin, nachdem sie einigermaßen erfolgreich den Dorfteich abfischten, heimlich einige Kilo Karauschen gegen eine kleine Flasche hochprozentigen “Bärenfang” eingetauscht. Weil ihm doch so jämmerlich zumute gewesen sei und er gefroren habe, indessen er auf sie warten musste. Bis sie endlich mit dem Fuhrwerk herankutschiert kamen, hätte er sich berechtigt gesehen, etwas gegen die ihn anschleichende innere Kälte zu unternehmen. Der Fehler bestand darin, dass nur für Otto ein kläglicher Rest übrigblieb. Das bekamen die Benachteiligten mit. - Großes Wehgeschrei. Bei solchen Sachen kannten sie kein Pardon. „Uns hat auch gefroren!” Das musste er in deftigem Platt- und Hochdeutsch hören. Als Brigadier sei er abgesetzt.

Wenn er sich Ähnliches noch ein einziges Mal erlaube, dann sei es endgültig aus mit seiner Herrlichkeit als stellvertretender Chef.

 

Ich sah es voraus, die beiden Bezirksmeister werden nun vorrechnen, dass sie die Anzahl der Fänger reduzieren müssten.

Das konnte nur bedeuten:  Ich fiele durch die Maschen, wie ein kleiner Fisch. Sich sammelnd kratzte Ernst Stöckelt den Charakterkopf. Er fragte die Tollensefischer, was sie denn wollten? Niemand könne mehr Lohn bekommen, als er durch entsprechende Gegenleistung verdient hätte. So funktioniere die Wirtschaft eben. Man kann aus einem Topf nur herauslöffeln, was da drin ist. Ihr fangt nur einhundert Tonnen! Das sei entschieden zu wenig bezogen auf dreizehn Fänger. Das sei umgerechnet auf die Wasserfläche all ihrer Seen knapp ein Drittel des Machbaren! Fritz Biederstaedt kniff die Augen zu.

Doch da war es wieder, das alte böse Thema, der Unwert der DDR-Mark.

Stöckelt sollte es lieber ruhen lassen.

Sah er denn nicht, wie es in den Gesichtern der Fischer Reiniger zuckte? Otto Görß hob denn auch sofort den Kopf: „Und de Kasernierten? Und de Aktendaschendräger?”  ("Und die Kasernierten (Polizisten die nichts taten, gar nichts und die Aktentaschenträger?") Wofür die ihre horrende Summen Gehalt bekämen? Ihren Funktionären hätte der Staat große Suppenkellen in die Hand gedrückt und den Arbeitern bloß Teelöffel.

Wie eine verdroschene Pauke vibrierte die ungeheure Anklage.

 Otto ebenfalls in seinen dreißiger Jahren, war nie feige, jedenfalls nie besonders vorsichtig gewesen, wenn jemand ihn nötigte seine Meinung in Sachen Politik zu sagen. Unverbildet wie er war, sagte Otto, so gut wie immer was er dachte. Das bedeutete, ich mag euch Kommunisten nicht, weder eure Macht- noch eure Wirtschaftspolitik. Ihn stinke an, dass die Zeitungen kaum von dem berichteten, was ihn interessiere. Als Vater von fünf Kindern sperrten sie ihn nicht so leicht ein. Ottos weiße Wangenknochen schimmerten durch die dünne Haut.

Er selbst sollte schuld daran sein, dass er sich für seine dreihundert Mark monatlich, nur das Unentbehrlichste kaufen könne? Sein Vater hätte vor dem Kriege, einhundertundachtzig verdient, aber es sei für ihn als Kind hin und wieder ein Stück Schokolade abgefallen. Das könne er seinen Kindern nicht bieten. „Disser Stoot is nich fehig, blot luder Beamte un Pulezisten.”  ("Dieser Staat ist nicht fähig, bloß lauter Beamte und Polizisten!") Obermeister Eduard Jochim, der sanfte Mann, rutschte unruhig auf dem Stuhl umher.

Ungestraft durfte sich niemand, in seiner Anwesenheit als Staatsbeamter herausnehmen, den Arbeiter- und Bauernstaat zu attackieren!

Otto wies die Finger seiner Rechten vor. An ihnen zählte er noch einmal die Ursachen für die Teuerung auf. Es gäbe schließlich zu viele Schmarotzer in diesem Staat der Politkarrieristen.

Ein übergroßer Polizeiapparat sei das Kennzeichen eines faschistoiden Staates. Aua, das zu hören, tat den Angereisten weh.

Eduard strich nervös über seinen kahlen Kopf.

Vielleicht saß unter den dreizehn einer der ihn anzeigte. Irgendjemand könnte schon am nächsten Morgen im Auftrage irgendjemandes in seinem Büro in Neustrelitz auftauchen, seinen Dienstausweis zücken oder die ‚Hundemarke’ vorweisen und sagen: ‚Kommen Sie mal mit, Genosse Jochim. Wir müssen mit Ihnen über das Gesetz zum Schutze des Friedens reden. Sie haben Ihre Dienstaufsichtspflicht verletzt. Man lässt den Klassenfeind nicht zu Worte kommen. Schon gar nicht in einer öffentlichen Versammlung.“

Fest stand, ein einziges Wort gegen den DDR-Staat gerichtet konnte selbst einem Familienvater von bald sechs Kindern fünf Gefängnisjahre kosten.

So das Gesetz. Otto Görß ließ dennoch nicht ab.

Diesmal nicht!

Um seinen nun harten Mund zuckte es spöttisch.

Außerdem sei nicht nur er ärgerlich: Das erste neu errichtete stattliche Gebäude in der Neubrandenburger Innenstadt, die weithin in Ruinen lag, war das der Polizei gewesen. Ein großes Wohnhaus oder Altersheim wäre wichtiger gewesen. In breitem Mecklenburger Platt sagte er das.

Stöckelt schaute streng herüber.

Warnend waren diese Blicke gemeint. Sie bedeuteten dem Furchtlosen: Warum er immer wieder den Bogen überspannen müsse? Das sei doch kein Geheimnis, dass er jeden Samstag sein Aaldeputat verscheuere - jene knapp drei Kilogramm die sich fast alle Fischer Mecklenburgs selbst zuteilten, was stillschweigend von oben geduldet wurde und wofür sie nur zehn Mark Steuern bezahlen mussten...Das könne nun durchaus Folgen haben.

Biederstaedt räusperte sich.  Stöckelt ließ ihn nicht zu Wort kommen. Mit nun brüchiger, wenn auch gedämpft klingender Stimme, fasste er zusammen: „Erfüllt erst mal euer Soll, dann reden wir weiter!” Damit war alles Wichtige gesagt. Doch er war noch nicht ganz am Ende seiner vorbereiteten Rede angelangt: „Die Mannschaft ist zu groß! Fünf, mindestens vier müssen raus!" Da war es! Das von mir erwartete, endgültige. Alle Männer schwiegen aus Entsetzen und aus Gründen der Vernunft.

 

Ich, die verkrachte Existenz, fliege als Erster hinaus

 

Nächsten Freitag erwarte er Bericht, sagte Stöckelt, der Adjutant Jochims, und so fuhren sie davon.

Bartel erklärte, die Sitzung sei nicht geschlossen, „der Vorstand zieht sich zur Beratung zurück!“

Sie gingen zu dritt ins „Büro“, ein Verschlag von knapp drei mal drei Metern, Bartel, Görß und Biederstaedt. Ich ging hinaus und blickte auf den ruhig fließenden breiten Oberbach: Das war es.

Was jetzt? Abenteuer Fischfang war für mich wie erlaubtes Vabanquespiel gewesen. Ich liebte es. Deshalb war für mich die Tätigkeit in der Fischerei, nebst den Berufswünschen, die sich zerschlagen hatten, für mich das Beste.

In dieser langen Beratungspause des Fischereivorstandes ging mir mancherlei durch den Kopf. Ich war und bin für das Zusammenarbeiten der Menschen in Genossenschaften. Gerade in einer Genossenschaft - nicht in einem volkseigenen Unternehmen - in welchem die Gewinne restlos an den Staatshaushalt abgeführt werden mussten, konnte ein Großfang oder beständig bessere Fänge allen Beteiligten richtigen Wohlstand bescheren.

Ich sah sie dann aus dem Nebenraum kommen.

Den Mienen konnte ich ansehen, dass in der internen Runde die Würfel gefallen waren.

Biederstaedt und Görß kamen auf mich zu.

Sie schauten mich sehr freundlich an: Du bleibst!

Einstimmiger Beschluss.

Ausgerechnet die vier Nichttrinker traf es. Neumann, Milster, Sablotny, Müller. Fast ihr ganzes Leben hatten diese vier als Fänger zwischen offenem Himmel und bewegten Wassermassen zugebracht.

Aus, - das war das abrupte definitive Ende! Mit einem Mal wurden sie für immer an Land gesetzt. So sahen sie auch aus, als sie das Urteil entgegennahmen, wie unglückliche Seevögel, die besser schwimmen als laufen konnten. Für die vier über Fünfzigjährigen erhob sich damit dieselbe Frage, die mich schwer bedrückt hatte.

Selbst wenn ich freiwillig verzichtet hätte, wäre nur einer gerettet worden. Doch welcher Name folgte als fünfter? Das stünde noch offen. Von einem Tage zum anderen verloren vier Prachtkerle ihren Traumberuf. Auch Kurt Reiniger der Westflüchtling durfte bleiben.

Ich sollte die Camminer Fischerei übernehmen.

Ich verbiss mir jegliche Erwiderung. Nein, nicht Cammin.

All das verbarg ich vor Erika, aber ich versprach ihr: Jetzt muss ich mehr tun. Sie umarmte mich. Sie glaubte an mich.

 

Der wilde September

 

Zunächst lief es gut. Mir wurde gestattet weiterhin den Tollensesee unter Gräfs Regie zu befischen. Gräf erkrankte, Biederstaedt setzte Stellnetze auf dem Barschberg. Damit waren wir führungslos. Wir versuchten unser Bestes, doch die Resultate blieben mäßig. Da überraschte uns der September 58 mit starkem Südwestwind. Er blies und blies und hob Wellen bis auf gefühlte Dreimeterhöhen, wegen des schluchtartigen Charakters der Umgebung in welcher der See lag.

Das ertrugen die morschen Boote allesamt nicht. Dabei sollte der Monat September stets der Beste für die Zugnetzfischerei sein.

Es vergingen mehrere Tage der Untätigkeit. Wir durften nicht riskieren durch die Brandungszone zu fahren.

Wieder nahm meine Unruhe zu.

„Du wälzt dich, statt zu schlafen. Was ist passiert.“

„Nichts, Erika meine Beste!“

Ich fasste in dieser Nacht zwei Entschlüsse:

- gegen den Willen des Vorsitzenden möchte ich die Fischereischule in   Hubertushöhe besuchen

-         und ich werde vier Freiwillige finden die mit mir durch die anscheinend unerbittliche, sogar zunehmende Brandung fahren um am südwestlichen See-ende das Zugnetz einzusetzen.

Den Booten kann nichts passieren, wenn ich sie auf meine Weise hintereinander verbinde. Manchmal muss man vom Üblichen abweichen.

Am nächsten Morgen wehten die Pappeln wie immer verwegen.

Bartel sah, dass Witte und ich die Arbeitskähne bestiegen. Er stand die Hände in die Hüften gestemmt am Bollwerk, schmockte wie immer sein Tabakinchen. Nur kurz nahm er aus den Lippen heraus: „Ich verbiete euch rauszufahren!“ Das sei Wahnsinn. Ich hätte ja keine Ahnung.

Vier weitere Männer um Hermann Witte nickten mir dennoch zu. Eigentlich hätte Meister Hermann Witte mir Berufsfremden vorgesetzt sein sollen, aber er ordnete sich freiwillig unter - bis ich, vielleicht einen größeren Fehler begehen würde. Wir beluden die Fangboote mit dem großen Garn. Es war ein Umfassungsnetz von zwei Flügeln von je 300 m Länge bei einer Netzhöhe von 13 Metern. Ich gewann Wittes Unterstützung sofort, nachdem ich ihm meinen Plan erklärte: „Wir lassen die Arbeitsboote nicht nebeneinander laufen!“  (weil der Sack in dem sich die Fische zuletzt befinden mittig angeordnet ist), sondern die ganze Fuhre würden wir durch Seile verbinden, so dass Beiboote und Arbeitskähne hintereinander laufen. Wir werden, um den Starkwellen widerstehen, je fünf Meter Abstand von einem Boot zum anderen halten. Dann können sie schaukeln wie sie wollen, der Sturm hält sie auf Kurs.

Bartel ballte die Faust, als er unsere Entschlossenheit sah.

Er wusste, dass ich der treibende Keil war: „Ich mache dich darauf aufmerksam, dass du gegen meinen Willen rausfährst. Ersäuft das Ganze bis du Schuld. Säuft ein Kahn ab oder zerbricht er, haftest du!"  Kurt Reiniger übernahm das Steuerrad. Auch er sah keine andere Chance zu mehr Geld zu kommen.  

Als wir den Oberbach verließen und in den Meterwellenbereich kamen trafen uns einige harte Schläge.

Zu fünft befanden wir uns in der dunklen Kabine. Wir wussten, selbst die heftigsten Schläge können, durch das faustgroße Loch am Kutterbug, nicht mehr als einen Eimer Wasser pressen. Kurt Reiniger stand gelassen da. Sein Faltengesicht blieb ruhig. Er hatte, als Soldat der Fliegerabwehr, schon Schlimmeres erlebt. Nach wenigen Minuten sehr langsamer Fahrt in denen wir beständig die Blickrichtung wechselten, sahen wir, dass wir bei knappem Schritttempo immerhin noch alles in Ordnung fanden. Natürlich konnten man nun schon dreihundert Meter hinter der Brandung, das letzte Boot entweder oben auf dem Wellenberg sehen oder gar nicht.

Nach einer viertel Stunde schien es so, als hätten wir es geschafft. So war es. Oben, nach zweistündiger Fahrt im Schritttempo am See-ende, angekommen stellten wir fest, wie die hohen Pappeln die Gewalt des Windes auf den letzten drei- vierhundert Meter völlig brachen. Das Zugnetz wurde wie üblich ausgefahren. Die mit kleinen Rundsteinen bestückten Unterleinen zogen das Netz herunter, während die synthetischen Schwimmer es in die Höhe zogen. Uns umgab tiefster Friede. Wir seilten jeweils zweihundert Meter Drahtseil ab, ankerten am Schilfgürtel warfen die kleinen Motore an. So wurden die Flügel herangezogen. Dann ruderten wir wieder zusammen um den Kreis zu schließen

Was uns verwunderte: Der See ist mit solchem Sturm in heftiger Bewegung; dann wird das Netz mit der Strömung fortgerissen. Doch hier herrschte sonderbare Bewegungslosigkeit.

Als hätten die Urgewalten kapituliert holten wir nun das Netz zurück in die Kähne. Schon bald zeigten sich größere Fische auf den Seitenflügeln. Dann immer mehr. Aber noch wagten wir nicht auf einen großen Fang zu hoffen. Doch dann erwies es sich: Wir hatten 5 Tonnen Fische erster Qualität überlistet, Hechte, große Barsche, Schleie, sowie erste Klasse Plötzen (Rotaugen), die damals noch in Berlin gefragt waren. Der brüchige Kutter wurde randvoll gefüllt. Natürlich ließen wir die Arbeitsboote vor Ort. So schnell würde sich die Windrichtung doch nicht ändern. Falls doch hätte es, allem Fangerfolg zum Trotz, jene Konsequenzen die der Vorsitzende mir angedroht hatte.

 

Es dunkelte bereits, als wir heimfuhren, geschoben auch vom noch sausenden Sturm, diesmal ungefährdet. Nur die Brandungszone noch. Dann hatten wir es vollbracht. Kurt Reiniger meisterte es, durch geschicktes Manövrieren. Wir sahen Wilhelm, unseren Vorsitzenden, in der Finsternis dastehen. Erkenntlich am Glimmen seiner unvermeidlichen Zigarillo und dann den schwarzen Umrissen. Er wird durch schreckliche Ängste gegangen sein, denn andere Produktionsmittel, als Ersatz für dieses Zugnetz gab es nicht. Als der sieben Meter lange Kutter im Oberbach wendete und am verfaulten Bollwerk anlegte, aber noch, während der knallende Dieselmotor lief, schnarrte der Vorsitzende mich heftig an: "Wo sind die Arbeitskähne?"

Ich beruhigte ihn.

Dann mit einem federnden Satz sprang er herunter und riss den ersten Schweffdeckel auf.  Er ließ, aus freudigem Schreck, sein Zigarillo aus dem Mund fallen, dann riss er den zweiten und den dritten Deckel auf. „Fünf Tonnen!“ resümierte er.

Kein Wort mehr.

Loben durfte er niemanden.

Er fuhr davon, offensichtlich verwirrt und zugleich erleichtert. Der Sturm hielt noch zwei weitere Wochen an. Und wir fingen im Windschutz der Riesenpappeln vor Nonnenhof weitere fünfundzwanzig Tonnen beste Fische. Der Buchhalten und meine Kollegen tätschelten mir den Rücken.

Von dieser Zeit an, hat mich, außer selbstverständlich Hermann Witte, niemand mehr wegen meines Glaubens verspottet. Das war aus. Definitiv.
Wir hatten darüber hinaus mehrseitiges Glück. Das Blatt hatte sich gewendet. Von diesem Zeitpunkt an landeten wir mehr und bessere Fische an, als zuvor.

Ich hatte ja das obligatorische Fangbuch des letzten Jahrzehnts mit Kopfschütteln gelesen.

Nicht genug damit, ließ sich ein Riesenschwarm sehr großer Brassen von uns fangen. Es war ein stiller Oktobertag, und wir befanden uns zur rechten Zeit am richtigen Ort. Es war ein stiller Tag. Der See lag wie ein Spiegel da. Schon als die ersten Meter des Netztes eingezogen wurden, sahen wir einen auf zubewegenden Blasenteppich. Die stets in Herden schwimmenden Bleie verrieten sich selbst und wir konnten sie zurückscheuchen.

 

Die sächsischen Räuchereien machten aus diesen nicht allseitig geschätzten „Plieten“ Delikatessen. Wer sie einmal kostete, solange diese goldbraunen Fischstücke noch nicht älter als zwei Tage waren, und gut gewürzt, der schwor auf sie. Selbst im goldenen Westen hätten wir sie versilbern können. Solche Geschäfte zu machen, Telefonate mit den „Klassenfeinden“ zu führen, waren undenkbar und unmöglich, weil vom Staat verboten. Der Geschmack und der Nährwert dieser Fischart lagen indessen hoch. Das wäre doch eine von zahlreichen Gegebenheiten gewesen Devisen zu machen.

 

Als Fänger erzielten wir zum ersten Mal einen beachtlichen Jahres-Überschuss, nämlich vierundzwanzigtausend Mark. Das ergab eine Barauszahlung für jeden von 2400.-Mark. Was das bedeutet, kann nur ermessen, der weiß, dass DDR-weit Spezialisten in der Industrie erst seit Januar 1956 durchschnittlich 440 Mark monatlich verdienten.

Nun, da wir von jetzt an fünfhundert Mark Monatslohn nach Hause trugen, begannen auch die ersten von uns an mehr, und viel mehr an sich selbst und damit an eine Zukunft unter unseren Umständen, zu glauben.

Und das „Saufen“ hörte auf.

Jetzt waren wir imstande neue, und zwar synthetische Netzballen zu kaufen aus denen wir neue, größer Reusen fertigen konnten.

 

 

Wikipedia: Drahtreuse

 

 

 

Ich nahm die Lehren und Ideen anderer dankbar auf und „baute“ riesige Fischfallen, mit deren Hilfe wir den üblichen Gesamtjahresfang 20 lange Jahre hindurch stabil verdoppeln konnten. Hermann Göck streichelte mir den Rücken, nachdem er mir manchmal seine Faust unter die Nase gehalten hatte, weil ich partout nicht einsehen wollte, dass seine Partei das Beste von aller Welt sei.

Neue Kleidung für die Familie und bessere Möbel konnten wir uns anschaffen, nachdem wir 59 eine größere Wohnung beziehen durften. Göck gab mir wiederholt den Aktivistenorden der immer auch mit Geld verbunden war. Stasileute die wegen besonderer Fischwünsche in unsere immer noch klägliche Baracke kamen, behandelten mich auffallend freundlich. Stasi-Oberstleutnant Kindler und andere fanden plötzlich an mir Positives. Dass ich nach wie vor offen die „Diktatur des Proletariats“ ablehnte, betrachten sie nun als verzeihlichen Schönheitsfehler.  Sie wussten, dass ich meiner Kirche als Distriktmissionar eifrig und gemeinsam mit meinem Fischerfreund Kurt Meyer, Cammin, mit gewissem Erfolg diente.

In vier Jahren durften wir 4 Menschen taufen. 

Die Offiziere des staatlichen Überwachungsapparates wussten auch, dass ich niemals geheimen Aalhandel zu meinen Gunsten machte, und, dass ich keine Affären hatte. Das erzählten sie mir später.

Aber wehe denen die erwischt wurden. Not machte sie zu Spitzeln.

Auf Umwegen erfuhr ich bereits damals, dass die Stasi erstaunt zur Kenntnis nahm, dass die etwa 1 000 aktiven, erwachsenen „Mormonen“, wo immer sie standen, gute bis hervorragende Arbeit leisteten. Wir wollten nicht betrogen werden, also betrogen wir den Staat ebenfalls nicht. Die ursprüngliche Annahme, wir stünden im Dienst des CIA verblasste mit der Zeit. Nichtsdestoweniger blieben wir, was wir immer schon sein wollten: Christusverehrende, bemüht seine Gebote zu halten.  Den Ehrentitel „Christen“ sprachen uns nach wie vor lediglich die großkirchlichen Theologen, aus Arroganz und Dummheit, ab.

Seit eh und je studierte und analysierte ich ihre wichtigsten Publikationen. Man erinnere sich nur ihrer Argumentationen, wenn sie die Lehren der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage bewerteten. Verwegen und ungerechtfertigt war ihr Urteil und in sich widersprüchlich. Sahen sie nicht selbst welchen Unfug sie da trieben?

Es war unangebracht zu posaunen: „Mormonen sind keine Christen, denn sie lehnen das Nicänum ab. Sie verweigern die Anbetung des dreieinen Gottes.“

Dass Theologen, bei diesem Stand der Forschung das Nicänum zum Kriterium für das „Christsein“ erklären, beweist ihre Inkompetenz. Außer in der Fantasie gewisser hauptamtlicher Kirchenvertreter gab es, zu keiner Zeit weder Raum noch tragbaren Grund einer Anerkennung für den „Triunen“, den dreifaltigen, trinitarischen Gott. Erstens weil er unerkennbar und unerklärbar blieb. Und nicht nur das. Ich konnte, in Bezug auf die Gotteslehre, nicht oft genug darlegen, dass die uns ungut gesonnen Frommen eigentlich Leugner der „christlichen Wahrheit“ sind. Und das gaben sie kurioserweise direkt in ihrem seit Jahrhunderten gebilligten „Athanasianum“ wörtlich auch zu. Man muss es nur unter die Lupe nehmen. Es ist und bleibt ein haarsträubender Grundwiderspruch:

Zu sagen: a) „wir (sind) gezwungen, in christlicher Wahrheit jede einzelne Person für sich als Gott und als Herrn zu bekennen,“ 

und b) „der katholische Glaube verbietet uns, von drei Göttern oder Herren zu sprechen.“, bleibt ein Unding für jeden, dem die Wahrheit wichtiger ist, als irgendein Ding unter der Sonne.

Welcher gläubige Aufmerksame konnte solche Torheit akzeptieren? Ich hatte die Gelegenheit in Hubertushöhe bei Frankfurt Oder, mit einem alten Jesuitenpater zu sprechen. Er war sehr freundlich. Er betreute die dort im Kloster „Arme Schulschwestern“ lebenden, vielleicht dreißig Nonnen.

Er versuchte sein Bestes darzulegen wie wir den Dreifaltigen Gott zu denken haben. Mit einem Stock malte er Zeichen in den Sand. Aber es blieb dabei: Es gab niemanden der auch nur annähernd erklären konnte, warum 1 und 1 und 1 gleich 1 war.

Darüber hinaus sah ich mit der Zeit immer deutlicher, dass Katholiken und Protestanten neben ewigen Wahrheiten zeitgleich ihr Gegenteil lehrten, indem sie jedem Menschen die Willensfreiheit absprachen. (Noch hatte Rom sich nicht mit Vatikanum II von dieser Lüge distanziert)

Nicht wenige Praktiken die Kirchenangestellte übten, waren unvernünftig. Pfarrer und Pastoren wurden nur versetzt, wenn sie fremd gingen oder Kinder verführt hatten, statt sie zu exkommunizieren und in den Alltag zu schicken.

Ich hatte einen guten Freund im westlichen Mecklenburg, dem von der EKD lediglich ein neues Arbeitsgebiet zugewiesen wurde, nachdem zutage lag, dass er seine Ehefrau wiederholt betrogen hatte.

 Schade, ich verlor ihn aus den Augen. Natürlich darf jeder und muss jeder Buße tun, nämlich jahrelang beweisen, dass sich das Ungute nicht wiederholt. Wenn das geschah, darf der Übertreter wieder, unter Bedingungen und angemessenen Auflagen, amtieren. Und dann: Das Evangelium Jesu Christi ist ungeeignet, mit seiner Verkündung Geld zu verdienen. Eine christliche Gemeinde zu leiten, und dafür finanziell entschädigt zu werden, hatte bereits Hippolytos von Rom zu Beginn des 3. Jahrhunderts scharf verurteilt. „Die „schismatische“ Gemeinde der Theodotianer in Rom zahlte ihrem Bischof ein monatliches Gehalt. Das sei eine gräuliche Neuerung.“  Jungklaus, Full Text of: „Die Gemeinde Hippolyts“ 

 

Was meine Kirche in theologischer Hinsicht und bezüglich des praktischen Lebens vertrat sah für mich in jeder Hinsicht vernünftig und obendrein wahr und schön aus, nachdem ich viele Jahre kritisch hingeschaut hatte. Immer ging es darum glückliche Ehen zu führen und allen Menschen gegenüber wahrhaftig, bescheiden und freundlich aufzutreten. In mancherlei Hinsicht waren unsere religiösen Kontrahenten erstaunlich desinformiert. Das ergab sich aus vielen Gesprächen die ich mit ihnen suchte und erlebte.

Ein Neubrandenburger Pfarrer der mich zu einem Gespräch eingeladen hatte, sagte nach zwei Stunden. „Es wir keine weiteren Begegnungen geben“ das allerdings widerrief er Jahre später.

 

Im Oktober 1958

 

besuchte ich einen katholischen Gebetsgottesdienst der Katholiken in Neubrandenburg. Geleitet wurde diese Veranstaltung, an der fast ausnahmslos ältere Frauen teilnahmen, von Pfarrer Timmerbeil, der, - nach Aussagen junger Männer, die sie mir gegenüber, von sich aus machten, - ein Sadist war. Dieser Pfarrer war es auch, der mir nach kurzem Gespräch verbot die Bibel zu lesen. Grob war er mir über den Mund gefahren.

Das Ave-Maria wurde mit seinen Zusätzen pausenlos wiederholt. Wie sehr mich das an mittelalterliche Exerzitien erinnerte. Die Statistiken ‚guter Werke’ wurden damals gewissenhaft geführt. Das „Vaterunser“ - das zwar nur wenige Worte umfasst - wurde in manchen Klöstern rund um die Uhr gebetet: Sieben Millionen Ave-Maria hatte „... die Bruderschaft der 11 000 Jungfrauen auf Vorrat gebetet, dazu 200 000 Rosenkränze und 200 000 Tedeum laudamus, sowie 3500 ganze Psalter“ Gustav Freytag Deutsche Bilder 2

So gut es gemeint sein mag, das besserte die Welt nicht, worauf es jedoch ankommt. Wenn Religion Menschen nicht veredelt, dann taugt sie nicht...   

 

Damals lernte ich Jochen Appel kennen

 

Er war Mitarbeiter der Bezirksmordkommission. Er fuhr später so oft wie ihm möglich war mit mir als Hobbyfischer auf den See zum Fischfang hinaus. Für ihn wäre es besser gewesen er hätte mich niemals kennen gelernt.

Denn unsere Beziehung endete mit seinem Selbstmord meinetwegen. Nachdem wir zueinander Vertrauen gefasst hatten, erzählte Jochen mir mehr über seine Arbeit und ich gab meinerseits zu erkennen, warum ich schließlich als Fischer arbeitete. Ganz gegen meine Gewohnheit erzählte ich ihm eines Tages einen der in Frageform gepackten politischen Witze, die damals schnell jedermann Allgemeingut wurden. Unglücklicherweise plauderte er ihn einige Wochen später an denkbar unpassendster Stelle aus. Als Offiziersanwärter auf der Polizeischule zu Gera hätte er besser den Mund gehalten. Die gefährliche Spottfrage lautete “Was ist der Unterschied zwischen Walter Ulbricht und einer Rakete? Antwort: Da ist keiner! Beide werden von Moskau aus ferngesteuert!”

Vierzig angehende Polizeioffiziere hörten es, während sie auf einem LPG-Acker den Bauern halfen die Zuckerrübensaat auszudünnen. Gelacht hätten sie allesamt und mehrheitlich der Sache keine Bedeutung beigemessen. Schließlich gab es schlimmere Anspielungen. Diese zum Beispiel: Auf die Frage welche Lieblingskomponisten er habe, hätte Chruschtschow geantwortet: "Liszt, Händel und G(K)rieg!"

Einer seiner Mitschüler zeigte ihn an. Augenblicklich wurde Jochen zum diensthabenden Offizier beordert. Der Mann wies ihn scharf zurecht: “Genosse Appel, von einem künftigen Offizier der Volkspolizei erwarten wir ein klares Bekenntnis zur Arbeiter- und Bauernregierung! Wer hat ihnen diesen Schwachsinn erzählt?”

Meines Freundes Versuch, sich auf eine ihm unbekannte Person herauszureden misslang. Sie sahen seinen Augen an, dass er log. Meinen Namen hätte er nennen müssen, um die Inquisitoren zufrieden zu stellen.
Jochen sah natürlich die Folgen voraus, falls er reden würde.

Er hätte für einige Minuten ernstlich geschwankt. Denn es ging um nichts Geringeres als um seine berufliche Zukunft. Allerdings stand auch meine Zukunft und die meiner Familie auf dem Spiel. Bis zu fünf Jahre Zuchthaus hätten mich erwartet. Ob Erika das überstanden hätte?

Er dagegen wäre für den Freundesverrat sofort belohnt worden und zwar mit jener Beförderung die der Petzer tatsächlich erhielt.

Ich saß, nichtsahnend, in trügerischer Sicherheit. Als Jochen mir nur wenige Tage später völlig rückhaltlos mitteilte was sich ereignet hatte, stockte mein Herzschlag. In breitem mecklenburgischem Plattdeutsch beruhigte er mich jedoch: “Jung, ick künn die nich veroden!” (Ich konnte dich nicht verraten) Er hätte mich immer wieder vor sich gesehen, wie ich während der Fahrt auf dem See in meinem Boot sitze und in der Bibel lese. (Dabei las ich auf dem See viel häufiger Feuchtwanger.) Er hätte es einfach nicht übers Herz gebracht.

Sie verhörten ihn gnadenlos. Sie drohten und schickten ihn weg von der Schule. Nun war er gebrandmarkt. Mit welchen Gedanken und Gefühlen wird mein Freund, der sich entschieden hatte mich nicht zu verraten, heimgefahren sein? Den Aufstieg so nahe vor sich, auch den finanziellen Vorteil, zerrann seine Hoffnung wie Eis in der Sonne. Mit wie viel Bitterkeit wird er die Ahnung empfunden haben, dass diese dumme Geschichte für ihn noch längst nicht zu Ende war?

(Nach der Wende erfuhr Jochens Ehefrau, dass ich die gesuchte Person war. Sie bestellte mich zu sich. Sie atmete tief durch. Monatelang holten sie ihren Mann zu nächtlichen Verhören. Nichts weiter wollten sie von ihm als den Namen dessen der ihm den Witz erzählt hatte.)

Jochen nahm sich schließlich das Leben, weil er die Qualen nicht länger ertragen konnte.  Auch das hörte ich erst später.

                                                  

Die großen, alltäglichen, gefährlichen Lügen – und eine große Wahrheit

 

Sogar für mich erhob sich gelegentlich die Frage, ob sich der Kommunismus aufgrund seiner Gummitaktik nicht doch allmählich durchsetzen könnte. Natürlich, immer wieder werden die Spitzenfunktionäre zuerst Fehler begehen und begehen lassen, um unwiderrufliche Tatsachen zu schaffen, die sie für erforderlich halten, danach müssen sie irgendwelche Sündenböcke finden, die sie für die unweigerlich eintretenden negativen Folgen verantwortlich machen. Chruschtschow tat es so. Das hörten wir von Westsendern, aber nun standen auch in der DDR-Presse immer wieder Informationen die das bestätigten.

Erst machte Chruschtschow mit, wenn Stalin Kardinalfehler beging, etwa als der große Diktator, 1929, die Kollektivierung der Landwirtschaft erzwang, was zu Hungerkatastrophen mit Millionen Toten führte, dann als der Kremlchef sich nicht mehr wehren konnte nannte Chruschtschow ihn den großen Sünder und Verbrecher. Stalin habe die Hungertoten Russlands und der Ukraine zu verantworten.  Oder, wie gesagt im Fall Lyssenko, der „Wunderbiologe“ der Sowjetunion, der ebenfalls vermeidbare Missernten zu verantworten hatte, weil er log. Aber die Misere wurde den schutzlosen Befehlsempfängern angelastet. Eingesperrt und gefoltert wurden die absolut Unschuldigen.  Das war das Böse des Systems, das wir gut finden sollten, aber nicht konnten. Am 2. Juni 1959 schrieb Dr. Lothar Bolz in „Neues Deutschland“: „Westberlin darf nicht länger Pulverfass sein.“ Natürlich, jeder DDR-Bürger las zwischen solchen Zeilen: „Wir Kommunisten (Bolz war nur ein verkappter) müssen die Situation retten, ehe wir allesamt zur Hölle fahren. Die Sowjetpanzer sollen doch endlich losrollen und die „Kriegstreiber“ dahin schicken wo sie hingehören.“

Am folgenden Tag und an derselben Stelle hieß es: „KPD (die westdeutsche kommunistische Partei) fordert Verzicht auf Gewalt!“, und abermals lasen wir daraus: „Wehrt euch nicht, wir wollen euch doch nur vor dem Weltuntergang bewahren.“

Und am 4. Juni: „Westberliner Spionagezentrum von unschätzbarem Wert“ (für die Kapitalisten G. Sk.), aber „es ist militärisch nicht zu verteidigen“, und „Franz Joseph Strauß lässt zivile Fahrzeuge für den Tag X erfassen.“ (Damals war Strauß Verteidigungsminister der Bundesrepublik Deutschland. Damit stand er der DDR-Regierung als Feind gegenüber) Alle normalen Bürger ostseits des „Eisernen Vorhangs“, verstanden es: Westberlin wurde von den führenden Mitgliedern des militärisch hochgerüsteten Ostblocks als Stachel in ihrem Fleisch empfunden. Diesen Peiniger wollten sie unbedingt loswerden.

Chruschtschow prahlte zeitgleich mit seiner 20 Megatonnen Wasserstoffbombe. Befragt, wem er sie denn zugedacht habe, antwortete er unverfroren: „Amerika“.

Es gab Leute die sich stolz reckten: Wir sind die Sieger der Geschichte.

Und, als wäre nichts von Bedeutung geschehen, schrieb „Neues Deutschland“ am 14. Juni 59: es gelte, den „deutschen Militarismus zu bändigen“ Immer hielten sie uns namens des „Friedenskampfes“ in Aufregung. Am folgenden Tag wagten die dummroten Redakteure im selben Blatt zu fordern: „Bonn (die damalige Hauptstadt Westdeutschlands) soll die Atomrüstung einstellen.“ Sowie 2 Tage später: „Empörung über Adenauer Kriegskurs.

 

Da war auch dieses kurze, sehr aufschlussreiche Gespräch mit dem Altkommunisten Ernst Kay, im Frühling 1960 gewesen. Kay gehörte zum Sicherheitsapparat des Panzer-Reparaturwerkes Neubrandenburg. Wegen seines Status gehörte er sogar zum Leitungsgremium. Er verfügte damit über geheimes Insiderwissen und besaß gesunden Verstand. Zu seinen Aufgaben gehörte uns Fischer zu begleiten, wenn wir im „Sperrgebiet“ unsere Netze auslegen wollten. An jenem Morgen hatte ich das SED-Blatt ND mit auf den See hinausgenommen. Da stand in roten Lettern: „Nikita Sergejewitsch Chruschtschow: Für eine Welt ohne Waffen.

Welch großartige Schlagzeile! Das sollte und musste imponieren.

 Ich hielt dem dürren, alt aussehenden Ernst Kay das riesige Blatt hin. Aus seinem müder Faltengesicht warf er einen kurzen, schrägen Blick auf seine Parteipresse und sagte beeindruckend kühl, aber mit jener ungeheuren Selbstverständlichkeit, die gewisse Wahrheiten eben begleiten: „Hei lücht!“ (Er lügt!)

Das krachte wie eine platzende Granate!

Seelenruhig setzte er hinzu: keiner der Kremlchefs, samt ihren Beratern, weder Lenin noch Trotzki, weder Stalin noch Tuchatschewski, geschweige denn Malenko, hätten jemals dermaßen brutal auf militärische Rüstung gesetzt wie der derzeitige Herr der Sowjetunion Nikita Sergejewich Chruschtschow.

 Jedes Wort, das der fast sechzigjährige Ernst Kay mit seiner heiseren, doch nicht unsympathischen Stimme so gelassen aussprach, drang mir tief ins Bewusstsein. Dann schnitt er alles, was er geäußert hatte, auch meine weiteren Fragen, mit der lapidaren Bemerkung beiseite: aus Frauen und den Militärs mache er sich nichts mehr.

 „Prost!“

Er trank etwas, das wie Wasser aussah. Er betrachtete den Rest des Inhaltes traurig und steckte die kleine Flasche zurück in eine Tasche seines weiten Jacketts, wo er sie hergeholt hatte, wobei er mich mit einem weltmännisch klugen Blick auf die letzte Schlussfolgerung seines bewegten Arbeiterlebens hinwies: für ihn sei die pünktliche Einnahme seiner Seelenmedizin immer noch das Wichtigste.

Ich nickte unwillkürlich, mochte ihn und bedachte sein Vermerk unter tausend gesammelten Illusionen “Hei lücht!” (Er lügt!)

  

Ich resignierte soweit es meine politischen Absichten betraf und wandte mich nun stärker meinen selbst gestellten Aufgaben in der Kirche zu. Eines Tages, als ich von der Arbeit mit meinem Fahrrad heimkehrte traf ich Herrn Wilke wieder. Mein Mitarbeiter Kurt Meyer und ich hatten Wochen zuvor von ihm eine Einladung zu einem Gespräch erhalten. Er wirkte als   Katechet der evangelischen Kirche. Wir gingen am vereinbarten Tag hin. Uns war klar, er hatte sich vorbereitet und mit dem anstehenden Thema vertraut gemacht.

Er würde also nichts aus “dem Hut heraus” sagen. Kaum saßen wir da, lehnte der etwa dreißigjährige freundliche Mann sich in seinem Sessel zurück. Er schaute an die Zimmerdecke, schloss die Lider und sagte dann: “Es tut mir leid meine Herren, dass ich heute ihren Glauben zerstören muss.”

Kurt schaute mich augenrollend an, ich hob die Stirn. Und dann kam der Satz: “Es ist unchristlich, dass die Mormonen ihren Propheten Joseph Smith anbeten!”

Ich bin nicht sicher ob wir höflich genug waren, nicht laut aufzulachen. Was sollten wir machen?

Ich stieg vom Fahrrad ab grüßte ihn und fragte nach ob er das Buch Mormon gelesen hat, das ihm übergeben hatten. Mir ist nicht mehr in Erinnerung was er dann sagte, aber ich werde nie vergessen, dass ich ihm sagte: Wir alle müssen, wie Petrus, Gott um eine Antwort bitten. Ich zitierte  Matthäus- Evangelium: 16, die Verse 13-17 „Da kam Jesus in die Gegend von Cäsarea Philippi und fragte seine Jünger und sprach: Wer sagen die Leute, dass der Menschensohn sei?  Sie sprachen: Einige sagen, du seist Johannes der Täufer, andere, du seist Elia, wieder andere, du seist Jeremia oder einer der Propheten.  Er sprach zu ihnen: Wer sagt denn ihr, dass ich sei?  Da antwortete Simon Petrus und sprach: Du bist der Christus, des lebendigen Gottes Sohn!  Und Jesus antwortete und sprach zu ihm: Selig bist du, Simon, Jonas Sohn; denn Fleisch und Blut haben dir das nicht offenbart, sondern mein Vater im Himmel.“

Ich gab noch den Hinweis, dass wir, gleich Petrus, durch die Macht des Geistes Gottes bedeutende Wahrheiten erfahren können. 

Das gerade ausgesprochen, ergoss sich über mich pure Freude und Licht. Es war die Gewissheit nun erhört zu werden. Umgehend verabschiedete ich mich, stieg nicht aufs Rad sondern sagte in tiefen Gedanken: „Mein Gott, nun hörst du mich.“ Sofort kam es zurück, machtvoll im besten Sinne des Wortes, und erhebend. Ich ging die etwa 800 Meter zu meinem Heim langsam. Bis ich dort ankam, war es über und in mir. Ich fragte als Erstes: „Herr, war Nephi eine historische Persönlichkeit?“

Mit großer Kraft kam es wortlos positiv zurück. In diesen zehn Minuten nannte ich jeden Namen von denen das Buch Mormon Bericht gab. Jeder Name wurde mir auf dieselbe Weise bestätigt.

Da war die Gewissheit die ich fast drei Jahre zuvor erbeten hatte. Ich kam oben in meiner Wohnung an, warf mich in den Sessel und sagte zu Erika: „Jetzt weiß ich mit Bestimmtheit!“

Aber es hatte seinen Preis, zuvor musste ich beweisen, dass die Verpflichtung die ich einging, von mir erfüllt wurde. Mir kam seither oft in den Sinn, dass Nephi wenn er vor Gott seine wichtigsten Fragen stellte, nicht einfach ein paar Worte sagte, sondern er stieg auf einen hohen Berg. Damit war er Gott räumlich nicht näher, aber innerlich. 1. Nephi 17:7

 

 

Bei aller Erkenntnis müssen wir des Alltags Mühen durchleben

 

Wir erlebten im Frühling 1961, wie hunderttausende Kleinbauern, - oft Flüchtlinge die in Hinterpommern und Ostpreußen ihre Existenzgrundlage verloren hatten - infolge der Enteignungen der Großbauern, Eigentümer von durchschnittlich 10 Ackerland, Wiesen und Wälder wurden, nun erneut alles verlieren sollten. Die Aktion lief unter dem Namen „sozialistischer Frühling“. Alle erdenklichen Mittel wurden eingesetzt die Eigner zu überzeugen und letztlich zu zwingen ihr Eigentum aufzugeben. Sie sollten nun als Genossenschaftler gemeinsam wirtschaften.

Sie wiesen den heftig drängenden SED-Agitatoren ihre Besitzerurkunden vor. Vergeblich.

Sie beriefen sich auf den DDR-Staatschef Walter Ulbricht, der im Herbst 1945 versprochen hatte, dass "den Bauern, die den Boden haben, keine Macht der Welt ihn wieder wegnehmen könne.“ Es half alles nicht. Die „Partei“ hatte beschlossen, dass ausnahmslos alle „Neubauern“ ihr Land und Vieh zusammenlegen mussten. Natürlich brachte die gemeinsame Bewirtschaftung große Vorteile, aber es war der Zwang, der sie niederdrückte.  Bislang waren sie ihre eigenen Herren, nun wurden sie degradiert zu Befehls- und Lohnempfängern. Sie hatten sich zu beugen. Viele flohen daraufhin in den Westen.

Am 13. August 1961 errichte die Partei die Berliner „Mauer“ über Nacht und zuerst nur mittels Stacheldrahtes, und umgehend mit Beton. Es bestand die Gefahr, dass den Herrschenden eine weitere Million Menschen oder sogar mehr, die teilweise kostspielig gut ausgebildet waren, davonlaufen würden.

 Im Monat Juli waren es schon 30.000 und am 12. August 1961, also an einem einzigen Tag, flüchteten 3.200 Personen.

Großeltern die ihre Kinder in der angrenzenden Straße besuchen wollten standen hilflos da.

Ich selbst hatte das Gefühl, dass sich hinter mir eine Gefängnistür für immer schloss. Walter Krause beruhigte mich: Präsident David O. McKay habe gesagt.: Es kommt nicht zum Krieg.

Ausgerechnet zu dieser Zeit, oder wenig später gab es ein fischereiliches Großereignis. Wir gingen Tag um Tag derselben immer neuen Arbeit mehr oder weniger   erfolgreich nach.

                                                                             

 

Es kam der November herauf

 

Wilhelm Bartel und ich wurden zum Rat des Kreises bestellt. Dort legte man uns ein Papier vor. Es handelte sich um einen -

Aufruf zur Planerfüllung und Übererfüllung. “Wettbewerb für sozialistische Genossenschaften” stand da oben geschrieben. Wenn wir die staatliche Planauflage allseitig erfüllten, dann erhielten wir die Summen oberhalb einhundert Prozent aus dem Betriebsgesamtplan steuerfrei als Nachzahlung. „Das gibt es nicht!”, erwiderte Wilhelm Bartel und steckte sich vor Schreck an der heruntergebrannten anderen ein neues Zigarillo an. Meistens unterbrach er das Rauchen nur für zehn Minuten. Diesmal nicht.

Wir fuhren mit unseren Fahrrädern wieder hinunter zur Fischereibaracke. Während wir radelten, rechnete er mir überzeugend vor, dass es uns ohnehin leider nicht betreffen würde. Wir könnten allenfalls den Finanzplan, auch noch den Konsumfischplan erfüllen und übererfüllen, aber im Bereich Feinfische blieben wir, wie üblich, weit vor dem Ziel stecken.

Schade.

Wann gäbe es eine Chance wie die uns soeben angebotene wieder? Steuerfreiheit für Gewinne? Nie. Biederstaedt bekräftigte dieses Unmöglich! Von den geplanten 28 Tonnen Feinfischen (Edelfischen) fehlten zehn. Die Fehlmenge war, nur finanziell allerdings, durch vermehrte Anlandungen anderer Fischarten ausgeglichen worden. Im November ereignen sich keine Fangwunder mehr. Jedenfalls nicht in dieser Größenordnung. Das sei gewiss. Auch er zog die Achseln bedauernd und schüttelte den Kopf. Illusionen gäbe er sich in seinem Alter nicht mehr hin. Gegen uns drehte sich sogar der Wind. Er blies in den ersten acht Novembertagen heftig aus Ostsüdost. Der durch ihn erzeugte Tiefenstrom würde allenfalls die großen Barsche in Zugnetzbereiche treiben. Aber zehn Tonnen große Barsche gab der Tollensesee selbst in besten Fangjahren nicht her. Das leuchtete mir ein, obwohl ich erst fünf Jahre dabei war. Vom langgestreckten Tollensesee konnten, mit den uns derzeitig verfügbaren Mitteln, etwa 85% der Gesamtseefläche fischereilich nicht erfasst werden. In diesen Rückzugsgebieten bleiben die besten Fische stets ungestört. Bartel versuchte uns zu ermutigen, dennoch das Mögliche zu tun. Die Lieps habe ihre Mengen zwar längst abgegeben. „Doch wir haben den Krickower und den Neveriner See noch nicht abgefischt.” Zusammen könnten uns die beiden Gewässer zwei Tonnen Feinfische bescheren.

Wo jedoch ließe sich eine dritte, vierte, achte Tonne Feinfische fangen?
Da zuckte alle resignierend die Achseln. Nirgendwo!

Das Zugnetz und die Kähne wurden zunächst eiligst nach Neverin transportiert, wo -  auf dem 12 ha kleinen Gewässer mit bekanntlich hoher Produktivitätsrate - tatsächlich, wie vorausgesagt, eine Tonne Zander gefangen wurde. Anschließend ging es nach Krickow. Phantastische Gedanken- und Zahlenspielereien zogen durch unsere Köpfe. Aber bei genauer Betrachtung kamen immer nur Minuszahlen heraus: zum Schluss werden uns, selbst im günstigsten Fall, mehr als sechs Tonnen fehlen. Eifrig, begleitet vom Sausen des starken Ostwindes, setzten wir die Netzteile im steilscharigen Krickower See aus. Sofort, als wir das Zugnetz in Bewegung brachten, ging das von Plasteschwimmern an der Seeoberfläche gehaltene Netz der rechten Seite unter. Es hakte. Die Männer, die diesen Flügel zogen, begaben sich so schnell wie sie konnten an jene Stelle der Netzwand die zuerst abgetaucht war. Dort musste ein Hindernis in der Tiefe liegen. Eine Stunde lang wühlten und stöhnten sie. Es kam nach und nach ein sonderbarer Aufbau, schließlich eine ganze komplette Kutsche zum Vorschein. Fünfzehn Jahre lang muss das Netz günstiger ausgelegt worden sein. Der Riss, von der versenkten Kalesche verursacht, konnte schnell ausgeflickt werden, doch alle Mühen waren schließlich vergebens. Denn Feinfische gab es dort nur kiloweise. Wir rochen die Frostluft. Das Ende der Saison stand uns also aus Witterungsgründen unmittelbar bevor. Bartel zog das schiefe Gesicht wieder gerade. Er hatte es ja gleich gesagt. Er habe sich nun endgültig damit abgefunden, dass schöne Träume bleiben, was sie sind.
Nur Witte und ich wollten es noch einmal mit dem Einsatz des Zugnetzes auf dem Tollensesee versuchen. Einige beschimpften uns als Spinner. Es habe ja doch keinen Zweck. Zehn Tonnen Hechte oder große Bleie fing man nicht mehr im vorgerückten November, schon gar nicht bei Ostwind, sondern höchstens die minderwertigen Plötzen. Wir zankten uns. Es dunkelte bereits, aber schließlich mit Unterstützung anderer, die mir gegen alle Vernunft halfen, verluden wir das Zeug, verbissen, in der Hoffnung auf ein Wunder, um dann zur Nachtzeit die nächsten erforderlichen Voraussetzungen für weitere Züge zu schaffen. 

Der 13. Novembertag des Jahres ‘61 begann trist. Nur weil es ihre Pflicht forderte zu fischen, fuhren auch die Spötter mit uns auf den See. Meine Hoffnung brannte noch lichterloh. Natürlich, manchmal gibt es nichts mehr zu hoffen und man rennt dennoch. Wir legten das große Zugnetz auf halbem Wege zwischen Neubrandenburg und Buchort vierhundert Meter von Land aus. Je zweihundert Meter parallel zum Uferstreifen. Allen Bemühungen zum Trotz fingen wir innerhalb fünf Stunden nur vier Stück Kleine Maränen, eine Art Forelle. Kl. Maräne - Fischroute

 

Coregonus albula Stückgewicht bis 400 Gramm höchste Qualitätsstufe wenn geräuchert. Seltene Delikatesse

 

Das war noch nicht einmal ein einziges Kilogramm Fisch. Die einen freuten sich, wir andern zogen die Mundwinkel herunter. Die Klügeren hatten Recht behalten. Enttäuschung ist wahrscheinlicher als Erfüllung.

Bösartig argumentierend könnte man sagen: der See sei bereits „überfischt“ worden. Die Uhrzeiger rückten auf die zweite Nachmittagsstunde vor. Winterluft wehte wieder spürbar. Der Wind blies nun aus Nordwesten. Doch so plötzlich wie er aufgekommen war, legte er sich wieder, wie das an Nachmittagen häufig üblich ist. Selbst Biederstaedt verspürte nur noch wenig Lust, noch einen weiteren Zug anzulegen. Sie entmutigten einander und ich gab ebenfalls auf. Wir dachten an die uns bevorstehende Freizeit. Also fuhren wir, die nächste Enttäuschung hinter uns lassend heim. Der Motor brummte. Kurt Reiniger legte den Gang ein. Schäumend wirbelte des Kutters Heckwasser. Kurt mied die gefährlichen Steine unterhalb des Steilufers von Belvedere. Er steuerte auf Augustabad zu. Dieser kleine Umstand sollte große Folgen haben.

Denn da, fünfhundert Meter von Land, passierte etwas. Da, noch einmal! Das dürfte keine Täuschung gewesen sein. Fast unbemerkbar, wie ein Lamettafaden aufblitzt, der in der Dunkelheit der Nacht in einhundert Meter Entfernung nur kurz vom schwachen Mondlicht beleuchtet wird. Wieder! Diesmal zwei oder drei dieser winzigen nur für den Bruchteil einer Sekunde erscheinenden Silberstreifen, aber bereits nur noch sechzig, siebzig Meter von uns weg. Sie rissen mich aus der Lethargie in die Höhe. Biederstaedt bemerkte es ebenfalls. Er legte die Hand beschattend über seine starken Augenbrauen. Wir starrten nun zu zweit. Wie elektrisiert und in Hochspannung versetzt und abwartend wandten wir unsere ganze Aufmerksamkeit der plötzlich sich völlig glättenden Wasserhaut zu. Fritz Reiniger stieß die rechte Hand vor. „Maränen!”, rief er. Auch er erregt. Jetzt erschienen vier, fünf Silberfunken auf einmal, mehrten sich.
Alle sahen nun das sich unglaublich schnell entfaltende Bild. Immer mehr Fische sprangen aus dem Seespiegel heraus. „Maränen, Maränen! Überall Maränen.” Nur der Kutterfahrer Kurt Reiniger ahnte nichts. Er saß in der Kabine und hatte lediglich den stumpfen Turm der Marienkirche im Blick.  Purer Übermut trieb diese auf Hochzeit gestimmten Winterlaicher. Nur für zehntel Sekunden ließen sich die Einzelexemplare blicken. Mit großer Geschwindigkeit sausten sie knapp über den schnell durchschnittenen Wasserspiegel hin. Geräuschlos für uns, noch, solange der Kuttermotor lief. Von meinem Arbeitskahn aus schlug ich mit ziemlicher Wucht und mit der flachen Seite meines Ruders auf das Dach der Fahrerkabine, unseres neuen Kutters. Jäh aus seinen Träumen gerissen wandte sich Kutterfahrer Kurt Reiniger um. Wütend stieß er das kleine, hintere Fenster auf. Seine Stirn furchte den Ausdruck unbeherrschter Wut. Sein stets gebräunt wirkendes Grobschmiedsgesicht schien Hass zu sprühen. Er fauchte mich an und ich fauchte zurück: „Bist du blind?” Ringsherum spritzten die Silberlinge inzwischen zu Tausenden immer mutiger, immer höher hinaus, immer weiter. Fritz Reiniger, Kurts Bruder, gab ihm Weisung, er möge sofort wenden. Seinem älteren Bruder laut zu widersprechen, hätte Kurt nie gewagt. Doch offensichtlich immer noch in Zorn zog Kurt sich zurück. Ich vermutete richtig, dass er da im Motorenraum maßlos vor sich hin geflucht hat und dennoch gehorchte. Er muss das Steuerrad aus Ärger gefühllos herumgerissen haben, denn sofort schleuderten die Kähne bedrohlich scharf nach außen. So sind selbst schon höherbordige Boote zum Kentern gebracht worden. Noch befanden wir uns vier-, fünfhundert Meter von der Einfahrtsrinne zum Oberbach entfernt. Da war der See noch tief genug. Noch konnte Kutterfahrer Kurt einen Halbkreis mit Vollgas ausfahren. Das mutete er uns auch zu. Wir gerieten unnötigerweise in diese Schieflage. Lediglich Millimeter fehlten und das schäumende Wasser wäre nicht nur spritzerweise, sondern massiv in die Arbeitskähne hineingeschlagen. Wo das passiert war, da gab es bereits der Netze wegen, die dann automatisch über die Gekenterten hinweggeschleppt werden, Tote. Dem Umkippen immer noch nahe, noch während des hitzig ausgeführten Wendemanövers wiederholte sich das Schauspiel unmittelbar neben uns. Aus den von uns verursachten Wellen sprangen nun die kostbaren Fischchen und zeigten sich jetzt in voller Pracht ihres Gruppenfluges. Das war einmalig betörend und aufregend. Als wir auf Höhe der Linie Belvedere - (ehemalige) Torpedoversuchsanstalt ankamen, warfen wir das Netz zum zweiten Mal aus. Die Sonne färbte den Horizont bereits rötlich zu Rot, dann violett zu herrlicher Farbenvielfalt. Von der Trommelwinde fuhren wir jeweils ungefähr vierhundert Meter Drahtseil ab. Dann im flachen Seebereich steckten wir unsere Haltepfähle in den sandigen Seeboden, kurbelten die kleinen Dieselmotoren der Maschinenwinden an und warteten eigentlich eher ungewiss darauf, wann das zwar recht lange, aber nicht sehr tiefe Netz endlich auftauchen würde. Denn durch den Wasserwiderstand, der den Maschen entgegensteht, baucht das Fangnetz während der Windephase beträchtlich aus. Manchmal ist es dann nur noch sechs Meter hoch. Reduziert um fast die Hälfte der theoretischen Stauhöhe. Solange also die Flottenleine nicht an die Seeoberfläche stieß, war den Fischen der Ausbruch durch einfaches Überschwimmen des Netzes allemal möglich. So können selbst die größten Fischschwärme bis auf den letzten Schwanz entkommen. Ihrem Instinkt folgend haben sogar die in Laichstimmung hineintaumelnden Fische stets noch ihre Fluchtchancen. Deshalb sahen wir dem Zeitpunkt des Netzauftauchens eher gelassen, als mit hochgespannter Erwartung entgegen. Zu oft hatten wir es erlebt, dass Großfische mitten auf dem ‚Zug’ im scheinbar sicher eingekreisten Bereich aus Lust oder Erregung herausplatschten und dann war es doch nicht gelungen, sie zu fangen. Die Unberechenbarkeit der stets nur teilweise eingekreisten Fische machte die Arbeit so spannend. Trotz enormen Fleißes unsererseits blieb sie ein Glücksspiel, und deshalb gewöhnte man sich nach und nach, selbst bei allerbesten Anzeichen ab, irgendeine Fanghoffnung zu übersteigern. Doch, wo immer die ‚Springer’ ihre Anwesenheit demonstrierten, da bemühten wir uns auch, sie zu fangen. Es geschah in diesem Augenblick bereits das nächste wunderbare Ereignis. Wie von Geisterhand bewegt flog das Netz plötzlich auf einem guten Drittel seiner Gesamtlänge, also auf einer Länge von etwa zweihundert Metern in die Luft. Wie mir schien, einen halben Meter hoch. Ein Silberrand ohnegleichen. Das war eine Sensation. Mir ging vor Staunen der Mund auf. Noch nie hatte ich - sowie meine Kollegen - Vergleichbares erlebt. Gegen das Gesetz der Schwerkraft kann das tonnenschwere Netz sich nicht aus dem Wasser in die Lüfte erheben, nicht einen einzigen Millimeter. Und doch war es so. Die Männer vom nebenan liegenden Boot schrieen jubelnd: „Wir haben sie.” Was war wirklich geschehen? Es gab nur eine Erklärung: Alle Energie, die von aufgerüttelten Maräneninstinkten zur Überlebenssicherung in zehntausenden Fischen zeitgleich freigesetzt wurde, verlor sich im gemeinsamen Anrennen gegen die Netzwand. Die Vorderen rasten mit ihren spitzen Köpfen in die Maschen, die nächsten stießen gegen die aufgeregt weiterschwimmenden, aber schon gefangenen und die letzten, meisten, taten das Übrige. So schob eine Fischwelle die andere in Panik vor sich her und verursachte auf diese Weise das sensationell sichtbare Ergebnis dieses Massenansturmes. Unmittelbar hinter den schon kahlen Buchenkronen und der Silhouette von dem im klassizistischen Stil erbauten, tempelartigen Belvedere zog sich schon die Sonne zurück und färbte den hinter dem Zugnetzsack liegenden Seeteil von violett zu blaugrau, strengen Frost ankündigend. Über dem Wadensack in nahezu noch dreihundert Metern Entfernung flatterten tausend Seeschwalben und Möwen. Wie aufgewirbelte, weiße, schnell ihre Konturen ändernde Wolken wogten die Vogelscharen. Immer wieder stießen die Räuber aus der grauweißgesprenkelten Höhe herab und zerrten mehr oder weniger erfolgreich an den mit ihren Silberleibern in den Netzmaschen steckenden Fischen. Rings herum tönte dieses wilde Kreischen. Inzwischen fuhren wir mit unseren pechschwarzen Arbeitskähnen mittig im Flachwasserbereich zusammen, um schließlich die Arbeit des Garneinholens vorzubereiten. Noch lag die von weißen Ekazellflotten umrahmte Seefläche spiegelblank vor uns, als sich plötzlich, ohne Windeinwirkung, eine erhebliche Woge auf uns zubewegte. Ozeanische Massen Maränen! Niemand konnte sie aufhalten. Jedes Stellnetz, das wir vielleicht als Sperre hätten einsetzen können, wäre von ihnen binnen Sekunden zu Boden gerissen worden. Unter dem Verlust einiger hundert Leiber hätte sich die Masse freie Bahn gebrochen. Das müssen hunderte Zentner gewesen sein. Sie erschwammen sich ihre Freiheit durch Gleichzeitigkeit ihrer Flucht. Wir sahen im niedrigen Wasser unter uns die zahllosen Fische, die Leib an Leib gedrückt schnell dahinschossen. Entzückt und zugleich von Ärger betroffen sahen wir staunend diese unglaublich großen, blauschimmernden Scharen. Oft stand mir später dieses Bild vor Augen und irgendwann kam mir der Gedanke: Keine totalitäre Regierung der Welt, könnte ihre Grenzzäune halten, wären fluchtwillige Menschen fähig ihre Verstandeskräfte zeitgleich einzusetzen.

Endlich, bei allmählich schwindendem Tageslicht konnten wir den Kreis schließen. Von dem Augenblick an, wenn die eng beieinander liegenden Fangboote das Zeug einholen, mindern sich für die restlichen, im Umfassungsraum herumschwimmenden Fische die Möglichkeiten zu entkommen erheblich. Die beiden Netzwände kamen nun wie ein silbern genoppter Teppich heran. Nach und nach, während des Zuladens des fischgespickten Garns brachte die beiden Kähne fast zum Sinken. Wie Hirschgeweihe stießen die Vordersteven unserer Boote in die Höhe, während die Heckteile nahezu mit der glücklicherweise nun völlig ruhigen Wasseroberfläche abschnitten. Wir durften uns kaum noch bewegen, sonst gingen wir unter. Massenweise versuchten die verbleibenden Maränen im Wadensack Platz und Durchkommen zu finden. Da schwammen sie zwar noch, waren aber, wie die in den Maschen steckenden, endgültig gefangen. Anders wären wir der Fischmassen nicht Herr geworden. Einhundertundsechsundsiebzig Zentner Maränen konnten wir in dieser Nacht aus den Weiten des Wadensackes herauskeschern. „Fast neun Tonnen!“ jubelte ich, - ich glaube laut. Glücklicherweise sanken die Temperaturen in den Minusbereich.
Wir fühlten uns mehr als beschenkt. Biederstaedt schlug lachend, wuchtig und kreuzweise die steifen Hände und Arme über der Brust zusammen.
„Dat sünd de ollen Tieden!”, ("Wie in guten alten Tagen!")  frohlockte er. Sein flächiges Gesicht strahlte: „Dat sünd de teigen Tunnen!”  An der Möglichkeit zur Vollendung der nun unbedeutend gewordenen Feinfischmenge zur Überschreitung der so bedeutungsvollen Zehntonnengrenze gab es nun keinen Zweifel mehr.

Und mir kam zweierlei in den Sinn, die Bibelpassage als der Auferstandene die von ihrem Fangergebnis enttäuschten Jünger auf dem See Genezareth ermutigt: „Werft das Netz auf der rechten Seite des Bootes aus und ihr werdet etwas fangen. Sie warfen das Netz aus und konnten es nicht wieder einholen, so voller Fische war es.“

Das war zugleich eine Metapher: Geht ihr Menschenfischer und fangt mit dem Evangeliumsnetz so viele wie ihr tragen könnt.

Ich schaute Fritz Biederstaedt an: wir beide irrten: Da hat die Partei, die wir beide nicht mögen, doch etwas Gutes zustande gebracht, in dem sie 1953 darauf drang in unseren See 5 Millionen Maränenbrütlinge einzusetzen.

Das musste ich anerkennen. 

Es war nur sonderbar, dass wir während der Fangperioden über Jahre bloß hin und wieder ein paar Silberlinge gefangen und sonst nichts von ihnen bemerkt hatten. Plötzlich schien der See von Maränen überzuquellen. Geheimnisse der Tiefe. Sie hatten sich gesammelt. Aus den Weiten der siebzehn Quadratkilometer Fläche, verteilt auf die durchschnittliche Wassersäule von sechsundzwanzig Metern waren uns die Kleinen Maränen in letzter Minute glücklicherweise entgegengekommen. Sie hatten gezeigt, dass es sie in Massen gibt und ich erkannte, wie wenig wir vom Geschehen unterhalb der Wasserhaut wussten.

In den folgenden Jahren setzte sich der positive Trend fort und ich konnte mehrere fachliche Abschlüsse erwerben.

 

Verlockendes Angebot

 

Prillwitz liegt am malerisch schönen Südufer der Lieps. Dieses Gewässer ist eines der vielen blau und grün-bunt schillernden Pfauenaugen in der Mecklenburger Landschaft.

Dieter Helm, Vorsitzender der PGH “Heinrich Hertz” spielte mit seiner goldenen Posaune zum Betriebsfest der Fischer auf. Seine kleine Kapelle tönte herrlich. Aber nun schon weit nach drei Uhr morgens, an diesem Junitag des Jahres 1964, konnten selbst die schönsten Töne keinen Tänzer mehr auf das Parkett des Festsaales locken.

Ich ging langsam und nachdenklich zur Anlegestelle für die Fahrgastschiffe hinunter. Da lag die “Fritz Reuter”, das weißblaue Passagierschiff im Dunst des heraufdämmernden Tages und wartete auf uns. Ich wandte den Blick zum roten Gebäude, indem unser kleines Betriebsfest stattgefunden, und wo ich die Verse meiner humorige Spottzeitung vorgetragen hatte.  Es war das vielleicht schönste der Schlösser der ehemaligen Mecklenburg-Strelitzer Herzöge, das ich sah. Es schimmerte durch die Stämme und das Blätterdach einiger weniger, aber gewaltiger Platanen hindurch.

Dann sah ich beide Göcks ankommen. Auch sie erschöpft, wie man sah, aber beide in heiterer Stimmung. Hermann ging wie stets ein wenig nach vorne gebeugt. Sie untersetzt und von sehr fraulicher Molligkeit. Als sie eingestiegen waren, kamen sie näher und lächelten freundlich. Am Nachbartisch nahmen sie Platz. Nach ein paar Minuten der Entspannung schaute Hermann herüber: „Setze dich zu uns!” Ich nahm die Einladung an. Ich mochte beide wegen der Herzlichkeit, die sie mir nun immer entgegenbrachten. Die Sonne, im Begriff aufzugehen, rötete den Himmel im Nordosten und seine Widerspiegelung befand sich am Horizont links über dem Areal, wo das versunkene Wendendorf Bacherswall einst gelegen hatte. „Wie geht es deiner Frau?” Es klang mir nicht nur angenehm, es war echt. Es erinnerte an die erste Begegnung, als Erika mit unserem damals zweijährigen Sohn Hartmut neben Göcks auf der Fischerinsel im Schatten der hohen rauschenden Pappeln an einer Festtafel Platz nahm. Fritz Biederstaedt hatte sie so herrlich arrangiert. Gekonnt war die aus einfachen Klapptischen bestehende, teilweise mit weißen Tischtüchern abgedeckte lange Tafel dekoriert und hergerichtet worden. Die frischen Räucherfische dufteten. Die Menge der Delikatessen bot einen verlockenden Anblick. Die Gläser blitzten im Gefunkel der vom nahen See spiegelnden Sonnenstrahlen. Nicht weniger beleuchtet sahen wir die je dreißig Teller und Tassen.

Für jeden gab es einen ganzen, goldbraun geräucherten Aal. Das sei ja unglaublich, hatte Helene Göck gerührt ausgerufen, als wir gebeten wurden ungeniert zuzugreifen.

Erika trug an jenem Nachmittag ihr schönes blaues Kostüm, Hartmut eine rotweiße Bluse.

Helene Göck nickte, als ich es erwähnte. Sie denke ebenfalls sehr gerne an diesen Tag und die Harmonie der Feststunden zurück.

Wie es Erika jetzt ginge?

„Danke für die Nachfrage!”, erwiderte ich. „Von der letzten Herzattacke hat sie sich erholt. Es geht wieder bergauf.” Hermann sagte: „Grüße sie von uns!” Dann fuhr er fort: „Wir haben Dich beobachtet.” Seine Augen blitzten auf, als er feststellte: „Du hast dich korrekt verhalten.”

Er meinte wahrscheinlich, ich hätte die Gelegenheit des Betriebsfestes nicht genutzt, um mit hübschen Damen zu flirten.

Ich dachte mir meinen Teil.

Die anderen kamen inzwischen den nur etwa einhundert Meter kurzen Weg vom Schloss zur Anlegestelle herunter. Hermann Witte paffte eine Zigarre. Er trug einen braunen Schlips zu seinem hellen Anzug und machte ein Gesicht wie ein kerngesunder VEB-Direktor, jedenfalls war er auffallend runder geworden. Wenn er so ging, die Beine nach außen aufsetzend und dabei langsam, genussvoll den Rauch seiner Kubazigarre in die Luft blasend, signalisierte er, dass sein Glück vollkommen sei. So standen nun mehr als zehntausend Mark auf seinem Konto. Er besaß ein neues Motorboot und hatte einen Bungalow in schöner Uferlage gebaut. Von Woldegker Zeiten war keine Rede mehr, als Fischkisten dreiviertel seines Wohnzimmer Mobiliars ausmachten.

Immerhin war ihm im Ausstickungswinter 63 die Idee gekommen, mittels einfacher Stalllaternen, die er an die Eislöcher stellte, die taumelnden nach Sauerstoff ringenden Fische anzulocken um sie mit den vielen vom ihm speziell konstruierten Senken zu fangen. Sonst wären sie verreckt.

In einer einzigen Nacht war ihm gelungen, fast dreißig Zentner hochwertiger Schleien zu überlisten. Augenblicklich gefroren die Schleien zu Stein. Das tötete sie nicht, nicht alle jedenfalls. Denn vierundzwanzig Stunden später, begannen einige der noch in hölzernen Kisten im Sortierraum stehenden Fische wieder zu zappeln. Ganz allmählich waren sie aufgetaut.

Hermann Witte schuftete immer, sobald er sah, dass es sich lohnen würde. Sein Pflichtbewusstsein hätte Faulheit gar nicht zugelassen.

An diesem Morgen nach durchfeierter Nacht muss ihm der Gedanke zu Kopf gestiegen sein, dass er nun wer geworden war.

Der Motor des Fahrgastschiffes begann beruhigend zu schnurren. Das Boot legte ab und nahm eine Kurve beschreibend langsam Fahrt an.

„Wie wäre es, Gerd Skibbe, wenn du den Vorsitz in der PwF übernimmst?” Obwohl mich dieses Angebot Hermann Göcks nicht wirklich überraschte, schmeichelte es mir. Er war Mitglied der Bezirksleitung der SED, genauer gesagt Göck war der Vorsitzende der Bezirkspartei-Kontroll- Kommission und hätte die Macht gehabt, mich im Verlaufe der nächsten Monate an die Stelle des gesundheitlich doch schon recht angeschlagenen Wilhelm Bartels zu setzen.

Wilhelm hatte seine sowjetrussische Gefangenschaft, die mit dem Desaster der Stalingradkapitulation begann, mit Ach und Krach einigermaßen überstanden. Doch sein Dauerrauchen ruinierte ihn. Bereits als Gefangener hatte er nach eigenem Bekenntnis sein Brot gegen Machorka eingetauscht. 

Mittlerweile erreichten wir den Alten Graben, den sechshundert Meter langen Kanal zwischen Tollensesee und Lieps.

Was beide Göcks eigentlich wissen mussten: ihre wenn auch unausgesprochenen Bedingungen, konnte ich nicht akzeptieren.

Durch die Scheiben schaute ich hinaus, sah die Birken, die den Wall der schmalen, gerade wieder ausgebaggerten Wasserverbindung säumten, und dachte, nun bist du vierunddreißig. Das ist ein guter Zeitpunkt noch mehr aus deinen Möglichkeiten zu machen. Hermann Göck könnte dich nach vorne bringen. Ich käme meinem Ziel, einen Studienplatz an der Fischerei-Ingenieurschule in Hubertushöhe zu bekommen, näher.

Zudem ging es in der DDR sichtlich voran. Wer es sich leisten konnte, fuhr ein Auto, zumindest einen P 50. Die Schließung der Grenze lag jetzt drei Jahre zurück und je länger ich das Eingesperrtsein erlitt, umso mehr gewöhnte ich mich an diesen Dauerschmerz, der immer mehr abnahm.

Nachdem ich mir ersparte, immer wieder bewusst dem Verlust der Freiheit nachzutrauern, konnte ich ganz gut mit den Verhältnissen leben. Schließlich bedeutete mir meine Frau und meine beiden Söhne das höchst denkbare Glück.

Die Göcks betrachteten mich geduldig. Ihnen war klar, dass es mich reizte, ihr Angebot anzunehmen: „Du kannst doch mehr als Fische zu fangen. Komm zu uns in die Partei! Wirf deine Bedenken einfach über Bord.”

Bis jetzt hatte ich mich ziemlich eng an Polonius guten Rat gehalten: „Sei dir selber treu!” Und das hat seine Konsequenzen: „Daraus folgt wie Tag der Nacht, du kannst nicht falsch sein gegen irgendwen.”

Zwanzig lange Propagandajahre hatte ich mich aus meinen Gründen gegen den auch mich gelegentlich nicht wirkungslos anfallenden Atheismus gestellt.

Kaum eine andere Sache hatte mich mehr beschäftigt als die dazu gehörenden Fragen. Mein Fazit war, dass meine Mitmenschen nicht als Folge von Bemühungen Atheisten geworden waren, sondern nach meiner Erfahrung ist es umgekehrt. Nach Formulierungen König Benjamins im Buch Mormon, ist der Atheismus ein Naturgewächs. Es entspringt unserem Wesen und diesem Wesen entspricht, dass wir wie Wasser den Weg des geringsten Widerstandes suchen. Kulturgeschöpfe aber, wie der Glaube an einen liebenden, planenden Gott, müssen sich gegen den Zerstörungstrieb der menschlichen Natur wehren. 

Schlimmer! Meinem Verständnis nach war und ist der allgemeine Atheismus, eben weil er natürlich ist, das Einfallstor für Opportunismus und inneres Chaos. Viele Genossen waren Opportunisten, auch wenn sie das vehement bestritten. Wenn ich sie an dem maß, was sie mir unter vier Augen sagten, glaubten die meisten den Direktiven und Parolen ihrer Partei nicht.

Sie ordneten sich ihr nur aus taktischen Gründen der Vorteilsuche unter. Sozialismus war für sie und mich dasselbe. Nämlich eine künstlich erzeugte, erpresste Realität. Wie überstrenge, herrschsüchtige Väter ließen die Protagonisten dieses Systems, keine andere Meinung neben ihrer gelten. Es gibt keinen Menschen, der das mag.

Gemäß rotem Lehrbuch will der Kommunismus jedes Erdenland erobern, um es nie wieder preis zu geben.

Auf dieses Ziel ausgerichtet balancierten seine Cheferbauer Lenin, Stalin und Chruschtschow frech am Rande des Untergangs der noch freien Menschheit. Die Kubakrise von 1962 bewies das.

Es darf nie vergessen werden, dass wir damals allesamt vor dem völligen Aus standen.  Zuerst schossen die Kubaner einen US-Aufklärer ab. Ich hörte, glaube ich, die Nachricht am frühen Morgen des nächsten Tages, weckte Erika und äußerte meine Bedenken. Das lassen sich die Amis doch nicht gefallen! Und so war es. Wenig später überraschte uns die Information, sowjetische Raketenstellungen bedrohten von Kuba aus die USA. Ein Blick in den Atlas genügte. Von Santa Clara bis Miami war es nur ein Katzensprung. Anstelle des bis dahin anscheinend eher harmlosen Inselstaates Kuba, befand sie plötzlich ein mit tödlichen Waffen gespickter, unsinkbarer Flugzeugträger der Roten Armee unmittelbar vor Florida.

Jeden Kommentar von Ost und West, den wir hören konnten, verfolgten wir angespannt.

Da war mehr als ein Wortekrieg. Tatsächlich erging von Präsident John Fitzgerald Kennedy Weisung ans Pentagon: „Sofort sind die Sowjetschiffe mit Kurs Kuba im Bahamabereich zu stoppen“. Er bestehe auf sofortigen Abzug der sowjetischen Raketen von Kuba, sonst... Sonst?

 Wer da nicht gezittert hatte, wusste nichts.

Wir ahnten, dass die US-Militärs von ihrem Präsidenten die umgehende Besetzung Kubas verlangten. Das hätten die Russen mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln unterbunden.

Stunde um Stunde setzten sie einander und uns unter Hochdruck. Es mag ja Menschen geben, die selbst den Tod nicht fürchten. Doch wer am Leben hing, wie wir, der verfolgte jede Nuance im Wechsel des hochpolitischen Ränkespiels, das zwischen Moskau und Washington Zug um Zug mit äußerstem Einsatz an Willenskraft und Intelligenz durchgezogen wurde.

Ein Fehlerchen hier oder ein Fehler da, und schon verbrannte die entfesselte Atomkraft die ganze Welt.

Seit Hiroshima stand fest, wer im Besitz von Massenvernichtungsmitteln ist, der ist auch bereit sie einzusetzen. 

Wird Chruschtschow nachgeben?  Oder wird er seiner Atlantikflotte befehlen die Bahamaroute gewaltsam offen zu halten?

Eins zieht das Andere hinter her: Eingekreist waren die alliierten Truppenteile in Westberlin, draußen nur durch ein paar hundert Meter Mauerwerk und Luftlinie voneinander getrennt, standen die zig hochgerüsteten Sowjetdivisionen. Sie waren allemal bereit Moskauer Befehle umzusetzen.

Vier Tage und Nächte lang zerrte die Ungewissheit an uns allen.

Nicht wenige DDR-Offiziere wurden nervös, das konnten viele nicht verbergen.

Aber Chruschtschows Militärstrategen errechneten sehr wahrscheinlich, dass sie die heraufkommende Auseinandersetzung nicht eindeutig für ihre Seite entscheiden konnten.

Der Kremlführer gab folglich nach.  Daran dachte ich an jenem frühen Morgen, während ich an diesem herrlichen Sommermorgen in der Ecke der blaugepolsterten Sitzbank auf dem blinkend neuen Fahrgastschiff saß.

Wir fuhren nun der gleißenden Sonne entgegen. Der Tollensesee hatte uns wieder. Das Fahrgastschiff nahm große Fahrt an. Das Seewasser rauschte nun kräftiger. Beide Göcks recht ermüdet sagten übereinstimmend: „Lasse dir Zeit, Gerd. Überlege es dir.”

Wenn ich mich an diesem frühen Morgen nach Hause begeben würde, werde ich an mindestens zwölf Schrifttafeln vorbeigehen, alle gefüllt mit den SED-Parolen die auf mich und jeden, nach dem Prinzip „steter Tropfen höhlt den Stein“ einwirken sollten. Constant dripping wears the stone.

 Die erste Botschaft würde mir bereits auf der Anschlagtafel am letzten Bootshafen begegnen. Ich würde sie nicht aufmerksam lesen, doch ich kannte den Text längst auswendig.

Dann rückte bereits am Haus der ‚Gesellschaft für Sport und Technik’ der zweite SED-Spruch, einigen Quadratmeter groß, in mein Blickfeld. Es war die Aufforderung, den Frieden wehrhafter zu machen.

In der Lessingstraße empfing mich dann die dritte Losung.

Zwei weitere würden meine Aufmerksamkeit schon wenige Schritte später beanspruchen. Sie hingen an der Frontseite der EOS (erweiterte Oberschule): „Ewige, unverbrüchliche Freundschaft mit der Sowjetunion” sowie die Behauptung, dass die Bonner Ultras auf Kriegskurs sind.

In meiner Aufzählung, die ich schweigend vornahm, kamen nun die beiden nächsten Schlagworte an den Gebäuden des Wehrkreiskommandos auf mich zu.

Da hieß es, dass der Weg zum Sozialismus gesetzmäßig sei.

Zwei weitere Plakate hingen seit einigen Wochen im Kinobereich: auf Rot geschrieben hieß es: „Die SED ist die höchste Form der gesellschaftlich-politischen Organisation der Arbeiterklasse, die führende Kraft der sozialistischen Gesellschaft. Die Partei gibt diesem Kampf Richtung und Ziel.”

Unentwegt fielen diese Sätze über uns her.

Niemand entkam diesem Einfluss. Wie die Luftfeuchtigkeit war der Parteigeist allgegenwärtig. Es war unentwegt die Machtfrage: Wer wen? Fortschritt durch Diktat!  Doch, wo bewirkten Zwang und Indoktrination jemals Gutes?

Als wir anlegten am Steg vor dem Badehaus und von Bord gehen wollten, umfasste Hermann Göck mit seiner Rechten meine Schulter. „Bleibe ruhig. Sage mir, wenn du soweit bist!” Seiner Überzeugung nach hing mir eine überholte Denkweise an, wie einem alten Galeerensträfling eine verrostete Kette. „Du musst dich befreien!”

Ihm war auch nicht annähernd klar, was er forderte. Allein seine Vorstellung, dass selbst vermeintliche Erkenntnisse fesselnde Funktionen haben sollen, verwunderte mich. Er war unfähig zu erkennen, wie viel mir die Freiheit des Denkens bedeutete.

 

Meine Familie: etwa 1964, im Hof des Gemeindeheims Neubrandenburg

Hartmut war Bischof in Berwick-Ward, Packenhamstake, Melbourne, an Mutters Hand. Matthias jetzt 2024 Ratgeber in der Tempel-präsidentschaft Freiberg.

 

Erika verstarb im November 2001

 

 

 

 

2004 heiratete ich Ingrid. Wir leben in der Nähe zu Hartmut und der Familie des Enkels Daniel Skibbe, der seine Mission in Brisbane erfüllte.

 

 

 

 

 

 

 

Vaters Tod  - Honolka

 

Im Januar 1965 wurde ich zum Distriktpräsidenten Mecklenburgs berufen, nachdem ich zuvor in vielen Organisationen der Kirche gedient hatte. Wir zählten damals nur dreihundert eingetragene Mitglieder, die über das sehr große Land im Norden der DDR verstreut, in sechs kleinen Zweigen wohnten.

Mein Vater, zu dieser Zeit Zweigpräsident in Wolgast. Er nahm sich im November dieses Jahres in einer Phase tiefer Depression das Leben. Wahrscheinlich waren das die Spätfolgen seines Kindheitstraumas und die Folge seiner für ihn unerträglichen Monate der Gefangenschaft

Psychiater hätten ihm helfen können, möglicherweise schon ein Medikament. Das lehnte er rigoros ab. Danach gab es nur noch mich. Ich wäre der einzige Mensch gewesen, der es hätte verhindern können. Keiner wusste so deutlich wie ich, dass es nur ein scheinbarer Widerspruch war, - eine fixe Idee - die ihn zu zerbrechen drohte.

Aber das wurde mir erst klar, nachdem das Unglück passiert war. Ich haderte mit Gott und mit mir. Soweit hätte es nicht kommen dürfen. Wäre ich doch häufiger nach Wolgast gefahren um ihn zu besuchen. Hätte ich doch länger Urlaub genommen. Hätte ich doch mehr mit ihm gesprochen. Denn ich verstand den Ansatz seiner niederdrückenden Gedanken. Mein Verständnis für ihn riss ihn zeitweise heraus aus dem Kreis seiner eher unbegründeten Selbstanklagen und Ängste. Es tat ihm sichtlich gut, statt in der Stube sitzend und liegend zu grübeln, mit mir spazieren zu gehen und über ihn zu reden. Meine Fehleinschätzung, er benötige mich nicht länger, hatte dieses vermeidbare Ende mitverschuldet.

Beladen mit dieser Last besuchte ich damals die Abendschule, um mich auf ein Fachschulstudium vorzubereiten.

Es war anstrengend, die Gedanken nicht immer wieder abschweifen zu lassen.

 

mir saß, im Herbst 1965, in einer Klasse der Volkshochschule, ein junger, langgewachsener Feldwebel. Er kam aus methodistischem Elternhaus. “Das muss aber keiner wissen!” sagte er. Mich wunderte seine Schamhaftigkeit. Mich ärgerte, dass der große, kluge und gutaussehende junge Mann den Kopf einzog, wenn das Gespräch sich diesem Punkt auch nur näherte. Da beschloss ich eines Tages, vor allen Anwesenden unserer Vorbereitungsklasse, bei nächst passender (oder nicht passender) Gelegenheit eine Diskussion zur Berechtigung des Glaubens an Gott auszulösen. Schneller als ich dachte, wurde aus dem Funken ein Feuer. Unser Physiklehrer sprang sofort auf meine provokatorisch gestellte Frage an, ob es heute etwa ein Verbrechen sei, seine Kinder religiös zu erziehen.

“Selbstverständlich ist das ein Verbrechen!”, erwiderte Hauptmann Honolka, der wie sein Banknachbar Oberstleutnant Leumann, in voller Pracht ihrer Uniformen zwei Reihen vor mir Ihre Plätze einnahmen. Er schaute sich um und schüttelte den Kopf.

Mit dieser Antwort die offensichtlich von allen Anwesenden geteilt wurde, hatten sie sich schon verstrickt. Andere Altgediente der Nationalen Volks-Armee, die in ihren Offiziersuniformen dasaßen, wandten sich zunächst in scharfer Form gegen meine Ansichten. Aber als ich sie daran erinnerte, dass Walter Ulbricht zum Meinungsstreit aufgefordert habe, und da sie vermutlich nicht traurig darüber waren, dass der Unterricht und damit die fällige Klassenarbeit verzögert wurde, ging es gleich zwei Stunden lang hoch und heiß her. Mein ursprüngliches Anliegen war, herauszufinden, ob ich meiner eigenen Logik trauen durfte und ob sie jeder Kritik nicht nur widersteht, sondern mir zu einem kleinen Sieg im nun aufkommenden Meinungsaustausch beschert. Und nebenher wünschte ich dem Methodisten zuzusichern, dass sein Glaube, zumindest sein Glaubensansatz, doch in Ordnung war. In Honolka fand ich meinen schärfsten Kontrahenten. Er zielte genauer als die meisten meiner Gegenspieler. Ich hielt dagegen und verteidigte zunächst nur die Richtigkeit der Morallehre Christi.

Aber an die habe sich die katholische Kirche nie gehalten. Das sei wahr, erwiderte ich.  Tatsächlich ging es dem Vatikan nur um den Erhalt eben der Macht, auf die Jesus verzichtete. Ich warb mit aller Kraft um Akzeptanz und sprach eindringlich von der allgemein vorherrschenden Leichtfertigkeit mit der gerade die „fortschrittlichsten“ Leute über bewährte Prinzipien wie Wahrhaftigkeit, Selbstbeherrschung und Güte, wie über ein Nichts hinwegschritten.

Dann kamen wir zum Thema Schöpfergott. Der martialisch auftretende Honolka pochte darauf, dass die Evolutionslehre schon längst keinen Spielraum für den Glauben an Gott mehr zulässt. Jede Verteidigung von Glaubenspositionen dieser Art sei chancenlos.

Unmittelbar vorher hatte ich aber das Buch des katholischen Evolutionsforscher Freiherr von Hüne “Phylogenie der niederen Tetrapoden” gelesen, der Indizien dafür fand, dass Evolution gesteuert verlief. Mein sonst in der Kirche inaktiver Bruder Helmut hatte mich dankenswerterweise darauf hingewiesen. Das Wissen um diese Zusammenhänge half mir, des Physiklehrers und Honolkas Hauptargumente abzuschmettern. Ich sagte nämlich: „Neues Deutschland“ warf gerade vorgestern die Frage auf, ob wir alleine im Weltall sind. Es gäbe Signale aus den Tiefen des Universums, die nahe legten, dass es andere Intelligenzen gibt.  Der Hauptmann drehte sich zu mir: „Na und?“

„Wer will beweisen, dass wir nicht ihre Ableger sind…? Natürlich ist das reine Spekulation, das will ich gar nicht bestreiten. Aber das Gegenteil ist ebenfalls nur Spekulation.“ Ich baute das aus: „Die Sowjetunion schickt seit Gagarin, 1961, Planeten ins All. Ist es abwegig zu glauben, dass Menschen eines Tages, vielleicht auf dem Mars siedeln könnten? Dann sind wir eine Art Gott, zumal die Möglichkeit besteht, dass wir Leben aus der Retorte zaubern können!“

Honolka war beeindruckt, besonders als ich begann von der Watson-Crick-Spirale zu reden, dass ihre Entdecker Watson und Crick, 1962 den Nobelpreis für ihre Arbeiten erhielt. Nun stand fest, dass die Theorien des Sowjetstars Lyssenko falsch waren.

Ich sprach über die Konsequenzen. Es sei unwahrscheinlich, dass alleine die blinde Natur das Erbgut festschreiben konnte, dass umgerechnet zehn Buchbände zu je eintausend Seiten benötigt würden um mit unseren Worten sozusagen eine Bauanleitung zur Herstellung eines menschlichen Embryos zu verfassen. Dozent Lasse nickte. Er wusste schon mehr davon, dass es Aminosäuren sind, die das Skript schreiben. Er gab zu, dass es durchaus fragwürdig ist ob die Natur, wenn auch in Jahrmilliarden ein Lexikon zustande bringen kann.

Nach und nach kamen wir zu mehr Ruhe.

Dann sagte ich: „Meine Kirche lehrt, dass viele Planeten bis in die entferntesten Galaxien bewohnt sind.”

Das sei meine persönliche Interpretation, fuhr Honolka erneut auf. “Nein!”

Ich konnte beweisen, dass es Teil unserer festgeschriebenen Religion war. K.P. Mose

“Wir glauben einfach, dass allem Sein ein Plan zugrunde liegt, und dessen Ziel ist der ewige Fortschritt.”

Auf diesem Umweg gelang es mir, ihren Blick darauf lenken, dass der Atheismus nur eine erst etwa einhundertjährige Modeerscheinung war. Das zeige sich auch in der Selbstverständlichkeit, mit der er vertreten werde. Das zeige sich in der Leichtigkeit mit der er geglaubt wird. Es kostet keinerlei Mühe, mit der Einstellung zu leben, dass es keinen Gott gibt. Aber jeder weiß, dass die Entwicklung nach vorn und nach oben Anstrengung und Kraft erfordert.

Mit dem letzten Satz stimmten meine 30 Mitschüler allesamt überein. Wir kamen einander immer näher, als sie sahen, dass wir gemeinsam glaubten, es sei richtig sich zum Guten anzustrengen und zu erwarten, dass solches Bemühen uns auf eine höhere Stufe auch der Freiheit führen wird. Ich konnte weitere positive Argumente ins Feld führen die sie nachdenklich stimmten.

Dieser rasche Wechsel aus Widerspruch und Übereinstimmungen bewirkte, dass uns die zwei Stunden wie Minuten vorkamen.

Physiklehrer Lasse fasste schließlich zusammen: “Genossen, ich habe nicht geglaubt, dass es eine so überzeugende Religion geben könnte. Ich kann nichts dagegen sagen. Oder seid Ihr anderer Meinung?

Es gab keinen Widerspruch!

Ich ging an diesem späten Novemberabend nachdenklich nach Hause.

Hatte ich zu viel behauptet?

Beruhigend kamen mir plötzlich die Worte aus dem Prolog des Johannesevangeliums in den Sinn: “Im Anfang war das Wort (Jesus, der Gesetzgeber per Wort), und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort. Dasselbe war im Anfang bei Gott. Alle Dinge sind durch ihn gemacht und ohne dasselbe ist nichts gemacht, was gemacht ist.” 1,1-3.

Die Sterne glitzerten.

Ich hob den Kopf, dachte an das unselige Ende meines Vaters und plötzlich empfand ich ein Gefühl großer Dankbarkeit, obwohl ich im Grunde immer noch tief traurig war. Ich spürte etwas Erhabenes und Tröstliches. Ich erhielt das sichere Gefühl, ich würde ihn wieder sehen. Ich war ihm immer verbunden gewesen, ich liebte die Lehren die er mir übermittelt hatte, denn sie machten mich frei und reich. Vielleicht hätte er über meine Argumentationsweise den Kopf geschüttelt, doch ich empfand wunderbaren Frieden.

 

Immer wieder in den folgenden Jahren und sogar Jahrzehnten sprachen mich ehemalige Klassenschüler an. Sie hätten nichts vergessen.

Es sei vor allem die Atmosphäre gewesen, die sie so nachhaltig beeindruckte: „da war etwas Besonderes!“

Ausgerechnet der Exkatholik Honolka, der nebenbei gesagt, mit seiner straff am Leib sitzenden Kleidung eine gute Figur abgab, setzte sich nach der Zeugnisausgabe, die wir in einer nahegelegenen Gaststätte ein wenig feierten, zum Gespräch neben mich. Er mit einem Bierglas in der Hand, ich mit meiner „Selters“. Hauptmann Honolka schlug mir mit der flachen Hand aufs Knie und lachte. “Was Du gesagt hast, war eigentlich verrückt. Einfach zu behaupten, dass Gott der Vater der Evolution ist! Das hat mir noch keiner gesagt. Damit könnte ich leben – und wie Du Das gesagt hast…” Sein noch junges, wen auch stark gefurchtes Gesicht blieb mir für immer in Erinnerung.

 

Fritz

 

Nur wenige Wochen später eröffnete mir Fritz Biederstaedt, fünfundzwanzig Jahre älter als ich und ein Erzfeind der Kommunisten, völlig unerwartet, er würde jetzt in die SED eintreten. Er habe sich für die letzten zwanzig Jahre seines Lebens noch viel vorgenommen. Strahlend optimistisch behauptete er, noch könne er sein Leben genießen. Er verband das Fantastische mit dem Gegenteil. Es sprudelte nur so heraus aus ihm. Rückhaltlos versicherte er mir, seine innere Einstellung habe sich nicht geändert. Nach wie vor dem hasse er den Kommunismus, das heißt er verachtet die SED, wegen ihrer Lügen, er mag den ganzen politischen Quatsch nicht. Aber noch an diesem Abend werde er sich von der Parteisekretärin Helene Göck umarmen lassen.

Sein unbedingter Wille war, bewusst das Falsche zu tun.

Er schimpfte an diesem Morgen, - während wir an den Rändern der Torflöcher mit kleinen Sicheln Rohr ernteten, - unentwegt auf Ulbricht den niemand leiden konnte.

Ich hielt ihm vor: “Fritz, wenn Du so denkst, dann kannst Du doch nicht in seine Partei eintreten!”

“Doch,” widersprach er und zwar auf Plattdeutsch: “Wenn Du wat warn wisst, denn mößt Du dat!” (Wenn du etwas werden willst musst du zu Kreuze kriechen“  eat humble pie 

Unglaublich verworfen war diese geknickte Kurve, die er mir als Kreis beschrieb. Ich fragte mich und ihn, was er, der Sechzigjährige denn noch werden möchte. Was konnte er mehr sein als ein Mann, der bei seiner Ehre und bei der Wahrheit blieb? Fritz fasste, in diesem Augenblick, sein scharfes Werkzeug fester. Seine hochschäftigen Lederstiefel patschten im schwarzen Sumpf. Er kam noch näher zu mir heran. Seine braunen Augen funkelten. Es war ein Ausdruck, als wollte er niedermähen, was seinen Aufstieg behindern könnte. Ich werde nie vergessen, wie wir uns inmitten dieser von uns selbst geschaffenen Wände aus zehntausenden Rohrhalmen gegenüberstanden und die unmöglichsten Gedanken gegeneinanderstellten. Nur der blaue Himmel war unser Zeuge. Dann sagte er plötzlich mit dem charmantesten Lächeln der Welt: “So dumm bist Du doch nicht, mich nicht zu verstehen!"

Mich schauten diese großen Augen wieder friedlich an. Sie vermittelten diese sonderbare Mischung von Wissen aus bitterer Lebenserfahrung, Spott und immer noch jungenhafter Unbekümmertheit, die ihm stets zu eigen gewesen war.

Wir sahen ihn beide nicht, den Todesengel, der schon lauernd hinter ihm stand. Wir ahnten gar nichts. 146 Lebenstage lagen noch vor ihm. Doch der kühne Mann, der übermütig seine eigene Einsicht niedergerungen hatte, hoffte noch etwas erlangen zu können, das seiner neuen Meinung nach, ohne Parteimitgliedschaft scheinbar in unerreichbarer Ferne liegen bleiben würde. Ich wusste, was er meinte, aber es war mir fremd. Auch an der Fischereiingenieurschule in Hubertushöhe, die ich dann einige Jahre lang besuchte, bestätigten mir später einige Mitstudenten, zumeist schon ältere Jahrgänge, sie wären der Partei beigetreten, weil man nichts erreichen kann, wenn man sich quer stellt.

 

Prager Frühling 68

 

Alle Herzen, auch die der Genossen, fühlten mit den Tschechen als während unserer Studienzeit der Prager Frühling kam. Alle freuten sich darüber, dass Alexander Dubcek die Grenzen nach Österreich durchlässiger machte. Begeistert verfolgten wir den Demokratisierungsprozess in der Tschechoslowakei. Die bedeutenden Literaten des Landes und Bürgerrechtler hatten mit Duldung der Regierung Dubček ein Manifest zur Konstituierung eines Gremiums verbreitet, das für die Respektierung der Menschenrechte in der CSSR eintrat. Diese Forderungen wurden Jahre später als Charta 77 bekannt.  Mit ungeteilter Zustimmung und Staunen verfolgten wir im Februar 1968 die Entwicklung zur Verwirklichung von mehr Bürgerrechten, sozusagen vor unserer Haustür. Dubček hatte unglaublicher Weise die Pressezensur aufgehoben! 

Unerwartet für nicht wenige wurde der Wunsch nach mehr Freiheiten, plötzlich auch in der DDR immer lauter. Hoffnung kam auf, auch wir dürften in den Westen reisen. War das nun ein akzeptables Sozialismus-Modell, da sich da vor unseren Augen und Ohren entpuppte? Kam nach dem endlos grauen Morgen endlich ein neuer Tag herauf? Würden auch wir wieder ungestraft sagen dürfen was wir meinten und wollten? Wer die Hoffnung schon aufgegeben hatte, erhob wieder den Kopf. Demgegenüber stellte sich den empörten Machthabern des Kremls die Frage: Was tun? Die aus ihrer Sicht einzig denkbare Antwort. lautete: Mit Gewalt einschreiten! Natürlich schraken nicht wenige linientreue Mitdenker vor den daraus resultierenden Fragen und Folgen zurück. Kann man es nach dem Panzerkrieg gegen Deutsche 1953, und gegen Ungarn, 1956, nur zwölf Jahre später, noch einmal wagen? Darf man, mitten in Europa, vor den scharfen Augen der Weltöffentlichkeit, erneut eine Armee gegen Friedliche schicken? Was werden die ohnehin kritischen Genossen dazu sagen?

Bis auf den heutigen Tag wissen wir nicht, wie wenige Kommunisten eine militärische Intervention wünschten. Ich glaube, dass nur die obersten  “Arbeiterführer” in den Hauptstädten Moskau, Berlin und Sofia pro-Moskau Extremisten waren. Ihr Militär wird ihnen allerdings gehorchen, so wie die Jesuiten ihrem General, auch wenn ihr Weiß, unleugbares Schwarz ist. Das, - den bedingungslosen Gehorsam, - hatten sie ihren Offizieren und Mannschaften in unendlich vielen Schulungen und mittels der guten Gehälter, beigebracht: nie Fragen zu stellen, wenn die Partei befiehlt.

Spät in der Nacht zum 21. August 1968 marschierten Soldaten Polens, Bulgariens und der Sowjetunion in das modernisierte Land ein. Ihnen wurde gesagt: „Es geht um den Weltfrieden. Der Kapitalismus will sich im Osten wieder durchsetzen. Das dulden wir nicht.“ Etwa eine halbe Million Soldaten wurden benötigt, um die unbewaffneten Demonstranten in die Knie zu zwingen.  Deshalb rollten sie wieder, die Panzer der Russen.

 

Vor und nach unserer Moskaureise 

 

Gegen Ende meiner Fachschulausbildung kam mir die Idee, Maränenbrut groß zu ziehen, so ähnlich wie wir Hechtbrütlinge in Plasterinnen vorzustrecken begannen. Es müsste möglich sein, bei niedriger Sterberate, sie wenigstens an Länge und Gewicht zu verdoppeln. Bei Forellen funktionierte das doch ebenfalls.

 Andernfalls würden mindestens 90 Prozent dieser Winzlinge den Hungertod erleiden. Im letzten Studienjahr betrachteten wir Neubrandenburger Binnenfischer dieses Vorhaben zwar gemeinsam, aber auch ziemlich kritisch.

Was verloren wir also, wenn uns gelingen sollte, die winzigen Maränen mit selbst gefangenen Zooplanktonten in den für die Hechtanzucht bereits genutzten Plasteaquarien anzufüttern und so viele wie möglich vor dem frühen Hungertod zu schützen? Denn genetisch besitzen sie allesamt dieselben Über-lebenschancen. 1971 versuchte ich das Experiment. Dreihunderttausend Stück frisch geschlüpfte Kleinmaränen setzten wir in sechs Rinnen mit jeweils etwa sechshundert Liter Wasservolumen ein.

Das Neubrandenburger Leitungswasser erfüllte glücklicherweise die erforderlichen Voraussetzungen, zumal wir es über eine kleine Kaskade von Brettchen laufen ließen, um es so mit Sauerstoff anzureichern. Die schnell und problemlos angefertigten großen Planktonnetze aus Müllergaze fingen Hüpferlinge in Massen. Ich verkannte allerdings einen entscheidenden Punkt, nämlich dass der Anteil der für uns interessanten Vorstufen der Kleinkrebse, - der Nauplien - die sich noch in ersten Häutungsstadien befinden, zu gering war. Es kam deshalb trotz großer Futtermengen zu einem Massenmaränensterben.

Allmorgendlich lagen mehr und mehr tote Fischchen auf den Böden unserer je vier Meter langen Rinnen. Erst der Biologe Dr. Manfred Taege, genannt Männe, ein Verehrer des legendären Che Guevara, Tiefseetaucher und persönlicher Freund des Bruders Fidel Castros, Buchautor und Mitarbeiter des Institutes für Binnenfischerei Berlin-Friedrichshagen fand heraus, dass wir kleineres Lebendfutter fangen und fortan sieben müssten. Ehe wir allerdings die Erfolge erzielen konnten, von denen ich in meiner Staatsexamensarbeit zu reden gewagt hatte, wäre ich doch noch um Haaresbreite aus der Genossenschaft ‚geflogen’.


Das kam so: Mit unseren Ehefrauen planten wir einen 5-Tageausflug nach Moskau. (Früher wurden Unsummen in alkoholischen Getränken angelegt. Jetzt floss das Geld des Kulturfonds in andere Richtungen. Gewisse Umstände oder Zufälle sollten einen großen Krach heraufbeschwören. Hermann Göck übernahm die Rolle des Reiseleiters und das mit einer seinerseits überspannten Erwartungshaltung. Zumal als Ehrenmitglied der PwF “Tollense” lag es nahe, ihm das Vergnügen zu gönnen, für ein paar Tage unser Herr und Meister zu sein, aber nicht mehr. Der geradlinige Altkommunist hielt allerdings die Zeit für gekommen, endlich den Rest von Vorbehalten unsererseits gegen seinen geliebten Arbeiter - und Bauern - Staat auszuräumen. Er hoffte und glaubte, wir würden Moskau mit seinen Augen sehen und anschließend wünschen, seiner Partei beizutreten. So stand Hermann Göck am Morgen des Tages unserer Abfahrt auf den breiten Stufen des “Hauses der Kultur und Bildung” und ermahnte uns, in der Weltmetropole des Kommunismus als würdige Vertreter der DDR aufzutreten. Wir landeten in Scheremetjewo 1 und das gegen Abend. Um zu unserem Hotel in Ostankino zu gelangen mussten wir mit einem Bus quer durch Moskau fahren. Natürlich hatten wir uns oft gefragt, wie die Menschen in der Sowjetunion lebten. Eigentlich glaubten wir, dass wir in Moskau ein Stück sozialistischer Zukunft erkennen würden. Moskau werden sie als Schaustück hergerichtet haben, als Modell der Zukunftsplanung, dachten wir. So wie den Moskauer Menschen jetzt, könnte es uns später einmal im vollkommen verwirklichten Kommunismus ergehen.

Wie in einem Spezialfilm erhielten wir während der späten Busfahrt Einblicke in eine Vielzahl Wohnungen, da sie sich, fast ausnahmslos ohne Gardinen erwiesen. Wir sahen die Winzigkeit der von sehr schlichten Lampen erhellten Stuben, die Armseligkeit der Ausstattung der Räume. Die ganze Atmosphäre, in die ich auf diese Weise hineintauchte, wirkte beklemmend. Ein Tisch, ein Wohnzimmerschrank, einer wie der andere gleich, vier Stühle, ein Fernsehgerät. Diese elenden Löcher in den Massenquartieren sollten der Gipfel der Errungenschaften sein? Aber was hatten wir denn erwartet?

Das jedenfalls nicht!

Ich konnte es nicht in passende Worte fassen. 

Doch andererseits: du hast es immer gewusst: Das Individuum tritt vor der Masse Menschen in den Hintergrund.

Der Einzelne ist den führenden Kommunisten gleichgültig. Mir war die Ungeheuerlichkeit solcher Anklage zwar bewusst, doch ich fand sie hier bestätigt. Hermann Witte, der neben mir saß, stieß mich unentwegt an.
„Süh di dat an!” ("Sie dir das an!") Seine Art und der Rhythmus, in dem er mir seinen Ellenbogen in die Seite rammte, hieß, „hesst du di dat so vörstellt?” ("Hast du dir das so vorgestellt?")

Epiphanien-Kathedrale zu Jelochowo – WikipediaTrotz vieler Negativberichte die ich mit der Zeit erhielt, hatte ich diese Primitivität in ihrer Gesamtheit denn doch nicht erwartet. Gemessen an der Formensprache durch die tempelartigen Hausriesen, die ich von Bildbänden her kannte, war die individuelle Wohnkultur kläglich. War, was ich sah, der ganze Ertrag von zwei Generationen Kampf und Arbeit und Tränen? Natürlich, dazwischen war der Krieg gewesen. Was dagegen gelang den „Kapitalisten“ in diesem Vierteljahrhundert aus den Ruinenstädten West-deutschlands zu machen?  Am folgenden Tag besuchten wir den Roten Platz und in den beiden Freizeitstunden gingen zwei Ehepaare mit Erika und mir in die naheliegende Kirche des Sergius von Radonesch, dann fuhren wir, per Taxi, zur Epiphanienkathedrale. Die niedrige schlicht in braun bemalte Decke des Hauptraumes beeindruckte uns. Alfred Voß unser Buchhalter und seine Frau die aktive, evangelische Christen waren, staunten mit uns, was dort Jahr 1922 durch Malkunst ausgedrückt wurde. Wir wussten es ja: im Ringsum dieser Kirche herrschte zu dieser Zeit Bürgerkrieg und Hunger.

Epiphanien-Kathedrale: Wikipedia

 

Es war die Geschichte von der Samariterin am Brunen. Zwölf Einzelbilder zeigten und erzählten was sich ereignete. Hingebungsvoll sagt uns der Maler, wie Jesus eine Frau anspricht, die fünf Männer gehabt hatte und die nun unverheiratet mit dem sechsten zusammenlebte, was Jesus wusste. Ihr Erstaunen: „wie kannst du als ein Jude mich eine Samariterin um Wasser bitten”, beschwichtigte er. All das fand hier seinen schönen Ausdruck. Das war zeitloser Realismus der uns sagte, wie tiefgläubig der Künstler war. Sowohl die Einfachheit wie die Ausdrucksstärke der Gesichter Christi, der Samariterin und anderer sagten uns sehr zu. Ehrfurcht erfüllte mich. Plötzlich laute, unangenehme Stimmen. Drei oder vier ältere schwarz gekleidete Nonnen beschimpften uns. Ich verstand nichts, aber Alfred Voß. Er hatte während seiner Jahre der Gefangenschaft in Russland immer wieder gewisse Flüche gelernt. Auf meine Nachfrage sagte er: „Sie hält uns für rein neugierige Gottlose. Wir sollen verschwinden.“

Draußen standen Mütter mit ihren in Decken gehüllten Kleinstkindern Schlange, teilweise geschützt durch einen Holzzaun. Sie brachten ihre Kleinen, die mindestens 40 Tage „alt“ sein sollten, zur Taufe. Taufe ist ein dehnbarer Begriff. Er stammt aus dem griechischen baptízein Untertauchen. Dreimal wird deshalb der winzige Erdenbürger durch einen Priester, in einer Taufwanne, ganz und gar untergetaucht.

Wir sahen wenige Autos die vermutlich privat gefahren wurden. Dafür gab es zahlreiche Taxis. Für wenige Kopeken konnte man von Ort zu Ort gebracht werden. Aber, das Bemerkenswerte war: dass alle zweihundert Meter ein Kilometer (Werst) Fahrstrecke angezeigt wurde. Billig war es dennoch.

 

Bereits am zweiten Tag unserer Anwesenheit erhielt Hermann Göck die auch ihm peinliche Information, dass wir am Mittwoch, statt Freitag, abzureisen hätten. Moskau richte gerade einen internationalen Ärztekongress aus. Es fehlten Hotelbetten und Verpflegungskapazitäten. Unglücklicherweise saß ich am Morgen des rücksichtslos vorverlegten Abreisetages neben einem Holländer, der mich angesprochen und in ein Gespräch verwickelt hatte. Ich verabschiedete mich von ihm. Er stutzte, stellte Nachfragen. Ich antwortete wahrheitsgemäß: „Wir haben nichts zu wollen. Uns ist nur mitgeteilt worden, dass wir vorzeitig heimfahren müssen.” Der Mann erwiderte: „Das gibt es nicht! Ihr habt doch einen Vertrag!” „Vertrag hin, Vertrag her. Was sollen wir machen?” Im unpassendsten Augenblick, als ein neuer mir nicht gerade gut gesonnener Kollege an uns vorbeiging äußerte der Niederländer: „Dann müsst ihr eben streiken! Niemand darf euch zwei Urlaubstage stehlen” Der Neue hatte schon immer gute Ohren gehabt und mir bereits früher vorgeworfen, ich hätte ihn schon oft beleidigt. Ich sah es. Meine Blicke verfolgten ihn.  Sofort ging mein neuer Mitfischer P. zu Hermann Göck. Seine Frau saß an Göcks Tisch und er hätte ohnehin zu ihm gehen müssen. Doch ich fand, dass er sich sehr beeilte. Ich sah, wie sie miteinander tuschelten. Meinem Eindruck nach redeten sie ziemlich intensiv über mich. Hermann Göck würde nicht nur erfahren, dass und wie ich mit einem westlichen Ausländer über einen Streik in der DDR gesprochen habe, sondern auch von anderen Übertretungen, die ich mitunter beging. Ich sah, wie sie nebeneinander hockend wiederholt zu mir herüberschielten. Mir schien, ich könnte Hermann Göcks Ärger sogar verstehen. Er war mit dermaßen großen Wünschen hierhergekommen und nun sah er seine Hoffnungen rapide schwinden. Er liebte dieses Land, diese Menschen und das System. Er glaubte nun, ich würde alles verachten. Aber ich missachtete weder Land noch Leute. Im Gegenteil. Ich mochte nur nicht, wie in diesem Land mit Menschen umgesprungen wurde, was die kommunistische Führung ihnen zum Leben übrigließ, was sie ihnen zumutete. Jeden Rubel den sie für ihre Militärmacht einsetzten ging zu Lasten des Wohlstandes der normalen Bürger dieses Riesenlandes.

Wie erst würde es im Hinterland aussehen? Wie lebten sie in den Dörfern Sibiriens?

Hermann Göck hatte gehofft, wir würden von seinem Moskau begeistert sein und so fühlte er sich nun verspottet. Ich spürte, dass Hermann den Zorn aus maßloser Enttäuschung kaum noch unterdrücken konnte. Doch er fraß den Ärger vorläufig in sich hinein. Er schwieg und grollte. Ich musste ihm ja bald, wenn wir erst wieder daheim angelangt waren, über den Weg laufen.
Wir besuchten jedoch noch Lenin. Das wurde uns als Trostpflaster zugestanden. Vorbei an riesigen Menschenschlangen von Menschen aller Couleur, die allesamt den einbalsamierten großen Revolutionär in seinem Mausoleum sehen wollten, wurden wir bevorzugt. Zig Tausende mussten wohl stundenlang warten, während wir an ihnen schnurstracks vorbeizogen.

Da lag er nun. Und ich starrte auf seine geballte Rechte.

Ich sah sie, wie er sie – in Dokumentarfilmen – reckte und seine Thesen verkündete, die das Land in noch tiefere Krisen stürzen sollte. Mich überkam Kälte. Ich sah Lenins Kommissare mit der Pistole und dem Strick agieren.
Hermann Göck dagegen zeigte sich ergriffen. Ahnst du nicht, was ich fühle und denke? Natürlich war ich stets bemüht zu differenzieren. Ich meinte, ich könnte mich in die damalige Situation ein wenig hineinversetzen. In diesem riesigen Land musste damals, 1917, nach dreijährigem, sinnlosem Blutvergießen, zugunsten der tatsächlich Unterdrückten etwas Entscheidendes geschehen. Eine Clique gnadenloser selbstherrlicher Gutsbesitzer, Zaristen und Pfaffen übte die absolute Vorherrschaft aus und forderte frech die Gerechtigkeit heraus. Unheiliger konnte eine Dreifaltigkeit kaum sein. Viel zu lange schon verlief die Grenze zur Unmenschlichkeit mitten durch das zaristische Russland. Das konnte so nicht ewig weitergehen. Große Änderungen waren zwingend erforderlich. Aber doch nicht so, wie du dir ausgedacht hast, Lenin.

Bis dahin empfand ich einen gewissen Grad Respekt vor diesem Giganten der Weltpolitik. Das war mit einem Schlag vorbei. Auch Stalins balsamierten Leichnam hätte ich gern gesehen. Aber einige Jahre nach Chruschtschows Geheimrede 1956 war der zum Verbrecher erklärte Tote an der Kremlmauer beigesetzt worden. Dort sahen wir nur die Grabstelle und die vielen frischen Blumen, die seine Verehrer, wie wir hörten, täglich erneuerten. Nur die Büste Stalins zu sehen, brachte mir nichts. Ich empfand weder Abscheu noch Kälte, als ich dann unmittelbar vor ihr stehen blieb. Er war mir in dieser Situation nur gleichgültig.

Da wir in Ostankino im Hotel wohnten, wo möglicherweise immer noch die bittersauren Weintrauben in unserem Zimmer liegen, die wir gekauft hatten, weil sie reif aussahen, durften wir hinauffahren zum Restaurant des gleichnamigen Fernsehturms. Wir bewunderten die ingenieurtechnische Leistung. Denn die Kuppel dreht sich einmal in der Stunde um die Achse und bot einen herrlichen Ausblick über die riesige Stadt und das sich weithin ausbreitende Grün. Auf der Busfahrt zum Flugplatz fragte mich Helene Göck was ich denke. Sollte ich ihr wirklich sagen, was mir Lenin so unsympathisch erscheinen ließ. Er kultivierte lediglich eine andere Variante der Willenseinschränkung. Aber Menschen sind ausnahmslos freiheits- und liebebedürftig. Doch Helene Göck gegenüber drückte ich meine Gedanken nicht so scharf formuliert aus. Hermann Witte dagegen ließ seinem Unmut auf der Rückreise freien Lauf. Er schimpfte und spottete darüber, dass sie sich herausgenommen hatten, Vertragsbruch zu begehen und uns, mir nichts dir nichts, abzuschieben und wegzujagen wie Geschmeiß. Hemmungslos beklagte Witte, dass es in einer Weltmetropole kein Bier gab, jedenfalls nicht für sein Geld, dass es dort für Rubel nichts Billiges zu kaufen gab, außer Brot und Salz und Kofferradios. Die Schuhe und diese Preise, die Möbel. Tausend Tische in einem Riesenladen, aber einer wie der andere. Hundert Wohnzimmerschränke, alle gleich, so gleich wie die Partei, die von ihr regierten und dirigierten Menschen machte. Hermann Witte war einer von der Art Leute, die, wenn sie zu lästern beginnen, nicht wieder aufhören können. Wie ein alberner Schulbengel reizte er mit dem scharfen Gegluckse seinen Lehrer. Vor allem während der Fahrt von Berlin zurück nach Neubrandenburg hörte man im D-Zugwagen seine durchdringende Stimme quäken und dröhnen: „Wenn dat de ganze Kommunismus is, denn führt ji nächstes Mol alleen, lot mi man an Land.” ("Wenn das der ganze Kommunismus ist, dann könnt ihr nächstes Mal ohne mich dahinfahren. Lasst mich an Land!")

Wenn es für angebracht hielt, nahm er kein Blatt vor den Mund. Einmal griff mich ein mit uns auf den See hinausfahrender Stasioffizier, an. Ein Mann der mich persönlich nicht kannte. Das hätte er unterlassen sollen. Zum ersten Mal in meinem Leben hörte ich Hermann hochdeutsch reden: „Skibbe attackierst du nicht! Der ist dir überlegen!“

Helene und Hermann Göck schwiegen und schämten sich wegen Wittes Spott.  Nachdem wir wieder daheim angelangt waren und unmittelbar bevor wir uns voneinander verabschiedeten, kündigte Hermann Göck für den kommenden Montagabend seinen Besuch in unserer Fischereibaracke an. Er wünsche mit allen Männern zu reden.

Das ist Hermann. mein langjähriger Kollege, Hermann Witte, Geburtsjahr 1915, gewesener Frontsoldat im Osten, der die anbefohlene Sprengung eines Gebäudes verweigerte, nachdem er als Stosstruppteilnehmer, bis in die Schlafräume russischer Soldaten eindringen konnte. Er hörte sie schnaufen und war unfähig seine Mitmenschen, die ihm nichts zuleide getan hatten, zu zerfetzen.

 

Nicht nur einmal teilte er mit mir das letzte Stück Brot, wenn wir nach einer Havarie nachts stecken blieben.

Er arbeitete fast dreißig Jahre lang im rechten Kahn, ich eben solange im linken.

Hermann hatte drei Jahre lang, als Lehrling im Mormonenhaushalt der Familie Paul Meyer, - Vater von Kurt - Cammin gelebt und wusste nahezu alles von unserer Religion.

Bei seinem Naturell wurde dieses Wissen zu einem nie versiegenden Quell seines Humors. Manchmal war es peinlich, manchmal trieb sein Leichtsinn ihn hart an die Grenze des Anständigen. Stilblüten aller Art in die Welt zu setzen, waren seine Selbstverständlichkeit.

Wo und wann immer ihm danach zumute war, mich zu verspotten tat er das auf unnachahmliche Weise. Um Sachlichkeit ging es ihm selten oder nie, immer nur um den Klamauk, ums Lachen der Anderen in das er mit listig blitzenden Augen und breitem Grinsen einstimmte.

Er selbst war zu schallendem Lachen unfähig und eigentlich sehr mitfühlend, kameradschaftlich und durch und durch ehrlich. Allerdings in Worten rigoros.



Der Montag kam und ich wünschte am Morgen, dass es schon Abend, und alles vorbei, wäre. Schließlich saßen wir beklommen da. Alle spürten die Gewitterluft. Er kam, begrüßte jeden, lächelte sogar ein bisschen. Das bleiche lange Gesicht mit der Thälmannfalte verhieß wirklich nichts Gutes. Reinhard Lüdtke, der neue Vorsitzende, eröffnete die Zusammenkunft.

Das Unbehagen war auch ihm anzumerken. Blond und beherrscht saß der dreißigjährige Vorsitzende da, hilflos. Wie wir, sah er voraus, dass gleich die Fetzen fliegen würden. Da war nichts abzuwenden. Er gab dem Gast, der kein Gast, sondern stets als gleichberechtigtes Mitglied behandelt sein wollte, sehr bald das Wort. Hermann Göck dankte. Zunächst grummelte es nur verhalten aus seiner erregten Seelentiefe hervor. Der alte Vorsitzende Bartel, seit Jahren Mitglied der Partei, senkte den Kopf. Auch er hatte seine Lektionen erst bei dem Ehrenfischer Göck lernen müssen. Der fragte nun Hermann Witte, ob es ihm selbst nicht peinlich gewesen sei, so furchtbar kindisch auf die Sowjetunion zu schimpfen und herumzulamentieren. Im Zug, vor fremden Ohren, die glauben müssten, er wäre in Moskau miserabel behandelt worden. Solche faustdicken Lügen! Unerhört. Ob er nicht hervorragend verpflegt worden sei. Hermann Witte saß den Buckel gewölbt, schuldbewusst und schweigend da. Den kräftigen Kopf mit den auffallend großen wasserblauen Augen nach vorn ausgestreckt, steckte er die Rüffel ohne Widerrede ein. Rot war er angelaufen. Natürlich leuchtete ihm längst ein, dass er überzogen hatte. „Kein Bäär, kein Bäär!”, (Kein Bier, keine Bier) versuchte Göck sich in Wittes unnachahmlichem Tonfall. „Mensch kein Bäär! Säufst doch auch sonst nich jeden Tag Bäär!” Betroffenheit breitete sich aus, erfasste auch die Unschuldigen. Unser Reiseleiter und Ehrenmitglied ließ nicht nach: „Da ist wohl noch viel Unkraut und mancherlei reaktionäres Zeug in den Köpfen einiger! ... Du, Hermann Witte, hast...” Von mangelndem Ehrgefühl und nicht dem geringsten Empfinden für Takt und Anstand war die lange Rede.
„Ich hätte mehr von dir gehalten!” Ob Hermann Witte klar war, dass die Schelte ihm nur in zweiter Linie galt? Ich wusste, Hermann Göck meinte mich. Sein weißes Gesicht bekam Farbe. Dass ich mit einem Westdeutschen oder einem Holländer offen DDR-feindlich geredet habe, hielt er sicherlich sowohl für erwiesen wie auch für die Spitze denkbarer Bosheit. Ich war der Hauptverderber dieser in mehrfacher Hinsicht misslungenen Reise.

Ich konnte nicht mehr abwarten. Was er mir sagen wollte, solle er denn auch direkt an mich richten. Sofort, als ich ihn so aufforderte doch unverblümt zu sagen, was ihn in Wahrheit bedrücke, brach es mit elementarer Gewalt aus ihm hervor. Krachend flog der Vulkankegel weg.

Hemmungslos schrie er mich an und spuckte minutenlang Feuer und Lava. „Beleidigung der Sowjetmenschen. Hast du überhaupt keinen blassen Schimmer, was diese Menschen gelitten haben... du... Streik... Rausschmeißen aus der Genossenschaft. Boykotthetze...Reiseverbot für ewige Zeiten.” Seine Liebe für Menschen, Land und vor allem zu seiner Partei trieb ihn in diesen Irrtum, aber auch seine bedingungslose Hingabe an die große Idee, die ich in Frage zu stellen wagte. Ich, der Erdenwurm, hatte mir erlaubt sein Heiligtum zu besudeln. All das war eins für ihn. So viele Jahre hatte er vergeblich um mich geworben.
Seine Bitterkeit schmeckte auch mir wie Galle. Er konnte und wollte nicht tolerieren, dass ich seine sozialistische Staatengemeinschaft nicht wertschätzte. Besseres als sie konnte es nicht geben, für ihn. Da war es wieder, was ich hasste, diese Unterstellung, wer seine Partei und die Sowjetunion nicht liebte, der sei ein Volksfeind. Er goss seinen Zorn in neue, stärkere Worte. Er beschuldigte mich weiterer Vergehen. Alles sehr laut und im Brustton grenzenloser Empörung. Was er nun sagte, ich achte die Sowjetfrauen nicht, war ihm ebenfalls geflüstert worden. Eindeutig! Nur einem bestimmten Mann aus meiner Nachbarschaft, hatte ich, einen Tag nach der vorzeitigen Rückkehr aus Moskau geschildert, wie ich, bei unserem Ausflug in die Leningedenkstätte Gorki, bei einem Schrankenstopp gesehen hatte, dass acht Frauen eine mächtige Eisenbahnschiene schleppten. Tapfer hielten sie das Hebezeug und sie gingen Schritt für Schritt über den Schotter. Ich konnte spüren wie diese Trägerinnen sich aufeinander absolut verlassen konnten, wie ruhig sie nämlich arbeiteten. Nur, rechts und links der Schwerlastträgerinnen befanden sich zwei Männer, die jeder mit einem Signalhorn bewaffnet seelenruhig mitanschauten, wie die Mütter und Ehefrauen sich abquälten. Genüsslich indessen bliesen die beiden Herren der Schöpfung den Zigarettenqualm in die blaue Luft. Diese Selbstverständlichkeit auf beiden Seiten hatte mich ziemlich schockiert. Jetzt hörte ich von Hermann Göck, ich wäre ein Feind der großartigen Idee von der Gleichberechtigung der Frauen. Mir wäre es ein Gräuel zu sehen, dass die Männer für die Sicherheit im Schienenverkehr sorgten. „Das sieht dir ähnlich!”, schimpfte er. Ich hätte auch kein Recht, mich über die Preise einfacher Schuhe aufzuhalten.
„Botten!”, sagte er höhnisch. Ich hätte sie ‚Botten’ genannt statt Schuhe. Das stimmte!

Aber woher wusste er das? Jetzt war ich gänzlich sicher. Nur S.H. gegenüber, unserem Nachbarn, der an sehr verantwortlicher Stelle im Rat des Kreises Neubrandenburg saß, war ich, am Tage der Heimkehr, so offen gewesen, sowohl die Schwerstarbeit durch Frauen, wie auch die ungeheuren Preise für so grobe ‚Botten’ zu beklagen. Dieser Opportunist S. H. hatte mich also bei Hermann Göck angezeigt. S.H. war nicht ehrlich. Als Staatsfunktionär durfte er keine Westpakete erhalten, auch nicht indirekt. Diese gingen, da er sie, wenn auch illegal, empfangen wollte, an die Adressen seiner Verwandtschaft auf dem Lande. (Über Kindermund war diese Tatsache an meine Kinder bereits seit Jahren ausgeplappert und an meine Ohren getragen worden: „Ätsch! Unsre Sarotti kriegen wir doch! Die holt Papa immer von unserer Oma ab!”) Diesem S. H., der nach außen hin so glatt und rot war, und so tat, als würde er von allen der Linientreueste sein, als habe er die Weisheit löffelweise gefressen, hatte ich mit diesen beiden Schilderungen lediglich eine gewisse Frage gestellt: Ob er nicht manchmal Mitleid empfände mit den in der SU lebenden Menschen, die sich in erster Linie für das ungeheure Rüstungsprogramm des roten Imperiums abschuften mussten. Hätte er mir daraufhin nicht eine sachliche Antwort geben können und mir ruhig erläutern können, wie er das sieht? Statt hinzurennen ans Telefon und wutentbrannt die Göcksche Nummer zu wählen?

Ich gebe zu, ganz unschuldig an dieser Verpetzung war ich nicht.

Als ich nämlich am Samstag nach der Rückkehr aus Moskau einem meiner Hausmitbewohner erzählte, dass ich S.H. mit gewissen Tatsachen konfrontiert und mit heiklen Fragen attackiert habe, lachte dieser und erzählte mir ebenfalls eine uns beide erheiternde Geschichte über S.H., der auch ihn schon einmal auf so arrogante Weise behandelt hatte. Während wir herausfordernd über ihn lachend im Vorgarten beieinanderstanden und hinaufschauten zu einem gewissen Fenster in der Nachbarschaft, erschien zufällig das Gesicht des Mannes im Fenster, auf dessen Kosten wir uns amüsierten. Wir beide wussten nämlich die Sache mit den Westpaketen, die S.H. klammheimlich empfing. S.H., obwohl er kein Wort gehört haben konnte, musste es erspürt haben, dass wir ihn auslachten. Daraufhin ist er hingegangen, um mich bei Hermann Göck anzuzeigen. Dass es so war, lag nun auf der Hand. Denn Hermann Göck erwähnte zu alledem, nämlich in seiner anhaltenden Schimpfkanonade, ich wäre ein verbohrter großer Esel, der nicht begreifen will, dass die gigantischen sowjetischen Rüstungsanstrengungen den Menschen dort nicht weh täten und dass niemand sie deshalb bemitleiden müsste. „Jawohl! Aber wer sozialismusfeindlich eingestellt ist, wird das nie verstehen können...”
Ich wollte ihm nun in die Parade springen, kam jedoch nicht zu Wort.
Mir schien, ich dürfte nichts auf mir sitzen lassen, dem auch nur der Geruch von Unrecht anhaftete. Er redete und redete. Er habe mir ein für alle Mal verständlich zu machen, was ich anscheinend nicht begreifen wollte: „Millionen haben im Befreiungskampf gegen den Faschismus ihr Leben verloren und du, du ...” Viele Worte prasselten weiterhin auf mich und uns herunter. „... endlose Opfer... verbrannte Erde...” Wie durch einen Lautsprecher dröhnte er und alle andern saßen wie versteinert da. Hermann Göck erklärte, ich sei unwürdig Genossenschaftler zu bleiben. Das war der Augenblick, an dem es für mich gefährlich wurde. Zwei, drei wirkungsvollen Sekunden lang stand seine Forderung wie ein Ausrufungszeichen im kleinen ‚Kulturraum’, mit immer noch demselben vollgestaubten Radio aus der Frühzeit der Genossenschaft. Mich packte ein ungeheures Gefühlsgemenge aus Wut und Mut, aus Angst und Stolz. Zehn Dezibel lauter als er, gab ich meine Gegenerklärung ab: „Ich bin maßlos enttäuscht, wenn das, was wir gesehen haben, das ganze Ergebnis von sechzig Jahren Kommunismus ist. Das will ich dir sagen, Hermann Göck, auch wenn du das anders hinstellen möchtest. Mich dauern all diese zahllosen durch willkürliche Eingriffe zerstörten Familien, es tut mir weh zu sehen, dass in Kriegs- und Friedenszeiten Abermillionen für ein fast Nichts an Verbesserungen ihr Leben hingegeben haben und jetzt für den Weltfrieden immer noch zuerst Panzer und Kanonen bauen müssen, müssen, müssen. Ich weiß auch um die guten Sachen im Sozialismus. Aber die decken nicht die Mängel und die Wunden zu. Ich kann die Menschen dort nicht beneiden.” Weil ich unnatürlich laut und viel redete war meine Wortwahl nicht gerade die Beste, feinste. In Wahrheit schrie ich, nur weil ich meine Bedenken zu überwinden hatte, ich käme zu spät zu Wort. Er setzte zu einer Erwiderung an. Es sei unerhört, dass ich nicht reuig in mich ginge.
Nun aber ließ ich ihn nicht zum Zuge kommen. Entschlossen mich zu behaupten riss es mich hin zu behaupten: „Deine niederträchtigen Informanten kenne ich!” Er stutzte. Ich nannte ihm beide Namen. „Dieser S. H. und dein P. hatten beide nicht den Mut, mit mir Auge in Auge ins Gericht zu gehen! Da haben sie dich vorgeschoben! Das ist Feigheit vor dem Feind.” Ich wiederholte dröhnend die beiden Namen und exakt das, was er nur von dem einen und was er von dem anderen vernommen haben konnte. Viel lieber als mich so meiner Haut zu wehren, wäre ich in ein Mauseloch gekrochen. Doch ich blieb fest, ich würde keinen Millimeter von dem, was ich geäußert hätte, abweichen. Meine Kollegen schauten mich betroffen an. Reinhardt Lüdtke rutschte auf dem harten Stuhl hin und her. Ihm fiel nichts ein, die Richtung der immer noch unberechenbaren Auseinandersetzung zu beeinflussen. Reiners Augen rollten, als wollte er mir bedeuten sofort den Mund zu halten. Mein Trotz würde alles nur verschlimmern.
Mir blieb aber keine Wahl.

Mir blieb nur übrig, mich mit Hilfe der Wahrheit zu verteidigen. Meine Tatsachen hatten ihre Wirkung auf meinen hocherregten alten Freundfeind nicht verfehlt. Sie verschafften sich Gehör und Raum. Ihn beeindruckte offensichtlich, dass ich immer noch zu dem stand, was ich gesagt hatte: „Der Sozialismus hat bessere Seiten als die von mir kritisierten.” Nun konnte ich ruhig hinzusetzen und erklären, was mein Intimfeind nicht richtig verstanden, aber dennoch an ihn weitergegeben hatte: „Von einem Streik, Hermann Göck, habe nicht ich, sondern der Holländer gesprochen. Ihr habt doch für fünf oder sieben Tage bezahlt, lasst euch das nicht gefallen. Das ist doch wohl ein Unterschied wie Tag und Nacht!“

„Aber das hättest du dem fremden Mann ja auch nicht auf die Nase binden müssen.”

„Darum geht es ja gar nicht!”, hielt ich dagegen, „ich bin genau so traurig wie du! Ich habe mich lediglich von meinem Tischnachbarn verabschiedet!“

Göck schaute mich nun aus großen Augen an, wie ich ihn. Seine, meinerseits befürchtete endgültige Erwiderung blieb erstaunlicherweise aus. Er wiederholte betroffen und mit auffallender Verwunderung den Namen S.H. Deshalb schwenkte er um. Er sagte plötzlich, aber wieder in normaler Lautstärke: „Ich werde S.H. fragen, warum er vor dir gekniffen hat.” Er kratzte ein Ohr. „Den kaufe ich mir!”, erwiderte er. Er werde ihm den Marsch blasen! – „Ich! … ” So heftig wie die Aussprache begonnen hatte, so jäh endete sie. Plötzlich war von seinem Antrag auf meinen Ausschluss aus der Genossenschaft keine Rede mehr. Die ungeheure Macht der Partei, die hinter ihm stand, bedrohte mich nicht mehr direkt. Dass S.H. ihn vorzuschicken gewagt hätte, nahm er ihm übel. Wort für Wort hatte ich in dieser Zusammenkunft unter zehn Zeugen offengelegt, was ich S.H. gesagt habe und wie hinterhältig er reagierte. Die Westpaketgeschichten gehörten hier nicht her und so vergalt ich es ihm nicht. Mir lag daran, die Situation weiter zu entspannen. Ziemlich behutsam äußerte ich deshalb, dass mir stets gewisse Bilder vor Augen stünden. Darum ginge es. Alles andere sei mir gleichgültig. In riesigen primitiven Arbeitslagern hätten unschuldig inhaftierte russische Menschen jahrzehntelang hausen und darben müssen. Fernab ihrer Familien mussten sie sich aus einem einzigen Grund zu Tode rackern. Nämlich um Workutas Straßen zu bauen. Alles wegen Stalins Größenwahn. Sogar in unserer DDR-Presse wurde der Wahnwitz, als „Personenkult“ bloßgestellt. Wortwörtlich konnte ich wieder und wieder aus seinem “Neuen Deutschland” zitieren. Ihm aber weitere Grobheiten ins Gesicht zu schmettern, nahm ich mir nicht heraus. Man muss ja nicht unentwegt im Klartext formulieren. Inmitten der Worte schwingen ohnehin die Töne des echten Gefühls. „Ja, der verfluchte Krieg!”, erwiderte Hermann, und ich war froh, dass er es so deutete. Als er schließlich davongegangen war, ebenso mattgekämpft wie ich, klopften mir Witte, Fritz Sack und andere Kollegen auf die Schulter. Dem hätte ich es aber gegeben. Das jedoch war nicht meine Absicht gewesen. Es ging um mehr. Äußerlich erschien ich wahrscheinlich gelassen, doch meine Knie zitterten und auch mein Gemüt bebte nach. Dass es Verleumder gibt, ist eine Tatsache, dass man mit ihnen leben muss, ist schwer. Mir wäre eine ruhige Auseinandersetzung auch lieber gewesen. Die Angst der Ungewissheit blieb eine Weile bei mir.
Mein Glück, dass Mitfischer P. an diesem Tag elend genug zumute war und sich in dieser Versammlung nicht sehen ließ.

Erst einige Wochen später sah ich Hermann Göck wieder. Mir schien, er ginge gebeugt. Langsam setzte er seine langen Beine. Er kam aus Richtung des Krankenhauses in der Külzstraße. Ich wich ihm nicht aus, sondern ging auf ihn zu. „Lenchen liegt im Koma!” teilte er mir mit und streckte mir die Rechte hin. Die innere Erschütterung stand ihm ins Gesicht geschrieben. Seine Frau war stets nur freundlich zu mir gewesen. Ich wusste, wie sehr beide aneinanderhingen. Unter den Blättern und hängenden Zweigen einer bereits herbstlich eingefärbten Birke stand er mit seinem weißen, sorgfältig gescheitelten Haar. Ein gebrochener Mann. Unerwartet muss ihn mit Härte die Erkenntnis getroffen haben, dass uns allen Grenzen gesetzt sind. Als alte Freunde, die ihren Streit längst vergessen hatten, redeten wir miteinander. Es war auch ihm, denke ich, angenehm, dass wir einander nichts nachtrugen, sondern damit leben konnten, dass unterschiedliche Menschen grundsätzlich andere Denkansätze hegten.

 

1973 - und die Ungarnreise 1974

 

Die Kirche hielt in Europa ihre 3.  Gebietsgeneralkonferenz in München ab. Nur wer aus der DDR durfte daran teilnehmen?

Fünf Männer im arbeitsfähigen Alter waren wir, Henry Burkhardt der Missions-präsident, Gottlieb Richter, sein 2. Ratgeber und drei Distriktpräsidenten, Lothar Ebisch, Walter Schiele und ich, - mehr Nichtrentner durften nicht nach München, in den kapitalistischen Westen reisen. Wir hörten beglückt Präsident H.B.Lee und den Tabernakelchor! Es war großartig. Es erinnerte mich an jene große Konferenz in Berlin 1938 mit Heber J. Grant. Da erklang damals eine jubelnde Fanfare von der Nachbarloge unserer Tribüne. Unten saßen die Missionarinnen auf dem Podium. An sie kann ich mich erinnern, weil einige von ihnen schluchzend weinten. Als Achtjähriger konnte ich damals noch nicht verstehen warum man bei einem freudigen Ereignis Tränen vergießen muss.

Um Haaresbreite wäre ich in München nicht dabei gewesen. Zehn Stunden vor der Abfahrt mit dem letztmöglichen Zug wusste ich noch nicht, ob die Regierung grünes Licht geben würde. Kurz vor Mitternacht ruderte ich vom schwarzen See zum nächsten Telefon in einer Gaststätte. So erfuhr ich gerade noch rechtzeitig, dass ich darf.

Unvergessen für immer, rührte uns die Ansprache von Gordon B. Hinkley: „Das Haupt das die Krone trägt ruht nicht bequem.“

Bei der Rückreise wurden wir kontrolliert. Die ostdeutsche Zöllnerin fand mein kleines Liederheft, schlug es auf und las den Titel „Mehr Heiligkeit gib mir”. Ihre Augen rollten. Sie blinzelte mich leicht spöttisch fragend an. Ich zuckte mit den Achseln und dachte in ihr angenehmes Gesicht hinein: nun ja, wir bemühen uns!

Sie fragte wortlos zurück: und worüber haben sie Sechs sich noch eben, kurz bevor ich eintrat, so köstlich amüsiert?

Wir hatten Spaß miteinander!”

Lothar Ebisch der in Sachsen eine Papierfabrik leitete, hatte einen politischen Witz erzählt…Das musste sie nicht wissen. Hätten wir erwidern sollen, wir freuen uns wieder in den Käfig zu kommen?

 

Besonders in den Tagen des Sommers 1974 als wir unseren Betriebsausflug ins Land der Magyaren unternahmen, erinnerte ich mich erneut der traurigen Vergangenheit dieses Landes. Das tragische Schicksal des damaligen Ministerpräsidenten Imre Nagy und die Bilder von seiner 1956, von russischen Panzern überrollten Hauptstadt Budapest bewegten uns immer noch, auch wenn die große Tragödie fast zwanzig Jahre zurücklag.  Diese fernen Ereignisse gehörten nicht nur für mich zum Schlimmsten was die Kommunisten jemals verbrochen hatten. Weit also lagen jene Ereignisse zurück und sie waren, wie es schien, bereits in Vergessenheit geraten.

Irgendwann, an diesem heißen Spätsommertag 1974, langten wir Touristen, nach durchschwitzter Hotelnacht, am Budapester Platz der Nationen an. Dort hielt uns unsere Dolmetscherin, - eine temperamentvolle, charmante und auffallend gut gekleidete Fünfzigerin, - in recht geschwindem Deutsch einen Kurzvortrag zu den zwölf deutsch-österreichisch-ungarischen Kaisern und Herrschern, deren Statuen dort aufgestellt worden waren. Ehrlich gesagt, sie hatte den Vortrag heruntergeleiert, wohl in der Annahme, dass es uns ohnehin nicht interessieren würde. Ich stellte eine Nachfrage, weil mich der Kaiser Matthias interessierte, hätte er doch die politische Weichenstellung, die dann bedauerlicherweise zum 30-jährigen Krieg führte, auch anders vornehmen können. Der ganze Jammer wäre vermeidbar gewesen. Wütend fuhr mich die Dame an, die sich selber als Dolly vorgestellt hatte: “Passen Sie nächstes Mal gefälligst auf! Ich habe ihnen die Frage längst beantwortet!” Sich auf den Hochhacken ihrer schicken Schuhe abdrehend, stürzte sie auf unseren himmelblauen Bus zu. Ich war schneller. Ihre Mimik warnte mich, sie anzureden. Ihr war ja anzusehen, was sie dachte. Es war unter ihrer Würde, einfachen Fischern, statt Hochschullehrern oder Künstlern zur Verfügung stehen zu müssen. Nicht der nichtvorhandene Geruch, der unserem Berufsstand anhaften sollte, sondern eher ihre Vorstellung davon war es, was sie möglicherweise als so unangenehm empfand. Glaubte sie im Ernst, dass sie mich durch ihre rigorose Unhöflichkeit abschrecken könnte?

Da fehlt aber der dreizehnte Nationalheld!” sagte ich. Sie stutzte. Ihr Atem stockte. Sie zog die Lider hoch. “Und der wäre?”Imre Nagy!” erwiderte ich.

Imre Nagy! Das war der damalige Regierungschef, aber ein allen Vorschriften zum Trotz „weicher“ Kommunist. Er gab seinem Land und seinen Geistesschaffenden mehr Freiheiten, als den Kremlherren lieb sein konnte. Die Männer um Chruschtschow wussten sehr wohl welch grobe Mittel sie verwenden müssten, um das imperfekte System zusammen zu halten. Um Gottes willen!”, stöhnte die Dame. Ihr Gesichtsausdruck änderte sich völlig. Sie griff haltsuchend nach meinem Ärmel, schaute sich um und sah mich angsterfüllt und zugleich mit einem schönen Aufleuchten ihrer grauen Augen erstaunt an. Zum Glück befand sich niemand in der Nähe, der das gehört haben konnte. Nagy der zweimal ungarischer Regierungschef war, wurde 1958 in Budapest von seinen ehemaligen Genossen wegen angeblichen Landesverrates erhängt. Seine letzten auf Tonband gesprochenen Worte lauteten: „Ich bitte nicht um Gnade!“

Die Redaktion!” flüsterte sie. Die Redaktion, das war ihre Umschreibung für Leute des ungarischen Staatssicherheitsdienstes oder solcher die ihm zuarbeiteten. Wenn das einer der „Redakteure“ gehört hätte! Ich wäre sofort festgenommen worden. Kaum war ich in den Bus eingestiegen und hatte neben Erika Platz genommen, kam sie zu uns. “Darf ich mich nach dem Befinden Ihrer Gattin erkundigen? Sitzen Sie bequem? Kann ich etwas für Sie tun?” In mir lachte es vergnügt. Im Traum wäre ihr nicht eingefallen, einen einfachen Fischer und seine Fischerin so zuvorkommend zu behandeln. Aber so unverhofft einem deutschen Gesinnungsgenossen zu begegnen, nun da doch alles längst Geschichte war, zu einer Zeit, da selbst den nachgeborenen Ungarn verboten war daran zurückzudenken, das hatte sie überwältigt.  Da kommt ein kleiner DDR-Bürger und erklärt seine Sympathie für ihren großen und geschmähten Helden.  Erika lachte leise und zufrieden.

Ich verzog, hoffe ich, keine Miene. “Vielen Dank, alles OK.” erwiderte ich und tat viel bescheidener, als ich in Wahrheit war, und nickte ihr zu. Innerlich jubelte ich: Na also, lagen wir doch dieselbe Wellenlänge.

In den folgenden Tagen überbot Dolly sich uns Gutes zu erweisen.

Am Programm des Abschiedsabends nahm ich allein und nur für eine Stunde teil, weil es Erika bei der unglaublich drückenden Hitze schlecht ging. Als unsere Dolmetscherin bemerkte, dass ich aufbrach, winkte sie ein Blumenmädchen heran, kaufte schneller als ich begreifen konnte einen Rosenstrauß und gab ihn mir mit besten Genesungswünschen für meine geliebte Ehefrau mit auf den Weg. Nein, wir hatten Imre Nagy nicht vergessen, auch nicht Alexander Dubcek, weder die Niederschlagung des Budapester noch die des Prager Aufstandes, nichts von alledem, was die Machthaber so gern vergessen machen möchten.

Für mich war es, im weit entfernten Hintergrund, der kleine bösartige Mann, der die “Königreiche erzittern machte und der das Haus seiner Gefangenen nie öffnete”, wie er im Jesaja Büch und dem Buch Mormon beschrieben wurde.  Er stand hinter diesem Modell und Schicksal, dass er allen Nationen zugedacht hatte. Jedenfalls gab es sie, diese schwarze Allmacht, die uns immer wieder bis in die Nachtträume hinein begleitete und verfolgte. Es gab weitere furchtbaren Pläne in den Schubladen der Moskauer Militärs, den Gegner auf seinem eigenen Territorium zu schlagen.

(Wie sich nach der Wende zeigen sollte, setzten die Russen auf den durch Westeuropa führenden Transit-LKW-Routen häufig Panzerfahrer ein, damit die sich schon, en passant, ein Bild vom künftigen Operationsgebiet verschaffen konnten.)

Jürgen

1974 kamen Wolfgang Sittig, Gunnar Tews und Jürgen zu uns. Der erste als Lehrling, der zweite als Diplomingenieur für Fangtechnik/Hochseefischerei, der dritte als Gehilfe, der sich in der Ausbildung zum Meister befand. Gunnar, 24-, und Jürgen, 30-Jährig, brachten großen Elan mit. Künftig mit den dreißig Quadratkilometern Wasserfläche experimentieren zu können, würde ihnen einen Riesenspaß bedeuten.
Aber es sollte alles ganz anders kommen.
Gunnar war bei einer früheren Operation mit Hepatitis B verseuchtem Blut infiziert worden. Jürgen dagegen trug einen anderen Keim mit sich, den wir natürlich nicht erkannten. Jürgen, knapp dreißig, größer als eins neunzig, mit einem Gesicht wie ein Senator, eindrucksvoll, schien von Beginn an fest von Charakter zu sein. Wir fanden bald, dass er entschlossen im Verfolgen seiner Ziele und der ihm gestellten Aufgaben war. Er wurde von uns als Fangleiter für die vielen rings um den Tollensesee liegenden kleineren Seen eingesetzt. Wir konnten nicht ahnen, dass er grausam sein konnte, und dass er überheblich war. Er geriet sehr schnell mit den ihm unterstellten älteren Kollegen in Konflikt. Er mochte insbesondere Horst Gruß nicht, der bereits kurz vor mir Mitglied der Genossenschaft wurde. 45-jährig strebte er danach ein eigenes Wohnhaus zu kaufen. Horst war durch und durch Praktiker mit Einfallsreichtum. Er könnte ein Sinti gewesen sein. Hort und Jürgen Beide ähnelten einander in ihrer Arbeitsweise. Sie konnten sehr geschickt mit Nadel und Messer umgehen und schneller als alle anderen Männer, die nicht unkomplizierten Fanggeräte herstellen.
Eines Tages beorderte Jürgen, Horst Gruß an eine bestimmte Stelle im Kastorfer See, der aufgrund seiner Geometrie eine besonders große Uferzone bot. Wir bewirtschafteten dieses Gewässer zum ersten Mal. Der Rat des Bezirkes hatte uns die etwa 80 ha Wasserfläche übertragen. Hier baust du die Kastenreuse ein”, wies Jürgen den zwanzig Jahre älteren Fachmann an. Horst tat, was ihm aufgetragen wurde. Jürgen arbeitete in ungefähr dreihundert Metern Entfernung mit Gruß um die Wette. Den großen Kerlen zuzusehen, wie sie mit den teilweise sechs und acht Meter langen Reusenpfählen umgingen, war ein Vergnügen.
Anderthalb Stunden dauerte das durchschnittlich für die Schnellen, wenn sie wollten. Beide wünschten es einander zu beweisen. Sobald sein Fangeschirr stand, kam Jürgen angerudert. Elegant mit über Kreuz gefassten Griffen an den Rudern, wuchtete er mit seinen langen Armen den kleinen grünen Plastekahn voran. Als er den jungen Mann ankommen sah, ahnte Gruß schon, er würde kritisiert werden. Jürgen verzog sein Gesicht. Er schüttelte den Kopf missbilligend. Die Reuse steht schief!” Gruß nahm die Zigarre, die er sich gerade angesteckt, ruhig aus dem Mund und blies den Rauch sehr langsam aus. Diese Frechheit riss seine Seele aus der Verankerung. Er war außer sich. Er hätte brüllen können. Seine Reuse stand exzellent da und exakt an dem ihm zugewiesenen Platz. Kein Fisch käme an ihr vorbei. Jürgen kommandierte. „Ausbauen?”, fragte Gruß ungläubig zurück.  Seine verwirrten, braunen Augen schauten genau hin um herauszufinden, wie viel Spott da im Spiel sein mochte.
Schon zweimal waren sie aneinandergeraten. Das erste Mal, als sie gemeinsam mit der Handelektrode und mit dem tragbaren Stromaggregat unterwegs gewesen waren, um Aale zu fangen. Da hatte Jürgen sich ebenfalls angemaßt, ihn ungerechtfertigt zu rügen. Er sei nicht schnell genug. Man müsse den eiligst aus dem Spannungsfeld fliehenden Aalen die Stange mit der Anode schneller hinterher stoßen, um sie zu lähmen und anzuziehen. Stets entkam ohnehin mindestens die Hälfte aller Fische dem Stromkreis, und zwar von denen, die nicht bereits vor den ihnen ja bekannten, nahenden Geräuschen die Flucht ergriffen hatten. Beim zweiten Mal ließ Gruß sich zu einem Fehler hinreißen. Er wagte es Jürgens Vater zu tadeln. Gewiss! Den Murks baust du wieder aus.”
Gruß zögerte eine Weile. Schließlich gehorchte er, wenn auch zähneknirschend, weil Jürgen ihn beim Vorsitzenden Lüdtke noch schwärzer malen könnte.
Er drehte und zog und wuchtete die mehr als einen Meter tief in den Seegrund gerammten Reusenpfähle wieder ans Tageslicht. Stück für Stück. Dreißigmal dieselbe Last und Plage, dieselben gestöhnten Flüche. Es ist allemal eine ungeliebte Arbeit Großreusen ausbauen zu müssen, weil sich damit keinerlei Fängerhoffnungen verbinden. Horst Gruß wusste, das war auch die Rache für den Streit, den er einige Zeit zuvor vom Zaune gebrochen, indem er den Genossenschaftsvorsitzenden wüst beschimpft hatte, weil der in sein Fangrevier eingefallen war. Jürgen stand an jenem Tage noch in voller Manneshöhe hinter seinem Vorgesetzten. Was Lüdtke geschehen war, das konnte ihm passieren. Dem wollte er vorbeugen. Hier sollten ein für alle Mal die Weichen und Signale gestellt werden. Definitiv wollte er die Macht- und Rangfrage entscheiden.
Dabei herrschte ringsherum tiefster Friede. Still wie ein Spiegel lag der schöne See. Aller Lärm der Straßen und Plätze rauschte fernab. Rings um sie herum breiteten sich die Bilder mit den weißstämmigen Birken, den Erlen, Eschen und den friedlich grünenden Büschen aus. Wer die beiden Männer so gesehen, hätte meinen müssen, gegen solche Harmonie könnten sich Vernunftbegabte nicht stemmen. Gruß, der sodann zum zweiten Mal das Geschirr in den See stellte, bemerkte, dass Jürgen ihn beobachtete. Noch einmal dürfte der ihn nicht kritisieren. Das Maß war voll. Getraute er es sich dennoch, dann spränge er dem Lulatsch an die Kehle. Dann wäre es eine offensichtliche Schikane. Die wird er nicht hinnehmen. Nach genau anderthalb Stunden kam Jürgen erneut angerudert. Mit denselben Bewegungen, mit eben demselben aufregend abweisenden Gesichtsausdruck. Na, Freundchen, mach’ dich nicht unglücklich.
Gruß glaubte zu ahnen, was sich im Innersten des jüngeren Mannes abspielte. Er spannte sich. Erkannte sein Brigadier nicht, dass er zurückschlagen wird?
Nein!
Der wollte seinen Kopf durchsetzen. Als Jürgen den erfahrenen Altgesellen Gruß abermals anmeckerte, stieß der seinen Arbeitskahn jäh vorwärts, um das in seine Nähe vorgerückte kleinere Boot mitsamt dem hochmütigen Menschen zu rammen. Jürgen wich diesem Angriff geschickt aus. Mit zwei kleinen, aber kräftigen Ruderzügen drehte er das Wassergefährt auf der Stelle.
Grußens Angriff stieß ins Leere. Damit war die endgültige Feindschaft zwischen ihnen erklärt. Für Horst Gruß hatte Jürgen sein Konto weit überzogen.
Gruß bekam Rückenwind, mit Ausnahme von Willi Krage und Reiner Lüdtke. Gruß war nicht irgendwer, sondern eine Persönlichkeit mit großem Kredit bei den anderen Kollegen. So bildeten sich innerhalb der Genossenschaft zwei Parteien. Wenig später stellte sich auch Dieter Giesa auf Jürgens Seite.
Hermann Göck rang die Hände hilflos, als er irgendwann bemerkte, wie die Dinge sich entwickelten. „Wie ist das möglich?”, klagte er. „In einer so kleinen Truppe, da muss doch Einigkeit herrschen.” Es herrschte die Unausgewogenheit, die mich selbst einbezog und demnächst vor unlösbare Probleme stellen sollte.  Nicht der kühle Verstand, die hitzigen Gefühle herrschten vor. Jeden Morgen, jeden Abend gab es fortan ohrenbetäubenden Krach. Nichtigkeiten wurden aufgebauscht, Worte wie Waffen benutzt. Jürgen hätte erkennen müssen, dass sich niemand jemals völlig unterwerfen lässt. Wer sich die Köpfe und Herzen nicht geneigt machen kann, der zerbricht eher die letzten Brücken als den Willen eines Menschen. Um das zu wissen war er noch zu jung und zu hart.
Die nächste größere Auseinandersetzung musste kommen. Sie kam sehr schnell. Es ging zunächst nur um eine Frage, die Gruß seinem Brigadier stellte. Der verstand sie falsch, glaubte, er wäre wieder einmal attackiert und gekränkt worden. Er fühlte sich herausgefordert. Vielleicht hatte Gruß die Frage ausgeklügelt. Jürgen sollte umgehend Auskunft geben über den aktuellen Stand der Aalplanerfüllung. Bekannt war, dass Brigadier Jürgen seine Zahlen nur ungern preisgab. „Albern“, fanden das selbst seine besten Freunde. Denn jeder konnte die Summen, wenn auch ein wenig aufwendig, zusammentragen. Ein Wort gab das andere. Gruß sagte, Jürgen könne wohl nicht bis drei zählen. Jäh in Wut geraten, griff der große, junge Mann unbeherrscht zu. Er zog Horst Gruß an seinem ohnehin langen Hals in die Höhe. Das war unerhört, und es war gefährlich. Wollte er ihm das Genick verrenken oder die Halswirbel auseinanderreißen? Empört berichteten mir Horst Gruß und der immer streitbare Werner Hansen, ein Choleriker ersten Grades, (dabei von voller Männergröße und mit Pfoten die schon mehr als einen ausgewachsenen Keiler aus dem Gebüsch zur Straße geschleppt hatten,) was vorgefallen war. Ich kam gerade aus dem Kühlhaus und war über siebzehn leger dastehende, mit Karpfen gefüllte, Fischkisten gestolpert.  Beide Männer empfingen mich mit hochroten Gesichtern.
Jürgen musste kurz zuvor diese zehn Zentner Karpfen auf die Leichtkühlfläche gestellt haben, statt sie tief zu frosten. Wer sonst? Das kann man für eine Nacht machen. Aber nicht drei Nächte und Tage hindurch. Denn es war ein Freitagnachmittag, an dem sich alles zusammen ereignete. Mir oblag es, das Kühlhaus zu kontrollieren, und da Reiner sich im Urlaub befand, musste ich handeln.
Hier ging es um Gedeih und Verderb von hochwertigen Nahrungsmitteln, für deren Behandlung es einen Katalog von Vorschriften gab.
Und es ging nun auch um Gedeih und Verderb der Genossenschaft.
Jürgen zog sich gerade an. Er streifte sein weißes Hemd über den Kopf, als ich ihn zur Rede stellte. Sofort gereizt erwiderte er, was ich mir erlaube, ihn vollzunölen. Er wüsste sehr wohl, wer mich vorschickte. Jetzt nütze ich die Gelegenheit aber aus, den amtierenden Vorsitzenden zu spielen, wozu ich ja sonst nicht käme. Alt genug und demzufolge hinlänglich einsichtig, hätte ich mich von ihm nicht provozieren lassen sollen. Seelenruhig hätte ich ihm sagen müssen, er möge, obwohl bereits umgekleidet, die Karpfen in den Tiefkühlteil stellen und betreffs des körperlichen Angriffs auf Horst Gruß bekäme er von mir einen schriftlichen Verweis. Aber mich juckte es, den arroganten jungen Mann anzufahren.
Denn knapp zwei Wochen vorher hatte er mich blamiert.
Was ein Hermann Witte sich erlauben durfte, mich meiner religiösen Grundeinstellung wegen, lächerlich zu machen, das nahm er, der fast zwei Jahrzehnte Jüngere, für sich nicht ungestraft in Anspruch.
Hermann Witte hatte den Zuschauern beim Fischfang in Strasburg, dem wahrscheinlich gesamten Kollektiv des Landambulatoriums, detailliert mitgeteilt, was ich für ein Sonderling sei. Er brachte die Lacher damit natürlich auf seine Seite. Nur Jürgen musste noch eins obendrauf setzen und erklären, „Sonderling” sei wohl nicht der rechte Ausdruck, ich sei ein frömmelnder Worteverdreher. Das traf mich, denn ich gab ihm kaum Anlass zu diesbezüglicher Kritik. Es klang nicht nur so, er meinte, ich lüge wie gedruckt. In der Öffentlichkeit wollte ich damals diesen Streit nicht austragen. Aber jetzt kam ich unklugerweise darauf zurück. Ich sprach nicht gerade ausnehmend höflich mit ihm. Da fiel er in seinem unbeherrschten Zorn lautstark über mich her, glaubte wir seien unter vier Ohren und er wäre der mir ohnehin Überlegene. Ungehemmt bezichtigte er mich der Unlauterkeit. Jürgen schrie mich aus der Turmhöhe an, ich könne ihm den Buckel kreuzweise herunterrutschen. Es musste ihn jemand, der Rang und Namen besaß, gegen mich aufgewiegelt und ihm den Rücken gestärkt haben. Es so zu formulieren war der Gipfel der Unverfrorenheit.  Überhaupt, was ging ihn mein religiös motiviertes Engagement an? Was hatte das mit den 500 kg Karpfen zu tun? Da betraten seine beiden Kontrahenten den Umkleideraum.
Aha!”, höhnte er, raffte seine Siebensachen und verschwand ins Wochenende.
Da wir die zehn Zentner Karpfen nicht verkommen lassen konnten, brachten wir die gefüllten Fischkisten in den Tieffrostraum. Mühsam beherrscht schrieb ich den Verweis.

Gruß kündigte. Satt vom Gezänk, erwog auch ich ernsthaft das Kapitel Binnenfischerei aus meinem Leben zu streichen. Da verunfallte Reinhardt Lüdtke, während er sich auf dem Weg zu einer Fischereifachtagung befand. Im Gegenverkehr raste er mit seinem Wartburgkombi unter den Anhänger eines W 50. Durch die Wucht des Aufpralls riss sein Auto des Anhängers Achse aus der Verankerung. Lüdtkes Fahrzeug wurde in diesem Vorgang die Kabine komplett weggeschnitten. Sie haben den Schwerverletzten, der wie ein zusammengestauchtes Bündel dalag, mühsam aus dem Pedalraum herausziehen müssen. Die Gesichtshaut war ihm vom Kinn an bis in Augenhöhe gerissen worden.
Wäre er angeschnallt gewesen, hätte Reiner den Unfall nicht überlebt.
Zufällig war ich nur wenige Stunden später an der Unglücksstelle vorbeigefahren. Verwundert bemerkte ich die Trümmer eines Anhängers und eines Autos, die verstreut im Straßengraben lagen. Ahnungslos, um wen es sich handelte, dachte ich: Das war ein tödlicher Unfall. Sofort, als ich davon erfuhr, beeilte ich mich, ihn im Krankenhaus in der Pfaffenstraße zu besuchen.
Als sie mich, am dritten Tag zu ihm ließen, sah ich nur die Kissen,
die weißen Binden und eine kleine Öffnung um den Mund herum und seine Augen.
Er sprach langsam, war jedoch klar bei Bewusstsein. Reiner sagte mir an jenem Tag etwas, das ihm wichtiger als alles andere zu sein schien. Er sprach zwar leise und langsam, doch mit gewissem Nachdruck. Es betraf erstaunlicherweise nicht das innerbetriebliche Klima. Es ging um seine Einstellung zur SED.
Er habe keine Wahl. Beitreten werde er der Partei wohl müssen: „Aber mache dir keine Gedanken!”, setzte er hinzu. Eingestiegen bin ich dennoch nicht. Sie haben es versucht.” Redete er von der Stasi? Ja, davon. Sie wollten, dass ich mit ihnen zusammenarbeite.” Er stockte: „Nein. Da waren sie bei mir an der falschen Adresse.”
Reiner atmete schwer. Leise setzte er hinzu: „Sei versichert, dass aus mir nie ein Kommunist wird!” Natürlich begriff ich, was er meinte.
Nachdem er noch mehr dazu gesagt, schwieg er und ich saß eine Weile ratlos. Immerhin galt für mich, er dürfte sich nicht aufregen. Im Begriff aufzubrechen gab er mir ein Zeichen. Er möchte mir noch etwas mitteilen.
Es dauerte, bis Reiner wieder reden konnte. Er zögerte auch. Natürlich, da war es wieder. Diese Beklemmung derer, die den Wunsch hegten, sich mir anzuvertrauen. Es gab Themen, die enorm vorsichtig behandelt werden mussten. Man konnte nie wissen, was sich aus einem einmal geäußerten Wort entwickelte. Jede, auch die kleinste Kritik am Regime konnte sich zu einem Ungeheuer auswachsen. Aber das Umgekehrte gab es ebenfalls. Lautstarke Attacken auf den Staat DDR verhallten manchmal auch folgenlos. Mochten solche Tatsachen von Zufällen abhängen oder Taktik sein, die furchteinflößende Ungewissheit spielte ihre Rolle in jedem Falle wirkungsvoll. Man konnte nie wissen...
Ich kannte einen Oberst, der wurde eingesperrt und musste danach lange einsitzen, nur weil er sich herausnahm, während der Tage des Prager Frühlings, Alexander Dubcek einen tapferen Mann zu nennen. Ein anderer teilte mir mit, welche Arbeit er im Kurierdienst zwischen kommunistischen Bundesbürgern und ‚der Firma’ (dem Staatssicherheitsdienst) leisten sollte, und dass er es strikt abgelehnt hätte, seinen guten Namen als Deck- und Briefkastenadresse herzugeben. Danach fiel er in Panik, weil er sich plötzlich fürchtete, mir gegenüber allzu offen gewesen zu sein. Kaum jemand war mit seiner SED-Mitgliedschaft glücklich. Viele, die im Verlaufe der Jahre der Partei beitraten, glaubten eine Möglichkeit zu sehen, sich durch diese Zugehörigkeit in verschiedene Prozesse einmischen zu können. Danach jedoch quälte sie das Gefühl, damit direkt oder indirekt einer Sache zu dienen, die nicht sauber war. Einige Genossen gaben unumwunden zu, dass sie immer wieder mit sich selbst im Hader lagen, ob und wie weit sie sich mit der SED einlassen durften und ob sie die Herrschaft eines Systems stärken durften, das wahrheitsgemäße Differenzierung wie die Pest mied, das nur die Farben Schwarz und Weiß kannte, und Weiß bedenkenlos für sich allein beanspruchte. Reiners Bedenken gingen ebenfalls in diese Richtung. Er hasse die Bespitzelung und erst recht diesen Geist der Unredlichkeit, in dem die Partei Berichte fälsche, um ihre Wirtschaftspläne wenigstens auf dem Papier zu erfüllen. Zu jedem schäbigen Trick würden sie greifen, um ihre Führungsrolle zu sichern und zu rechtfertigen. Reiner verurteilte die Privilegiensuche nicht weniger maßgeblicher Genossen und distanzierte sich von solchem Benehmen. Dann machte er eine vorsichtige Handbewegung und setzte hinzu: „Ich will versuchen sauber zu bleiben, aber ich komme nicht umhin Genosse zu werden. Ich wollte dir nur sagen, dass ich deshalb nicht blind bin.”

Wir und der §5, Landbauordnung

Trotz erzwungener Beteiligung an Fischveredlungsprojekten des Kooperationsverbandes “Qualitätsfisch der Mecklenburger Seenplatte” dem wir anzugehören hatten, war uns gelungen trotz Überweisung von sechshunderttausend Mark, bis 1975 weitere achthunderttausend Mark anzusparen.
Diese Summe hätte ausgereicht, um eine neue Spundwand rammen zu lassen, die wir dringend benötigten und dann endlich  ein mittleres Wirtschaftsgebäude hinzustellen, denn noch hausten wir in derselben uralten, kleinen Holzbracke, wo die immer größer ausfallenden Reusengeschirre angefertigt und repariert wurden. Geld floss nach der zweiten Agrarpreisreform reichlich. Nur wir konnten dafür nicht kaufen, was wir wünschten oder benötigten. Wir mussten unsere finanziellen Mittel in zwei Kategorien teilen. Es gab dem Grunde nach verfügbares und nicht verfügbares Eigenkapital.  Die zweite Agrarpreisreform war ein Trick. Zahlenjongleure sollten und wollten Wirtschaftswachstum vortäuschen. Das waren Anzeichen für das fortgesetzte Kriseln der DDR-Wirtschaft. Wir hätten zehn Millionen auf dem Betriebskonto haben können, solange sie nicht in den Bilanzen der zuständigen Kreis- oder Bezirksverwaltungen vorkamen, entsprach ihr effektiver Wert Null. Das war seitens der Obrigkeit gewollt. Sämtliche auf dem Akkumulationsfonds geparkten betrieblichen Finanzen konnten erst nach und durch einen vor dem Finanzministerium der DDR zu verteidigenden Gesamtplan zum Zahlungsmittel befördert werden. Statt wie früher für eine Tonne Kleine Maränen 1700,-Mark einzunehmen, erhielten wir nun über 9100,-Mark. Das war fast das Fünffache.
Anstelle von früher 3,50 Mark je Kilogramm Karpfen, bekamen wir 14,00 Mark und das unter Beibehaltung der Endverbraucherpreise (EVP).
Selbstverständlich konnte das nicht gut gehen. Niemand dreht an der Preisschraube willkürlich und zugleich ungestraft. Günter Mittags Finanzwissenschaftler, die gehofft hatten ihre Agrar- und Industriepreisreform sei die rettende Idee, forcierten damit lediglich die bereits angelaufene, sich verselbständigende, sozialistische Inflation. Wir erhielten jedenfalls, trotz unserer guten Finanzlage keine Baukapazitäten vom Rat des Bezirkes. Es gab zwar Versprechungen, weil wir so nicht weiterhausen konnten, aber eben keine Planziffer dafür. Der Dachdecker und Bauingenieur Jürgen Krüger gab mir, als wir wieder einmal gemeinsam zur Nacht fischten, den guten Rat: „Baut doch nach §5, Landbauordnung.” „Und das wäre?” „Ihr baut in Eigeninitiative!” Beim Rat des Bezirkes wurde unser Antrag positiv gewertet. Sie gaben uns grünes Licht. Die Ratsleute freuten sich über jede Eigeninitiative. Das war bekannt, einer der will, kann zehnmal mehr erreichen als der, den sie antreiben müssen.
Zunächst musste einem von uns der Hut aufgesetzt werden. Ich wollte ihn unbedingt haben und bekam ihn auch. Dann berieten wir im Vorstand, wie viel Aale ich zur Beschleunigung des Vorhabens, Bau einer Betriebsstätte, zur freien Verfügung hätte. Falls es partout nicht weiterginge, beabsichtigte ich mit Räucheraalen nachzuhelfen. Rigoros wollte ich das kuriose Geschäft betreiben, allerdings in keinem Falle anders als ausschließlich zugunsten des Betriebes. Ich wollte vom Sozialismus nicht betrogen werden, also betrog ich ihn auch nicht. „Hundert Kilo höchstens.“, sagte Reiner. Mir schien ich käme mit fünfzig hin.
Schließlich sollten es zweihundert werden. Das erste Problem bestand darin, dass ich niemanden fand, der umgehend die zum Zweck der Baugrunduntersuchung erforderlichen Bohrungen auf unserem Torfgelände ausführen würde. Wir vermuteten, wir stünden über ungefähr fünf Meter Torf.
Hier und da gab es Achselzucken. Kein der markanten Bauunternehmen wollte meiner Bitte nachkommen. Dann ging ich zu einer Firma in der Katharinenstraße. Wieder hing das Kinn des Zuständigen tief herunter. Das kannte ich schon. Sie seien auf viele Monate hin ausgebucht. Deshalb lamentierte ich nach Kräften: „Wir haben es satt in der Hütte am See zu sitzen und Wintertags zu frieren.” Die Antwort lautete: „Andere Leute frieren mitunter auch!” Mutig schoss ich hinterher: „Aber ich habe Räucheraale zu bieten!” Kopfrucken. „Wie bitte?”
„Na, ja, wir fangen welche, wenigstens die Grünen...” Der betreffende Brunnenbauchef schaute mich noch einmal an, und ich hielt dem argwöhnisch prüfenden Blick selbstverständlich stand. Kess lachte ich ihm ins runde Gesicht: „Für jeden Mann ein Kilo Räucheraale gratis.” „Moment mal!”, lautete die nicht unfreundliche Erwiderung. „Ich muss mal in den Kalender sehen... tja da haben wir... da hätten wir, ... sagen wir nächste Woche...” Sie kamen sofort, bohrten von Hand, primitiv wie vor hundert Jahren und stellten fest, dass wir sogar über sechs Meter Torf bauen mussten. Die Bohrkerne mussten analysiert werden. In einem Labor im Industrieviertel gab es unerwartet freie Kapazitäten, nachdem ich erklärte, Sonderwünsche nach Fisch könnte ich erfüllen. Ebenfalls kein Problem die fünfundvierzig Stück, zehn Meter langen Stahlbeton-Rammpfähle zu kaufen. Rammkapazitäten standen uns desgleichen zur Verfügung, wenn auch nicht sofort. Auch die Eisenbieger mussten nicht überredet werden, da wir zur Ausführung der Flechtarbeit die Genehmigung erhielten, Fachleute für die Feierabendtätigkeit zu werben und sie leistungsgemäß zu entlohnen. Aber dann stellte sich uns das erste größere Hindernis in den Weg. Beton erwies sich als Engpass. Denn wir benötigten 180 Kubikmeter in einem Ritt. Alle Lockungen mit Räucheraalen halfen nicht. In der ganzen Umgebung gab es keine Mischanlage, die uns außerplanmäßig den Beton für die Fundamentplatte liefern konnte. Der April des Jahres ‘78 verging, der Mai und der halbe Juni. Keine Aussicht. Hartmut Wißmann vom Tiefbaukombinat machte mir dann wieder Hoffnung, zugleich winkte er verächtlich ab. „Du mit deinen Räucheraalen!”, kritisierte er scharf. „Soll ich mir die 200 Kubikmeter aus den Rippen schneiden? Ende Juli eventuell.”
Wenn die neue, aus dem Westen kommende Mischanlage getestet würde, dann... vielleicht. Ich rechnete. Wir hassten es, daran zu denken, dass wir noch einen Winter in der Holzhütte zubringen sollten. Im Juli, das ginge noch. Wir könnten es schaffen, im Januar ins neue Gebäude zu ziehen. Im Juli erkrankte die Großmutter des Mannes, der die Westtechnik installieren sollte. Im August wurde desselben Mannes Nichte krank. Im September gab es noch ein Problem.
Mir leuchtete durchaus nicht ein, dass von der Gesundheit unbekannter Westnichten und Westomas unser Wohlergehen abhängen sollte. Hartmut Wißmann ärgerte sich ebenfalls. So sei das mit den Abhängigkeiten von BRD-Importen. „Hast du denn schon die Steine und die Fensterrahmen? Hast du die Dachbinder und die Klempner-, die Elektriker- und Fliesenlegergewerke sicher?”
„Ich habe Zusagen.”„Zusagen sind keine Steine. In Eggesin kann man gelegentlich Hohlbetonsteine erwerben.” Telefonate. „Ne, sie kommen in diesem Jahr zu spät. Wo denken sie hin? Steine sind Goldstaub!” Ich schluckte. „Aber sie haben mir doch gesagt...” „Gesagt, lieber Mann, gesagt habe ich gar nichts, nur mal nachgedacht, wie ich ihnen helfen könnte.” „Ich habe Räucheraale!”
„Mögen wir gar nicht. Aber wenn sie Zeit und Leute mitbringen, dann produzieren sie sich die Steine selbst.”
Mir stockte der Atem.
Dem Vorsitzenden sagte ich: „Reiner, wir müssen mit ein paar Mann nach Eggesin fahren und Steine machen.“ „Ihr habt Fische zu fangen, ... aber wenn’s denn durchaus sein muss...” Wir setzten uns zu viert in meinen kleinen Trabant Kombi und fuhren nach Eggesin, in fünfzig Kilometer Entfernung. Dort schütteten sie uns den Fertigbeton auf ein Freigelände hin. Von Hand schaufelten wir die Mischung in die Formen am Fuß der von uns gemieteten Rüttelmaschine. In jeweils ungefähr je fünf Minuten stellten wir vier Hohlblöcke her, die nur noch abbinden und trocknen mussten. Das Gerät schüttelte uns genauso zusammen wie das leblose Material. Noch im Schlaf spürten wir die Rüttelei.
Am letzten Tag, an dem wir die noch fehlenden dreihundert Stück fertigen wollten, ließ sich plötzlich mein Trabantgetriebe nicht mehr schalten. Immerzu, sooft ich es versuchte, es rastete der vierte Gang nicht ein.
Wieder Telefonate hin und her. Wir mussten uns beeilen. Schließlich mussten wir auch unseren Fangplan erfüllen. „Im Augenblick haben wir keine Ersatzteile!”
„Auch nicht für Räucheraale? Naja! Zwei, drei Kilogramm hätte ich übrig.“
„Tut mir leid.”,
erläuterte Werkstattmeister Roland. „Zwei Kilo kostet mich schon die Überredung im Hauptlager.“ Mit Ach und Krach gelangte ich bis zur Reparaturwerkstatt.
„Dann baut mir doch bitte auch gleich eine neue Auspuffanlage ein.”
Großes Stirnrunzeln. „Mein lieber Mann, wir haben zwar zehn Stück Vorschalldämpfer bekommen, aber nicht einen einzigen Hauptschalldämpfer...”
Am zweiten Oktober gossen sie endlich die Bodenplatte, am fünften legten die Maurer der bunt zusammengewürfelten Feierabendbrigade den ersten selbstgefertigten Hohlblock auf die als Sperrschicht dienende Dachpappe.
Für Feierlichkeiten und große Reden war an diesem späten Nachmittag des Baubeginns keine Zeit. Es dunkelte bereits. Noch konnte man die Zeichnung des Architekten Robert Brenndörfers lesen. Große Lampen hatten wir bereitgestellt. Doch die erhellten das Baugelände nur partiell taghell.
Den betriebsfremden Handlangern und Maurern sagten wir eine Prämie zu. „Wenn Ihr den Rohbau bis zum 20. hochgezogen habt, dann...” Löthe, wie sie ihn nannten, der Baubrigadier, maulte, „na, ja, bloß Geld...” Ich tröstete ihn. Es lag doch offen, was er wünschte. „Jeder bekommt zwei Kilogramm geräucherte Aale obendrauf.”
Da rief „Löthe” schallend: „Männer, rangeklotzt, es gibt was für Muttern!”
Am siebenten ging es mit voller Kraft weiter. Zum Glück war das ein Feiertag und wir hatten ganze zehn Stunden vor uns. Reiner, unser Vorsitzender wuchtete und schob von früh morgens bis spät abends das Baumaterial heran. Er lief, als wäre Steinekarren sein Hobby. So keimte wiederum die Hoffnung auf, dass wir es bis zum Frosteinbruch doch noch schaffen könnten. Inzwischen stand fest, dass wir die Dachbinder der geforderten Abmaße und Norm nirgendwo erwerben könnten. „Meines Wissens hat die Tischler-PGH ‚Vorwärts’ in Neubrandenburg Beziehungen zu einer der Herstellerfirmen in Anklam und Pasewalk. Die sind zumindest im Besitz der Nagelpläne.” Ohne weiteres erhielt ich in Anklam außer den Nagelplänen noch ein paar gute Ratschläge, doch niemand ließ sich von mir verleiten, die erforderliche Menge Latten und Bretter zu verkaufen, um daraus die Brettbinder herstellen zu lassen. Die Tischlergesellen waren bereit, eine Sonderschicht einzulegen, zumal ich unmissverständlich eine besondere Delikatesse in Aussicht stellte. Nur konnte ich durchaus keine Bretter bekommen.
Vorsitzender Emil Tilp zuckte mit den Achseln. Er möchte, könne uns aber nicht helfen: „Material musst du mir schon anliefern!” Sein Holzkontingent sei voll ausgelastet. „Geh zum Rat des Bezirkes, die vergeben mitunter noch freie Kapazitäten! Aber du musst dich durchsetzen.” Jürgen Meyer, den Leiter des Bereiches Binnenfischerei, suchte ich da zuerst auf. „Wärst du doch ein Jahr früher gekommen, ich hätte dir die dreißig Festmeter Holz besorgen können.”
„Mensch, Jürgen, ich brauche sie jetzt...”
„Tut mir leid. Geh mal zu Horst.”
Horst G., der an diesem Tag in der Abteilung Forstwirtschaft seinen Dienst versah, hörte mich zwar geduldig an, schüttelte jedoch hinterher missmutig den Lockenkopf. „Dat ihr Kerle auch immer auf die letzte Minute angekleckert kommt. Bin ick die Feuerwehr?” Leider war das bezirkliche Forstamt nicht so schnell wie die Feuerwehr, aber ich stand unter Druck wie ein erhitzter Dampfkessel über Flammen. In meiner Naivität hatte ich zu lange geglaubt, Binder problemlos einkaufen zu können. „Glaube macht selig, backen macht mehlig!” den Kinderreim hörte ich bis zum Verdruss. An jenem Nachmittag im Spätherbst ’78 verließ ich das weiße Gebäude am Friedrich-Engels-Ring mutlos. Weder wortreiche Überredung noch Betteln noch meine massiven Bestechungsversuche hatten mir den ersehnten Erfolg beschert. Da trollte ich mich nun niedergeschlagen davon, besaß zwar die Nagelpläne und die Zeichnung für das planmäßig mit Eternitplatten zu deckendes Dach, hatte sogar Räucherdelikatessen und konnte mit alledem nichts anfangen.
Ärgerlich rollte ich meine Papiere zusammen und fluchte, weil ich mit leeren Händen dastand. Vor Wut hätte ich explodieren können. In diesem Augenblick sah ich einen stattlichen, mit geflochtenen Achselstücken geschmückten Forstmann auf mich zukommen. Der kam mir gerade recht. Wie durch ein Zielfernrohr visierte ich ihn durch meine dreiviertelmeterlange Rolle meiner Pläne an. Als er bis auf zwei Meter herangekommen war, fuhr ich ihn an: „Euch Förster müsste man samt und sonders erschießen!” Er stutzte. Er musterte mich. „Genosse, was hast du denn für Probleme?” Und wie mitfühlend er das sagte! „Genosse!” Zum ersten Mal, wie mir schien, verstand mich einer und litt mit mir.
„Ich muss spätestens im November das Dach auf unser neues Wirtschafts- gebäude setzen. Wir haben nach § 5 gebaut. Niemand in deinem Haus gibt mir ein Holzkontingent. Uns wird der Winter dazwischenkommen.”
„Wo kommst du her?” Von Der Fischerei…so und so!“ Er nickte: „Komm mal mit!“ Mir war zumute, ich wäre in die Kindertage zurückversetzt worden und Mutter hebt mich hilfeschreienden Knirps liebevoll vom kalten, nassen Fußboden auf. Genosse Skibbe!... Wären alle Menschen der Welt so wie der da, mit seinen dicken Achselklappen... Ich las das Schild an seiner Tür. Nur wenige Sekunden telefonierte er, der Oberlandforstmeister Siegfried Schreib, mit irgendjemand. Dann stand es fest: „Also dreißig Festmeter Lärche oder Fichte! Die kriegst du! Für deinen Betrieb allemal.” Das war es, was die Besten unter den ‘Kommunisten’ wollten, Solidarität. „Wann bekomme ich das Holz?”
„Eingeschlagen ist es schon... muss nur noch gerückt werden.” Es läge da und da in den Tiefen der Neustrelitzer Forsten. „Du kannst die Stämme ab übermorgen abfahren   lassen!” Welch ein Wort und doch biss ich mir sofort auf die Zunge: „Wir fahren übermorgen nach Leningrad, Betriebsausflug.” Er schmunzelte, statt mich auszuschimpfen. Ich lachte innerlich, das war die Sorte Leute, die ich mochte. „Wird dir die Zeit knapp, was? Muss ja noch geschnitten werden und noch genagelt, nich?” Ich nickte ein bisschen hilflos, vielleicht tauschen sie. Er winkte ab. „Keine Experimente! Ich lasse dir die Stämme nach Zwiedorf ins Sägewerk schaffen!” Er setzte sich an einen anderen, mit Papieren übersäten Schreibtisch, schob den Aschenbecher beiseite, nahm einen Kalender zur Hand und schrieb etwas auf. „Hier hast du den Termin für den Schnitt.”
Mit Schrecken sah ich, das war die hohe Zeit für die Nachtfischerei auf Maränen.
Meine Reaktion fiel ihm auf. Er fragte nicht lange. Nur ein kurzer Blick.
„Ich sehe schon. Diesmal fahrt ihr in den Kaukasus. Hier hast du einen neuen Termin fürs Sägewerk.” Ich war gerührt: „Dafür gebe ich dir fünf Kilogramm Räucheraale!”
Er schüttelte den geröteten, breiten Kopf. „Deinen Aal will ich nicht. Es war mir eine Freude, dir helfen zu können.”
Bescheiden wehrte er ab: „Ach was“, auch weil ich ihn lobte und mich bedankte: „Sieh zu, dass du das Dach draufbekommst!”
Mitte Januar, einen Tag bevor der Winter richtig zuschlug, zogen wir in unseren durch Nachtspeicheröfen herrlich beheizten Neubau ein. Es gab im Sozialismus tatsächlich noch Freude.

Coregonus lavaretus oder nasus?


Unmittelbar nach der Moskaureise entwickelte sich aus der Idee, Kleine Maränen vorzustrecken, der Gedanke, eine neue Fischart einzubürgern.
Erika, meine Frau, äußerte ihre Bedenken. Vor allem wegen der Art, wie ich es tun wollte. Ich aber schwärmte von den Möglichkeiten, die sich uns böten.
„Du musst dir vorstellen, dass der Seeboden des Tollensesees, das Profundal, mit Zuckmückenlarven rot übersät ist. Wo immer der kleine Greifer einen Ausschnitt der Bodenoberfläche aus der Tiefe heraufbeförderte, zählte man zehnmal mehr Chironomiden als auf anderen vergleichbar großen Seen.” Das ganze Jahr hindurch ist somit der Tisch für die ‚Friedfische’ überreichlich gedeckt. Nur, es ist da unten zu kalt für die meisten Fischarten. Deshalb wird diese Kinderstube dieser nichtstechenden Mückenart kaum aufgesucht und ihre Bewohner werden deshalb nicht dezimiert.

 Deshalb staunt der bootsfahrende Beobachter und Naturfreund, wenn im Mai, der sonst überwiegend blaue See plötzlich schwarz aussieht, obwohl die Sonne scheint und die Himmelsfarben sich auf ihm spiegeln müssten. Abermilliarden vier, fünf millimeterlanger Larvenhüllen schwimmen auf der Wasserhaut und dazwischen bevölkern ebenso viele, ebenso lange schwarze Geschöpfe die riesige Fläche. Ehe sich die aus der Tiefe aufgestiegenen Insekten in die Lüfte erheben können, stehen sie mehrbeinig auf der Seeoberfläche und lassen sich vom Wind leicht dahintreiben. Ihre verhältnismäßig großen, sehr unterschiedlich gestalteten, gefiederten, büschelartigen Fühler dienen ihnen dabei als Segel.
Seeschwalben und Möwen stürzen sich zu Tausenden auf die soeben ins Tageslicht aufgestiegenen Zuckmückenmassen. Sie picken sie als Delikatesse auf oder vielleicht ist es nur Notnahrung, was sie da als winzige Häppchen aufnehmen. Sobald die Sonne etwas höher kommt, surrt es in den Lüften. Wie wehende Rauchfahnen stehen die Zuckmückenschwärme ab der elften Tagesstunde über den Wipfeln der ufernahen Bäume und halten Massenhochzeit. Im Fluge paaren sie sich und wenig später treibt sie der Wind und ihr Instinkt über die Seefläche hin, dann werfen sie ihre befruchteten Eier aus der Höhe ab. Ein neuer Kreislauf beginnt. Dreimal im Jahr vollendet sich dieser Kreis, aber nur einmal, im Frühling, in dieser Pracht und Fülle. Von allen in Europa vorkommenden Wildfischen ist nur die Große Maräne, die Bodenrenke, geeignet, da in die kalte Tiefe hinabzutauchen und die Larvenbestände abzuweiden. Zwei Typen gibt es unter den Maränen, erstens die im freien Wasser lebenden Kleinmaränen und zweitens die großen bodenständigen, Chironomiden-fressenden. Letztere wollte ich in den See einsetzen. Lüdtke unterstützte meine Idee Wo aber gäbe es die Brut dieser Spezies Edelmaränen? Und würden wir einen Weg finden, sie zu erwerben? Die Antwort kam aus unserem Nachbarbetrieb in Prenzlau. Am Madüsee, in der Nähe Gollnows, das jetzt Golienow heißt, gibt es eine leistungsfähige Fischbrutanstalt. Sie stünde unter der Leitung des Szczeciner Landesanglerverbandes. Herr Marczinski sei der Chef.
Aber haben die polnischen Kollegen auch Edelmaränen aufgelegt, das war die Frage und würden uns die Polen zu vertretbarem Preis Brütlinge verkaufen?
Kurt Reiniger sprach fließend polnisch und ich besaß außer der Lust aufs Abenteuer einen Trabant Kombi. Wir wollten einfach hinfahren und sehen, was sich machen lässt. Lediglich Geld benötigten wir noch. Mit Reiner Lüdtkes Einverständnis versuchte ich unseren Buchhalter Alfred Voß, Adi, zu überzeugen. Mit Adi konnte sich niemand erzürnen. Er war gerade Altersrentner geworden, aber noch im Dienst. Er schaute mich freundlich nachdenklich an. ‚Schwarze Kasse? ’ Er schmunzelte: „Wozu schwarze Kasse? Wenn die Sache ok ist, gibt es keine Probleme.” Nun ja, die Polen wünschten, wie wir aus Erfahrung wussten, Bargeld ohne Quittung und Belege. Ob ich auch dazu Reiners Genehmigung hätte. „Ich will ihn da nicht in diese Geschichte verwickeln.“ Irgendwie sei es doch eine Art von Spitzbüberei, was wir vorhatten, eine Nacht- und Nebelaktion. Eigentlich hätten wir erst Anträge stellen müssen, Zertifikate für den grenzüberschreitenden Tiertransport besorgen, lauter bürokratische Hürden nehmen müssen und dann vertagte sich unser Anliegen um Wochen. Doch in einigen Wochen gibt es keine Großmaränenbrütlinge mehr, sondern gerade jetzt, noch. Außerdem stünden die Plasterinnen seit der Beendigung der Aalbrutüberwinterung zur Verfügung. Besser sei, Reiner als Vorsitzender bliebe ‚außen vor’. Adi schmunzelte und dieses sonderbare, stets überlegen wirkende Spötteln aus seinen Augenwinkeln und aus seinen immer freundlichen Gesichtszügen heraus war harte Kritik für mich. Es besagte, was würdest du dazu sagen, wenn du der Vorsitzende wärst und würdest auf diese Weise überfahren? Muss er nicht schließlich alles wissen, was im eigenen Betrieb passiert? Er zog die Augenbrauen nur um ein Winziges in die Höhe. Das war seine Art zu kritisieren. Durch Mienenspiel, Stirnrunzeln dirigierte er uns. Ich konnte mir gut vorstellen, wie er es damals, als Frontsoldat auf Urlaubsfahrt in die Heimat einer gewissen, schönen Wienerin erklärt hatte, dass ein Mann wie er immer nein sagen wird, wenn sein Gewissen auf dieses Nein besteht.

Übrigens, als Buchhalter Adi Voß uns anderthalb Jahre später, im September ’73 verließ, überreichte er uns unter anderem einen alten Briefumschlag. Das war die in zwei Jahrzehnten gefüllte, nie angetastete, niemandem außer ihm bekannte ‚Kaffeekasse’, Geld von Kunden, die berechtigt waren, Kleineinkäufe vor Ort zu machen und die Pfennigbeträge nach oben aufrundeten. Der Inhalt war 312, 73 Mark. Nie gab es in seinen Bilanzen echte Differenzen. Ehrlichkeit ist bares Geld, pflegte er zu sagen, dabei zeigte er seine kräftigen Zähne. Das war seine tiefste Überzeugung: Ohne Ehrlichkeit geht die Welt zum Teufel.
Reiner nickte, als ich ihm beichtete, sofort Zustimmung: „Wie viel Schwarzgeld benötigst du?” „Schätzungsweise eintausendzweihundert!” Eine Stunde später hielt ich die zwölf Hunderter in meiner Hand. Gemessen an unseren Preisen hatte ich mir ausgerechnet und vorgenommen, dafür eine viertel Million Brütlinge zu bekommen und diese schwarz über die Grenze zu schmuggeln.
Reiner meinte, dass wir wahrscheinlich nur fast ausgebrütete Eier erhalten würden. Dieser Hinweis war wichtig. Wir mussten also Zugergläser aufstellen.

Versehen mit einigen großen Plastetüten fuhren wir am nächsten Tag nach Szczecin. Die Zeit drängte. Für den Nachmittag würde Herr Marczinski uns zur Verfügung stehen. Mehr wollten wir fernmündlich nicht vereinbaren. Denn wir waren es gewohnt, stets daran zu denken, dass Telefonate abgehört wurden. Wer weiß, zu welchen Schlüssen die Horcher gelangt wären, wenn sie zufällig unsere Absprache mitbekommen hätten. Szczecins Anglerpräsident Marczinski saß in seinem gelblich eingetönten Büro an seinem ebenfalls gelb schimmernden Schreibtisch unter einer präparierten riesigen Madümaräne, die auf einem gewaltigen Bücherschrank einen zentralen Platz einnahm. Acht Kilogramm oder mehr muss dieser Fisch einst gewogen haben. Kurt und ich waren sehr beeindruckt. Immer wieder gingen unsere Blicke dahin. Genauso große Fische, der Art Coregonus lavaretus, wünschten wir uns. Ich wunderte mich laut darüber, dass Madümaränen zu so stattlichen Exemplaren heranwachsen könnten. Marczinski nickte, während Kurt übersetzte. Zwei- dreimal erwähnte er, mich unterrichtend oder berichtigend: „Coregonus lavaretus nasus.” Nasus, nasus, dachte ich, das ist eine Spezies, die wir nicht haben wollen.
Marczinski wies mit dem Daumen nach oben, hinter sich: Ostseeschnäpel! Oje. „Keine Ostseeschnäpel, die benötigen zum Gedeihen Brackwasser.“
Ein Schwall anscheinend wohlmeinder Worte fiel in Polnisch über uns her. „Sie können sogar in Teichen, in Süßwasserteichen! mit Nasus wirtschaften!”
Ich glaubte ihm nicht. Kurt zuckte die Achseln. Da saßen wir nun, mit unserem DDR-Geld. Was tun? Ich konnte Marczinski aber auch nicht das Gegenteil beweisen. „Probieren wir es? Kurt?” Kurt, der Mann mit der großen Stupsnase nickte. Aus dem vielfach gekerbten Gesicht, das in hohem Maße der Ausdruck seines von vielen Nackenschlägen durchkreuzten Schicksals war, kam das schulterzuckende Einverständnis. Marczinski nahm ein Stück Papier zur Hand und rechnete schnell. „Dreihunderttausend Eier erhalten sie dafür. Schlupfreife!” Es sei höchste Zeit.

Hatte Reiner also Recht. Wir müssten denn sofort aufbrechen, um nach Golienow zu fahren. Da es noch März war, begann es früh zu dunkeln. Mir schien, die vierzig Kilometer würden nie enden. In einer dunklen Waldecke
angekommen, lauteten die Weisungen rechts fahren, rechts, na prawo, na prawo. Was ist, wenn ich viermal rechts herum fahre? Überall nur Bäume wie es schien. Mattes Scheinwerferlicht erhellte nur den Sandboden, indessen schimmerten die Gehölze an den Seiten umso dunkler, wie schwarze Wände. Plötzlich zeichneten sich neue schwarze Konturen gegen den sich öffnenden Nachthimmel ab. Kurt übersetzte: „Die Brutanstalt!” Jemand musste die winzige Hofbeleuchtung angeschaltet haben. Eine nicht große, leicht gebeugte Gestalt erschien. Ob die Person männlich oder weiblich war, ließ sich noch nicht sagen. Wir stiegen aus. Völlige Stille umfing uns. Der gebeugte Mensch schritt auf Herrn Marczinski zu. Ich erkannte, dass es ein alter Mann war, ein kleiner mit fester Hand und weicher Stimme. Als er bemerkte, dass ich außer „dobri vetschor“ nichts verstand und auf Kurts Dolmetscherdienste angewiesen war, wechselte der sympathische Alte in einwandfreies Deutsch. Er drückte sich sehr gewählt aus. Siebzig Maränenarten gäbe es auf der nördlichen Erdhalbkugel, vielleicht noch mehr, wer könne das noch auseinanderhalten? Vom Omul im Baikalsee bis zu der kurioserweise im Sommer laichenden Spezies in den Feldberger Tiefseen, der Coregonus albula baunti, reiche das Artenspektrum. Mein Problem bestand darin, dass ich auch ihm zunächst nur schwer glauben konnte. Sollte der Ostseeschnäpel das von uns begehrte Objekt sein? Dass dieser Wanderfisch, der schwach salziges Wasser bevorzugt, in Seen und Teichen ausgesprochen gut zu halten sei, bezweifelte ich. Allerdings hatten wir den Kauf bereits perfekt gemacht. Eine große dunkle Tür öffnete sich vor mir und das vertraute Wasserrauschen ließ sich vernehmen. Da plätscherte es aus den Zugergläsern. Je sieben Liter Wasser befanden sich in je einer dieser vielleicht siebzig überdimensionierte Kopf stehenden Seltersflaschen, die in mehreren Reihen in Gerüsten aufgestellt dastanden. Fortwährend wälzten sich in jeder der unentwegt überlaufenden Flaschen zehntausende bernsteinfarbener Maräneneier. Alle nur etwas größer als Stecknadelköpfe. Mit einer Pipette entnahm der alte Herr ein paar dieser vor dem Lampenschein goldschimmernden Coregoneneier. Er hielt sie mir dicht vors Gesicht. Deutlich sah ich die Zuckungen der Ungeborenen, dann die schwarzsilbernen Embryonenaugen, den Dottersack mit dem Fettauge, das dem Ei die Farbe gibt. Immerzu drehten und wanden sich die noch in ihren Umhüllungen gefangen gehaltenen Schnäpelchen. Mit dem Zählglas literte der alte Herr uns dreihunderttausend Maräneneier aus, und zwar ziemlich genau wie wir später bemerkten. Wir kannten nur das Zählverfahren für Brütlinge.
Sprudelndes Wasser füllten wir in die auf Reißfestigkeit geprüften fünfzig Liter fassenden Plastesäcke und entließen dahinein die je einhundertund-fünfzigtausend Eier. Obenauf, beim Vorgang des Schließens der Tüten, gaben sie uns einen Schuss reinen Sauerstoffs aus einer Pressluftflasche.
Dann machten wir uns schleunigst auf den Heimweg.
Die Stimmung war gut. In Szczecin wollten wir Herrn Marcinski absetzen.
Kurz bevor wir die Stadtgrenze erreichten ging es zwischen Kurt Reiniger und unserem Geschäftspartner plötzlich laut zu. Ich spitzte die Ohren. Was mochte der Streitpunkt sein? Mir schien, dass ich den Begriff Katyn wiederholt vernahm. Mich einzumischen wäre unhöflich gewesen. Teilnahmslos dazusitzen und nur Gas zu geben unmöglich. „Was ist los, Kurt?”

„Er wirft mir vor, ich wäre ein Überläufer gewesen! Kann doch nischt dafür!” Ich ahnte, um welchen Vorwurf es ging. Hatte ich ihn doch einmal auf einem Foto als jungen Mann in polnischer Uniform gesehen. Es lag alles weit zurück, über dreißig Jahre. Die Emotionen gingen auf beiden Seiten hoch. Für beide Männer schien der Sprung über eine fast vierzigjährige Epoche nur ein winziger Schritt zu sein. Sie erregten sich sehr. Kurt Reiniger war tatsächlich auf polnische Fahnen eingeschworen worden, 1939, und bald darauf, nach der großen polnischen Niederlage, von der Deutschen Wehrmacht auf Gestellungsbefehl eingezogen worden. Ein Schicksal, das er mit Tausenden Halbdeutschen teilte, die damals im Raum Bromberg gewohnt hatten. Dass sein Familienname Reiniger lautete, deutsch war, ließ Marczinski nicht gelten. Den Polen ginge es immer um die Ehre ihrer Nation! Das zu verstehen, sei Kurt Reiniger wohl nicht gegeben. Kurt war wirklich gekränkt. Immer hackten sie auf ihm herum. Wenn es nicht dies war, dann jenes, das ihnen an ihm missfiel. Den einen trank er zu viel, den andern zu wenig.
Es ging um Katyn! Und um Marczinski Bruder. Das ließ ich mir übersetzen. Wenn sie sich schon aus politischen Gründen zankten dann wollte ich auch wissen, warum. Der Bruder des Anglerpräsidenten habe zu jenen tausenden polnischen Offizieren gehört, die durch Stalins Heimtücke in sowjetische Gefangenschaft geraten waren. Eine Schande an sich. Sie hätten sich entschieden geweigert, ihre Pistolen und Ehrenabzeichen an sowjetische Schergen auszuliefern. Die Russen seien der Republik Polen 1939 zugunsten Hitlerdeutschlands brutal in den Rücken gefallen, auch weil diese „verfluchten Kommunisten“ Landräuber allergrößten Stiles wären. Finnland hätten sie beklaut, das ganze Baltikum sich einverleibt, Moldauer Gebiete, Ostpolen. Vor Verrätern wollten sich die Gefangenen in Katyn nicht demütigen. Schließlich seien sie ausnahmslos erschossen worden.

Ich hatte richtig gehört.

Marczinski verfluchte den russischen NKWD als faschistische Mörderbande. Hitler hätte mit den Sowjets, damals, als Kurt in die Deutsche Armee übergelaufen sei, gemeinsame Sache gemacht. Mich interessierte das Thema brennend. Im letzten Urlaub hatten wir mit Freunden das Verbrechen von Katyn sehr konträr diskutiert. Es ging ganz einfach um die geschichtliche Wahrheit, und die Frage, ob Hitlers Männer oder die Kommunisten die nichtaufständischen, wenn auch sturen polnischen Kriegsgefangenen massenweise erschossen hätten? Mich wunderte damals, Monate zurückliegend, auf Usedomer Strandsand mit Freunden diskutiert zu haben, dass es überhaupt Zweifel an der sowjetrussischen Täterschaft gab. Sogar mein Bruder Helmut war der Auffassung, dass es eher Hitler als den Russen zuzutrauen gewesen wäre, das Massaker anzurichten. Für uns war es ohnehin eine ungeheure Vorstellung, dass Menschen so miteinander umgehen können. Mit Fanatismus habe das nichts mehr zu tun, sagten wir damals, sondern nur mit den atavistischen Neigungen degenerierter Kerle, die von dem einen oder dem anderen System bewusst gefördert wurden. „Ich kann es Ihnen nachfühlen, Herr Marczinski.”, erklärte ich, wusste aber nicht, was Kurt übersetzte. Ziemlich böse äußerte Marczinski: „Rückfälle haben immer schlimme Folgen.“

Auf meine Nachfragen reagierte er leidenschaftlich. Diesen Angriff auf die Blüte der polnischen Nation werde Polen den Sowjets niemals verzeihen. Das werde niemals verjähren. Daran möge ich mich später erinnern.
„Sie wollten die polnische Intelligenz und damit die Seele der Nation ausrotten! Nicht mehr und nicht weniger. Die Sowjets fürchten immer noch ein starkes Polen, so wie sie es früher zu Zeiten des Zaren hassten.” Beide Seiten, die deutsche und die russische, hätten deshalb gemeinsame Sache gemacht um Polen von der Landkarte zu tilgen. Marczinskis Gefühle in allen Ehren. Warum war er wütend auf uns, warum auf mich? Ja, die Preußen! Gemeinsam haben die Preußen Polen mit den Österreichern und Russland 1772, 1793 und schließlich 1795 in Stücke gefetzt.  Es loderte wie das Feuer eines Hochofens: „Sehen Sie sich an, was die mit uns anstellten: Ausrottung, Löschung jeder polnischen Existenz.” Marczinski erklärte mir die Landkarte Polens, während der von ihm erwähnten Teilungsjahre: Zuerst nahmen die Preußen den Polen den Bromberger Raum bis Danzig weg, die Österreicher kamen bis vor die Tore Krakaus, das zaristische Russland nahm Wittebsk. Ein Jahr darauf einverleibte Russland sich Minsk und Pinsk, die Preußen Posen und Thorn. Und schließlich verschwand das Land Polen 1795. Der Funke sprang zu mir über. Das Viertel Teil Slavenblut in mir erhitzte sich. Ich erinnerte mich in verschiedenen Napoleonbiographien gelesen zu haben, dass auch der große Bonaparte die Polen zwar als Elitesoldaten in all seinen Feldzügen an den schwierigsten Kampfabschnitten einsetzte und dass er sie stets mit neuen Versprechen zu höchsten Mutleistungen zu motivieren vermochte, doch dass er wahrscheinlich niemals ernsthaft daran gedacht hatte, Polen mit jener Souveränität auszustatten, welche die hochherzigen Söhne des jahrhundertelang immer wieder in Abhängigkeiten gestürzten Landes so heiß begehrten. In dieser Märznacht 1972 fragte ich mich erneut, ob dem Kreml jemals die echte Integration, der so genannten Volksrepublik Polen, in ihren Herrschaftsbereich gelingen könnte. So viel unverhüllt ausgedrückten Unmut und Widerstand, wie ich ihn von Seiten Herrn Marczinskis gegen den Sozialismus spürte, hatte ich bisher nur selten erlebt. Kurt übersetzte, während wir den Stadtrand Stettins erreicht hatten, fleißig, und wie ich annehmen durfte, auch einigermaßen präzise. Herr Marczinski ließ mir sagen, wir wären angelangt. Ich stoppte und schaltete den Motor ab. Er drückte mir die Hand und sagte zum Abschied: Wie er dächten und empfänden alle Polen: „Wir werden frei sein oder tot!”, und dann erklärte er etwas, das Kurt mir lachend mitteilte: „Noch ist Polen nicht verloren.” Herr Marczinski sang es und Kurt stimmte ein. Unser Partner stieg nun an dieser unbelebten, recht trostlos erscheinenden Straßenecke aus. Er winkte, wir winkten zurück und fuhren langsam davon. Mich beschlich, als wir ihn zurückließen, wiederum das ungute Gefühl, dass wir schlechten Zeiten entgegen gingen. Jeden Tag, jeden Abend überschütteten uns die östlichen wie die westlichen Sender direkt oder indirekt mit Verdächtigungen, die andere Seite plane den großen Krieg. Manchmal schien es uns, es gäbe gar keine anderen Themen mehr. Schließlich war die Gefahr, dass der so verheerend in Vietnam tobende Krieg, aus denselben Gründen, auch in andere Erdteile getragen werden könnte, sehr real. Noch lagen der Süden Afrikas, Angola, und der November des Jahres 1975 scheinbar in weiter Ferne. Sechzehn lange Jahre hindurch sollten dort jedoch die sowjetisch-kubanischen Interessen und die südafrikanischen Absichten tödlich kollidieren. Millionen Afrikaner sollten Flüchtlinge werden, hunderttausende Unschuldige würden den vollen Preis zu entrichten haben für die Leidenschaft der Großmannssucht beider Seiten. Der Ausbruch größerer
Feindseligkeiten musste auch im süd- und mittelamerikanischen Raum erwartet werden. Dies alles wegen des allgemeinen Konfliktes zwischen Ost und West. Hatte Beier-Red oder einer seiner Genossen es nicht per Zeichnung prophezeit?

Auf diesem Globus kann nur eins der beiden Systeme überleben. Noch waren auch die Tage fern, in denen die DDR-Presse ausführlich über die blutigen Grenzgefechte zwischen den sozialistischen Bruderarmeen Nordvietnams und der Volksrepublik China berichten würde. Noch ahnten wir nicht, dass die Pekinger Kommunisten beweisen würden, dass es ihnen ernst war mit ihrer Betrachtungsweise, Atombomben wären ja bloß Papiertiger. Wie wenig ihnen das Einzelwesen bedeutete, zeigten sie nicht nur während ihrer Kulturrevolution, in der es sogar bei Strafe der Verbannung verboten war, Schach zu spielen oder eine westliche Sprache zu erlernen, oder sogar gebildet zu sein. Die Minenfelder ihres südlichen Feindes ließen sie auf ihre höchsteigene Art und Weise räumen. Sie befahlen ihren Soldaten anzutreten. Schulter an Schulter laufend opferten die Söhne chinesischer Mütter ihre Gliedmaßen und ihr Leben. So schonte Mao die teure Technik. Die Stasioffiziere Kindler, Zachow, Zander, Plauschinat und andere, die als Hobbyfischer in unserer Baracke am Oberbach aus- und eingingen, waren verlegen, wenn ich sie fragte, wer begreifen kann, was die chinesischen Marxisten trieben: „Niemand kann verstehen, dass ein kommunistisches Land ein kleineres, ebenfalls kommunistische Land weg ein paar Quadratkilometer Erde mit Krieg überzieht.“  Müde und in Gedanken versunken, die nur wenig mit unserem Vorsatz der Einfuhr einer neuen Fischart in den Tollensesee zu tun hatten, näherten wir uns der Grenze. Obwohl mir bewusst war, dass selbst millionenfache Friedenswünsche gar nichts am großen Geschichtsverlauf ändern können, stand mir deutlich vor Augen, dass wir andererseits jedoch selbst entscheiden, ob wir innerlich frei und sicher mit mühsam gesuchten eigenen Einsichten bleiben, oder ob wir uns verlocken lassen den Weg des geringsten Widerstandes in die Verstrickung zu wählen.

Außer durch die Zollbeamten, die möglicherweise doch einen Blick in unser Auto werfen würden und dann nach den nicht vorhandenen Zertifikaten fragen könnten, stand für uns und das Wohlergehen der Coregonen nicht viel zu befürchten. Natürlich war es verboten, was wir taten. Falls sie unbequeme Fragen stellen sollten, wollten wir den polnischen und den deutschen Zöllnern weismachen, es handele sich unserer Auffassung nach nicht um Tiere sondern um Laichprodukte und das Wasser aus der polnischen Brutanstalt mische sich in der Ostsee ja sowieso mit dem deutschen, noch innerhalb der Grenzen. Ganz schön frech war unser Plan, der darauf baute, dass die gerade von beiden Regierungen beschlossenen Freizügigkeiten im Grenzverkehr auch funktionierten. Daheim würde dank Reiner Lüdtkes Hinweis alles vorbereitet sein. Beide komplikationslos ans Stadtleitungsnetz angeschlossenen Zugergläser konnten und sollten unsere ungefähr 300 000 Eier aufnehmen. Zudem hatten wir unsere Gläser in zwei der knietiefen Plasterinnen gestellt. Es war wohl um Mitternacht, als wir am Zollkontrollpunkt ankamen. „Was wünschen Sie auszuführen?”, fragte der polnische Offizier in Deutsch. Er leuchtete mit seiner Taschenlampe nach hinten und betrachtete die auf dem Hintersitz meines Trabant-Kombi und auf der Hutablage liegenden und anscheinend vom harten Stopp noch erheblich nachbebenden Fünfzigliterplastesäcke. Beide waren bedeckt von zwei dünnen Wolldecken um die Temperatur konstant zu halten. „Jaikas!”, sagte Kurt. „Jaikas!” wiederholte der Zöllner und in seiner Stimme schwang das Schüttern mühsam zurückgehaltenen Gelächters. Er dachte wohl an zerdepperte Eierschalen. „Eier! Na, denn winsche ich guutte Fahrt!” Im Rückspiegel sah ich, wie er sich amüsierte. Die Vorstellung von Rühreiern muss ihn schier überwältig haben. Jungs, so eine große Pfanne haben nicht mal die Berliner!
Auch die deutschen Grenzer behandelten uns großzügig. Gegen zwei Uhr morgens, wenige Minuten, nachdem wir sie in unsere Zugergläser gegeben hatten, schlüpften die Großmaränen. Die zweifache Umstellung auf neuartige Verhältnisse binnen weniger Stunden löste wahrscheinlich diese “Frühgeburtssituation” aus. Über die an die Gläser geschlossenen Kopfringe und Abflussstutzen samt Gummischläuchen strömten sie zu zehntausenden in die neue Welt. Der zweite Akt ging somit erfolgreich zu Ende.
Wichtiger als alles andere war nun, die kostbare Brut mit Lebendfutter zu versorgen. Mit Schleppnetzen aus Müllergaze und getrieben von Kutterkraft siebten wir bereits acht Stunden später einige tausend Kubikmeter Tollense Seewasser aus. Hüpferlinge mussten wir fangen, Kleinkrebse, Cyclops.
Am ersten Tag ihres Fischlebens visierten unsere “Nasus”- Maränen die vor ihren Mäulern herumschwimmenden Krebschen nur an und probierten lediglich, wie sie denn zuschnappen könnten. Aber schon vierundzwanzig Stunden später ging die wilde Hatz los. Drei-, viermal nehmen sie Anlauf, beugen den Schwanz wie ein Hecht und schießen dann, ihre Muskeln streckend, mit weit geöffnetem Rachen auf ihr Opfer zu. Eine größere Nauplie - ein im vorletzten oder letzten Häutungsstadium befindliches Kleinkrebschen oder auch schon ein ausgewachsener Hüpferling verschwindet zwischen den Kiefern der kleinen Fresserin wie eine handlange Plötze zwischen den Zähnen eines Hechtes. Drei lange Wochen ging alles problemlos, verlustlos! vor sich. Nicht wie bei unseren vorherigen Versuchen mit den Kleinmaränen, die während der ersten Vorstreckphase zu hunderttausenden verreckten, obwohl sie inmitten von Wolken zuckenden, springenden Futters standen. Ehe wir damals dank “Männe” Taeges Untersuchung erkannten, dass unsere Kleinkrebse die maulgerechte Größe bereits weit überschritten hatten, war es für die meisten unserer Kleinmaränenbrütlinge bereits zu spät. Großmaränen sind da von Anfang an im Vorteil. Als Brütlinge sind sie nur etwa zwei Millimeter größer, aber das reicht zum Überleben aus. Wie eine Armee hüben und eine andere drüben standen sich in unseren beiden Futterrinnen die Fronten im klaren Wasser gegenüber. Hier die geübten, verwöhnten, überlegenen mittlerweile bereits zwei Zentimeter groß gewordenen “Nasus”, da die vor den unersättlichen Fressern zurückweichenden Hüpferlinge, die instinktiv zusammenhalten wie Schafe, die von Hunden umkreist werden. Da sie sich so im Schwarm bewegten, gab es keine Schwierigkeiten, die Plasterinnen sauber zu halten. Ganz anders als bei den einzelgängerischen Hechten erwischte der Abfallsauger fast nie eine der geschickt ausweichenden Maränen. Blitzsauber konnten wir so die Vorstreckaquarien halten. In der vierten Woche passierte es. Wir waren bereits hochmütig geworden. Bis zum Nachmittag des 22. April kamen sie, die Berliner, Prenzlauer, Warener Kollegen, auch die Nichtfachleute von der Bezirksleitung SED Neubrandenburg. Alle klopften uns auf die Schultern und lachten, wenn wir ihnen vom Husarenstreich erzählten, wie wir die langatmigen Prozeduren der Beschaffung von Zertifikaten umgangen hatten. Wir prahlten schon, dass wir die Fische fingerlang machen könnten, ausgedünnt natürlich unter Inanspruchnahme mehrerer Rinnen. Denn über die verfügten wir ja. Es waren nämlich vier weitere da, und das Futter fiel uns in jenem Jahr fast von selbst zu. Wir hätten mit wenig Aufwand täglich hundert Kilogramm Nauplien und die ausgewachsenen Hüpferlinge fangen können. Unsere Maränen fraßen wie die Scheunendrescher und sie gediehen prächtig, bis zu jenem schwarzen Aprilmorgen des 23., an dem wir achtzig Prozent tot vorfanden. Die Stadtwerke hatten das Leitungswasser mit Chlor behandelt! Anruf! „Nein! Chloriert wurde nicht!” Was dann? Die Taumelbewegungen der überlebenden zwanzig Prozent Nasus zeigten an, dass auch sie nicht überleben würden. Wie ein Blitz schlug die schlechte Nachricht im Institut für Binnenfischerei in Berlin- Friedrichshagen ein. „Los! Der Fischseuchendienst des VEB Prenzlau muss sofort nach Neubrandenburg fahren. Ursachenermittlung! Vorsorglicher Einsatz von Trypaflavin in für Aufzuchtbecken üblichen Konzentrationen! Neue Weisungen für gezielten Medikamenteneinsatz abwarten.” Wir hatten alle guten Voraussetzungen übermütig als gegeben hingenommen. In je zehn Minuten Kutterschleppnetzeinsatz hatten wir Unmengen Zooplanktonten gefangen. Wir konnten mit dem besten Futter der Welt aufwarten. Unsere Rinnen waren perfekt sauber. Das Leitungswasser wies ideale Parameter auf. Und nun ordnete das Institut eine Überprüfung an, ob Großalarm für die Ostseeküste ausgelöst werden müsste. „Wahrscheinlich sind die in den Großhälteranlagen stehenden Forellenbestände gefährdet, durch Einschleppen einer noch unbekannten Krankheit. Jedenfalls ist ein Übergreifen auf sämtliche Lachsartigen im Territorium nicht auszuschließen.” Deshalb müsse festgestellt werden, was die Zertifikate besagen.

Achttausend setzten wir schließlich aus. Sie müssen überlebt haben, denn ihre Nachkommen fingen wir überall im See. Bereits sechs Jahre später gingen uns kiloschwere Exemplare ins Netz. Und alle Altersgruppen. Eine Delikatesse wenn sie geräuchert wurden, sogar eine Extraklasse, auf die wir ein wenig stolz sein durften.

 

Im Sommer 78

 

von meinem Zweigpräsidenten wurde ich gebeten Gustav Briel zu besuchen. Er hatte sich als alter Mann der Kirche angeschlossen und wohnte nun wieder, nach fünfzigjähriger Abwesenheit, in Penzlin. Er war aus Westdeutschland in seine Heimatstadt zurückgekehrt, hatte hier noch einmal geheiratet. Wir sahen sofort, dass Bruder Briel seiner siebzigjährigen Frau und erst recht seiner steinalten Schwiegermutter nicht gewachsen war. Die Uralte saß im Ohrensessel und jedes Mal, wenn ich den Mund aufmachte erwiderte sie: “Wissen Sie nicht, dass es ungehörig ist, das Wort zu nehmen bevor die Dame des Hauses es Ihnen erteilt?” Wir wurden extrem scharf abgewiesen.

Die wortgewandte Uralte starb.

Danach unternahm ich zwei oder drei weitere Versuche um mit Briels ins Gespräch zu kommen. Doch wie zuvor, wies mich Frau Briel stets brüsk zurück. “Da ist die Tür!” Die Mormonen seien eine furchtbare Sekte. Sie wünsche keine Diskussion. Bruder Briel neigte sich bekümmert, geleitete mich die Treppe hinunter und bat: “Bitte, kommen Sie nie wieder! Ich weiß, dass die Kirche wahr ist, aber ich will in Frieden leben. "

Aber selten zuvor hatte mich eine Aufgabe mehr gereizt, als die diese Tür zu knacken.

 Eines Tages kam ich von einer Fischereitagung aus Waren, musste also auf dem Weg nach Neubrandenburg durch Penzlin fahren. Ungefähr zehn Kilometer vor dem Ortsschild habe ich - ich denke die Art war ziemlich ungebührlich - im Auto laut gerufen: “Lieber Vater im Himmel. Ich bitte dich und bestehe darauf, mir zu helfen, eine Tür in Penzlin zu öffnen.” Jedes Detail erwähnte ich, Namen und Vornamen meiner Seelenfeindin, die Straße, die Hausnummer, die Umstände und konzentrierte meine ganze Gedankenkraft auf dieses Ziel. Vor dem Wohnhaus, in der Bahnhofstraße 19, angekommen, stieg ich aus meinem Trabant und nahm die Stufen, zwar hoffnungsvoll, doch nicht ganz so schnell wie sonst. Ich klopfte. Sie öffnete. Ihr Gesicht sprach absolute Ablehnung und Härte. Durch den kleinen Türspalt, den sie noch zuließ, sah ich ein Bild in ihrem Zimmer. Sie folgte meiner Blickrichtung. Sie schaute mich an. Sie hätte ja fragen können: “Warum stecken Sie Ihre dämliche Nase immer in fremde Angelegenheiten?” Aber zu meiner Verwunderung hörte ich: “Das ist mein erster Mann. Kommen Sie herein!”

In den nächsten zwei Stunden erfuhr ich alles, was in dieser Sache für mich zu wissen wichtig war. Der Mann mit der Pickelhaube, den sie als junges Mädchen geliebt hatte, war eine Woche nach der Eheschließung im letzten Jahr des Ersten Weltkrieges an der Westfront gefallen. Auf den zweiten Jugendfreund, Gustav Briel, hatte sie fünfzig Jahre gewartet. Kaum erneut verheiratet, bemerkte sie, dass sie ihn mit einer furchtbaren Organisation teilen sollte, deren Anliegen war, ihn eines Tages ganz von ihrer Seite zu reißen. Lehre und Struktur der Mormonensekte seien dementsprechend beschaffen. Alle die sich dieser Geheimorganisation anvertrauten, würden total vereinnahmt. Ihr Anti- Mormonismus oder das was sie dafür hielt, ließ sie nicht im Zweifel.

Ich konnte nicht anders, als manchmal verstehend und einmal sogar zustimmend zu nicken, was sie wiederum verwunderte.

Das sei zwar so. Dieses Ganz-oder-gar-nicht Prinzip wirkte. Halb Mitglied dieser Kirche zu sein war praktisch unmöglich. Nur, das bedeutete nicht, dass sie, als Ehefrau eines Mitgliedes, dadurch einen geringeren Platz einnehmen würde. Denn die wichtigste Aufgabe jedes Mitglieds meiner Kirche war und ist treu zu seinem Ehepartner zu stehen, gleichgültig ob der die Glaubensansichten teilt oder nicht.

Das formulierte ich so gut wie möglich und gewann wohl einen kleinen Punkt.

Im Wesentlichen irrte sie sich natürlich. Aber wer weiß, wessen mehr oder weniger tendenziöse Bücher sie über Mormonen gelesen hatte? Aus ihrer Perspektive gesehen, stellte sich die, meines Wissens, beste Philosophie der Weltgeschichte als Ungeheuerlichkeit dar. Sie brachte es schnell auf den Nenner: „Warum weigert mein Mann sich mir alles über die Zeremonien im Mormonentempel zu erzählen? Warum trägt er Unterkleidung mit Geheimzeichen? Was verschweigt er mir?

Um mich korrekt zu verhalten musste ich weit ausholen…

Als ich heimfuhr, war mir klar, dass ich nicht nur ihr Ohr, sondern ein bisschen die Zuneigung dieser nicht unbedeutenden Frau gefunden hatte. Sie war zu Beginn der dreißiger Jahre Lyzeums Direktorin gewesen und verfügte über eine wunderbare Beredsamkeit. Ich musste ihr versprechen, wiederzukommen.

Von da an besuchte ich sie und ihren Mann monatlich mindestens einmal. Immer wurden es Vier-, Fünfstundenrunden. (Meine Söhne als meine Heimlehrerpartner erledigten in dieser Zeit jeweils ihre Hausaufgaben oder Korrespondenz mit ihren Freundinnen und manchmal sind sie mir immer noch ein wenig gram, weil ich sie in entsetzliche Langeweile getrieben habe. Aber ich bin unschuldig! wann immer ich nach einer halben Besuchsstunde aufbrechen wollte kommandierte sie, das sei pure Unhöflichkeit.)

Jahrelang ging es gut, immer besser.

Eines Tages erklärte sich mich für ihren Freund: „Bitte bringen Sie ihre Frau mit!“

Das geschah zur Zufriedenheit beider Damen. Ich war, ehrlich gesagt, stolz solche Freundin zu haben. Sie las irgendein mehrstrophiges Gedicht zwei- oder dreimal und sagte es dann fehlerfrei auf.  Da war eine Szene, die mir so lebhaft schilderte, die mir bei entsprechender Gelegenheit, so lebhaft vor Augen stand, wie sie im Sommer 1945, damals noch als Hitlers Parteigenossin Pfaffenberg vor der Warener Entnazifizierungs-kommission und als Nummer 146 auftrat. Ein dort amtierender Erzkommunist fragte sie höhnisch: Na, Frau Pfaffenberg, Sie haben also auch der Nazipartei beitreten müssen!”

Sie hätte heftig zurückgeschnarrt: She snoreed back.

Ich bitte mir aus, nicht in diesem Ton mit mir zu reden. Ich war eine überzeugte Nationalsozialistin! Ich, Martha Pfaffenberg habe gewusst, was ich tat. Der Führer war mein Ideal. War, meine Herren, habe ich gesagt! Das merken sie sich bitte!” Das muss sie recht laut und mit dem ganzen Nachdruck ihrer starken Persönlichkeit gesagt haben.

Alle schläfrig vor sich hindösenden Mitglieder der Kommission seien plötzlich hochgeschreckt und hätten sie mit geweiteten Augen angestarrt. Das war für sie ganz und gar ungewohnt, wie jemand sich auf solche Art und Weise zum zu Recht verfemten Nationalsozialismus Hitlers stellte.

Jawohl, ich war Hitlers treue Parteigängerin solange, bis er gegen die Juden vorging. Ich war sehr wohl für die Verweisung bestimmter Juden in ihre Grenzen, aber niemals für ihre Verfolgung. Als ich das sah, habe ich dem Führer mein Parteibuch vor die Füße geworfen.”

Die vor den untersuchenden Herren sich aufreckende Frau muss ihnen Hochachtung abgenötigt haben, umso mehr, da sie so häufig auf Waschlappen stießen, die jammervoll beklagten, sie hätten keine andere Wahl gehabt und seien wider Willen der Hitlerpartei beigetreten.

Der Vorsitzende der „Reinwaschungskommission“, allerdings ließ sich wenig beeindrucken.  Ja, und? Man weiß, dass Sie bis zuletzt Mitglied der NSDAP waren.”

Meine Herren, ich schulde ihnen gar nichts. Aber wenn sie wie ich einen gefährdeten Vater gehabt hätten...” mit anderen Worten sie musste Rücksicht auf Familienmitglieder üben.

Der Gauleiter Pommerns Swede-Coburg, hatte ihren 1938 erfolgten Parteiaus-tritt nicht anerkannt und gedroht, man könne sich dann an ihren Vater halten. Eine Lyzeums Direktorin durfte die Partei nicht verlassen. Diese Androhung von Sippenhaftung brach ihren Mut. Aber sie habe sich seit 1938 als Nichtmitglied betrachtet, daran lasse sie nicht rütteln, gleichgültig ob die Fakten für oder gegen sie sprächen. Mir erzählte sie, wie sie ihren Glauben an Gott in den Hitlerjahren verlor. Was sie bewegte, war nicht so sehr das Unheil an sich, das Gott zuließ und das schließlich nur feige Menschen einander zufügt hatten, sondern es war die Zänkerei unter den beiden Ortsgeistlichen. Wann immer sie selbst als dritte Partei im selben Wohnhaus Zeuge der gehässigen Auseinandersetzungen unter Theologen wurde, verlor sie Glaubenssubstanz. Bis nur noch ein Rest von Religion in ihr übrig geblieben sei. Wörtlich fügte sie hinzu: “Heute glaube ich nur noch zehn Prozent von dem, was mit traditionellem christlichem Denken zu tun hat.”

Für mich schrieb und sang sie. Sie hatte an den Mormonen fast nichts mehr auszusetzen. Bis ihr Ehemann, - nicht ich - einen Schritt weiter ging, als sie nachzugeben bereit gewesen war. (Sie vergaß niemals irgendetwas, das für sie von Belang war.)

In seiner Naivität hatte er seiner Frau begeistert erzählt wie gut es ihm getan hatte wieder eine Versammlung unserer Kirche besucht zu haben. Er beichtete ihr, dass er an jedem Tag in der Vergangenheit innerlich auf der Seite seiner Kirche gestanden hätte, auch damals als sie es ihm strikt untersagte. Das Ihr Mann sich plötzlich stark machte, verkraftete sie nicht. Sie fühlte sich überfahren. Die Erregung über die Entdeckung, von mir überlistet worden zu sein, raubte ihr den Schlaf. Sie beorderte mich nach Penzlin.

Unser mühevoll gemeinsam errichtetes Haus der Übereinstimmung riss sie mutwillig ein, indem sie ihrem Mann und mir verbot noch irgendeinen Satz zu wechseln. Sie verbot mir endgültig ihr Haus zu betreten.

Zum ersten und letzten Mal seit Beginn der Jahre unserer Freundschaft erwies sie sich wieder vom Scheitel bis zur Sohle als die unflexible alte Oberlehrerin die sie stets gewesen war. Dabei hatte meine Seelenfreundin Martha Briel immer gezählt wie viele Menschen zu ihrer Beerdigung kommen würden. Sie war damit nie weit gekommen, wie sie mir schon früher anvertraut hatte. Ihr harter, schnurgerader Charakter hatte sämtliche Menschen mit ihren scheinbar windschiefen Ansichten längst für immer beiseitegestoßen. Sogar ihr Bruder mied ihren Umgang. Zu erneutem Betteln fehlte mir die Lust.

Nie hat Joseph Smith gesagt, er hätte das Mittel, das aus dem Labyrinth führt, selbst gemacht. Wenn er das behauptet hätte, wäre er ein angesehener Mann geworden. Zu sagen, es sei ihm von Gott geoffenbart worden, sollte ihm das Genick brechen. So sind wir nun einmal, das uns leichter Zugängliche und Verständliche ziehen wir allemal vor.

Leningrad

Es war den Genossenschaften erlaubt 5 % des Umsatzes auf den Kulturfond zu überweisen. So gelang es, bei steigender Produktion erhebliche Summen anzusparen um uns zu ermöglichen, im drei-Jahres- Rhythmus, mit unseren Ehefrauen Wochenurlaube im Ausland zu verbringen. So sahen wir den Smolny und den Winterpalast der Zaren. Im Smolny befanden sich die Büros der regionalen Parteizentrale. Im Smolny wurde einer der engsten Mitarbeiter Stalins erschossen, Kirow. Ich löste um Haaresbreite einen Eklat aus, weil ich der dolmetschenden Stadtführerin die Frage stellte, ob es tatsächlich andere führende Leningrader Kommunisten waren die den Tod Kirows zu verantworten haben: „Wie kommen sie zu dieser Frage, woher wissen sie davon?“ Der Ton war scharf und vorwurfsvoll. Ich konnte mich nur beglückwünschen, dass ich nicht fragte, worum es mir eigentlich ging: Nämlich: „Ist Stalin selbst schuld daran?“ Denn einige sonst vorsichtige nicht staatskonforme Leute ließen mich wissen, sie hätten gewisse Literatur. Ich erhielt für zwei oder Tage zur Ausleihe das Buch des Dissidenten Wolfgang Leonhard: „Die Revolution entlässt ihre Kinder“. Spannend geschrieben vermittelte es uns eine Fülle von Informationen aus erster Hand. Leonhard kam mit seiner Mutter als 13-jähriger, 1934, in die Sowjetunion. Die Lyrikerin Susanne Leonhard war auf die russische Propaganda hereingefallen. Wie viele andere Idealisten, erkannte sie desillusioniert die Hintergründe des Systems und wurde als "kommunistische Abweichlerin" in ein sowjetisches Straflager in Sibirien verbannt. „Ihr Sohn Leonhard bekam eine strenge Ausbildung an der Komintern-Schule und wurde dort für spätere Führungsaufgaben innerhalb der Kommunistischen Partei vorbereitet. Zusammen mit der "Gruppe Ulbricht" (Ulbricht: "Es muss alles demokratisch aussehen…") schickte man ihn 1945 als Polit-Kommissar ins zerstörte Nachkriegs-Deutschland. Die Zwangsvereinigung von KPD und SPD in der SBZ gab ihm den Anstoß, 1950 siedelt er dann in den Westen über.“ Heike Mund „Deutsche Welle“

Im erwähnte Werk Wolfgang Leonhards stand der Satz geschrieben: „Seinen Rivalen, den Leningrader Parteichef Kirow, ließ Stalin 1934 ermorden.“  nachdem Kirow auf dem XVII. Parteitag der KPdSU desselben Jahres hinnehmen musste, dass 292 Delegierte gegen ihn stimmten und nur drei gegen Kirow. Dies betrachtete Stalin als unverzeihliche Demütigung.  Kirow sollte ihm überlegen sein? Wir erfuhren durch verschiedene Kanäle, dass mit der Untersuchung dieses Mordfalles, auf Weisung Stalins die berüchtigten Schauprozesse in der Sowjetunion begannen, die tausende Unschuldige zum Tod durch Erschießen verurteilten.  Ich antwortete der jungen Dame, als wir auf den Stufen dieses Gebäudes standen: „Die Parteipresse in der DDR hat viel darüber berichtet!“ Sie schwieg, sie fühlte sich unsicher, und lenkte ab. Beweise für Attentatspläne oder den Mordauftrag an Kirow gab es nicht - der ganze Prozess basierte auf erzwungenen Geständnissen. "Ich fordere, diese tollwütigen Hunde zu erschießen, jeden Einzelnen von ihnen", forderte der oberste Richter Wyschinski dieses Prozesses als vorgebliche Rache für Kirows Tod. Am 25. August 1936 wurden die obersten des bisherigen Regimes Kamenew und Sinowjew im Keller des Moskauer Lubjanka-Gefängnisses erschossen. All das war den Oppositionellen des Kremlsystems wichtig. Ich glaube, dass sich neunzig Prozent der Bevölkerung der DDR eingeengt und eingesperrt fühlten.

Abends gab Erika mich frei, während sie sich niederlegte und ich besuchte einen Gottesdienst der orthodoxen Kirche. Da standen hunderte und schauten mit mir zu wie die feierlichen Exerzitien vollzogen wurden. Einem „Mormonen“ war all das sehr fremd. Ähnliches kennt er nicht. Ich sah nur wenige Männer in der Besuchermenge. In meinem bräunlichen Mantel, und überhaupt nach meinem Aussehen fiel ich auf. Mindestens zwei ältere Herren verdrückten sich, nachdem ich sie musterte. Ich glaube sie hielten mich für einen Geheimpolizisten. Anschließend küssten die Anwesenden eine größere Ikone die unter Glas ausgestellt worden war. Alle Münder berührten wohl dieselbe Stelle. Am nächsten Morgen wollte ich zur selben Kirche gehen, die nicht weit entfernt dastand. Da traf ich einen alten Mann mit auffallend mildem Gesichtsausdruck. Wir verständigten uns radebrechend. Ich konnte sehen, wie ernst es dem intelligent wirkenden Mann mit seiner Religion war. Immerhin trägt die Russisch-orthodoxe Kirche zwei Gesichter, das äußere mit ungeheurem Pomp und das Innseitige der echten Frömmigkeit. Ich werde ihn nie vergessen, diesen etwa dreißigjährigen, hünenhaften Goten im Gewand eines russisch-orthodoxen Priesters dort. Sein junges, weißes Gesicht, der ganze wunderbare Ausdruck seiner Persönlichkeit. Ein hakennasiger Sechziger, mit langem, schmalem Gesicht und gewisser Hoheit, der ein Intellektueller sein musste, kam mit anderen Besuchern nach vorne. Der junge Geistliche nahm ihn unter die Stola und gab ihm wie ich vermute einen Segen. Beider Männer Mienenspiel bewies mir ihre ganze Ergebenheit gegenüber Gott.

Utah

1982 erlaubte mir die DDR-Regierung, die Einladung meiner Kirche anzunehmen um an der 152. Generalkonferenz in Utah teilzunehmen und drei Wochen dort bleiben zu dürfen. Ich trug nun schon seit fast achtzehn Jahren für die wenigen hundert Mormonen in Mecklenburg gewisse Verantwortung. Der wiederum für mich zuständige Abschnittsbevollmächtigte der Volkspolizei kam in meinen Betrieb und stellte, wie ich später erfuhr, noch Nachfragen an den Vorsitzenden der Fischereigenossenschaft Reinhardt Lüdtke, dessen Stellvertreter ich seit langem war. Das konnte ich selbst nicht glauben, dass sie mich und meine Frau nach Amerika reisen lassen würden. Es stellte sich denn auch zum Schluss heraus, dass Erika leider nicht mitfliegen durfte. Ihr Flugticket war bereits bezahlt, die Hotelplätze für die Konferenztage bestellt. Nichts da. Die Ehefrau blieb zurück, als Faustpfand. Dabei wären wir zur Not zu Fuß über die Beringstraße zu unseren Kindern zurückgekommen. Noch als ich bereits in der auf dem Schönefelder Flugplatz stehenden KML - Maschine saß, dachte ich, es könnte immer noch ein Aufruf kommen: 'Herr Skibbe, bitte nochmals zur Passkontrolle. Bedauerlicherweise ist uns ein Versehen unterlaufen. Sie müssen noch etwas klären.' Aber dieser Aufruf kam nicht, unglaublicher Weise rollte das Flugzeug mit mir zum Startplatz. Wir flogen fast über Neubrandenburg hinweg. Da, damals, bei KML-Maschinen die Tür zum Cockpit noch offenstand, versuchte ich einen Blick auf die Armaturen zu werfen. Der Kopilot lud mich ein, näher zu kommen und erklärte mir geduldig, was ich zu wissen wünschte.

In Amsterdam hatten wir Zwischenaufenthalt. Schon das war überwältigend für mich. (Ebenso die Summe von zweihundert Mark für ein Bett im Hilton Hotel des Amsterdamer Flughafens.)

Zum Glück musste ich die nicht zahlen. Ich bekam allerdings vor der Weiterreise von meinem Missionspräsidenten Henry Burkhardt einhundert Dollar ausgehändigt. Mein Taschengeld! Von wegen. Ich schwor mir, es unangetastet in die DDR zurück zu bringen. Mineralwasser für vier Westmark? Lieber trank ich klares Leitungswasser. Nachdem ich meine Füße bewusst auf amerikanischen Boden setzte, lief ich zwei Stunden lang neugierig auf die Gerüche der neuen Welt im Flughafenbereich Chicagos umher. Schrieb dann - als echt naiver DDR-Bürger - in mein Reisetagebuch: “Amerika ist faszinierend! Vielleicht aber nur, weil alles neu ist. Doch schon allein dieser Umgang miteinander! Das Verhältnis des Verkäufers zum Kunden. Er wird angelächelt, der kleine Mann, obwohl er nur kritisch prüft, statt zu kaufen. Da wird in den noch nicht gekauften Magazinen ganz ungeniert geblättert, alles wird angefasst, Bonbons werden auf Eignung und Konsistenz hin befummelt und zum Schluss bleibt der ganze Kram liegen, aber die Damen und Herren Ladenbetreiber verlieren weder Hoffnung noch die Geduld...”

Ein Mann um die 40 hatte ein Pornoheft in der Hand. Mir schien, er hielt es mir absichtlich unter die Nase.  Es stellte sich mir die Frage, warum duldet eine Frau solche Aufnahme? Als wir am späten Nachmittag der Sonne hinterher fliegen, etwas langsamer als die Erde sich dreht und es ganz allmählich zu dunkeln anfängt, sehe ich aus elf Kilometern Höhe die unendlichen Weiten Nebraskas unter mir dahingleiten. Ob das da unten der Platte-River ist, an dem die Mormonenpioniere vor fast anderthalb Jahrhunderten mit ihren Planwagen ihrem unbekannten Ziel, das irgendwo in den Felsengebirgen liegen sollte, entgegen gezogen sind? Über sechzigtausend Mormonen haben bis zur Fertigstellung der Eisenbahn die Prärien zu Fuß überquert. Die ersten 1846, nachdem rabiate Andersdenkende die ersten vierzehntausend zwangen, ihre eigenhändig errichtete Stadt Nauvoo in Illinois zu verlassen. Mitten im Winter.

Was für ein Stoff für kommende Generationen von Dokumentaristen und Filmemachern.

Zumeist zogen sie in Gruppen bis zu zweihundert oder dreihundert nach Westen. Ich denke an die Martin- und die Williegruppe, die 1856 mit selbstgebauten Handkarren die Strecke von Iowa nach Salt Lake City zu überwinden hatten. Mein Flugzeug wird dafür zweieinhalb Stunden benötigen, und während ich eine Mahlzeit zu mir nehme, überqueren wir ebenso leicht wie ahnungslos ein Gebiet, in dem sich, vor 126 Jahren die erschütterndsten Tragödien abgespielt haben. Denn zweihundertzweiundzwanzig Mitglieder der Kirche, die in jenem Jahr auf dem letzten Teil der Strecke von Schneestürmen und Wagenzusammenbrüchen heimgesucht wurden, sollten nie ankommen.

Einige meiner Freunde, die im Verlaufe der Zeit ausgewandert waren, holten mich vom Flugplatz in Salt Lake City ab, darunter waren Edith und Walter Rohloff sowie Siegfried, ebenfalls ein Exneubrandenburger, der nun hier erfolgreich ein Delikatesswarengeschäft betrieb. Er stellte mir, ganz und gar ein erfolgreicher Geschäftsmann die für mich kaum glaubhafte Frage: Von den drei Wochen hast Du fast vierzehn Tage für Dich. Was wünschst Du zu sehen? Wollen wir nach Kalifornien fliegen zum Meeresangeln?” Ich wünschte natürlich vor allem zur kircheneigenen Brigham -Young - Universität nach Provo zu gehen, um mit Professor Hugh Nibley zu reden, einem deutschsprechenden Altsprachler, von dem ich eine Anzahl, allerdings nur kurze Aufsätze, gelesen hatte. Mich interessierten seine Ansichten zu einer Reihe spezieller Fragen. Über den Norddeutschen Rundfunk war wieder einmal eine negative Information über uns verbreitet worden. Drei Mormonenstudenten hätten in ihren Studien herausgefunden, dass die in "Köstliche Perle" veröffentlichten Faksimiles aus dem ägyptischen Totenbuch von Joseph Smith aus dessen genereller Unfähigkeit heraus falsch interpretiert worden seien. Der siebzigjährige Nibley, ein nicht sehr großer, fast dürrer Mann, sprang behände auf, als ich ihm die Angelegenheit vorstellte. In einem dreihundertseitigen Buch hätte er zu dieser Thematik grundsätzlich Stellung genommen. Sämtliche verfügbaren Belege hätte er darin der Öffentlichkeit unterbreitet. Es sei nicht wahr. Nicht irgendwelche drei Studenten hätten die offizielle Version attackiert, sondern ein Hochschullehrer für Anglistik, der wegen Ehebruch in einem Ausschlussverfahren der Kirche steckte und sich so abzureagieren versuchte. Nibley erläuterte mir, dass die Ägyptologen ohnehin herausgefunden hätten, dass es zum Faksimile Nummer eins in "Köstliche Perle", eine Unzahl unterschiedlicher Interpretationen gäbe. Das sei die Art der alten Ägypter gewesen, gewisse Dinge im religiösen Bereich mehrdeutig darzustellen. “Sehen Sie mal,” sagte er “für uns ist doch wichtig zu wissen, dass Gott ein Gott der Offenbarung ist. Immer wieder hat er zu bestimmten Menschen gesprochen, Konfuzius, Buddha, Lehi. Und genau das behaupten die alten Ägypter und die Hebräer, auch Joseph Smith und wir mit ihm. Deshalb besteht zwischen den ältesten Überlieferungen ein Grundkonsens.”

Nibley, der den mit mir vereinbarten Termin zunächst buchstäblich verschlafen hatte, wurde immer munterer. Sein schmaler, langer Kopf ruckte hin und her. Er wies mich auf den ältesten, enträtselten, den Shabakostein hin, der bereits von der Notwendigkeit des Erlösungsplanes Gottes spricht. “Sehen sie mal”, erklärte er, ging an die Tafel und nahm Kreide in die Hand. “Die Kernlehren verschiedener Religionen Asiens, Afrikas und Amerikas bestätigen einander tatsächlich. Ganz besonders weist die Religion der alten Ägypter auf den gemeinsamen Ursprung aller Religionen hin. Sie reden alle vom Schöpfergott und alle verlangen, dass wir Gott verehren sollen, indem wir seine Gebote halten. Den Weihrauch braucht er nicht, nicht die Liturgien, sondern unser Herz und Verstand soll sich ihm zuwenden. Das vierte Gebot von den berühmten zehn wird bereits im ägyptischen Papyrus Eber erwähnt, einem der ältesten Schriftdokumente überhaupt: 'Schön ist es, wenn ein Sohn seines Vaters Rede wohlaufnimmt, Gott wird ihm dafür ein langes Leben gewähren.' Das sei ein deutlicher Beweis, dass das Evangelium viel älter ist, als bisher angenommen wird.

Im Buch Abraham, das Joseph Smith nicht unumstritten übersetzte, heißt es in 1, 26” Dr. Nibley zitierte aus dem Gedächtnis: “(der erste) Pharao, der ein rechtschaffener Mann war, begründete sein Königreich und richtete sein Volk weise und gerecht, alle seine Tage, und er trachtete ernsthaft danach, die Ordnung nachzuahmen, die von den Vätern in den ersten Generationen aufgestellt worden war, in den Tagen der ersten patriarchalischen Regierung...”

Nibley fuhr fort: “Diese Aussage, von Joseph Smith formuliert, kann in ihrer Bedeutung nicht überschätzt werden! Dieser Text hat nicht nur für den Insider große praktische Bedeutung, weil er zeigt, dass viele Religionen und ihre Tempelkulte, sowie das Freimaurertum (wie schon Schikaneder und Mozart in der “Zauberflöte” zeigten) im Altägyptischen wurzeln. Damit sei zugleich klar, dass es falsch ist zu behaupten, die mormonischen Tempelrituale seien dem Freimaurertum entlehnt. Denn die erheblichen Unterschiede legten den Schluss nahe, dass das verloren gegangene Original einen vorägyptischen Ursprung hat. Das sei von größter Bedeutung, etwas, das leider mitunter sogar vorsätzlich übersehen werde.”

Nibley sagte mir, die Allgemeinattacken auf den Mormonentempel werden von der Mehrzahl der großkirchlichen und der jüdischen Tempelforscher nicht geteilt.

Zwei volle Stunden hatte sich der Vielbeschäftigte für mich Zeit genommen.

Mit dankbarem Gefühl verließ ich sein Büro. Ich sah mich in Salt Lake City gründlich um. Wir fuhren auch zum Immigrationscanyon. In der Nähe stand ein Denkmal, mit dem die hiesigen Mormonen aller Siedler und Pioniere gedachten, die auf dem Oregon - Trail zunächst bis hierherkamen oder wie ihre Glaubensgenossen, die tapfer im unwirtlichen Land blieben, um es urbar zu machen.

Mein Blick glitt über viele tausend Einfamilienhäuser der Millionenstadt und es fiel mir schwer, mir vorzustellen, wie es damals war, bevor die ersten Siedler das Wasser aus den Bergen herableiteten, um den harten, dürren Boden aufzuweichen, damit sie ihn bestellen konnten.

Am meisten zog mich der Tempelplatz in Salt Lake City an. Mir sagte die Atmosphäre dort sehr zu. Ich dachte nur, hoffentlich gibt es das und diese freundlichen Menschen noch in tausend Jahren!

In der Vorfreude auf die Teilnahme am Organ Recitals, das um die Mittagsstunde herum täglich im Tabernakel stattfindet, hegte ich meine Gedanken. Ja, ich rief meine Moskauer Eindrücke wieder herauf. Während des Konzertes verglich ich wieder einmal alles. Keine Frage wer das Original hatte.

Wenn es doch möglich wäre, gute Musik in überzeugende Worte zu übersetzen.

Schade, Erika,” schrieb ich in mein Tagebuch: “dass Du es nicht miterleben durftest.“ Plötzlich umströmte uns Zuhörer eine wunderbare Tonflut. Schöne Akkorde rauschten auf uns zu. Es folgte ihnen ein behutsames Streicheln und Zufriedenstellen der Seele nur durch Töne. Präludium und Fuge in G-Dur von Johann Sebastian Bach. Ihr folgte Henri Mulets Toccata in F-Moll, dann noch einmal Bach: “Christus lag in den Banden des Todes”. „Dreißig Minuten lang hörst Du inmitten der Felsengebirge des wilden amerikanischen Westens himmlische Musik. Du fragst Dich, wie es möglich ist, dass Du Mensch, der du unausgesetzt und oft mit gewaltigem Aufwand nach mehr Glück trachtet, das Schöne und Gute so billig bekommen kannst.

Wir strömten ins Grüne, der Himmel strahlte im tiefen Blau, die Sonne schien. Es ist nur schwer vorstellbar, dass es Menschen gibt, die andere Menschen hassen.”

 

Am nächsten Morgen stand mein Exneubrandenburger Siegfried mit seinem Land Rover vor Walters Tür im Schnee, der in der Nacht auf die gelbleuchtenden Forsythien Sträucher gefallen ist. Er will mit mir nach Brighton gehen, auf die Skifahrerpiste für Anfänger. Als Kind hatte ich schon einmal, in Wolgast, auf primitiven Brettern gestanden und natürlich war ich Wintertags noch nie im Gebirge gewesen. “Das macht nichts”, ermutigte Siegfried mich. “Wir borgen uns die richtige Ausrüstung und Du wirst schon sehen, wenn uns der Lift hinaufgefahren hat, dann rutscht Du wie von selbst ins Tal runter." Recht hatte er. Meine glatten Untersätze fuhren, als es soweit war, von allein los und nahmen mich mit. Ich brauchte bloß aufpassen, nicht umzukippen. Vorher allerdings hätte er mir erklären müssen, wie man, wenn das Tempo zunimmt, wieder anhält. Plötzlich sah ich nämlich eine Gruppe Kinder und Jugendlicher vor mir. Als ich dann wieder auf meinen Beinen stand, übte ich für den Ernstfall. Denn beim nächsten Mal bot sich wahrscheinlich nicht wieder eine Schneewehe als Gelegenheit an, da kopfüber reinzusegeln.

Ich sah mich auch in den Gemeinden um. Mich störten die auffallend vielen kleineren Kinder und die von ihnen verbreitete Unruhe nicht. Das wird zu Christi Zeiten kaum anders gewesen sein. Wenn er sprach, wird er die Mütter nicht angefahren haben, dass sie ihre Kleinen gefälligst stumm zu stellen hätten. Im Gegenteil! Wie Matthäus so anschaulich mitteilt, winkte er die Kinder zu sich heran. Drei Tage vor Beginn der Konferenz zog ich ins Hotel Utah um, das lag näher an den Tagungsstätten. In einer vom Präsidenten des Rates der Zwölf, Ezra Taft Benson, geleiteten Schulung für Regionalrepräsentanten der Kirche, an der Henry Burkhardt, mein Missionspräsident und ich als Gäste teilnahmen, erfuhren wir, dass Erhebungen ergeben hätten, dass die Belastungen für aktive Mormonenfamilien bis fünfzig Prozent ihres Budgets betragen würden. Das sei nicht in Ordnung. Das Gesetz der Kirche laute: zehn Prozent, nicht mehr. Einmal im Monat sollten die Mitglieder der Kirche fasten und den Gegenwert des Ersparten zum Zweck der Linderung von Not über den Zehnten hinaus opfern. Außerdem würden sie ihre Kinder weiterhin auf eigene Kosten “auf Mission” schicken. Das sei mehr als genug, sie dürften fortan nicht mehr aufgefordert werden, sich an der Bildung anderer Fonds zu beteiligen. Ab sofort übernehme die Kirche die volle Finanzierung für den Neubau von Kapellen und der Sporteinrichtungen, sowie deren Unterhaltung. Links neben mir saß Dieter Berndt, er ist an der TU in Berlin Lehrer, ein Fachmann für Verpackungstechnik, rechts der Bürgermeister von Las Vegas.

 

Wir gingen vom Kirchenverwaltungsgebäude zu Tisch ins Löwenhaus, in dem einst Brigham Young mit seiner Großfamilie gewohnt hatte. Deshalb die ungewöhnliche Anzahl Fenster und die vielen Zimmer. Mit einem Philippini, der in Köln Wirtschaft studiert hatte, kam ich ins Gespräch. Es sei weltweit dasselbe, wer zu dieser Kirche gehöre, der engagiere sich voll und ganz - oder gar nicht. Es gäbe etwa fünfzig Prozent heiße und fünfzig Prozent kalte Mormonen. Halbherzigkeit sei fast nie anzutreffen. Wer komme mache richtig mit. Die andere Hälfte Mormonen stehe leider nur in den Büchern.

Anderntags befanden wir uns im bescheidenen Büro Präsident Monsons. Als er uns hereinkommen sah, erhob er sich zur fast Zweimeterturmhöhe, kam hinter seinem Schreibtisch hervor, reichte uns, Henry Burkhardt und mir die Hand. Schon nach wenigen Worten fragte er, welchen Wunsch ich hätte. Ich war überrascht. Ich war doch nicht als Bittsteller hergekommen, sondern freute mich, dass er sich für uns eine halbe Stunde Zeit genommen hatte.

Mein Blick fiel auf die Totenmaske des Propheten Joseph Smith, die im Fensterrahmen stand. Wie elektrisiert sah ich das erstarrte, junge und bartlos glatte Gesicht eines der bedeutendsten Männer der letzten zweihundert Jahre zu meiner Rechten. Unwillkürlich fragte ich mich, warum halten dich so viele für einen Lügner?

Es gibt keine dritte Möglichkeit! Entweder hatte er und weitere elf die golden aussehenden Platten in Händen gehalten oder nicht. Entweder logen die zwölf Männer oder sie hatten die Wahrheit in wichtigster Hinsicht gesagt. Dann ist dieses Leben nicht alles.

Mir fiel ein, ich könnte Thomas S. Monson bitten, der Einladung nachzukommen, die Hermann Kant, der Präsident des Schriftstellerverbandes der DDR, erst vor kurzem an ihn ausgesprochen hatte, nachdem er in Salt Lake City als willkommener Gast an einer Tagung der Generalkonferenz teilgenommen hatte. Unser Gastgeber, dessen Herz für die in Altenheimen lebenden Witwen schlägt, nickte zustimmend. Er rief seine Sekretärin herein. Einen Augenblick lang erschien mir alles unwirklich zu sein. Henry Burkhardt und ich gehörten hier nicht her. Wir sind ein Stück Nicht-normalität. Immerhin erhebt der östliche Moloch auf uns Besitzeransprüche. Wir gehören denen, die immer sagten “Unsere Menschen”. Sie haben uns erlaubt, hierher zu reisen. Sie hätten die Macht gehabt, es uns zu untersagen. Irgendwie äußerte ich das, denn ich dachte an Erika. Thomas S. Monson schüttelte abwehrend den Kopf. So verbissen sollte ich es nicht sehen. Die Kirche arbeite daran, dass unsere Bedingungen sich bessern sollen. Ich konnte es nicht glauben, und ahnte nicht im Mindesten, wie weit diese Arbeit bereits gediehen war.

Während des Rückfluges erfuhr ich von Henry Burkhardt, dass in Freiberg in der DDR ein Tempel gebaut werden soll. Das sagte er mir, mitten über dem Atlantik. Es sei eine noch vertrauliche Information. Er hatte mich geweckt, um mir den unglaublich gefärbten Himmel zu zeigen. Es war ein paar Minuten vor Sonnenaufgang. Aus einem tiefviolett schimmernden Himmel kam makellos von links vorn die schnell wachsende Helligkeit wie ein Bühnenlicht hervor, denn wir flogen der Sonne mit zehnfacher Autogeschwindigkeit entgegen. Seine Mitteilung war in der Tat eine große, wunderbare Überraschung. Das widersprach all meinen Erfahrungen. Danach war an Schlaf nicht mehr zu denken. Das hieß, die Vorgespräche zwischen amerikanischen Kirchenautoritäten und der kommunistischen Honneckerregierung konnten nur positiv verlaufen sein. Mein erster Gedanke war: Honecker und Günter Mittag brauchen Geld. Mein zweiter: wegen fünf oder acht Millionen Dollar setzen die sich doch keine Laus in den Pelz! Meine Logik geriet ins Wanken.

Bald darauf, während einer Konferenz in Leipzig, vernahmen wir es als offizielle Ankündigung. Meine Verwunderung blieb groß. Ich hätte eher gewettet, dass die Kommunisten versuchen würden, den Einfluss meiner “amerikanischen” Kirche zurückzudrängen.

Warum sie es zuließen, sollte ich noch erfahren.

In Utah hatte ich ein Stück vom neuen, besseren Land gesehen, das noch längst nicht perfekt war, jedoch die Potenzen zur besten Entwicklung in sich trug. Allerdings, und das hörte ich verschiedentlich, Utah ist nicht Amerika. Die Slums der Industriestädte, das dazu gehörige Elend gibt es hier nicht - hoffentlich wird es sie wenigstens im Einflussbereich meiner Kirche nie geben! Anderes wäre mir undenkbar. Natürlich müssen wir aufpassen. Wo immer ein hohes Niveau durch Fleiß und Wertschätzung erreicht wurde, muss es durch dieselben Tugenden pausenlos verteidigt werden. Es ist keine Zeit sich auf alte Verdienste zurückzuziehen. Nichts bleibt, wie es ist, selbst die Liebe nicht, es sei denn wir erneuern und erhalten sie immer wieder. (Nicht einmal bergab läuft jede Karre von allein.)

Einmal hatte ich mich mit dem Auto verfahren und war ins Mormonenstädtchen Orem abgebogen. Da wusste ich noch nicht, dass dieser Ort ein oder zweimal offiziell als liebenswerteste Stadt Amerikas ausgezeichnet wurde.

Allerdings, wer in dieses Blumenstraßenparadies hineingeboren wird und niemals etwas wie das Leipzig der achtziger Jahre hautnah erlebt hatte, oder Bautzen, der konnte es wahrscheinlich nicht sonderlich schätzen. Das wird wohl das ewige Problem bleiben, dass niemand von uns wirklich weiß, was er besaß, bevor er es verlor. Das meinte wahrscheinlich Hartmut, unser ältester Sohn, als er mir eines Tages sagte: nach seinem Abitur hätte er sich sieben lange Jahre, außerhalb der elterlichen Obhut, fremde Ideen um die Ohren pfeifen lassen. Jetzt erst wüsste er, wie wertvoll sein Zuhause gewesen war und wie viel es ihm bedeutete zu wissen, dass sein Hinterland - seine Familie – fest zu ihm hielt. Erst diente er drei Jahre um seinen Studienplatz in der Armee, dann studierte er im damaligen Karl-Marx-Stadt Maschinenbau und Schweißtechnik. Fast gegen Ende der “elternlosen” Zeit (ich werde es nie vergessen, es war auf dem Weg zwischen Freienhufen und Dresden) fragte ich ihn: “Na Hartmut, was hältst du nun von unserer gemeinsamen Kirche?”

Es ist das Beste, das wir haben können.” sagte er. Eine Antwort, die mich tief bewegte und befriedigte. Sofort nach Abschluss der Fachprüfungen hätte er den Ordner mit der Überschrift “Wissenschaftlicher Kommunismus”, weil absolut unbrauchbar, in den Müllcontainer geworfen. Ich hatte bis dahin meine Sorgen und Bedenken gehabt, da ich davon überzeugt war, dass er den Druck der verschiedenen Versuchungen ähnlich wie ich gespürt haben musste. Auch er hatte, wie ich, sein eigenes Zeugnis von der Echtheit und Lebendigkeit des Mormonismus empfangen und, wie ich, hatte er den Wunsch, einer so wunderbaren Sache zu dienen, die alle Voraussetzungen dazu mitbringt, die unterschiedlichsten Menschen zu einer großen harmonischen Familie zusammenzubringen. Eine Aufgabe, die zu lösen sich die Kommunisten vorgenommen, aber nie würden zu Ende ausführen können, weil ihre Losung “Proletarier aller Länder vereinigt euch” zumindest einen bedeutenden Teil Mitmenschen zu Todfeinden erklärte. Wir aber hörten in unseren Zusammenkünften immer wieder, dass alle Menschen Kinder Gottes sind. Deshalb war und ist jedes Engagement, auch das politische, heilig oder unheilig, je nachdem ob wir in erster Linie nur uns selbst dienen.

 

Im Herbst 1983, ein Jahr nach meiner Entlassung als Distriktpräsident wurden Klaus Nikol und ich als Pfahlmissionare berufen. Nachdem ich ihn angesprochen hatte, lud Pastor Fritz Rabe uns ein, vor seiner Jugendgruppe der Gemeinde St. Michael, in Neubrandenburg einen Lichtbildervortrag über meine Amerikareise nach Utah zu halten.

Der Abend begann damit, dass Herr Rabe - wie ich später erfuhr - ein Zirkular seiner Synode zur Hand nahm, das er anscheinend soeben erhalten hatte, wodurch sich die offizielle Eröffnung um einige Minuten verschob. In dem Schreiben wurde ihm mitgeteilt, dass Kontakte zu Mormonen nicht gepflegt werden sollten. Ich saß nahe bei ihm und fand eine gewisse Bewegung in seinen Zügen, konnte aber nicht ahnen, dass es Klaus Nikol und mich betraf.

Eigentlich hätte er uns, gemäß der empfangenen Weisung, sofort des Saales verweisen müssen. Aber wir durften reden. Das war sein Wagnis. Immerhin standen wir namentlich für eine gefährliche Sekte. Er nahm es mutig auf sich. Er ließ sich mehr von seinem eigenen Gefühl leiten, als von einer Direktive. Wir zeigten als erstes Bild den Mormonentabernakelchor. Er sang für uns Luthers berühmtes Lied “Ein feste Burg ist unser Gott”.

Herr Pastor Rabe sah bald ein, dass wir keine Sektierer waren.

Auf die Frage, wodurch wir uns von anderen Christen unterscheiden, zitierte Klaus Nikol Joseph Smith, und ich setzte im Wortlaut hinzu: “In den religiösen Ansichten sind wir von anderen Kirchen nicht so sehr verschieden, dass wir nicht ein und dieselbe Liebe in uns aufsaugen könnten. Einer der großen Leitsätze des Mormonismus ist der, dass wir die Wahrheit annehmen, mag sie kommen, woher sie will. Die Christen sollen aufhören, miteinander zu zanken und zu streiten, sie sollten vielmehr untereinander Einigkeit und Freundschaft pflegen.”

Ist das tatsächlich Originalton Joseph Smith?” wollte Pastor Rabe wissen. “Ja! Wort für Wort.” Das konnte ich bestätigen. Anschließend kam es zu einer heftigen Diskussion. Zwei angehende Diakone schimpften lautstark das Buch Mormon sei ein Lügenbuch. “Es ist Unrecht irgendein Buch neben die Bibel zu stellen.” Als angeblich letzter Autor des Buches der Bücher hätte Johannes der Offenbarer verboten, diesem gewaltigen Werk noch ein Wort hinzuzufügen. Welch ein Missverständnis! Ich nahm meine Bibel und zeigte sie den jungen Leuten. “Wie viel davon akzeptieren gläubige Juden?” Sie schauten verdutzt herüber. Einer der beiden Diakone antwortete richtig: “Sie anerkennen nur das Alte Testament als Heilige Schrift.”

Also ist das Neue Testament in jüdischen Augen eine unzulässige Erweiterung der Sammlung! Bedeutet dieser jüdisch bestimmte Standpunkt, dass er haltbar ist?”

Pastor Rabe ließ uns gewähren, obwohl er sich nicht sehr wohl fühlte, denn er ahnte, dass wir noch mehr strittige Tatsachen in den Raum stellen würden. Auch ihm war klar, dass das Neue Testament nicht chronologisch angeordnet ist. Deshalb nickte er nachdenklich, als wir die entsprechende Frage stellten. Den beiden Diakonen war es unbequem, zu denken wie wir. Mit heftigen Äußerungen zeigten sie, dass sie davon ausgingen, dass Joseph Smith ein Betrüger war.

Wir entgegneten: „Selbstverständlich muss die Frage nach der Wahrhaftigkeit irgendeiner Behauptung immer zugelassen werden. Und insofern muss man herausfinden ob das Buch Mormon ein Fantasieprodukt Joseph Smiths ist oder nicht.” Aber, wenn man sich schon vor der Prüfung eines vergleichbaren Problems negativ entscheidet, dann zieht die Vernunft den Kürzeren. Kaum hatten wir diese Erwiderung formuliert, tosten sie wieder los.

Erst als sich der Pastor erneut einschaltete, dämpften die beiden angriffslustigen jungen Männer ihren Ton. Er verabschiedete uns freundlich. Es war ihm peinlich, dass die beiden Hitzköpfe so grob argumentiert hatten.

Überraschend besuchten die beiden Angreifer mich noch am selben Abend. Sie entschuldigten sich. Im folgenden Gespräch bekannten sie von sich aus, dass es ihnen zu anstrengend wäre, wie die Mormonen zu leben. Deshalb hätten sie dagegengesprochen. Ihre Befürchtung war die, dass wir ihnen ihre Lebensfreude stehlen wollten, nämlich das Vergnügen mit leichtfertigen Mädchen…

Diese Offenheit verblüffte mich. Ich erwiderte, niemand will oder darf sie nötigen, jemals etwas zu akzeptieren, was sie nicht mögen. Bedauerlicherweise kannte ich damals noch nicht den Wortlaut der Aussagen des berühmten amerikanischen Baptistenpredigers Martin Luther King, die unbeabsichtigt mit dem Tenor des Buches Mormon übereinstimmten. Wahrscheinlich hätte es ihnen geholfen zu begreifen, dass es nicht um irgendeinen Grad von Religionseifer geht, sondern um Grundwahrheiten. Martin Luther King hatte es auf seine Weise gesagt: „Gott hat absolute moralische Gesetze in sein Weltall eingebaut. Wir können sie nicht ändern. Wenn wir sie übertreten, werden sie uns zerbrechen.” Diese auf drei Sätze komprimierte Philosophie entsprach der kompletten Morallehre des Mormonismus.

Wenig später traf ich Pastor Rabe auf der Straße wieder. Wir gingen ein paar Schritte gemeinsam. Er sagte ungefähr: „Wenn ich Sie beide nicht persönlich näher kennen gelernt hätte und ebenso Ihre Glaubenssätze, wäre ich wie alle anderen (Pastoren) derselben Überzeugung geblieben, dass Mormonen nicht ungefährliche Fanatiker sind.”

Da ahnten wir beide noch nicht, dass ihm sein Wohlverhalten mir gegenüber noch viel Ärger einbringen sollte…

 

Im Sommer 1985 war es soweit

 

Der erste Mormonentempel auf deutschem Boden wurde der Öffentlichkeit präsentiert. Die DDR-Politiker hatten die Resultate gesehen. Das jedenfalls führte der stellvertretende Staatssekretär für Kirchenfragen Herr Kalb anlässlich der Einweihungsfeierlichkeiten des Freibergtempels deutlich aus: “Wir haben gesehen, dass Mormonen nicht in Eigentumsdelikte verwickelt waren, es gab fast nie Ehescheidungen bei Ihnen. Ihre jungen Männer tranken während ihrer Armeezeit nie Alkohol, das allein war für uns sehr erstaunlich. Das sind Menschen, die wir hervorzubringen wünschten. Die Früchte waren gut.”

Vierzehn Tage offenes Haus. Viele Mitglieder stellten sich zu Verfügung, um die Tausende, die kommen würden, in Empfang zu nehmen und ihre Fragen zu beantworten. Auch ich hatte für diesen Zweck eine Woche Urlaub eingeplant.

Eine Stunde vor Öffnung des Geländes sagte Holger Bellmann, der für diesen Teil der Startphase verantwortliche Kirchenmann (ein Uhrmacher), zu mir: “Gerd, sei so gut, schließe das große Tor auf.” Ich nahm den Schlüssel, ging aus dem Gemeindehaus am weißleuchtenden Tempel vorbei und sah erstaunt, dass sich im Verlaufe der zwei Stunden unserer internen Vorbereitung die Menschenmenge von zwanzig bis auf mehrere Hundert vergrößert hatte. Zwei junge Frauen, beide mit dunklen Augen, die vornan standen, schauten mich offen ausforschend an. Ich verstand ihre Blicke als berechtigte Neugierde: Wer seid ihr? Was ist das hier? Was werdet ihr uns zeigen und sagen? Glaubt ihr wirklich daran? Seid ihr echt? Was ist das für ein Ding, das mit Erlaubnis der Partei hier hingestellt wurde? Seid ihr sozialistische Christen? Will die SED etwa umschwenken? Will Honecker damit die anderen Christen ärgern? Wie viel hat es euch gekostet? Dass dieses schöne Haus hier, wie ein Blickfang, auf einem Hügel steht, ist total unverständlich.

Vierzehn Tage lang ging das so, täglich länger als zehn Stunden. Immer wieder stellten die Besucher diese Fragen, zuckten mit den Achseln, bewunderten das ebenso schlichte wie schöne Gesamtbild. Fast einhunderttausend Menschen sollten zu uns kommen, jeder noch mit seinen persönlichen Anmerkungen, auf die wir eingingen soweit uns das möglich war. Wir versuchten uns im Geist führen zu lassen. Es ging uns selbstverständlich darum, jedem präzise und kurz zu antworten. Wir fassten sie in Gruppen zu fünfzig zusammen. Manchmal befand ich mich aber auch mit einhundert oder mehr Gästen in der Kapelle. Jeder unserer Sprecher spürte, wie die Blicke der Besucher in sie drangen. Es war diese eine Grundanfrage an uns: Könnte es sein, dass ihr nicht lügt? Es hatte schon viele bunt schillernde Seifenblasen gegeben. Ausgerechnet eine amerikanische Kirche baut hier eine Festung? Das verstehe wer will. Die meisten Menschen, die sich positiv äußerten, befanden, dass sie modernere, religiös motivierte Ansichten als unsere noch nie gehört hatten. Allerdings war, was sie vorfanden, eigentlich nicht modern. Alles, was wir lehrten, war uralt. Schon vor mehr als zweitausend Jahren hatte Benjamin im Buch Mormon gesagt: dass kein Mensch denken soll, er sei mehr als ein anderer, Mosia 23,7 - dass niemand bleiben kann, wie er ist, sondern sich zum Guten entwickeln muss, - oder es war die alte Weisheit, dass niemand in Unwissenheit selig werden kann.

Oft ließ ich sie aus bereitliegenden Bücher Mormon vorlesen.

Uns war klar, wer hier her kam hatte schon von der Existenz der Mormonen gehört, nichts Gutes allerdings, sondern überwiegend Abstoßendes. Evangelische Geistliche sprachen fast ausschließlich Schlechtes von Dingen die sie nicht kannten.  Viele Würdenträger empfanden uns nur als negative Konkurrenz, als tendiere bereits zu jener Zeit das Interesse für den Glauben den ihre Eltern noch hoch hielten gegen null.

Tatsächlich konnten sich Gottesdienstbesucher evangelischer Richtung nur noch der immer schönen Orgelmusik erfreuen. Die Wort-Botschaften selbst wurden immer magerer. Es reicht eben nicht aus den Menschen zu sagen: Du kannst zu deiner Erlösung nicht beitragen. Sola gratia! Nur Gottes Gnade darfst du erhoffen. „Mormonismus“ hingegen stellt klar heraus, dass wir selbst durch unser Tun und Lassen entscheiden ob wir dies- und jenseits mehr Freude erfahren werden.

Ein Geistlicher, am Bäffchen erkennbar sagte mir ins Gesicht: „Hätte ich eine kleine Bombe, ich würde sie hier am Tempel hinlegen.“

Kurz darauf kam ein rötlichblonder Student, der ebenfalls Gäste mit sich gebracht hatte. Heftig mit den Armen rudernd und laut redete auf seine Gruppe ein: “Mormonen sind die Pest! Sie haben den Uteindianern das Land Utah geraubt. In Kriegen haben sie gemordet und alles verbrämt mit ihrer Heuchelei.”

Ich sah das zornige Funkeln in den grünen Augen dieses weit über die geschichtlichen Tatsachen hinausschießenden Gerechtigkeitsfanatikers und sprach den Mann an. Er fuhr mir über den Mund. Ob das etwa nicht stimme. Ich erwiderte: “Es hat vielleicht brunnenvergiftende Juden gegeben, aber man kann doch nicht sagen, die Juden waren Brunnenvergifter. So nicht. Es hat Mormonen gegeben, die zur Flinte gegriffen und aus welchen Gründen auch immer, Indianer erschossen und sogar schweres Unrecht begangen haben. Sie sind von der Kirche ausgeschlossen worden. Ich weiß nicht wie ich gehandelt hätte, wäre meine sonst unbeschützte Familie angegriffen worden. ”

Er starrte mich hassvoll an und wies mich zurecht. Er wüsste davon mehr als ich und zog seine Leute mit sich. Sie beachteten mich nicht. Sie verschwanden in der Menge Menschen, die uns umgaben und von denen wir uns lediglich durch das Namensschild am Revers unterschieden.

Wir erlebten es immer wieder, dass sich uns unbekannte Besucher in größerem Rahmen als Erklärer versuchten. Ein Busfahrer, der zum dritten oder vierten Mal da war, “erklärte” seinen Fahrgästen Haarsträubendes über uns.

 Am Tag darauf, spät am Abend, als der Besucherstrom erheblich nachgelassen hatte, kam Dietmar Hirsch, ein etwa dreißigjähriger Zwickauer, auf mich zu und erzählte mir, dass er Zeuge einer Diskussion zwischen einem Geistlichen und einem uns freundlich gesonnenen SED-Mann geworden war. Vor dem Taufbecken habe sich ein Streitgespräch entwickelt. Der Theologe meinte, das sei antiquiert, so hätten die Christen in den ersten Jahrhunderten getauft. Nur die ältesten italienischen Basiliken und Baptisterien wie San Giovanni in Fonte in Neapel oder das Baptisterium in Ravenna wiesen noch solche Becken auf. Dort seien tatsächlich die Taufen durch Untertauchen des Täuflings vorgenommen worden, aber mit dem Aufhören der Erwachsenentaufe hätte man später auf den Bau von Baptisterien verzichtet. Dietmar Hirsch konnte und wollte nicht verstehen, wie eine durch Christus bestätigte oder von ihm eingesetzte Verordnung je unmodern werden könnte. Der Theologe entrüstete sich. Da schaltete sich unerwartet ein Mann mit dem SED-Abzeichen ein: “Herr Pastor, ich bin kein Mormone und will auch keiner werden, und sie mögen glauben und denken, was sie wollen, aber wenn etwas überaltert ist, dann ist es ihre evangelische Kirche. Sie hatten mehr als vierhundert Jahre lang die Gelegenheit, die Welt zu verändern. Die katholische Kirche hatte dazu fast zweitausend Jahre Zeit gehabt. Was haben sie nach vorne bewegt? Sehen sie sich dagegen Geschichte und Organisation der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage an. Sachlich gesehen, ist den Großkirchen allein aufgrund der vergleichsweisen schwach ausgebildeten und zudem erstarrten Strukturen nicht zuzutrauen, dass sie den kommenden Herausforderungen, die der Fortschritt eben mit sich bringt, gewachsen sein werden. Sie werden es erleben. Was zu Martin Luthers Zeiten angemessen und ausreichend war, ist heute unpassend. Die Mormonenkirche dagegen ist perfekt gegliedert und auf Mitarbeit sozusagen sämtlicher ihr angehörenden Menschen zugeschnitten, und was noch wichtiger ist, sie hat die dazu passende Lehre, - eine Soziallehre von Rang.” Ihm sei klar, vorausgesetzt es gibt einen Gott, dass Mormonismus die Religion der Zukunft sein wird.

Daraufhin habe sein nun völlig verärgerter Gesprächspartner spitz zurückgefragt, woher er das wisse. “Das will ich Ihnen gern sagen, mein Herr. Als die Entscheidung darüber anstand, ob das Zentralkomitee der SED der Errichtung eines solchen Gemeindezentrums zustimmen sollte oder nicht, habe ich im Auftrage der Regierung der DDR meine Diplomarbeit über Lehre und Organisation dieser Kirche geschrieben.”

Damit endete das Gespräch. Der Unterschied zwischen beiden Männern bestand darin, dass nur einer urteilsfähig war.

Nach sechs Stunden pausenlosen Sprechens fühlte ich mich regelmäßig ausgelaugt. Mein Freund Wolfgang Zwirner aus Dresden, ein Unibliothekar, war in der Lage, zehn Stunden zu reden. Die häufigst gestellte Frage lautete: Was unterscheidet Ihre Kirche von den anderen? Wie kann man darauf in drei Sätzen antworten? Ich sagte es immer wieder: “Wir sind einhundertprozentig eine Laienkirche! Und: Wenn wir denn überhaupt ein Symbol haben, ist es nicht das Kreuz, sondern der Bienenkorb!”

An einem Sonnentag, wenige Monate nach der Zeit des “Offenen Hauses”, sah ich einen gut angezogenen, nachdenklich vor sich hin sinnenden Mann auf dem Freiberger Tempelplatz. Er saß auf einer der verstreut aufgestellten Bänke im Grünen. Ich ging auf ihn zu, grüßte ihn.

Er mochte um die Fünfzig gewesen sein. Er schaute mich sonderbar an und blickte auf meine Trippel-kombination: Buch Mormon, Lehre und Bündnisse, Köstliche Perle, unsere Zusatzschriften kanonischen Charakters.  Ich spürte die Ablehnung, hatte aber das Gefühl, dass ich ihn ansprechen sollte, ob er eine Frage hätte. Kühl und entschieden erwiderte er: “Nein!” Er schaute mich nochmals an: “Alles, was ich zu Ihrem Thema zu fragen hatte, ist bereits beantwortet worden.” Ich wusste, dass etwas nicht stimmte. Was sollte ich machen? Er wünschte, nicht behelligt zu werden. Es störte mich nur, dass da ein Mensch war, der unbefriedigt und mit den von mir vermuteten Vorurteilen weggehen würde. Doch ich hatte kein Mittel.  Nach einer knappen halben Stunde, als ich zurückkam, saß der Mann immer noch da.  Ich nahm allen Mut zusammen, entschuldigte mich und bat ihn, mir nicht übel zu nehmen, dass ich ihn nochmals anzusprechen wage. „Ich habe ihnen doch gesagt, dass ich bestens informiert bin.” Mir war klar, dass er nicht aus der Quelle getrunken haben konnte. Ich wandte mich ab und ging davon. Nach einigen Minuten wagte ich einen dritten Versuch und bat ihn, mir zu erlauben, ihm drei Sätze aus den Offenbarungsbüchern des Propheten Joseph Smith vorzulesen. Etwas gequält erwiderte der Nachdenkliche: „Aber bitte nur drei Sätze.” Ich schlug Lehre und Bündnisse auf, Abschnitt 88, Vers 67: “Wenn euer Auge nur auf die Herrlichkeit Gottesausgerichtet ist, so wird euer ganzer Körper mit Licht erfüllt werden und es wird in euch keine Finsternis sein; und wer ganz mit Licht erfüllt ist, begreift alle Dinge. Darum heiligt euch, damit euer Sinn nur auf Gott gerichtet ist, dann werden die Tage kommen da ihr ihn sehen werdet ...” „Noch einmal bitte!”  Verdutzt schaute er weit an mir vorbei. Ich las es noch einmal. Er verbarg seine Überraschung nicht. Nun wirklich interessiert forderte er: “Den anderen Vers, bitte.” … „Lasst niemanden euer Lehrer oder geistlicher Diener sein, außer es sei ein Mann Gottes, der auf seinen Pfaden wandelt und seine Gebote hält.”… „Aus welchem Buch haben Sie nun vorgelesen?”… „Aus dem Buch Mormon Mosia 23 Vers 14.” Er erhob sich, schaute mir eine Weile ins Gesicht. Wenn ich darin richtig las, dann teilte er mir wortlos mit: Das ist ja unglaublich. In der Tat, das damit vorgetragene Prinzip war revolutionär. Alle Kirchen sähen besser aus, sie würden sich zu Vergleichbarem bekennen. Er forschte mich nun ungeniert aus, aber es war mir nicht unangenehm. Wahrscheinlich fragte er sich, wer ich sein mochte.  Ich bemerkte, dass sein Blick sich wieder meinem schwarzen Ledereinband zuwandte, während ich Teil drei zitierte „Die Rechte des Priestertums sind untrennbar mit den Himmelskräften verbunden und können nur nach den Grundsätzen der Rechtschaffenheit beherrscht und gebraucht werden….doch wenn wir versuchen unsere Sünden zu verdecken oder unseren Stolz und eitlen Ehrgeiz zu befriedigen, oder wenn wir auch nur im geringsten Maß von Unrecht irgendwelche Gewalt, Herrschaft oder Nötigung auf die Seele der Menschenkinder ausüben – siehe dann ziehen sich die Himmel zurück, der Geist des Herrn ist betrübt, und wenn er weggenommen wird, dann ist es mit dem Priestertum oder der Vollmacht des Betreffenden zu Ende.” Er nahm mir meine Kombination mit einem Ruck weg, und las es selbst. Sein Kopf kam wieder hoch. Er dachte eine Weile nach. Tief durchatmend schloss der aufmerksame Besucher mit der Bemerkung: „Ich werde mich von meiner Informationsquelle abwenden!” Das klang wie das Zerreißen von festem Papier. „Tun Sie das, mein Herr. Ich danke ihnen, dass Sie mir zugehört haben.” … „Ich danke Ihnen!” Leider habe ich nie wieder von ihm gehört. Aber dieser Tag kommt noch…und sei es in der Ewigkeit. Das Letzte was er sagte: Er sei Hochschullehrer in Kölln.

 

Erfahrungen von Wert

Im darauffolgenden Sommer zelteten die Kampfschwimmer auf einer Halbinsel des Sees. Sie übten das spurlose Tauchen mit speziellen Atemgeräten, denn ihr eventueller Kampfauftrag könnte eines Tages lauten: In Kiel sind zwei Kreuzer der Bundeswehr zu versenken! So bemerkten wir sie mitunter auch an windstillen Tagen nicht, bis sie unmittelbar neben uns auftauchten. Einmal kamen vier, fünf Männer in ihren schwarzen Neoprenanzügen hoch und umringten mich plötzlich, weil sie sich fast lautlos auf den Kutter, der neben mir verankert worden war, hinaufgehievt hatten, um das Garneinholen in der letzten, der interessantesten Phase der Zugnetzfischerei mitzuerleben. Meine Partner im gegenüberliegenden Boot hatten sie eher als ich bemerkt. Einer von ihnen, Hermann Witte, das Woldegker Original, sah sofort seine Gelegenheit gekommen, einen seiner unangebrachten Witze zu reißen. Durch nichts anderes als durch ihre Gegenwart dazu motiviert, forderte er mich auf, das Beten zum lieben Gott nicht zu vergessen, wenn ich am nächsten Tag auf die nächste große Reise ginge. Augenblicklich stand ich dadurch im Brennpunkt der Aufmerksamkeit. Der Chef der Tauchertruppe, fiel aus allen Wolken und bis sofort an. „Sag bloß, dass du glaubst und betest?” Ich wandte mich um und fragte ihn augenzwinkernd, ob er etwa nicht glaube. Natürlich nicht.

Natürlich doch! Du glaubst an Karl Marx, an Wladimir Iljitsch Lenin.” Seine Genossen lachten. Er stimmte mit einem konzilianten Lächeln und einem durch die Zähne gezischten „teils, teils” zu. Aber er würde seine “Götter” wenigstens nicht anbeten. Weißt, Du,” erwiderte ich, „ich habe Männer erlebt, die auf Knien vor einer Schönheit lagen und unentwegt bettelten erhört zu werden.”

Wieder lachten sie.

 

Das übliche Hin und Her kam auf. Da hoben sie aber alle die Köpfe, als sie hörten ich sei Mormone. Nach der Errichtung des Freiberger Tempels gab es in der DDR kaum noch Menschen, die mit diesem exotisch anmutenden Begriff gar nichts anzufangen wussten. Zwar war keiner von ihnen auf dem Gelände des der Öffentlichkeit zugänglichen Gebäudekomplexes gewesen, doch sie waren einigermaßen im Bilde. Nun sollte ich nur noch schnell antworten, was die Basis und was der Kern meines Glaubens ist. Die Begegnung mit mir wäre, wenn ich schnell geantwortet hätte, für sie nur eine kleine Episode unter vielen gewesen. Sie hätten es abgehakt wie einen Rechenvorgang. Ich wollte nicht zulassen, abgehakt zu werden. Ich dachte, wenn ihr wüsstet, wie ungeheuer breit der Strom Mormonismus ist, wie tief er geht. Ihr ahnt es nicht. Aber ihr sollt ihn noch zu spüren bekommen, angenehm wie Wärme und kraftvoll wie Wasser, das in einen trockenen Holzkeil eindringt, dessen osmotische Kräfte imstande sind, Felsen zu zerreißen. Mit ihm ist es wie mit dem Golfstrom, der weltverändernd durch den Atlantik fließt. Ich fragte den Chef der Truppe, ob er der Meinung sei, ich könne ihm in fünf Minuten eine ganze Weltanschauung unterbreiten. „Gut, morgen nehme ich mir zehn Minuten Zeit, mehr brauchen wir wirklich nicht.”

 

Der nächste Morgen kam. Ich sah sie schon von weitem, mit ihren schwarzen Schutzanzügen, auf dem “Rhäser Eck” stehen. Wir halfen ihnen, die Geräte auf den Kutter zu laden und binnen Sekunden fand ich mich wieder von lauter fröhlichen Gesichtern umringt, acht an der Zahl. Wir standen auf den federnden Schweffbrettern, die als Abdeckung über den großen Wasserkammern lagen. Wir sollten sie bis zur gut zwei Kilometer entfernten Fischerinsel mitnehmen. Sie würden zurückschwimmen. Das waren knapp fünfzehn Minuten, die sie mir gaben. Sie waren gespannt, wie ich auf die Argumente eingehen würde, die mir ihr Chef blitzschnell um die Ohren schlagen würde. „Otschen karascho!” hob Manfred an. „Wir haben schon die ersten Schritte erlernt, den Menschen in vitro hervorzubringen, bald können wir noch mehr. Wo ist da noch Platz für Gott?”

Mir fiel ein, ihn zu fragen, was der Mensch denn dann sei, falls er noch ein paar Schritte weiter kommt und in der Retorte aus anorganischer Materie Leben zu schaffen vermag. Er schaute mich verdutzt an. Seine Freunde lachten schon, bloß er begriff es nicht. Ein kleinerer, untersetzter Mann dolmetschte: „Manfred! die Frage des Fischers lautet: Gibt es keinen Schöpfergott, weil es Schöpfergötter gibt?”

 

Manfred blieb an Bord, bei mir, während seine Männer ins Wasser sprangen und unter der Wasseroberfläche, von ihrem kleinen Kompass geleitet, in Richtung Zeltlager zurückschwammen.

Meine Kollegen hoben und entleerten in der Zwischenzeit die Reusen auf der Lieps, während wir uns unterhielten. Ich steuerte dabei zeitweise das Motorboot und machte mich nützlich. Manfred hatte sich längst des schwarzen Taucheranzuges entledigt und saß in seiner Badehose, mit einem Hemd bekleidet in der Sonne. „Nun erzähl mir mal, wie’s kam, dass Du so quer zu uns stehst.” Für ihn sei interessant zu hören, wann und warum ausgerechnet ich unter so vielen Normalen ausgeschert bin.

Als ich ihm Teile der Joseph- Smith-Geschichte erzählte, wog er den Kopf. Er lachte aber nicht. Da war auch nichts zu lachen. Auch wenn er nicht alles verstünde, was ich als glaubwürdig angenommen hätte, er sagte, es sei ihm sonderbarerweise nicht unangenehm. Nur, ich käme ihm vor wie ein Lindenbaum der mitten in einer Pappelallee dasteht.

Dann erzählte er von sich selber. Es gab in seinem Leben nie einen Anlass außer der Reihe zu tanzen. Sein Kurs sei klar, sein Lebensweg war bisher geradlinig verlaufen. Abitur, Studium der Medizin, Mitglied der SED. Militärakademie. Ein Arbeiterkind. Natürlich, es hat alles mit unserer Herkunft zu tun, gab ich zu: „Aber mir war es nicht vorausbestimmt, den Ansichten meines Vaters folgen zu müssen. Wer hätte mich hindern wollen, für immer den Kurs zu wechseln?”

Es sei eine lebenslängliche Auseinandersetzung, ein nicht einfacher Prozess der Wahrheitsaneignung gewesen, versuchte ich zu erklären. „Nachdem ich mich in meinem fünfzehnten Lebensjahr mit zwei Fragen konfrontiert sah, bahnten mir die möglichen Antworten ihren Weg wie von allein. Die erste Anfrage war an meine nationalsozialistischen Vorgesetzten gerichtet und spätere an einige SED-Genossen. Sie lautete: ‘warum habt Ihr versucht, zuerst Euch selbst und dann mich zu täuschen?’ Meine zweite Frage stellte sich mir aus der ersten: warum gerade die Menschen, die mir bewiesen hatten, wie leicht sie sich täuschen ließen, so energisch vertraten, dass Joseph Smith ein Lügner war.”

Seine mausgrauen Augen musterten mich, während ich bemüht war herauszustellen, dass ich nie ein Sonderling sein wollte: „Ich habe nichts anderes gesehen und gewünscht als Du, Manfred. Mit der Einschränkung, dass ich Ursache hatte, anders als du nach Gott zu suchen und ich habe nicht nur gesucht, sondern gefunden.”

Er brachte, wie das bei solchen Gesprächen fast immer üblich war die Evolutionslehre ins Spiel. Ich hatte gerade “Das Ur-Gen” von Nobelpreisträger M. Eigen gelesen: Eigen spricht von der gezielten, der ‘gerichteten’ Evolution. Das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen, dass gerichtete Evolution etwas anderes ist als die Evolution schlechthin. Wer hat sie denn ausgerichtet? Das ist doch die große Frage!”

Glaubst du denn an die Evolutionslehre und an Gott?”

„Ja, jedenfalls selbst Darin sagte: „Ich habe niemals die Existenz Gottes verneint. Ich glaube, dass die Entwicklungstheorie absolut versöhnlich ist mit dem Glauben an Gott.“ Hirtenbriefe Bistum Bamberg

Wir sind Kinder Gottes und Kinder der Erde. Nur wenn wir diese beiden einfachen Tatsachen zugleich im Auge haben, dann minimieren sich die Widersprüche, die zwischen den unterschiedlichen Grundaussagen bestehen. Die materiellen Körper von Pflanzen, Tieren und Menschen entstanden schrittweise, im Rahmen der gottgewollten Evolution. (Und vielleicht, vielleicht entstanden sie sogar mit unserer persönlichen Mithilfe, unter der Anleitung des ewigen Gottes.) Sobald die menschlichen Körper dem Vorbild entsprachen, begann die Kette der Inkarnation unserer Seele, - unseres Geistes, - dieser Geist ist aber auf keinen Fall das Ergebnis von Evolution!”

Aber wer kann das wirklich glauben?” rief er aus.

Ich räumte ein, trotz bester Anleitung und Belehrung auch erst verhältnismäßig spät erkannt zu haben, dass Gott ausschließlich per Gesetz arbeitet und dass sein Gesetz mit dem Naturgesetz identisch ist.

Dann wäre Deiner Meinung nach Evolution lediglich eine Arbeitsmethode Gottes!” folgerte er.

Ja! - Aber vergiss bitte nicht, dass für einen Mormonen gilt, dass der Mensch Geist ist! Und in der Präexistenz gab es keinen Kampf ums Dasein. Es gibt unterschiedliche Definitionen für den Begriff Mensch. Das hat schon eine Menge Verwirrung gestiftet. Für Dich, Manfred, gilt, dass der Körper der Mensch ist, für uns Mormonen ist dieser Körper nur das Haus, ein Zelt, eine Hütte, höchstens noch ein Tempel. Für uns ist 'der Mensch' das Unsterbliche in ihm. Wir haben also eine Bezeichnung für den Inhalt, die ihr Materialisten nur dem Gefäß gebt.”

Er war tolerant genug, mich gewähren zu lassen und so fuhr ich fort. Ihn und mich fragte ich, ob wir denn alle miteinander blind sind, solche technische Genauigkeit und Muster an Schönheit und perfekten Handlungsweisen in jedem einzelnen der vielen hunderttausenden Geschöpfe unterschiedlichster Art eher dem Zufall und nur den Prinzipien der Auslese zuzuschreiben, als sie voller Ehrfurcht und Dankbarkeit einer planenden Gottheit anzurechnen. „So viele Zufälle zusammengenommen gibt es nicht!”

Mit absoluter Präzision errichtet die Biene aus dem Wachs, das ihr Körper nur bei fünfunddreißig Grad Celsius ausschwitzen kann, ganze Zimmerfluchten. Jeder Bau- und Maschineningenieur würde erblassen, wenn er ohne Hilfsmittel, dazu noch in der Nacht, vor einem ähnlichen Unterfangen stünde. Mit der Mikrometerschraube kann man die Räume, die eine x-beliebige Arbeiterin baut, prüfen und wird feststellen, dass nicht nur die Sechsecke haargenau stimmen, sondern dass die Dicke jeder Zellwand der Normalbiene dreiundsiebzig Tausendstelmillimeter beträgt, während die Wand einer Drohnenzelle vierundneunzig Tausendstelmillimeter zu messen hat. Beide mit einer Abweichung von maximal zwei Tausendstelmillimeter.  Das wurde so festgelegt. Aber was für eine Glanzleistung ist es, solche Instinkthandlung als höchst komplizierte Software im Hirn einer Biene zu installieren, geschweige denn sie erst niederzuschreiben.”

Die großartige Häuserbauerin wird, nach dem zwanzigsten Lebenstag Sammlerin. Vorher aber musste das Programm 'Bauen' ebenso wie zuvor das Programm 'Pflegen' definitiv gelöscht und das neue aufgerufen werden. Keine andere Biene hätte sie lehren können, was sie tun muss, wenn sie eine reiche Nektarquelle findet, dass sie nach der Heimkehr im Stock genau so, und nicht anders zu tanzen hat und wie sie den Rund- und Schwänzeltanz einer anderen lesen und verstehen kann, um die Information: Ein Rapsfeld in fünfhundert Meter Entfernung in fünfundvierzig Grad Abweichung von der Sonnenrichtung horizontal rechts umzusetzen.

Natürlich kann man den 'Programmierer' Gott hinwegdeuten und auf millionenlange Entwicklungsjahre verweisen. Nur, meinen Kopf hat das ganze schlaue Gerede nie überzeugen können. Selbstverständlich gab es vor Jahrmillionen schon Foraminiferen und andere Wurzelfüßer als Vorstufen für höhere Lebewesen, aber es gibt sie auch heute noch, auf den Punkt dieselben Foraminiferen. Gott baut eben jedes Neue auf der Basis des Alten. So ist es auch in seiner Philosophie.“

Alles Neue, wenn es siegreich sein will, kann nur auf dem Grund der bewährten alten Wahrheit stehen. So hängt die ganze Welt zusammen. Alles Leben ist untereinander verwandt. Es hat einen gemeinsamen Vater.

„Meiner Meinung nach wäre es dennoch eine Katastrophe, wenn wir auf wissenschaftlichem Weg Beweise für die Existenz eines allmächtigen Schöpfers fänden!”

Er schüttelte sich plötzlich. Das Letzte hätte ich nicht sagen dürfen. Jetzt bräche ich die Logik übers Knie. „Keineswegs! Du kennst sie doch auch, unsere persönlichen Schwächen und Vorlieben, mit dem Strom zu schwimmen und fein säuberlich aufzupassen, ob sie alle mit uns sind. Es gibt genügend Leute, die Tag und Nacht nicht zur Ruhe kommen können, bevor der letzte Widerständler nicht zu Kreuz gekrochen ist. Fanatiker werden uns anklagen, falls wir einen offensichtlichen Fehler begehen. Ihr habt auf der Linie zu gehen!” Dafür standen mir deutlich ein paar passende Beispiele vor Augen.

 

Einmal, an einem Elternabend, hatte ich während Hartmuts Schulzeit fast mit Schulterschluss neben einem Offizier der NVA gesessen. Es ging um Fragen der Berufsausbildung, darum, dass Erich Honecker und die SED darauf bestanden, dass wir mehr Klempner und Heizungsmonteure benötigten. Zufällig wollte niemand aus der "9 R" eine der erwähnten Ausbildungslaufbahnen einschlagen. Ich sah wie der linientreue Mann zu zittern anfing. Er bebte vor Empörung.

Das war es, was ich meinte.

 

Gnade dem, der es wagen würde, sich dem Gebot des Höchsten zu widersetzen, wenn unverrückbar feststünde, dass es sein Gebot ist. Wir hätten in den meisten unserer Nachbarn scharfäugige Inquisitoren, die jeden kleinen Irrtum, in den wir fallen könnten, verfolgen würden. Wir wären, wenn wir endgültig von Gott wüssten, außer unserem dadurch um ein vielfaches verschärftes, eigenes Gewissen der erbarmungslosen Kritik derer ausgesetzt, die sich gar nicht tief genug unter den Pantoffel eines Diktators bücken können. Dann aber lohnte es sich nicht mehr zu leben.

Zum Glück sei Gott kein diktatorischer Regent. „Er lässt uns Spielraum.”

Woher ich das wüsste.

Wäre Gott ein Diktator, hätte er uns längst unterworfen.”

Alle Akteure, ob sie sichtbar oder noch unsichtbar sind, ziehen ihre Spuren hinter sich her. Ich habe immer nur gefunden, dass wir völlig frei entscheiden können und genau das ist, für mich, seine Absicht. Er will uns auf ein höheres Niveau heben, aber nicht dahin prügeln.

Wir legten eine längere Pause ein. Ich dachte schon, Manfred wünsche das Thema nicht noch einmal aufzugreifen. Wir glitten über das sich leicht aufrauende Wasser der Lieps. Von Süden wehte ein angenehmer Wind.

So weit so gut.” befand Manfred unvermutet, nur passe meine Theorie überhaupt nicht zur christlichen Praxis.

Die Spuren im Sand der Geschichte die er gesehen hätte, zeigten ihm nur das Elend und die Millionen Leichen der im Namen des Kreuzes Christi ermordeten Menschen:  Wo hat das Christentum jemals Gutes ausgerichtet?”

Damit kam er genau auf mein Hauptthema zu sprechen…

Der Rest des Tages verging uns im Nu.

 

Ich hielt nach meinen rudernden Kollegen Ausschau. Sie hoben die letzte Reuse. Ich sah die Menge zappelnder Fische, die sie ins Schweff schütteten, und meine Gedanken schweiften zurück. Wir fuhren gemächlich zurück, redeten noch, drehten mit unserem wellenaufwerfenden Stahlkutter noch eine zusätzliche Runde auf dem Tollensesee. Die Sonne stand bereits im Westsüdwesten. Meine beiden Kollegen schliefen, erschöpft nach der anstrengenden Tagesarbeit. Sie lagen lang ausgestreckt auf den Brettern der großen Schweffdeckel. Manfred machte sich fertig für den Landgang, schüttelte zum Abschied meine Hand. Er schaute mich sehr freundlich an: „Ich hätte nicht geglaubt, dass es solche Sichtweise gibt! Aber es hat mir großen Spaß gemacht. Es war schön gewesen mit Dir.” Er schüttelte den Kopf und lachte: „So positiv!”

So gingen wir als Freunde auseinander.

Im darauffolgenden Sommer 1988 war er zu meinem Bedauern nicht mehr dabei. Die Kampfschwimmer als sie uns sahen, kamen mit ihrem Hochgeschwindigkeitsboot zu uns heran. Ich fragte mich was dieses Tempo bedeuten soll.  Ist es ein böses Omen?

Sie stoppten abrupt.  Drei Mann sprangen sofort herüber und … wie aus der Pistole geschossen kam die Frage: „Was hat du mit Manfred gemacht?“

Sie lachten danach, zu meiner Erleichterung.

In Berlin sei er von einer Bibliothek in die andere gerannt und hätte, wie ein Besessener, Artikel und Bücher zum Thema „Mormonen“ gelesen. „Armer Manfred!“ dachte ich. Er hat in einem übelriechenden Abfallhaufen nach Verwertbarem gesucht.  Er wäre vom Ausflug mit mir mit den Worten zurückgekommen: „Seine Philosophie ist runder als meine. Wer hätte das gedacht?“ Mit einem Stock hätte er immer wieder ins Biwakfeuer gestoßen: „Ds hätte ich nie für möglich gehalten!“

Schade, dass ich nie wieder von ihm, dem Opfer frommer Verleumder, hörte. Unwillkürlich musste ich an den Köllner Hochschullehrer denken, der nur wenige Monate zuvor schwor: „Ich werde mich von meiner Quelle abwenden.“

 

Baptistenschule

 

Wenig später wurden Bruder Bernd Schröder, Berlin, Gemeinde Friedrichshain und ich eingeladen in Märkisch Buchholz vor angehenden Baptistenpredigern einen Vortrag zum Thema “Mormonen” zu halten. Der Griechischprofessor gewährte uns viel Zeit und stellte die üblichen Fragen. Zum freundlichen Abschied übergab er uns die Theologische Literaturzeitung Nr. 2, Februar 1984.

Darin stand vornan der Aufsatz “Joseph Smith und die Bibel”.

Ein evangelischer Bibelexeget von Rang und Namen ahmte Professor Räisänen, Helsinki, Finnland nicht seine Kollegen nach, die voneinander abschrieben, er hatte sich an der Quelle bedient und unverdorbenes Wasser gefunden.

Autor Räisänen führt aus, dass Joseph Smith den Wortlaut der Bibel zwar partiell verändert habe, aber nicht aus dem Grund, die Texte für seine Zwecke zurechtbiegen zu wollen, was ihm häufig von selbsternannten Experten unterstellt wurde.

 

Räisänen lobt Joseph Smith, den jungen Propheten der nur wenige Tage seiner Zeit zur Schule ging. „... Bei der Umgestaltung des Passus Römer 7,25 bringt Joseph Smith ein erstaunliches Maß an Scharfsinn auf; mehrfach entsprechen seine Beobachtungen im Großen denen moderner Exegeten ... der Versschluss, der vom Dienst am Gesetz der Sünde mit dem Fleisch redet - ein Stein des Anstoßes auch für die moderne Exegese - fällt bei J. Smith aus! ... als ein weiteres kleines Beispiel dafür, wie Joseph Smith nicht ohne einen gewissen Erfolg versucht hat, einen dunklen Gedankengang zurechtzurücken, sei seine Behandlung von Römer 3,1-8 erwähnt. C. H. DODD bezeichnet die Paulusargumentation als “dunkel und schwach”. Die logische Antwort - vor der Paulus zurückschrickt - auf die Frage nach dem Vorzug der Juden (Römer 3,1) wäre gewesen: 'Gar nichts!' Dass Paulus hier seine eigene Logik durchkreuzt, scheint J. Smith ebenfalls empfunden zu haben. Er bringt die Antwort zur Übereinstimmung mit 2: 29: 'But he who is a Jew from the heart, I say hath much every way ...'”

Seitenlang nimmt Räisänen Aussagen Joseph Smiths unter die Lupe:  Zusammenfassend lässt sich feststellen”, so der anerkannte Exeget: „dass Joseph Smith durchgehend echte Probleme erkannt und sich darüber Gedanken gemacht hat ... wie durch ein Vergrößerungsglas lassen sich hier auch die Mechanismen studieren, die in aller apologetischen Schriftauslegung am Werke sind; die zahlreiche Parallelen zum heutigen Fundamentalismus aber auch zur raffinierten Apologetik etwa der Kirchenväter sind hochinteressant ...” Räisänen sagt, dass moderne großkirchliche Exegese durchaus die Frage zulässt ob der Urtext richtig überliefert worden sei. Er schließt nach weiteren Darlegungen mit folgenden, beachtenswerten Worten: „Mit diesen Beispielen aus den Werken Joseph Smiths, sowie aus der neueren Literatur über den Mormonismus hoffe ich hinreichend angedeutet zu haben, dass eine ernsthafte Beschäftigung mit diesen Werken eine lohnende Aufgabe, nicht nur für den Symboliker und den Religionswissenschaftler, sondern auch für den Exegeten und den Systematiker darstellt ...” Dass Außenseiter so positiv über Joseph Smith redeten war enorm selten. Es bewegte uns sehr.

Bernd Schröder und ich wurden in der Wendezeit abermals eingeladen zu den Studenten zu sprechen.

 

Wir wurden nicht mehr beaufsichtigt, sondern durften frei sprechen was immer wir wollten. So wählten wir das uns besonders am Herzen liegende Thema “Abfall und Wiederherstellung.”

„Da sind unübersehbare Identitäten in Lehre und der Praxis zwischen der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage und der Urkirche“, sagte ich, mit Rückblick auf Origenes, den Haupttheologen der Kirche um das Jahr 220, der damals als Schiedsrichter angerufen wurde, wenn in den Gemeinden Lehrdifferenzen auftraten. Selbst diejenigen die Origenes Autorität in Frage stellen, geben zu, dass Origenes fast ausnahmslos erfolgreich, weil überzeugend schlichten konnte. Was er darlegte das galt als Apostellehre. Später fasste ich den Inhalt zusammen:

 

Mit wenigen Sätzen international anerkannter Theologen lässt sich jeweils beweisen, dass die Urkirche der ersten 250 Jahre völlig anders war, als alle anderen im Jahr 1830. Sie steht da, als Gegenstück zu christlichen Realitäten etwa der nachnicänischen Zeit. Zwei antike Kaiser – Konstantin und Justinian, sowie ein Kaiserberater – Ambrosius von Mailand -, sind die Hauptverantwortlichen für die Änderungen und die Radikalisierung der Kirche samt dem negativen Paradigmenwechsel.

Joseph Smith hat nicht „irgendetwas“ restauriert und rekonstruiert, sondern das Bild, sowie die Basislehren der Urkirche: Das lässt sich leicht belegen. Aber ohne göttliche Führung wäre das ebenso unmöglich gewesen, wie eine Rekonstruktion des ersten Autos der Welt ohne Vorbild, durch einen Laien.

 „Als geradezu blasphemisch gilt in der „nichtmormonischen“ Theologenwelt, Joseph Smith hätte sich verstiegen in der Aussage „Gott war einst ein Mensch und der Mensch kann werden wie Gott!“  Das Lexikon der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen schreibt: „Die Vorstellung, der zufolge (a) der Mensch Gott werden kann bzw. (b) der biblische Gott sich aus einem Menschen entwickelte, steht im diametralen Gegensatz zur biblischen Unterscheidung von Schöpfer und Geschöpf.“ Andere großkirchliche Experten sagen es ähnlich, aber wesentlich unfreundlicher. Joseph Smith hat jedoch nie gelehrt, dass Elohim „der biblische Gott sich aus einem Menschen entwickelte.“ Denn ER ist der Architekt des Weltalls. Vor ihm gab kein Universum wie wir es heute verstehen. ER kann also nicht sterblicher Mensch gewesen sein, ehe er Gott wurde. Dr. Lothar Gassmann von der Bibelgemeinde Pforzheim urteilte noch schärfer ablehnend: „Dabei geht aus den Schriften der Mormonen ganz eindeutig hervor, dass sie keine Christen, sondern Polytheisten sind (sie glauben an viele Götter; Mormonen werden sich zur Götterstufe höherentwickeln; die Götter seien höherentwickelte Menschen). Dies ist reiner Spiritismus und Gotteslästerung!“ Aber!, kennt er dieses uralte urchristliche Zitat?:  „… in Jesus Christus ist der Weltgott ein Mensch geworden, um die Menschen zu vergöttlichen.“ Anton Grabner-Haider-Maier „Kulturgeschichte des frühen Christentums“ Vandenhoek Ruprecht mit Bezug auf: „Irenäus Werke gegen die „falsche Gnosis“

Später sollte ein Papst formulieren: „...Neben verschiedenen Briefen und einer Biographie über den Mönchsvater Antonius... kennen wir vor allem das Werk „Über die Menschwerdung des Wortes“, das den Kern seiner Inkarnationslehre beschreibt: Christus, das Göttliche Wort, „wurde Mensch, damit wir vergöttlicht würden...“ Benedikt XVI. Generalaudienz vom 20. Juni 2007

Nikolai Krokoch zitiert Tuomo Mannermaa der darauf verweist, dass das Wort der Theosis (deificatio) öfters bei Luther vorkommt als der Hauptbegriff seiner während der berühmten Heidelberger Disputation (1518) formulierten Heilslehre nämlich die theologia crucis. „Wenn in Luthers Epistelkommentaren und Weihnachtspredigten die inkarnatorische Wahrheit auf besondere Weise zum Ausdruck kommt, dann meint er ähnlich wie die orthodoxe Heilslehre die reale Teilhabe an der Gottheit Jesu. Wie das Wort Gottes Fleisch geworden ist, so ist es gewiss notwendig, dass auch das Fleisch Wort werde. Dann eben darum wird das Wort Fleisch, damit das Fleisch Wort werde. Mit anderen Worten: Gott wird darum Mensch, damit der Mensch Gott werde …” Tuomo Mannermaa “Luther und Theosis”, Band 16 Veröffentlichungen der Luther-Akademie Ratzeburg, Helsinki/Erlangen 1990, S. 11: “Theosis als Thema der finnischen Lutherforschung…

„... Der Gedanke der Vergottung ist der letzte und oberste gewesen; nach Theophilius, Irenaeus, Hippolit und Origenes findet er sich bei allen Vätern der alten Kirche, bei Athanasius, bei den Kappadoziern, Appolinares, Ephraim Syrus, Epiphanius u.a.“ A. vom Harnack „Lehrbuch der Dogmengeschichte“ Mohr-Siebeck, 1990

„Erst in der Erwerbung der Tugend durch eigenen Eifer erwirbt der Mensch die Ähnlichkeit Gottes. Unentbehrlich für das Erreichen der Gottähnlichkeit ist also die Entscheidungsfreiheit.“ H. Benjamins „Eingeordnete Freiheit; Freiheit und Vorsehung bei Origenes

Hier kommt die nächste Sonderlehre herauf: Keine andere Kirche lehrte zur Zeit Joseph Smiths, dass es im vorirdischen Dasein einen Kampf im Himmel gab, der sich um die Frage drehte, wie wir, wenn wir in die Sterblichkeit fallen aus der diesem Tief heraus befreit werden können. Luzifer - der Lichtträger- entwickelte die Idee, man könne die Menschen zwingen nicht zu sündigen. Er wollte uns jenes Individualrecht - die Entscheidungsfreiheit - nehmen, das Elohim allen gewährte, (Köstliche Perle Moses 4) welches jedoch „unentbehrlich für das Erreichen der Gottähnlichkeit ist.“ Da schließt sich der Kreis: Unübertroffen formulierte Joseph, ausgerechnet als er in Ketten gebunden im Libertygefängnis saß: „  „Die Rechte des Priestertums sind mit den Himmelskräften verbunden und können nur nach den Grundsätzen der Rechtschaffenheit beherrscht und gebraucht werden… wenn wir versuchen unsere Sünden zu verdecken oder unseren Stolz und eitlen Ehrgeiz zu befriedigen, oder wenn wir auch nur im geringsten Maß von Unrecht irgendwelche Gewalt, Herrschaft oder Nötigung auf  die Seele der Menschenkinder ausüben – siehe dann ziehen sich die Himmel zurück, der Geist des Herrn ist betrübt, und wenn er weggenommen wird, dann ist es mit dem Priestertum oder der Vollmacht des Betreffenden zu Ende.”  Lehre und Bündnisse 121: 36-37

Zwangstaufen, Glaubenskriege, jede Art Diktat durch Kirchenobere, jede Nötigung einer Menschenseele raubt dem Übertreter die Legitimation. Ambrosius von Mailand stürzte die Freiheitsrechte als er das Gesetz zum Glaubenszwang, „Cunctos populos“ zum Staatsgesetz erklären ließ.

Manchmal zweifeln selbst langjährige Mitglieder ob der 6. Glaubensartikel den Joseph Smith verfasste korrekt sei: „Wir glauben an die gleiche Organisation, wie sie in der Urkirche bestanden hat…“  Ein katholischer Forscher stellte ungewollt die Korrektheit dieser Behauptung fest: „Allgemein wurde bis vor Kurzem angenommen, dass die Ämter in der Kirche erst mit Beginn des 3. Jahrhunderts entstanden.“ Aber moderne Forschungsergebnisse widersprechen nun massiv. Wörtlich: „Die Kirche der Ignatiusbriefe ist (um das Jahr 100 n.Chr. G.Sk.) erstaunlich gut organisiert. Und hier liegt auch eine der wichtigsten Ursachen, weshalb man die Echtheit der Ignatiusbriefen bezweifelte. Man wollte einfach nicht glauben, dass die Kirche schon am Anfang des 2 Jahrhunderts so gut ausgebildete, organisatorische Strukturen gehabt hatte. Es gibt in der ignatianischen Kirche eine Hierarchie von drei Graden, die vom Volk der einfachen Gläubigen klar unterschieden wird: Bischöfe, Presbyter (Älteste und Priester G. Sk.) sowie Diakone. Sie sind der Kern der Kirche, ohne sie kann von der Kirche keine Rede sein: Alle sollen die Diakone achten wie Jesus Christus, ebenso den Bischof als Abbild des Vaters... Aus dem angeführten Zitat geht klar hervor, dass die sichtbaren Strukturen der Kirche ein Abbild der unsichtbaren Verhältnisse im Himmel sind. Gott, dem Vater entspricht in der Ortskirche der Bischof. Er besitzt die ganze Autorität und die mit ihr verbundenen Vollmachten...“ Stanisław Łucarz, „Die Kirche als Gemeinschaft bei Ignatius von Antiochien” 1993

Andere Forschungsresultate bestätigen das „Mormonische“ in der Urkirche: „... der Bischof leitet die Gemeinde. An seiner Seite stehen zwei Ratgeber sowie das Ältestenkollegium... Wenn es sich um eine auszuübende Kirchendisziplin handelte... so bildete der Bischof mit dem Presbyterkollegium (Ältesten-kollegium) das Richterkollegium... Der Bischof ist bei jeder Taufe, bei jedem Abendmahl und bei Ordinationen anwesend... die Diakone besuchen jene Kranken und Alten die der Bischof nicht erreichen kann, aber sie erstatten ihm einen Bericht.“ Jungklaus, Full Text of: „Die Gemeinde Hippolyts dargestellt nach seiner Kirchenordnung“...

Bis 1830, als die Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage, mit dem Anspruch auftrat die „wiederhergestellte Urkirche“ zu sein, existierten ausschließlich in ihren Reihen Bischofsgemeinden derselben Struktur mit vergleichbarer Aufgabenverteilung. Es gab verschiedene Grade des Priestertums

„Der Bischof bestimmte den in der Gemeinde zum Presbyter, der sich nach seiner Ansicht für dies Amt eignete, und der ihm gefiel.... Bei der Ordination von Diakonen durch den Bischof verspricht dieser, wenn der Diakon tadellos gedient hat, kann er später „das erhöhte Priestertum“ empfangen...“ Jungklaus, Full Text of: „Die Gemeinde Hippolyts dargestellt nach seiner Kirchenordnung“

Nur damals und dann wieder ab 1830 in der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage gab es ein niederes Levitisches bzw. Aaronisches Priestertum, sowie das „Höhere“ das Melchizedekische Priestertum wie es auch im Hebräerbrief Kapitel 7: 11-17 beschrieben wird, das jeder würdige, rechtmäßig getaufte Mann, mittels Ordination durch einen von Petrus Bevollmächtigten erlangen konnte. Extrem entgegengesetzt wurde und wird, seitens der lutherisch orientierten Kirchen behauptet: „Alle Christinnen und Christen sind Priester durch ihre Taufe.“ Die EKD

Davon allerdings wissen die angeblichen „Priester durch ihre Taufe“ nichts. Allerdings kennt die römisch-katholische Kirche noch Abstufungen im Priestertum. Das wird deutlich, wenn es um die Firmung geht: „Üblicherweise wird die Firmung von einem Bischof – als Nachfolger der Apostel – gespendet. Wo dies nicht möglich ist, kann die Firmung auch von einem Priester gespendet werden, allerdings bedarf es hierzu einer gesonderten Beauftragung durch den Diözesanbischof.“ Der Medienreferat der Österreichischen Bischofskonferenz

Alle Gemeindeämter waren ehrenamtlicher Art:

Niemand erhielt, in der Urkirche, jemals für seinen Dienst an der Gemeinde eine Entschädigung. Folglich blieben selbst die Bischöfe nach ihren Berufungen Berufstätige. Bekanntlich war Spiridon, noch 325, zugleich Bischof von Zypern, und Schafhirte. Um 220 beklagte Bischof Hippolyt von Rom, dass die „schismatische“ Gemeinde der Theodotianer in Rom, ihrem Bischof ein monatliches Gehalt zahlte. dies sei „eine gräuliche Neuerung Jungklaus, Full Text of: „Die Gemeinde Hippolyts dargestellt nach seiner Kirchenordnung“

Liturgische Gewandung gab es erst gegen Ende des 6. Jahrhunderts: Sie gingen alle, wie die „Mormonen“, stets zivil gekleidet: „Noch im Jahr 403 wurde es dem Patriarchen von Konstantinopel als Eitelkeit ausgelegt, dass er sich beim Gottesdienst ein eigenes Festgewand anlegen ließ... erst ab 589 gibt es liturgische Kleidungsstücke...“ Hertling, „Geschichte der katholischen Kirche bis 1740“ S. 46

Taufen...wurden nur an denen vollzogen, die zuvor belehrt wurden. „Nach Tertullian „(vgl. de bapt. 18) ist (die Taufe) bis dahin (um 200) keine Taufe von Säuglingen, sondern von reiferen Kindern oder Erwachsenen durch Untertauchung. In der Frühzeit wurden nur Erwachsene getauft“ Anton Grabner-Haider-Maier „Kulturgeschichte des frühen Christentums“

Kaiser Justinian erpresste zwischen 540 und 550 eine Reihe Änderungen, sowohl in der Kirchenpraxis, wie in den Bereichen Theologie und Rechtsprechung. Er führte die Kindstaufe ein: „Justinian ordnete 545 die Verfolgung nichtchristlicher Grammatiker, Rhetoren, Ärzte und Juristen an... er ließ heidnische Bücher verbrennen. Die Kindstaufe wurde zwangseingeführt, die Nichtbeachtung mit dem Verlust an Eigentum und Bürgerrecht bestraft.“  Philipp Charwath „Kirchengeschichte“

Abendmahl:

In den Versammlungsräumen befand sich, wie in denen der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage, kein Altar. „Es geht um das Sitzen um den Tisch. Wobei wieder deutlich wird, dass es in einer christlichen Kirche eigentlich keinen Altar geben kann, sondern nur einen Abendmahlstisch.“ K-P. Hertzsch, Evangelisches „Theologisches Lexikon", Union –Verlag, Berlin, 1977

Die Abendmahlsgeräte waren schlicht. Zeremonien gab es da wie hier nicht.

Kaiser Konstantin, „hat ... den Platz (seiner letzten Ruhestätte in Konstantinopel) ausersehen...Konstantin hatte vorgesehen, stellte einen Altar mitten hinein… Konstantin ordnete an, dass der Wert der Gebete, die hier zu Ehren der Apostel gesprochen würden, auch ihm zugutekommen.“ Hermann Dörries „Das Selbstzeugnis Kaiser Konstantins"                                                                                                                                                                        

Das Kreuz als christliches Symbol kam in den ersten 400 Jahren der Kirchengeschichte nicht vor. „Mormonen“ lehnen das Kreuz als Zeichen des Christentums ab. Den Katharern Bogumilen, und den Arianern galt das Kreuzzeichen, nach Döllinger, als das Zeichen des Demiurgen! „... im Jahr 431 (wurde) das Kreuz als zentrales christliches Symbol beim Konzil von Ephesus eingeführt.“ Der "Evangelische Kirchenbote..."

„Als allgemein verbreitetes und verwendetes Symbol der Christen lässt sich das Kreuzzeichen erst in der Zeit der Völkerwanderung nach 375 n. Chr. nachweisen.“  Bischöfliches Ordinariat Regensburg, 2010

Christ Felix Minucius schrieb etwa im Jahr 200, was er davon hielt, das Kreuz, an dem Jesus starb, und das Kreuz der Kaiser und ihrer Legionen miteinander in Verbindung zu bringen: „Kreuze beten wir nicht an und wünschen sie nicht. Ihr allerdings, die ihr hölzerne Götter weiht, betet vielleicht hölzerne Kreuze an als Bestandteil eurer Götter. Was sind sie denn anderes, die militärischen Feldzeichen und Fahnen, als vergoldete und gezierte Kreuze? Eure (!) Sieges- zeichen haben nicht bloß die Gestalt eines einfachen Kreuzes, sondern sie erinnern auch an einen Gekreuzigten... bei euren religiösen Gebräuchen kommt (das Kreuz) zur Verwendung.“ Stemberger „2000 Jahre Christentum“ "Dialog Octavius"

„Dieses Zeichen wurde seit Generationen von Kaisern im Feldlager beim Altar aufbewahrt. Frühestens 324, im Feldzug gegen Licinius, könnte es vielleicht, verändert durch Hinzufügung des griechischen P (Rho) als „Christus- monogramm” gedeutet worden sein. Ob es damals überhaupt irgendeinen Bezug zum Christentum hatte, ist unsicher, denn zahlreiche Untersuchungen belegen, dass das Chi Rho schon in jüdischen Schriften auftaucht und die Bedeutung von ‚fertig’ oder ‚brauchbar’ hatte.“ Seeliger „Die Verwendung des Christogramms durch Konstantin im Jahr 312“ - Untersuchungen kath. theol. Universität Tübingen

Damit steht fest, dass Konstantin als er am Vortag der „Schlacht an der milvischen Brücke“ im Oktober 312 in den Wolken, wenn überhaupt, ein Kreuz sah, war es ein unchristliches Zeichen … das in etwa trugen wir in der Runde der Theologiestudenten vor.

Bernd sagte hinterher, nachdem wir jedem angehenden Baptistenprediger, männlich und weiblich, ein Buch Mormon geschenkt hatten: „So viel Neues und so viel Lebendigkeit haben die hier lange nicht gehört und erlebt.”

 

Amerikanische Missionare in der DDR

 

Die SED-Führung erlaubte ab März 1989, dass die zwanzigjährigen DDR- Mormonen von der Kirche als Missionare berufen und sogar ins “kapitalistische” Ausland auf Mission geschickt werden durften. Einige der Berufenen kannte ich. Sie erhielten einen grünen Pass, wie ihn die DDR-Diplomaten bekamen.

Kurz zuvor gestatteten sie die Arbeit US-amerikanischer Mormonen-missionare in der DDR. Der Preis dafür war, zu bekennen, dass wir Mormonen mit dem Sozialismus leben konnten.

Uns blieb ja ohnehin nichts weiter übrig, wir mussten mit dem Sozialismus leben.

Natürlich mischten wir uns zu keiner Zeit aggressiv in die DDR-Politik ein, weil der Bereich, in dem wir uns bemühten, Menschen zusammenzubringen, „nicht von dieser Welt” war und ist. - wie Jesus schon in einer Grundsatzbemerkung gegenüber Pilatus äußerte - Joh. 18: 36

 

Der Verdacht unserer Kritiker, es sei ein Staatsvertrag geschlossen worden, griff viel zu hoch. Praktisch konnte die Kirche unter allen Bedingungen existieren, vielleicht sogar in der Illegalität.

Diese im Herbst 1988 gefassten Politbürobeschlüsse passten nicht in mein Bilderbuch. Fühlten sich die Sozialisten so stark oder schon zu schwach, um dem Begehren unserer Führungsspitze noch länger zu widerstehen? War es die Altersschwäche der Greise im Hause des Zentralkomitees der Partei, die sie so milde und unerwartet nachsichtig machte? Oder wünschte Erich Honecker, über den Umweg der Mormonenkirche eine Einladung in die USA zu erhalten?

 Richtig ist, dass ihnen von uns keine kriminell-politische Gefahr drohte.

War dies für sie eine Möglichkeit, einer stets wachen Weltöffentlichkeit zu beweisen: Seht, wir sind nicht die Buhmänner, für die ihr uns haltet? Niemals, auch das stand fest, würde sich das Mormonentum zu einer Massenbewegung auswachsen. Dafür verlangt diese Kirche von ihren Mitgliedern einfach zu viel Selbstverleugnung, zumindest aber einen hohen Grad an Selbstdiziplinierung.

Die DDR-Politiker hatten die Resultate gesehen. Das jedenfalls führte der stellvertretende Staatssekretär für Kirchenfragen Herr Kalb anlässlich der Einweihungsfeierlichkeiten des Freibergtempels deutlich aus.

Waren es diese Ergebnisse, die uns in den letzten DDR-Jahren und Monaten praktisch einen Sonderstatus einbrachten?

Viele Details trugen dazu bei, bestehende Spannungen abzubauen. Dazu gehörten die Konferenzen über Sicherheit und Zusammenarbeit in Helsinki 1973 und 1975, der SALT II-Vertrag von Reykjavik von 1986 zu dessen Gelingen Präsident Reagan und Generalsekretär Gorbatschow mit Hilfe ihrer Unterhändler beitrugen. Am 29. 06. 1988 las ich mit höchstem Erstaunen Michael Gorbatschows Bekenntnis, das er als Generalsekretär der Kommunistischen Partei Sowjetrusslands, auf der XIX. Unionsparteikonferenz der KPdSU, am Vortag, in seinem umfangreichen Rechenschaftsbericht ablegte: „Eine Schlüsselposition innerhalb des neuen Denkens nimmt die Konzeption der Entscheidungsfreiheit ein... “ Neues Deutschland. 29. Juni 1988, S.

Das geistige Leben in der DDR war seit Bekanntwerden der Gorbatschowideen anders. Die DDR-Führungsriege durfte nicht dem derzeitigen Kopf der Kremlführung widersprechen, der mutig betonte, dass dem Menschenrecht auf Entscheidungsfreiheit eine Schlüsselrolle im künftigen Leben aller Völker zukommt.

Konsequenterweise schrieben im Oktober 1988 drei Repräsentanten meiner Kirche einen Brief an die DDR-Regierung unterzeichnet von Henry Burkhardt (Präsident), Frank Apel (Pfahlpräsident), Manfred Schütze (Pfahlpräsident). Darin heißt es u.a.: „Die Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage insgesamt nutzt ihre ausgedehnten internationalen Verbindungen, um konstruktiv auf der Grundlage der christlichen Weltanschauung zur Verbesserung der Beziehungen der Völker untereinander beizutragen. Sie unterstützt damit auch unsere Regierung bei ihrem Bemühen um Koexistenz, Frieden und gute Nachbarschaft. Dieser Weg, von dem wir glauben, dass er der Schlüssel zu einer glücklichen und friedlichen Zukunft der Menschheit ist, verlangt aber auch immer wieder ein neues Bedenken der eigenen Situation und der des Partners und daraus resultierend die Bereitschaft zum gegenseitigen Gespräch, zum Gedankenaustausch und zur Zusammenarbeit.“

 

 

Der Personenkreis - der staatlicherseits beauftragt wurde das „Mormonentum allgemein und speziell in der DDR“ zu bewerten – konnte nicht umhin, anerkennen, dass in dieser Kirche Entscheidungsfreiheit großgeschrieben wurde. Selbst die Stasioffiziere, die mit diesem Thema befasst waren, vermuteten richtig. Unsere Aufgabe bestand in der Hauptsache darin, an uns selbst zu unserer persönlichen Selbstvervollkommnung zu arbeiten, gleichgültig wie weit wir damit kamen. Das ist ja das Geheimnis des Buches Mormon, wenn Du es gründlich liest ermutigt es Dich ununterbrochen das Richtige zu wählen und zu allen Menschen gut und ehrlich zu sein. Was uns trennte, musste nicht wieder und wieder betont werden, das Gemeinsame sehr wohl, der Wunsch nach Frieden und der Wohlfahrt aller.

 

Unmittelbar vor den Maiwahlen 89

 

Nicht wenige DDR-Bürger fühlten es, einige sagten es mir, dass die Mächtigen in der Honneckerregierung sich zum letzten Mal eines glatten “Sieges” erfreuen würden. Das war die Kehrseite der sanfter gewordenen Überwachungspolitik Wir lasen zwischen den Pressezeilen täglich die Wahrheit: Das Ulbricht-Erbe im kommunistischen System krankte sehr.

Andererseits war allein der vage Gedanke, dass Moskau und die Altpolitikerriege in Wandlitz jemals ihre militärisch bestens fundierte Macht freiwillig aufgeben würden für uns unvorstellbar.

Dennoch lag das Neue in der Frühlingsluft. Viel mehr Menschen als je zuvor hatten Westverwandte besuchen dürfen und alle kamen mit den Eindrücken zurück, die ein bunt schillerndes Schlaraffenland einem Bewohner eines Grau-in-grau-Staates vermitteln musste. So geht es nicht weiter, sagten die erschütterten Heimkehrer mehrheitlich. Es gab kaum noch Schokoladen, kaum gute Bonbons, es mangelte mehr denn je an Effizienz der Wirtschaft. Das Lebensmittelnormalangebot fanden wir im Wesentlichen nur noch in den so genannten Delikatläden, während sich die Lücken in den HO-Kaufhallen, auf jedem Regal breiter machten, - mit Ausnahme der Alkoholpalette. Peinlich wirkte die westliche Perfektion, die allabendlich, ebenso wie Chinas Studentenrevolte in die kleinste Stube hineinflimmerten. Egon Krenz hätte damals nie nach Peking reisen dürfen, und wenn schon, dann hätte er danach etwas Kluges sagen und tun müssen - oder schweigen. Aber er war auch nur einer jener Leute, die meinten, ihr bloßes Wort könnte die Gesetze der Welt außer Kraft setzen.

Ich irrte in Manchem.

Fast bis zum Ende dieser Entwicklung dachte ich, nur eine die ganze Menschheit vernichtende Feuersbrunst könnte diesem Eispalast etwas anhaben. Während sein atemberaubend schnelles und lautloses Zerbröseln bewies, wie schnell die Masse unter der Einwirkung des Gorbatschowschen Tauwetters morsch geworden war. Wobei der Dauerfrost der Stalindiktatur erst die Erschaffung dieses sehr künstlichen Apparates und Staatsgebildes ermöglicht hatte.

Die Sonne der Vernunft wollte sich durchsetzen, ausgelöst durch ein paar Männer um Gorbatschow.

Mögen ihn andere deshalb verdammen, ich bin überzeugt, er hoffte, was er tat würde nicht aus dem Ruder laufen. Immerhin hatte er  auf seine Weise Hand ans Allerheiligste der Diktatur legte, indem er Unwahrheit und Willkür entmachtete.

Alle Oststaatsmänner wussten es, insbesondere die russischen. Fast überall logen die Statistiken und die Menschen, die sie machten. Sie hatten weder die Kornmengen geerntet, noch die zig Millionen Tonnen Baumwolle auf den Feldern der südlichen Unionsrepubliken, wie gemeldet wurde – amerikanische Satelliten mit ihren Fehlfarbenkameras bewiesen das -. Es muss sie erschüttert haben die Wirklichkeit sehen zu müssen.

Der Rest, ihr Untergang, war nur die Folge davon.

 

In diesen Tagen

 

An jenem 30. Oktober 1989, als die Ost-CDU in Presseerklärungen bekannt gab, dass sie sich aus der SED-Vormundschaft lösen wolle, bin ich ihr demonstrativ beigetreten. Nicht weil ich es den “Genossen Kommunisten” nun aber „zeigen“ wollte, sondern mein Wunsch war beizutragen, dass wir durch beste Mittel und Schritt für Schritt behutsam, zu einer freiheitlich demokratischen Grundordnung gelangen. Mir war das C wichtig. Die christlichen Grundwerte sollten zu Grundwerten auch der Parteipolitik werden: Lauterkeit und Wohlwollen gegenüber allen. Das Ludwigshafener Grundsatzprogramm, dass die West- CDU sich 1978 gab sprachen für sich: „Der Mensch ist auf Zusammenleben mit anderen - vornehmlich in festen sozialen Lebensformen - angelegt. Sein Leben verkümmert, wenn er sich isoliert oder im Kollektiv untergeht. Sein Wesen erfüllt sich in der Zuwendung zum Mitmenschen, wie es dem christlichen Verständnis der Nächstenliebe entspricht. Mann und Frau sind gleichberechtigt und auf Partnerschaft angewiesen. Unterschiede der Meinungen und Interessen können zu Konflikten führen. Sie sollen offen und in gegenseitiger Achtung ausgetragen und dadurch fruchtbar gemacht werden. Im Streit um den besten Weg muss jeder seinen Standpunkt selbst verantworten. Kein Mensch verfügt über die absolute Wahrheit. Widerstand gilt daher denen, die ihre begrenzten Überzeugungen anderen aufzwingen wollen. Jeder Mensch ist Irrtum und Schuld ausgesetzt. Diese Einsicht bewahrt uns vor der Gefahr, Politik zu ideologisieren. Sie lässt uns den Menschen nüchtern sehen und gibt unserer Leidenschaft in der Politik das menschliche Maß…. Der Mensch ist frei. Als sittliches Wesen soll er ver nünftig und verantwortlich entscheiden und handeln können. Wer Freiheit für sich fordert, muss die Freiheit seines Mitmenschen anerkennen. Die Freiheit des anderen bedingt und begrenzt die eigene Freiheit. Freiheit umfasst Recht und Pflicht. Es ist Aufgabe der Politik, dem Menschen den notwendigen Frei heitsraum zu sichern. Um sich frei entfalten zu können, muss der Mensch lernen, in Gemeinschaft mit anderen zu leben Wer sich von jeder mitmenschlichen Verpflichtung lösen und von jedem Verzicht befreit sein möchte, macht sein Leben nicht frei, sondern arm und einsam.“ (Ende der Zitate)

Das waren Worte die aus dem Mund Josephs Smiths stammen könnten. Das war es was ich in vielen folgenden Reden beteuerte und was insbesondere den katholischen Anwesenden zusagte.

 

 

 

 

 Man and woman are equal and rely on partnership. Differences of opinion and interests can lead to con flicts. They should be argued out openly and in an atmosphere of mutual respect so that they bearfruit. In the controversy about the best path, each is himself

responsibie for his point of view. No-one has the gift of absulute truth. Therefore, those who seek to impose their limited con victions on others should be resisted.  Everyone is exposed to errorand guilt. Recognising this protects us form the danger of ideologising policy. It allows us to see man unemotionallyand imparts a human dimension to ourpassion in politics .

 

 

Ich bekenne freimütig, dass ich die lauten Aufmärsche in Leipzig und andernorts, die sich gegen die SED richteten, von Leuten getragen wurden, als verfrüht betrachtete. Noch herrschte DDR-Recht und ließ Gewaltanwendung durch Staatsorgane zu. Das überschützte ich.  Meiner Meinung nach wurde allzu viel zu schnell eingefordert: Reisefreiheit, Redefreiheit. Ich gehörte zu den Pessimisten. Ich gebe zu, mir schien, dass wir bereits viel erreicht hatten. Wir älteren Mormonen genossen die neue Religionsfreiheit seit 1985 zunehmend.

Auch deshalb marschierte ich zunächst nicht mit. Ich dachte ohnehin das Schlimmste. Die Hauptbuchhalterin unserer Fischereigenossenschaft Inge Schoemann, die zu den ersten Umstürzlern in Neubrandenburg gehörte sagte ich: “Ihr reißt den ganzen Bau ein, hoffentlich stürzen Euch die Balken nicht auf den Kopf.” Ich wurde jedoch eines Besseren belehrt. Die Führer der Kommunisten ließen die Kanonen in den Arsenalen.

Das hätte auch anders kommen können, wäre Gorbatschow nicht gewesen.

Wie nahe wir an einer Katastrophe vorbeigeschrammt sind, werden wir wohl erst später wissen.

Dennoch muss ich sie loben: Die bewundernswerten, evangelischen Frauen der Leipziger Nikolai-Kirche hatten diesen Aufruhr in Gang gesetzt. Das müssen wir alle, die Demokratie lieben, dankbar anerkennen. Ihr verwegener Mut, als erste offen demonstrierend auf die Straße zu gehen, war der Beginn. Steinharte Männer die mir gegenüber wiederholt wörtlich beteuert hatten linientreue Kommunisten zu sein und die noch vor Tagen gewillt waren für die rote Fahne zu sterben, erwachten am 31. Oktober als Demokraten. Wunder über Wunder passierten.

Aber reichte das schon aus, um von einer Wende zum Guten reden zu können?

Ich sah diese Scharen von Parteigruppenorganisatoren und Parteisekretäre der Betriebe durch den Neubrandenburger Kulturpark zur Stadthalle eilen. Alle waren an jenem 30. Oktober auf höchste erregt. Die Parole der kommenden zehn Tage bis zum neunten November hieß für sie: Schadensbegrenzung. Doch da war nun umgehend nichts mehr, zum Vorteil des kommunistischen Systems, zu retten. Die echten Kommunisten hatten von Oktober 1949 bis Oktober 1989 hinreichend Zeit gehabt, der Welt zu beweisen, dass ihr Staat der bessere deutsche sei.

Von der evangelischen Neubrandenburger St. Johanniskirche aus zogen tausende Oppositionelle, nach Feierabend, durch die Straßen der Innenstadt zum Karl-Marx-Platz. Sie gingen mutig unter rotbunten Plakaten mit regimefeindlichen Sprüchen

Mitten durch das Gewühl dieser rebellierenden Menschenmassen sah ich zwei unserer zwanzigjährigen Missionare schreiten, Elder Craig und Elder Scofield. Beide gingen in hellen Mänteln, beide wie es mir vorkam ziemlich unbeeindruckt von dem für uns gewaltigen Umschwung. Sie gaben ihr Bestes und gewannen tatsächlich viele Herzen. Menschen die sich unserer Kirche durch die Taufe durch untertauchen anschlossen. Aber, in turbulenten Zeiten ist es selbst für die Keime der Eichenbäume schwierig schnell genug die Wurzeln in die Tiefe zu schicken. Viele kamen sehr wenige blieben.

In meine Untersucherklasse in Neubrandenburg kam irgendwann später auch ein ehemaliger Offizier der Nationalen Volksarmee Bernd. Seine Frau Martina hatte sich zuvor der Kirche angeschlossen, worüber er wenig erfreut war. Aber als er hörte die Gemeinde faste für die Gesundheit seiner Tochter Helen, fasste er den Entschluss mitzukommen zur Kirche.

Ich lehrte Nephis Zeugnisse. Da kam mir der Gedanke: Lade ihn ein am kommenden Sonntag das Thema zu 1. Nephi 13 zu übernehmen. Er schaute mich verschmitzt an, überlegte und fragte nach um was es geht: „Bernd, das Grau und Dunkel des Mittalters kam herauf, weil machtgierige Leute die Reinheit des ursprünglichen Evangeliums missbrauchten…“ Wir redeten noch eine Weile, und er sagte zu. Bernd schloss sich nur wenige Wochen später der Kirche dauerhaft an…

 

Sotschi

 

Noch Anfang Oktober hatte mir der Abteilungsleiter für Land- und Forstwirtschaft vom Rat des Bezirkes eine Auszeichnungsreise zugesprochen - für Aktivitäten zur Planerfüllung im Fischfang - einen Flug nach Sotschi am Schwarzen Meer mit einwöchigem Hotelaufenthalt. Ich nahm dankbar an.

Erikas Anteil allerdings mussten wir selbst bezahlen. Wir flogen am 5. Dezember von Dresden ab. In unserem sehr modernen, wunderschön am Fuße der kaukasischen Berge gelegenen Hotel in Dagomir, in dem riesige, auf Westbesucher eingestellte, Restaurantanteile völlig leer standen, waren wir von den sich überstürzenden Ereignissen in der Heimat abgeschnitten. Die Informationen flossen spärlich. Auf einer großen Wandtafel vor dem Speisesaal fanden wir mitunter die Kernsätze der letzten Nachrichten aus der DDR (noch lange nicht aus Deutschland). Wie wichtig mir das war. Erka winkte ab, ihr Herz bangte eher mit ihren Söhnen und Enkeln.

Wir waren eine Gruppe von fünfzig Leuten, allesamt lange Jahre in der Landwirtschaft tätig gewesene Leiter von Kollektiven. Ich wunderte mich über die einhelligen und stürmischen Freudensäußerungen, wenn sie es einander vorlasen: „Der erst am 18. Oktober als Generalsekretär der SED bestätigte Egon Krenz von Hans Modrow gestürzt!” Sie jubelten, die SED-Mitglieder, als hätten wir miteinander einen Lottofünfer gewonnen. Mich freute es auch, weil aus kleinen Reformen nun größere würden.  Nur ich fragte mich besorgt, wer und was am Ende der Überraschungskette stehen wird.

Im blitzsauberen Botanischen Garten des sich riesig ausdehnenden Kurortes, hatte ich tags zuvor eine der beiden Dolmetscherinnen angesprochen. Sie ging bereitwillig auf meine teilweise indiskret gestellten Fragen ein: „Ja. Gorbatschow hat den Offizieren erlaubt, ihren Dienst zu quittieren. Aber, es nahmen nicht, wie die Parteiführung erhoffte, die älteren Herrschaften ihren Hut, sondern die jungen, eher pazifistisch eingestellten Männer verließen die Rote Armee.” Ihr Bruder war ebenfalls davon gegangen. Von ihm wusste sie, dass es sich so verhielt. Die jungen Tauben flogen weg, die alten Falken blieben. Diese wichtige, einleuchtende Aussage einer klugen und ehrlichen Russin sollte mich noch bestimmen, wenig später eine wichtige Entscheidung von gewisser politischer Tragweite zu fällen…

Nachdem wir wohlbehalten heimgekehrt waren, fand eine Mitglieder-versammlung der CDU Neubrandenburg statt. In dieser Zusammenkunft traf ich zum ersten Mal die jungen Katholiken Rainer Prachtl, Paul Krüger, Ralf Kohl, Günter Jeschke und andere, die wichtige Aufgabenträger in der neuen Demokratie werden sollten. Ich begann meine durch die Vorjahre geprägten Ansichten in Zeitungsartikeln und in Ansprachen auszudrücken, sagte es immer wieder, dass Glaube ohne Vernunft Fanatiker und Vernunft ohne Glaube Automaten hervorbringen wird. Meine Hoffnung dagegen lautete immer noch, dass Glaube und Vernunft Künstler macht, nicht nur Lebenskünstler, wenn sie ihren Idealen und ihrer Liebe treu bleiben.

Als ich mir 1954 eine neue Bibel gekauft hatte, suchte ich mir aus den Texten ein Motto aus und schrieb es, weil ich es als schöne Aufforderung verstand, in die Einbandseite: „Tue deinen Mund auf für die Stummen und führe die Sache derer, die verlassen sind.” Sprüche 31,8 Erst später lernte ich, dass diese Zeilen ebenfalls von einem großen Christen, Dietrich Bonhoeffer, zum Lebensmotto gewählt wurden.

So versuchte ich, meinen Glauben auch in die Politik einzubringen. Für mich waren Politik und Religion seit eh und je eine Einheit. Für mich war Wahrheit das, was sich wie Gold nie änderte. Sätze wie Shakespeare Polonius im Hamlet sagen lässt: „Sei ehrlich zu dir selbst und daraus folgt wie Tag der Nacht, du kannst nicht falsch sein gegen irgendwen.”

 

Eines Tages, Ende Januar 1990, traf ich auf der Straße, vor dem Krankenhaus in der Pfaffenstraße, zufällig Pastor F. Rabe von St. Michael wieder und teilte ihm mit, dass ich mich entschlossen hätte, soviel ich kann, beizutragen die Demokratie fest zu machen. Er kannte meine Ansichten, die ich in der Zeitung "Demokrat" in einem Artikel über Glauben und Vernunft beschrieben hatte. Er teilte sie und lud mich deshalb ein, anlässlich des Friedensgebetes am 12 Februar 1990, in der Neubrandenburger Johanniskirche zu sprechen. Er stellte mir ein Thema aus dem 97. Psalm. Ich schaute ihn natürlich fragend an. „Was werden deine Amtsbrüder dazu sagen? Ein Mormone spricht in einer evangelischen Kirche?” Er zuckte mit den Achseln: „Das haben wir doch gerade abgeschafft, dass Menschen ausgegrenzt werden.”

 

Chefpastor von St. Johannis war Herr Martins. Er soll sehr geschluckt haben, als er hörte: ein Mormone wird in seiner Kirche reden.

Auch er kannte mich seit vielen Jahren. Wir fanden uns  einmal in den frühen achtziger Jahren, in seinem Amtszimmer, in der Großen Wollweberstraße zusammen. Es wurde eine längere Unterhaltung zum Thema evangelische Rechfertigungslehre. Wie nahezu alle anderen Gespräche, die ich mit Geistlichen der Großkirchen gesucht hatte, war auch dieses freundschaftlich verlaufen. Deshalb war ich so überrascht gewesen, als Herr Pastor mir damals abschließend mitteilte, er stünde mir für ein weiteres Gespräch nicht wieder zur Verfügung. Wovor fürchtet er sich, fragte ich mich.

Meine Absicht war, in der Johanneskirche vom Mut und der Glaubenstreue eines polnischen Katholiken zu reden. Solange ich seine Geschichte kannte, bewunderte ich den Franziskanerpater Maximilian Kolbe. Bevor ich ans Mikrofon in der Johanniskirche trat, sagte F. Rabe zu mir: “Achte auf den Nachhall!”

Ich sprach denn auch in Intervallen, was mir ganz ungewohnt war: “Einer der Männer, die uns auf wunderbare Weise vorgelebt haben, wie stark Glaube sein kann, ist der Franziskanerabt Maximilian Kolbe. Am Abend des 12. Mai 1941 schlossen sich die eisernen Tore des Konzentrationslagers Auschwitz hinter ihm. Er nahm nichts als seine große, von seiner Religion bestimmte Menschlichkeit mit sich. Er sollte dieses Tor nie wieder als freier Mann verlassen. Wenige Woche nach seiner Inhaftierung gelang einem Polen die Flucht. Die Führer der SS-Verwaltung schäumten vor Wut. Sie erklärten, sie würden jeden zehnten Polen des Blocks, in dem Pater Kolbe lag, erschießen. Als der Lagerkommandant mit dem tödlichen Auszählen bis Frantisek Wlodarski kam, einem Familienvater, der entsetzt aufschrie, trat Maximilian Kolbe vor, nahm die Häftlingsmütze vom Kopf und sagte: Ich werde für ihn sterben. Der schockierte SS-Offizier akzeptierte. Er nahm sich vor, diesen Mann auf ausgesucht grausame Weise sterben zu lassen. Sie quälten ihn mehrere Tage lang allmählich zu Tode. Wo Maximilian Kolbe hätte verzweifelt und zerschmettert am Boden liegen müssen, da richtete er sich auf. Aus seinem Mund kam keine der Klagen, die wir sooft hören und die ausdrücken: Wenn es einen gerechten Gott gäbe, dann würde er das Elend nicht zulassen. Er wusste mehr. Er hatte erfahren, dass Gott sichtbares Leid mit unsichtbarer Freude zudecken will. Die rohen SS-Männer konnten das nicht fassen. Und manchmal können auch wir es nicht verstehen, denn wir sind Menschen, die fast immer nur bis auf die Oberfläche blicken können, tiefer nur selten. Wir dürfen leben! Machen wir das Beste für uns und unsere Nächsten daraus.”

Pastor R. nickte mir zu, als ich mich, nach diesen Worten, wieder hinsetzte. Damit war unsere Freundschaft beschlossen. Ich gab ihm später ein Buch Mormon und er erwiderte, als wir irgendwann danach darauf zu sprechen kamen: “Mir sind die Texte des Buches Mormon nicht unsympathisch.”

Vier Wochen danach sollte ich, an derselben Stelle, die nächste Ansprache halten. Das tat ich gerne und es brachte mir die Herzen einiger Neubrandenburger näher. Einladungen aus katholischen Kreisen nahm ich ebenfalls gerne an. Im Gemeindesaal der Kirche sah ich die vielen Bibeln stehen, alles „Einheitsübersetzungen“ Ich verteilte sie an die etwa 30 Anwesenden um mit ihnen so zu diskutieren wie ich es in vielen folgenden Zusammenkünften tat. Mir lag daran zu belegen, dass Gott durch Propheten zu aktuellen Anlässen sprach und spricht. Mein Erstaunen kam, als ich bemerkte, dass sie nicht gewohnt waren selbst die Bibel zur Hand zu nehmen, jedenfalls nicht öffentlich.

Zwei Damen, die etwa um die 50 Jahre alt sein mochten kamen nacheinander zu mir. Sie sagten dasselbe: „Ich erwäge, mich ihrer Kirche anzuschließen!“

Warum es nicht zustande kam? Ich weiß es nicht.

Deutsche sind anders als etwa Anglikaner. Deutsche schauen sich misstrauisch um: „Was wird meine Nachbarin dazu sagen?“

Meine teilweise selbstgewählten Pflichten nahmen, zumal ich noch jeden Tag zum Fischen hinausfuhr, meine ganze Kraft in Anspruch.

Kurz nachdem mich die Parteitagsteilnehmer zum stellvertretenden CDU Kreissekretär gewählt hatten, musste ich eine wichtige Entscheidung treffen. Da meine Vorgesetzte, Frau Benz, in Friedland wohnte, fiel mir nämlich zeitweise die Aufgabe zu, unsere politische Arbeit in Neubrandenburg zu leiten.

Noch im April 1990 hielt ich eine offene Konfrontation für denkbar.
Westdeutsche Ratgeber, die uns besuchten um uns Neupolitiker zu beruhigen und sicherlich wohlmeinend zu beeinflussen, überzeugten mich nicht. Es gibt keine Sicherheit, je mehr wir sie uns wünschen, umso weniger. Fanatiker konnten den Großbrand immer noch legen.

Dr. Alfred Dregger

Der auch in der DDR wohl bekannte Vorsitzende der CDU/CSU Bundestagsfraktion, Dr. Dregger, kündigte kurz vor Ostern seinen Besuch an. Sein Wunsch war, am 20. April auf dem Marktplatz in Neubrandenburg aufzutreten.
Kurz zuvor war ich zum stellvertretenden CDU-Kreisvorsitzenden gewählt worden und es gab unterschiedlichste Leute, die mich mit mancherlei Informationen versahen. Da meine Vorgesetzte, Frau Benz, fernab in Friedland wohnte, fiel mir die Aufgabe zu, unsere politische Arbeit in Neubrandenburg zu organisieren.
Ich erwog den ernsten Hinweis, den ich am Karfreitag aus Kreisen erbitterter Westfeinde erhielt, dass es zu einem Massenaufmarsch fanatischer Linker kommen wird, falls der als ‚Rechtsaußen’  Politiker seine Rede öffentlich halten würde. Im Geiste sah ich einen Tumult voraus. Was dann? Diese Vision von flatternden roten Fahnen beschäftigte mich erheblich. Im Gegensatz zu meinen Gesprächspartnern aus dem Konrad-Adenauer-Haus war ich nicht der Meinung, dass ein letztes Aufbäumen der immer noch im Lande unter Waffen stehenden NVA auszuschließen sei. Meiner Überzeugung nach gab es immer noch genügend Oberste, die ihre Machtinsignien, selbst gegen alle Vernunft, gemäß ihrem noch in Kraft stehenden Fahneneid verteidigen könnten, wenn sie ein rotes Signal dazu auffordern würde. Noch galt das DDR-Recht!

Ich schloss eben von mir auf andere, ein Trugschluss, wie ich nun weiß. Wir müssen uns selbstverständlich korrigieren dürfen, in jeder Hinsicht übrigens, bis das Fundament unseres Wesens Wahrhaftigkeit ist. Aber dieses Ziel darf niemand dadurch in Frage stellen, dass er sich selber untreu wird. Gewiss ist keiner gut beraten, wenn er aufgefordert wird seine Überzeugungen einfach über Bord zu werfen. Deshalb schien mir, es sei leichtsinnig, solche Erhebung der Linken auszuschließen, zumal der 20. April Hitlers Geburtstag war. Ein Umstand, den niemand im Büro des Herrn Dr. Dregger, auch nur im Traum bedacht hatte, den jedoch ein gewiefter Propagandist durchaus in seine Argumentation, gegen unseren Gast, und damit gegen uns, hätte zur Geltung bringen können. Mag sein, dass ich verrückte Vorstellungen und Befürchtungen betrachtete. Indessen stimmten die Mitglieder des Kreisvorstandes der CDU Neubrandenburg nach Erörterung der Problemlage meinem Antrag mehrheitlich zu, Herrn Dr. Alfred Dregger nur in der Stadthalle Neubrandenburg auftreten zu lassen. Vor allem der spätere Oberbürgermeister Neubrandenburgs, Peter Bolick, sah die Dinge ähnlich wie ich.

 Im Büro Dr. Dreggers war man entsetzt. Denn ich bestand auch auf Änderung einiger Details auf den Ankündigungsplakaten. Morgens am 20. April bat mich Dr. Dregger zu einem Vieraugengespräch. Ich verteidigte den Beschluss und meine eigenen Ansichten, sagte, was ich dachte und zu befürchten glaubte. Im Beisein seiner charmanten Sekretärin umrundeten wir vielredend die Tribünen des Sportplatzes am Badeweg. Er war sehr beherrscht und zugleich sehr wütend auf mich. Ich ließ mich auf nichts ein, obwohl mir das schwer fiel, denn wer war ich gegen ihn? Wahrscheinlich hielt er mich für einen verkappten Roten.
Vielleicht liefen ihm bei dieser Vermutung kalte Schauer über den Rücken.
Doch obwohl ich mit einigen seiner politischen Auffassungen nicht übereinging, stand ich nicht gegen ihn. Mir war nur klar, dass ein Mann des Westens bei bestem Willen nicht nachempfinden kann, wie jemand fühlt, der sein Leben unter dem Diktat der Partei der Arbeiterklasse zugebracht hatte. Leider oblag es mir, Herrn Dr. Dregger eine zweite Absage zu erteilen. Es war meine Pflicht, ihm den Beschluss des Rates der Neubrandenburger Geistlichkeit mitzuteilen.
Dieser Rat hatte mich eigens eingeladen und mir dringend nahegelegt, Herrn Dr. Dregger zu übermitteln, dass er an der ‘Gedenkstätte für die Opfer der Nazibarbarei und der kommunistischen Gewaltherrschaft’ in Fünfeichen, kein Kreuz hinstellen möge, und sei es noch so klein. Das wäre ihre Sache. Sie hätten bereits den Termin für die Ausrichtung eines Gebetsgottesdienstes festgelegt. An diesem Tag wollten sie den Platz für ein künstlerisch gestaltetes Kreuz bestimmen.
Es gibt irgendwo ein Foto, das uns gemeinsam im Bereich des Vorgartens des damaligen Neubrandenburger CDU-Hauses zeigt. Dr. Dregger lächelte in die Kamera hinein. Doch ich wusste, wie bitter seine Gefühle waren. Denn seine bereits vorbereitete Presseerklärung musste wesentlich geändert werden, das von ihm bestellte Holzkreuz war umsonst hergestellt worden...
Er lud die Neubrandenburger CDU-Spitze zum gemeinsamen Abendbrot ins Hotel ein. Wieder musste ich ihm missfallen. Er suchte eine Antwort in seinem Sinne was die Oder - Neiße - Grenze betraf. Ich fasste zusammen: „Es ist tief traurig aber der Verlust ungeheurer deutscher Stammgebiete im Osten… ist der Preis für den von uns angezettelten 2. Weltkrieg, den Deutschland zu zahlen hat.“ Er schluckte schwer. Jetzt war ich Feind für ihn, aber ich verstand ihn besser als er ahnen konnte.

Niemand aus der zwölfköpfigen Gruppe widersprach.

Nur wenige Stunden zuvor wurde ich im Auftrag Dr. Dreggers um eine Einschätzung gebeten: „Wie sollte ihrer Meinung nach der tatsächliche Wechselkurs ausfallen?“ Ich sagte prompt: „10 zu 1.“ Mir war sehr wohl bewusst, dass alle Kleinsparer mich gesteinigt hätten, wäre ihnen das nicht nur zu Ohren gekommen, sondern auf meinen Rat hin realisiert worden. Aber, wer wusste es, dass die in 14 Großkooperativen zusammengefassten landwirtschaftlichen Genossenschaften allesamt hoch verschuldet waren. Auf ihnen lasteten Millionen Kreditsummen. Sie wären um 90 Prozent reduziert worden! Alle Wohnblöcke irgendeiner Stadt verursachten den Baugesellschaften ungeheure Bürden. Tatsächlich entsprach der Wert einer DDR-Mark 10 bundesdeutschen Pfennigen. Dregger und Freunde werden gelacht haben: Uns fallen doch sämtliche DDR- Industrien als Segen in den Schoß. Wirklich? Achtzig Prozent dieser Betriebe befanden sich in ungutem Zustand, waren verrottet und veraltet… Jetzt aber lachte ich, mit dem auch von Dr. Dregger gefassten Beschluss 1 zu 1 zu tauschen gewannen wir unverdiente 400 000 Westmark, denn die standen uns zuvor nie zur Verfügung, das waren Fantasiezahlen. Ein Finanztrick sollte das DDR-Wirtschaftsgefüge nach außen ansehnlich machen.

Ein Zauberspruch machte aus Null horrende Summen. Danke Herr Dr. Dregger, ich mochte immer ihre Geradlinigkeit.


Anfang Juli ’90 wählten meine Fischerkollegen mich zu ihrem Geschäftsführer

Unmittelbar nachdem unsere Gelder im Zuge des In-Kraft-Tretens der vereinbarten Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion beider deutscher Staaten aufgewertet wurden übernahm ich mehr Verantwortung. Die Jongleure des DDR-Finanzministeriums verursachten vor Monaten, dass ein Kunde für den Betrag von 4.40 Mark ein Kilogramm Karpfen kaufen konnte, während wir für dieselbe Menge 14 DDR-Mark abrechnen sollten. Die 10 Mark plus wanderten auf besagtes Konto, dass irgendwann gelöscht werden sollte. Doch dazu kam es nicht.  Die Wahl zum Geschäftsführer nahm ich unter der Bedingung an, nur für eine zweijährige Wahlperiode zur Verfügung zu stehen.

Ich sagte sogleich: „Meiner Überzeugung nach setzen wir gemeinsam fort, was wir gemeinsam begonnen haben. Wir bleiben als gleichberechtigte Mitglieder in einer zu bildenden e.G. zusammen. Ich will nicht mehr als ihr verdienen. Ein Drittel des Bargeldes setzen wir sofort für einen Komplexneubau ein, Verarbeitung, Räucherei und Verkauf.  Das zweite Drittel zur Absicherung, und das dritte  teilen wir anteilmäßig, als Entschädigung für entgangenen Lohn auf.“ Das wurde einhellig akzeptiert. Auch mein Gegenspieler Jürgen Haase widersprach nicht. Mit den anderen ‚Damen und Herren’, wie meine Kolleginnen und Fischerkollegen seit März ’90 offiziell hießen, bestätigte auch er in namentlicher Abstimmung, dass wir zusammenhalten wollten.
Dann dürfen wir auch daran denken, uns durch Baukreditaufnahme zu verschulden!” Reiner Lüdtke nickte, Jürgen nickte. Sicherheitshalber wiederholte ich mich: „Wir werden etwa 300 000 Mark gemeinsam abzutragen haben.”
Geplant war der Neubau längst. Architekt Robert Brenndörfer hatte ganze Arbeit geleistet und alles adaptiert. Erste Bankgespräche verliefen verheißungsvoll. Wir bestellten die Dampframme. Spannbetonpfähle lagen noch herum. Wir hatten ja bereits zu DDR-Zeiten begonnen und lediglich neue Vorstellungen einbezogen. Ein Zurück war nun unmöglich. Aber es waren ja die Zuverlässigen an meiner Seite, der treue Wolfgang Homeyer, Werner Hansen, Wolfgang Sittig, Frank Busse, Detlef Inhof, Reiner Rottmann, Dieter Giesa und natürlich Lüdtke.
Auch der viel zu früh verstorbene Ulrich Johanns hätte mir beigestanden. Er war gut 35-jährig im Bad tot zusammengebrochen.

Da klopfte es eines späten Nachmittags ein hoch gewachsener Polizeioffizier. Er reckte sich, als ich die Tür öffnete, legte die Hand militärisch an die Schirmmütze: „Herr Skibbe, ich komme im Auftrag meiner Familie, ihnen die traurige Nachricht zu überbringen Ulli verstarb letzte Nacht. Wir bitten Sie die Beerdigungsansprache zu halten!“

Was sollte ich sagen? Ich hatte ihn erst eine Woche zuvor zusammengestaucht: „Du drückst dich vor schwerer Arbeit.“ Er überließ die Schwierigkeit der von Hand-Verladung von Fischmengen den schwächeren Kollegen. Er mit seinen hünenhaften Kräften verdrückte sich regelmäßig. Ich übernahm auch diese Pflicht und siehe da, mir wurde erlaubt ein wenig religiöse Gedanken einzuflechten. Prominenz war dabei, wie die Stadtarchitektin Iris Grund. Anschließend kamen sie zu mir und lobten: „Du hast es wunderbar getroffen. Ulli kam bildhaft vor uns. Wir konnten ihn sehen wie er auf den geliebten Tollensesee hinausfährt und seine Netze auslegt.“

Da aber flatterte uns bereits am 04. Juli 1990 die erste Gewässerkündigung auf den Tisch. Der Rat der Gemeinde Knorrendorf teilte uns kurz und bündig mit, was sie für richtig hielten: „Hiermit kündigen wir Ihnen sämtliche Gewässer unseres Territoriums...” Welch ein Schock.

Wenige Tage später sollten die nächsten Hiebe kommen. Wer erlaubte es sich, uns die Gewässer zu entwenden, die wir mit teuren Satzfischen versehen hatten? Der Vorgang war illegal.  Sofort legte ich schriftlichen Protest ein, verwies auf Artikel 9 des Einheitsvertrages. Da hieß es: Bis auf weiteres gelten die DDR-Bedingungen und die DDR-Verträge.

Davon ging ich aus, dass es im Wesentlichen wirtschaftlich bleibt, wie es ist, und nahm zunächst nicht ernst, was sich da anbahnte. Wir waren immer noch die rechtmäßigen Bewirtschafter der Wasserflächen zwischen Neustrelitz, Stavenhagen, Penzlin und Neubrandenburg, ausgestattet mit Bewirtschaftungsverträgen. Mein Finger lag immer wieder auf dem Gesetzesband Einheitsvertrag. Noch dachte ich nicht an Jürgen. Ich wollte davon ausgehen, dass mein Dauerkontrahent ebenso gut wie ich wusste, was seine Zustimmung zur Verschuldung bedeutete. Zumindest durfte er keine Schritte gegen uns einleiten.

Inzwischen wurde ich als Hoher Rat für Missionsarbeit im Pfahl Leipzig vom Pfahl Berlin übernommen mit Zuständigkeit der Gemeinde Tiergarten und verantwortlich für die Alleinstehenden Erwachsenen.

Meine erste Ansprache dort wurde akzeptiert, wie die Brüder mir sagten. Dann sollte ich in Zusammenarbeit mit Schwester S. ein Treffen verantworten. Das Lustige war: Ich hatte versprochen, nach dem Ausflug auf die Potsdamer Pfaueninsel das Mittagsmahl zu organisieren. Schwester S. schaute ein wenig ängstlich, weil ich zugesagt hatte mein Freund Hilmar Girra käme mit seinem LKW und würde die etwa 60 Teilnehmer beköstigen. Wie sollte das geschehen. Als wir mit der Fähre heimkamen und den Vorplatz zur nächsten S-Bahn überquerten fragte die Dame S. : „Wo ist denn nun ihr Hilmar Girra?“ Denn weit und breit sahen wir keine Möglichkeit die Hungrigen zu trösten. Und plötzlich fuhr er pünktlich vor. Wieder schauten mich nicht wenige fragend an. Hilmar öffnete die Heckklappe und sofort verbreitete sich der angenehme Geruch von frisch geräucherten Aalen erster Klasse. Lady S. atmete auf als die ersten lobten: „Das ist ja eine große Delikatesse.“ Selbst die gegenüber Fischmahlzeiten kritischen fragten nach einem zweiten.

Ein paar Tage danach ließ ich weiter die genossenschaftlichen Dinge und Probleme auf sich beruhen. Eine attraktive, junge Dame aus dem Konrad-Adenauer-Haus kreuzte in meinem Büro auf. Sie stellte mir ein paar Fragen, die Kommunalpolitik betreffend. Da gab es keine Schwierigkeiten die mich betrafen, jedenfalls keine großen. Aber als sie hörte, dass ich den übernommenen Betrieb nicht nur personell, sondern auch strukturell erhalten wolle, erschrak sie. Ihr Mund spitzte sich. Sie sagte: „Oh, o, da sehe ich Sie aber schon oft vor dem Kadi sitzen!” Ich lachte noch und verabschiedete sie mit einem Scherz.
Wir fischten selbstverständlich in den uns von den Bürgermeistereien gekündigten Gewässern.

Es gab jedoch erste Hinweise auf Befischung unserer Seen durch andere. Zunächst beunruhigte mich das nur wenig. In Waren und Prenzlau gab es analoge Problemfälle. Sicherheitshalber fuhr ich auf den Lindenberg, wo die Stasi in riesigen, mehrstöckigen Gebäudekomplexen gehaust hatte, da befand sich nun der Torso des ehemaligen Rates des Bezirkes Neubrandenburg. Mein Wunsch war, mit Rainer Prachtl zu reden. Er saß dort und verkörperte in seiner Stellung und in dieser Phase die höchste Autorität im Bezirk. Noch befanden wir uns rechtlich in der DDR. Wir trugen zwar bereits das ersehnte Westgeld in den Taschen und im Kopf, doch noch hieß unser Land offiziell DDR.

Du bist im Recht. Ich gebe es dir schriftlich!”, sagte Rainer Prachtl und ließ Jürgen Meyer kommen, den im Bezirk für Binnenfischerei zuständigen Fachmann. Jawohl, die alten Rechtsträgerschaften bleiben vorläufig in Kraft...” Das gab mir Zuversicht. Deshalb blieb ich ruhig, zu ruhig wahrscheinlich, zu lange auch. So vollzog sich das Folgende zunächst, ohne mich sonderlich zu erregen.
Auszüge aus dem Betriebsprotokoll: Am 19. Juli 1990 wird uns per Schreiben des Bürgermeisters Herrn Schwarz, Rehberg mitgeteilt, dass die im Grundbuch in der Flur 3, Flurstück 6 eingetragene Seenfläche an eine Privatperson verpachtet sei.“
Es handelt sich um den Balliner See, auch bekannt unter der Bezeichnung Rehberger See. Neue Kündigungsschreiben trudeln ein. Wir wehren uns. Doch zwischenzeitlich, am 28. Juli, erhalten wir Antwort aus Knorrendorf auf unseren Protest. Wir haben Ihr Schreiben vom 13. Juli erhalten. Nach Auskunft durch einen Rechtsanwalt, haben wir bestätigt bekommen, dass unsere Kündigung vom 27. Juni 1990 rechtskräftig ist und somit bestehen bleibt.”
Protokollauszug vom 28. Juli: Ein persönlicher Besuch des Geschäftsführers Herrn Skibbe in Knorrendorf. Das Gespräch mit der Bürgermeisterin Frau Hartwig ergibt keine Übereinstimmung.“

Ein uns gut gesonnener Anglerfreund gab mir den entscheidenden Hinweis: „Das Haupt ist Herr K., suche ihn auf.” Der mir das riet, hatte Ahnung. Ich fuhr umgehend hin, wünschte mit Herrn K., dem Leiter des Gemeindeverbandes Rosenow, zu reden. Man ließ mich ein. Ich nannte meinen Namen. Er nickte nur. Er wusste Bescheid.  Da saß er, ein energischer, bärtiger Fünfziger. Hinter seinem Schreibtisch hockte er sicher. Seine Brillengläser funkelten: Ich bin ein Demokrat! Ich konterte auf ähnliche Weise: Ich auch! Er schaute mich durchdringend an. Ich stellte ihm mein Anliegen vor: „Wir bauen eine neue Betriebsstätte, wir haben beschlossen zusammen zu bleiben und gemeinschaftlich zu wirtschaften, nicht gegeneinander.”
Seine lapidare Antwort lautete: „Stalinistische Genossenschaften brauchen wir nicht mehr!” Sagten sie stalinistische?” Ich sagte und meinte stalinistische!”
Wie ein Fisch im schlechten Wasser schnappte ich nach Luft. Demokraten?
Weiß der Mann, was das ist? Liberaler sei er. Ich bin CDU-Mann!“
Blockflöten!” erwiderte er höhnisch, das war die Bezeichnung für Opportunisten zugunsten der SED. 

Gut, dass ich keine Pistole besaß, ich hätte ihm ein Loch in sein „rechtes“ Ohr geschossen. Sollte ich dem da erklären, dass ich am 30. Oktober 1989 in die CDU eintrat, weil sie an eben diesem Tage erklärte, sie kündige die Bündnispolitik mit der SED auf? Er beharrte, ich beharrte: „Wir werden morgen im Kastorfer See fischen” Ich schicke ihnen die Polizei auf den Hals. Herr Jürgen Haase. ist der neue Bewirtschafter!” Hatte ich es nicht geahnt? Meine ohnmächtige Wut ließ ich mir nicht anmerken: Mein Mitglied und Mitträger aller Beschlüsse brach seine Versprechen. „Tun sie, was sie nicht lassen können!”
Schnell fand ich mich vor der Tür wieder.
Unser Genosse Jürgen besaß also einen „gültigen“ Pachtvertrag, wir dagegen galten nun als Fischdiebe. Mit meinem gelben, alten Trabant bin ich mit überhöhtem Tempo nach Hause in die Fischerei gefahren. Im Flur des alten Wirtschaftsgebäudes traf ich Detlef Inhof. Der strohblonde Exhochseefischer wies mit dem Kopf zur Tür des Netzlagers: „Da drinnen”, wisperte er. Mit einem Ruck stieß ich die Tür auf. Jürgen saß da und Reiner. Zwei Umrisse wie aus Bronze gegossen, Nachdenklichkeit und Besorgnis. Reiner, zumeist gutmütig und hilfsbereit war gerade im Begriff zu erklären, dass er wenig Hoffnung habe, dass ich ihm einen Vorschuss für die fälligen Pachten geben würde... „Seid ihr von allen guten Geistern verlassen? Du würdest ihm helfen uns zu ruinieren? In einer Stunde ist Mitgliedervollversammlung!” Jetzt gab es kein Halten mehr. Entweder Jürgen oder wir. Jürgen setzte ein Signal, wenn wir dem nichts entgegensetzen, dann bricht es. Mensch Jürgen, wir haben dein Versprechen schriftlich! Es schnürte mir die Kehle zu. Der große junge Mann mit dem ausdrucksstarken Gesicht ging in den ersten Arbeitsraum. Da setzte er sich hin und strickte eine Netzreihe herunter, als wäre nichts geschehen. Ich sprach ihn kurz an und er antwortete normal, als sei nichts passiert. In der Vollversammlung, die ich leitete, legte ich in wenigen Sätzen die Situation dar. Entweder stellt Jürgen sich auf unsere Seite oder er muss die Genossenschaft verlassen. „Die Pachtungen, die Jürgen betreibt, schließen uns von dem Recht auf Wiederfang der von uns eingesetzten Fische aus.” Er entgegnete: „Ich will frei sein und nehme nichts zurück! Mit der Kommandowirtschaft ist es aus!” Dann schließen wir dich aus!” Er schaute mich an. In seinen Augen las ich die Ablehnung. Mich lehnte er ab, die Genossenschaft lehnte er ab, die meisten Männer, außer Dieter Gisa und Willi Krage widerstanden ihm längst, wegen seiner Arroganz. Du hast dich in namentlicher Abstimmung für den Fortbestand unseres Unternehmens ausgesprochen...” Na und? Ich bin im Recht!” Dann schneiden wir dich ab.” Auszug aus dem Protokoll des 10. August 1990: Nach kurzer Bedenkzeit und folgender Diskussion stellt Herr Skibbe in der Mitgliederversammlung den Antrag auf Ausschluss von Jürgen N. aus der Tollensegenossenschaft. Von 16 stimmberechtigten Mitgliedern, sind 14 anwesend. 3 Enthaltungen, 1 Gegenstimme, 10 Dafürstimmen ...“ Jürgen begab sich mit seinen Freunden nach draußen. Er hielt mit ihnen Rat. Als ich sie so dastehen sah, schien mir, er würde gar nicht begreifen, was ihm widerfahren war. Wir sehen uns vor Gericht wieder!”, sagte er nur und ich erinnerte mich der Worte der jungen Dame aus dem Konrad-Adenauerhaus.

Zunächst musste ich meine Ankündigung in Kastorf wahr machen. Am nächsten Morgen würden wir auf jeden Fall und demonstrativ im Kastorfer See fischen. „Werner (Hansen), ich komme morgen mit!” sagte ich, denn wir konnten sicher sein, dass wir auf heftigen, möglicherweise polizeilichen Widerstand stoßen werden. Werner Hansen wollte nicht, dass ich mit ihm fahre, ich hätte zu Hause genug zu tun. Aber unser gemeinsames Auftreten im Territorium Rosenow war mir wichtiger. Wir verluden einen der leichten grünen Plastekähne, das Notstromaggregat, die Handelektrode, den Sicherheitsschalter, Minuspol, Gleichrichter, Kescher, den großen Fischbehälter und setzten uns in den Exmilitärwagen vom Typ Robur. Hätten wir, als wir durch Knorrendorf fuhren, die Sekretärin am Briefkasten gesehen, dann wäre uns vielleicht in den Sinn gekommen, dass sie Post gegen uns einsteckt. Wie üblich schoben wir uns vorsichtig und aufmerksam am Gelegesaum entlang. Werner, auf dem Sicherheitsschalter stehend, stieß in vier – fünf – Meter -Abständen die an einer etwa fünf Meter langen Glasfiberstange befestigte handtellergroße Elektrode ins fast glasklare Wasser bis auf den Seegrund in Klaftertiefe. Wie üblich waren acht von zehn Versuchen umsonst. Dann kam eine kleine Quellmooswiese in Sicht. Da war es nur einen Meter tief. Dor sünd wek!” ("Da sind welche (Aale!") sagte er voraus. Ich hatte oft genug elektrisch gefischt um nicht zu wissen, dass er Recht bekommen würde. Zuerst schossen die untermaßigen Aale heraus, sie wanden sich und taumelten narkotisiert zur Seite. Dann schlängelte sich ein dicker, fünf Zentimeter breiter Aalschwanz heraus. Da der Flossensaum eine verhältnismäßig große Potentialebene darstellt und wir ihm mit der Anode dicht auf den Leib gerückt waren, hielt ihn der Gleichstrom fest. Die Kraft, die von der Anode ausging, reichte jedoch nicht aus, ihn völlig aus seinem Versteck zu ziehen. Werner Hansen half nach. Er war hochrot vor Aufregung, weil es sich um einen kostbaren Starkaal handelte. Von drei Aalen dieser Stärke entkommen in der Regel zwei, vor allem wenn sie sich weiter als einen Meter vom Pluspol aufgehalten haben. Sie sind zudem geschwind und enorm gewitzt. Werner hakte mit dem elektrisierten Metall in den sich krümmenden Fischschwanz. In diesem Augenblick bemerkte ich, dass sich in vierhundert Schritt Entfernung eine Sandwolke auf uns zu bewegte. Ich musste mich jedoch zuerst um den Aal kümmern, der plötzlich in voller Länge auftauchte. Mit Mühe gelang es mir, dem kräftigen Fisch den Kescher vor das breite Maul zu halten. Gemeinsam erwischten wir ihn und ich kescherte den sich wild wehrenden Dreipfünder heraus und schüttete ihn ins wassergefüllte Schweff. Da tobte er eine Weile umher. Die kleinen Aale dagegen flohen wie üblich. Sobald der Stromkreis unterbrochen wird, machen sie sich davon. Augenblicklich erwachen sie aus der Narkose und schwimmen binnen ein, zwei Sekunden davon, um eine wichtige Erfahrung reicher. Wenn sie je wieder das Geräusch des im Rhythmus des dröhnenden Notstromaggregates schwingenden Fischerkahnes vernehmen, flüchten sie rechtzeitig und es dauert Wochen und manchmal Monate, bis der Handelektrodenfischer sie wieder sieht. Mitunter liegen die knapp einhundertfünfzig Gramm schweren Satz- und Mittelaale so dicht beieinander, dass man fünfzig, sechzig mit einem Schlag erwischt. Schade, weil sich unter ihnen auch die fangreifen Männchen befinden, die nur etwa einhundertundachtzig Gramm schwer werden. Man nennt sie, wie die großen, geschlechtsreifen Weibchen, Blankaale. Aale die nicht mehr wachsen.
Das Aussortieren nimmt dann viel Zeit in Anspruch. Ich stieß Werner Hansen an und wies mit dem Kopf hinüber. Da erschien ein roter „Wartburg“. Er hatte die Staubwolke hinter sich hergezogen. Für Sekunden entschwand er noch einmal aus unserem Blickfeld. Den Mann am Steuer schien ungeheure Wut zu treiben. Wie ein Wahnsinniger war er auf der Sandpiste entlang gesaust.
Den breiten Rücken durchdrückend wandte Werner sich zu mir, sein volles bartstoppliges Gesicht verzog sich. Es war ein etwas schräges Lächeln, das sich um seine blutvollen Lippen legte. Werner nannte einen Namen, den ich nicht verstand.
Uns war bewusst, dass der Besuch mir vor allem galt. Wir machten weiter und gewahrten vom neuen Standpunkt aus, dass der „Wartburg“ sich nun direkt vor unseren Robur befand. Er hatte uns blockiert. Aber wir konnten von dem Fahrer nichts entdecken. De is int Dörp gohn, hei holt de Pulezei!” ("Der ist ins Dorf gegangen und holt die Polizei!") Richtig. Wir wurden festgenagelt. Zur Linken unseres Robur befand sich ein anderthalb Meter hoher Schotterberg, zur Rechten der See. Vor uns der Wartburg, hinter uns der Kahnhänger auf dem wir unser Boot transportierten und dahinter ein Graben. Fast wortlos einigten wir uns, es nicht auf eine Konfrontation mit der Polizei ankommen zu lassen. Wenn man uns das Schreiben des Bürgermeisters vorweisen würde, könnten sie uns zwingen, die Fische in den See zurückzuschütten. So, wie das unseren Männern bereits andernorts ergangen war.

Vierzehn Tage zuvor hatte ich auf dem Polizeirevier in Stavenhagen zwanzig Minuten aufwenden müssen, um meinen geharnischten Protest zu Papier zu bringen und um zu erreichen, dass die von den Polizisten am Ivenacker See beschlagnahmten Fanggeräte wieder herausgegeben wurden, was denn auch umgehend geschah. Sie wunderten sich auf dem Revier nur, wegen der vielen Worte und Sätze die in so kurzer Zeit auf ihrem weißen Papier entstanden. Allerdings die Zander, die sie ins Wasser zurücksetzten, blieben verloren. Ärgerlich nur, dass unsere Kunden, die sich die Fische bei uns bestellt hatten, später unbefriedigt nach Hause gehen mussten. Ziemlich eifrig, als wären wir Fischdiebe, verluden wir das Geschirr und die Fische, schoben unser Boot auf den Kahnhänger, banden es fest. Wir hatten keine Wahl. Entweder entkamen wir unseren Gegnern oder wir waren blamiert. Blamiert? lachte Werner. Er hatte es wieder im Kreuz und ging schief. Ich bräuchte ihn nicht einweisen, der Robur sei ein Geländewagen und würde den Schutthaufen ohne weiteres erklimmen. Ohne weiteres? Umkippen kann uns die Fuhre. Das war Werner Hansen. Er äugte kurz, startete, schob einen halben Meter zurück, kurvte bis hart vor den roten Kotflügel des Wartburgs, schob noch einmal, das Lenkrad scharf herumreißend, zurück. Jetzt wieder vorwärts. Noch war von dem PKW-Fahrer nichts zu sehen. Jeden Augenblick konnte sich das jedoch ändern. Dass wir flohen wollten, ließe sich ja wohl nicht leugnen. Dass niemand flieht, der unschuldig ist, liegt wohl auf der Hand! So hörte ich sie schon höhnen. Nun erklomm unser braver LKW tatsächlich den kleinen steilen Berg. Er rutschte ein wenig nach links, dann nach rechts. Der Kahnhänger folgte uns. Das Wasser im kubikmetergroßen Fischbehälter schwappte, doch es ging voran. Wir glitten und rollten und bremsten den kleinen Abhang hinunter. Nicht die Spur eines Kratzers am Wartburg, das war nun wieder das Wichtigste. „Dat Wüchtigste is, dat se uns nich kriegen!” ("Das Wichtigste ist, dass sie uns nicht fassen!")  erwiderte Werner und schlug einen Weg ein, den ich noch nie gesehen hatte. Querfeldein ging die Fahrt über Stock und Stein, vorbei an Viehkoppeln und Maisstauden. Banditenhaft verhielten wir uns. Dieser eine Begriff bemächtigte sich meiner Gedanken. Ich und er waren unter die Räuber gegangen. Mindestens drei Anzeigen wegen Fischwilderei führten mich wiederholt vor den Kadi.

 

Dabei hatten wir nie in anderen, als in den uns zur Bewirtschaftung offiziell übertragenen Gewässern gefischt. Einmal bekam ich Recht, zweimal Jürgen. Noch jedoch war nichts endgültig entschieden. Der Krieg mit Jürgen ging weiter.
Er stellte Netze, wir gerieten mit unseren Zugnetzen dazwischen.
Er pochte auf seine Verträge, wir auf unser Gewohnheits- und Bewirtschaftungsrecht, das uns die DDR gegeben hatte. Ich ging in Berufung.

 Aber es gab auch großen Krieg. In eben diesen Tagen, Anfang August 1990, waren irakische Truppen in Kuwait einmarschiert. Der große Irak erklärte den kleinen Staat Kuwait zur 19. irakischen Provinz. Die entmachteten Scheiche schrieen so laut um Hilfe, dass auch wir es vernehmen mussten. Am 29. November fasste die UNO einen Beschluss, der die gewaltsame Vertreibung Iraks aus dem freien Land Kuwait androhte. Wie eine düstere Ahnung, dass dies das Vorspiel zum dritten Weltkrieg sein könnte, lag die alte Beklemmung wieder auf allen.
Meine Notiz zur Tagebucheintragung, geschrieben am 6. Dezember, lautete: „Was wird uns 1991 bringen? Unter dem Druck der Zuspitzung der Kuwaitkrise leidet jeder. Jeder weiß, wie leicht Kriege, in die Supermächte verwickelt sind, ausufern können. Wir sehen die vielen anderen Probleme, auch die wirtschaftlichen, rings um uns herum, ...”

Dunkle Geschäfte

 Statt Scheine von radikal abnehmendem Wert besaßen wir seit dem ersten Juli Geld. Wir fühlten uns wie Geburtstageskinder, die sich freuen sollten und es doch nicht so recht konnten. In den Lebensmittelgeschäften sah es paradiesisch farbig aus, aber in unseren Seelen immer noch grau. Vorausblickend fanden wir, dass auf dem Wege vor uns kaum überwindliche Hindernisse liegen würden. In einem handelten die meisten Ex-DDR-Bürger logisch richtig. Jetzt drehte jeder den aufgewerteten Groschen dreimal um, ehe er ihn einmal hergab. Bereits zu DDR-Zeiten war es zunehmend schwierig geworden, selbst wertvolle Fische, wie Kleine Maränen, wenn sie in Massen angelandet wurden, en Block abzusetzen. Auch die Disponenten und Leiter der Fischauslieferungslager mussten längst wirtschaftlich rechnen und ihr Risiko klein halten. Ihre Prämien hingen von ihrem eigenen Geschick ab. Jetzt, nach der Wende, oblag uns die Fische nicht nur zu fangen, sondern sie auch eigenhändig, Stück für Stück, zu veräußern. Im Spätherbst fingen unsere Männer auf der Lieps wieder einmal große Mengen Brassen, alles stattliche Exemplare. Werner Hansen kam mit seinem Trabant angesaust, um mich zu informieren. Meine Kollegen hofften, dass ich aus zehn Tonnen Bleie mehr als zehntausend Mark erlösen könnte. Werner, immer höchst agil und dabei nicht selten angriffslustig, sah mich scheel an, weil ich mit den Achseln gezuckt und kritisch fragend angemerkt hatte, wer im neuen Konsumentenwunderland noch Bleie kaufen würde? „De Russen!”, konterte er scharf und schaute mich vorwurfsvoll von der Seite an. Manchmal schielte er ein wenig. Auf diese Idee hätte ich von alleine kommen müssen. Auf jeden Fall fahre er jetzt mit einem LKW, Kisten zur Fahrgastschiff-Anlegestelle in Prillwitz. Das könne ja nicht falsch sein. Die nächsten Russen saßen in Neustrelitz. Deren Bedarf jedoch wurde meines Wissens von den Prenzlauer und Neustrelitzer Fischern gedeckt. Noch dachte ich nicht in den modernen Kategorien. Dieses Denken: „Zuerst komme ich!” erschien mir noch als unmoralisch.
Da ich verpflichtet war, den Betrieb durchzubringen, blieb mir allerdings nichts weiter übrig, als mich über meine Bedenken hinwegzusetzen. Es war bereits vierzehn Uhr geworden. Schnell. Ich telefonierte, Dolmetscher Herbert Fischer war einverstanden. Er stünde mir zur Verfügung. Gleich?”
Na, ja, sagen wir in einer Stunde!” Exoberstleutnant Herbert bereits seit vier Jahrzehnten im Umgang mit Offizieren der Roten Armee geübt, bat fernmündlich um ein persönliches Gespräch mit dem Chef der rückwärtigen Dienste der Neustrelitzer Panzerdivision. “Kommen Sie, wann immer Sie wollen!”
Wir sind in einer halben Stunde bei ihnen.” Ein schneidiger Unterleutnant mit Glacéhandschuhen, der wie ein Eleve des Tanzensembles des Bolschoi Theaters ging und auftrat, holte uns von der Torwache ab. Oberst Berlett lasse bitten. Es war, glaube ich, dasselbe Tor, das ich erstmalig 1946 gesehen hatte. Es standen da, wie mir schien, immer noch dieselben Worte, die sich um die an die Wand gemalten Panzer und Waffenbrüder rankten: Ruhm und Ehre. Slawa i tschest.
Seit damals ging hier kein normaler Sterblicher mehr ein und aus. In diesem Stadtteil mochten früher vielleicht sechs- oder achthundert Neustrelitzer in ihren Einfamilienhäusern gelebt haben. Das Tageslicht unter dem wolken-verhangenen Himmel nahm bereits merklich ab. Deshalb erschien uns das Haus, in dem der Oberst sitzen sollte so düster. Er erhob sich, als wir eintraten, reichte uns die Hand, zeigte seine Goldzähne und gleich seine ganze Freundlichkeit.
Schon die vielen auf dem Flur herumstehenden und diskutierenden Offiziere waren mir angenehm aufgefallen. Solche Russen hatte ich bisher nur selten gesehen. Ich kannte fast nur eckige Gesichter und die überwiegend groben Ausdrücke im Aussehen und in der Sprache. Kaum, dass Berlett uns angehört hatte, nickte er ermutigend. Er müsse nur noch mit seinem Vorgesetzten reden. Das geschah. Herbert Fischer flüsterte, der Oberst versuche seinen Chef zu überzeugen, dass sie gemeinsam dringend zehn Tonnen Bleie benötigten.
Wie teuer?” In meinem Kopf existierte die Wunschgröße 1.75. „Knapp zwei Mark je Kilogramm Frischfische!”, dolmetschte Herbert generös. So trat er gelegentlich auch auf. Berlett strahlte. „Zwei Mark sind ein guter Preis. Wann können Sie liefern?” Fünf Tonnen sofort. Den Rest morgen.” Er zog zweifelnd die Stirn hoch. Aber ich wusste es ja. Fünf Tonnen sind eine glatte Kutterladung und diese Menge ziemlich schnell ein- und auszukeschern war für unsere Männer kein Problem. Ich schaute auf die Uhr. Anderthalbe Stunden bis zum Laden, eine weitere höchstens für den Umschlag, eine halbe für den Transport. „Zwischen acht und neun Uhr!” Mit hundert Sachen, wo es möglich war, raste ich nach Prillwitz. Denn da standen an diesem frühen Abend meine ungeduldigen Fischer und warteten nur auf das ersehnte Zeichen. Als wir kurz vor neun mit der ersten Fuhre auf dem ‚Russenspeicher’ ankamen, machten sich die uniformierten Jungs umständlichst ans Abwiegen. Eine halbe Stunde lang sah ich mir das Theater an und sagte schließlich: „Ihr seid wohl nicht recht bei Troste!”
Was Herbert übersetzte, kann ich nicht sagen. Sie stutzten jedenfalls. „Da sind in jeder Fischkiste mindestens zweiunddreißig Kilogramm Ware und auf dem Lieferschein stehen dreißig!” Bei dem Schneckentempo, das sie beim Abwiegen vorlegten und bei dieser Menge, hätten wir die Zeit bis zum Morgengrauen gebraucht und ich war todmüde. Natürlich konnte nur die Gesamtmasse stimmen. „Lass sie mal.”, beruhigte Herbert Fischer mich, er sei ja auch die Ruhe in Person. Sein Zuspruch tat mir gut. Nun, da die DDR endgültig kaputt war, konnte einer wie er alles ganz gelassen sehen. Sogar die Uhren liefen für ihn anders. Ich dachte an unser Gespräch zurück. Den Zusammenbruch habe er bereits seit einem Jahrzehnt kommen sehen, sagte Herbert Fischer, als wäre das so selbstverständlich, wie der Blätterfall im Herbst. Der Kommunismus konnte nicht siegen. Gründlich hatte er mir das auf der Herfahrt vorgerechnet.
Alleine die Wartung der komplizierten Waffensysteme sei zu kostspielig geworden und dann diese Zweiklassengesellschaft. Am meisten hätte ihn aufgeregt, dass die Hirsche den Privilegierten unter den führenden Genossen vorbehalten blieben, während Leute wie er, nur Heger statt Jäger sein sollten.
Ungeschönt habe er das seinen großen Militärs des Öfteren an den Kopf geschmettert: „Die Jagd dem Volke, die Hirsche dem Politbüro!” Höheren Ortes hätten sie ihm das ziemlich verübelt. In ihrer Gunst sei er nur geblieben, weil sie seine Fähigkeit schätzten auch dann simultan zu dolmetschen, wenn sie durcheinander und schnell redeten. Immer auf diesen kasachischen Raketenübungsplätzen sei er mit beiden Seiten gut ausgekommen, weil er sie eigentlich mochte, diese raubeinigen Typen auf sowjetischer und die etwas großmäuligen auf der eigenen Seite. Herbert meinte, die Lagerverwalter der Garnison würden sich nächstes Mal leichter überzeugen lassen, wenn sie sehen würden, dass wir sie nicht gleich beim ersten Versuch betrügen wollten. Ich wandte mich ab. Das war die Höhe. Meine Fische hatte noch keiner nachgewogen. Wir gaben immer ein reichliches Plus, außer bei Aalen. Während ich nun ärgerlich und hundemüde am dunklen Ende der langen Verladerampe stehe und in den matten Lichtkreis hineinstarre, indem sich zehn Mann traumhaft langsam bewegen, berührt mich jemand von hinten. Ich wende mich um und sehe den Blitz in den Augen eines jungen Mannes und gleichzeitig das Aufblinken seines Bajonettes. Dieses Seitengewehres Spitze ragte einen halben Meter über den mehr als zur Hälfte verdeckten Kopf. „Fifthy, fifthy!”, raunte mir der in einem großen sibirischen Pelzmantel steckende Wachposten zu. Er machte einladende Gesten, zog mich mit sich, noch tiefer ins Dunkel hinein, die kleine Holztreppe hinab. „Da, da! Kaufen!” Er nahm seine Kalaschnikow, die er geschultert getragen hatte und hielt sie mir hin. Dabei streckte er die andere Hand unmissverständlich vor. Njet, njet”, wehrte ich, hilflos vor so viel Großmut, ab. Er redete von Munition wie ich von kleinen Fischen und alles nur für sechzig Mark. Für die Maschinenpistole fünfzig und den Rest für die ‚Murmeln’.
Ich machte ein großes Fragezeichen. Wir befanden uns doch nicht an der tadschikisch-afghanischen Grenze. Als ich mich von dem munteren Jungen abwandte und ihm den Rücken zukehrte, hatte ich das Gefühl, dass er mir einen riesengroßen Vogel zeigte. Wie kann man nur so dumm sein? Eine Kalaschnikow ist doch mehr als zehnmal so viel wert. Begeistert waren die immer noch mit dem Abwiegen beschäftigten Männer nicht, als ich erklärte, sie möchten mir nur den Erhalt der Fische quittieren, ich würde jetzt nach Hause fahren.
Wie denn? Fünf Tonnen?” Ja, genau, und falls sich ein Minus herausstellt, liefern wir das Doppelte der Fehlmenge nach.” Herbert Fischer redete auf sie ein, auch er hatte es inzwischen satt, bloß dazustehen und immerzu nur die sich stereotyp wiederholenden Schattenspiele zu betrachten. Es ging immer langsamer und wie mir schien im Zeitlupentempo voran. Lag es nun daran, dass Herberts gutturales Säuseln sie noch schläfriger machte oder interessierte sie gar nichts? Sie ließen sich aber auch nicht bewegen die Unterschrift zu leisten. Plötzlich kam ein Offizier an. Ratsch hatte ich die Unterschrift und batsch den Stempel.
Wir möchten bitte noch einmal zu Oberst Berlett reinschauen.. Oberst Berlett saß immer noch, die Beine von sich gestreckt, wie wir ihn verlassen hatten, im Halblicht seiner beiseite gedrehten Schreibtischlampe und schrieb. Er hätte gehört, dass unsere Fische taufrisch und groß wären. Er lächelte. Er möchte mit uns in Kontakt bleiben und unser Kunde werden. „Aber du musst nach Berlin gehen und mit Co-Impex einen Vertrag machen!” Oberst Berlett, ein vornehmer Typ mit leicht gewelltem dunklem Haar und exakt gezogenem Scheitel, hätte mich nie ohne weiteres geduzt. Das machte die Fischerübersetzung.

 

 

 

Co-Impex gab mir einen Termin

Zwei Tage später ging ich, mit gemischten Gefühlen, in dieses blauweiße Gebäude in der Nähe der Friedrichstraße in Berlin und saß bald darauf einem Mann gegenüber, der anfangs vierzig sein mochte und etwa eins achtzig groß war. Wie mir auf den ersten Blick schien, war der da einer, der wusste, wie man das Leben genießt. Blitzsauberes, hellblaues Oberhemd, dezenter Schlips. Mir fiel in seinem glattrasierten Gesicht auf, wie gut sein Bartansatz verteilt war. Er lächelte verbindlich. Du warst ein Stasioffizier, dachte ich. Er war mir aber keineswegs unsympathisch, trotz alledem. Dieser da, wenn meine Vermutung stimmte, hatte sicherlich zu den Großen gehört und wahrscheinlich seinen Teil dazu beigetragen, dass Demokratie für Leute wie mich, vier lange Jahrzehnte ein unerfüllbarer Wunschtraum geblieben war. Dennoch differenzierte ich zwischen Programmen und Menschen, obwohl sie in der Politik oft genug eine Einheit darstellten. Ich wollte beides voneinander trennen und nur auf die Sache der Diktatur einschlagen. Ich glaubte manchmal, dass mir dieser eine Satz, den ich so oft dachte, ins Gesicht geschrieben stand. Das Recht sich frei entscheiden zu dürfen, ist wichtiger als das Recht zu leben. Der auffallend gut Gekleidete fragte: „Könnten sie sechzig bis achtzig Tonnen pro Quartal liefern, zu diesem Preis und in dieser Qualität?” Ich denke, dass es mir gelang meine Miene zu wahren. Denn ich war schockiert. Mein Hochziel lag bei höchstens einem Sechstel dieser Summe, die er mir genannt hatte. Ich beeilte mich zu erklären: „Ja, wir können.” Doch ehrlich gesagt, wusste ich noch nicht, wie das in die Praxis umgesetzt werden könnte. Berlett muss mit ihm gesprochen haben! Berlett war also zufrieden, er hat uns gelobt! In mir steckte noch dieser Gedanke an Zusammenarbeit (schließlich waren wir nordöstlichen Binnenfischer der ehemaligen DDR, ob wir wollten oder nicht, im Zweckverband ‚Qualitätsfisch der
Mecklenburger Seenplatte’ zu einer großen Wirtschaftseinheit zusammen-gebunden worden.) Doch das war nun vorbei. Jetzt war sich jeder selbst der Nächste. Binnen weniger Sekunden hatte ich mir ausgerechnet, dass die Warener und die Prenzlauer Kollegen wie wir, über Unmengen Tolstolob verfügten, Silberkarpfen, die kein Deutscher mochte. Sie würden sicherlich zuschlagen, wenn ich ihnen eins vierzig aufs Kilo bieten würde, und wir hätten ohne einen Finger krumm zu machen, sechshundert Mark je Tonne verdient. Das wären ja knapp einhundertund-fünfzigtausend Mark pro Jahr Nebeneinnahmen. Mensch, Helmut Kohl, lass’ bloß die Russen noch ein paar Jahre in Deutschland. Wir Fischer würden liebend gern helfen, sie auf deine Kosten, zu ernähren.
Silberkarpfen, diese fernöstlichen Algenfresser, die bis zu zwei Meter hoch in die Lüfte springen können - und dabei gelegentlich ins Boot eines ahnungslosen Anglers - hatten wir auf Beschluss von Partei und Regierung in unsere Gewässer einsetzen müssen. Müssen! Jawohl. Mir wurde warm ums Herz, als mein Gesprächspartner bestätigend nickte: „Bleie und Tolstolob sind ok.” Er wusste also, wovon die Rede war. Ich sah diese Unmengen Großfische vor mir, die häufig je Stück mehr als zehn Kilogramm wogen und niemand wusste, wer uns diese hunderten Tonnen abnehmen sollte. Was haben sie uns noch anzubieten?”
Rotaugen.”
Er nickte abermals und schrieb: Silberkarpfen sowie Bleie, größer 500 Gramm je Stück und Plötzen aller Größen.
Saß ich im Vorgarten des Paradieses?
Die scharfen Augen meines Gegenübers musterten mich, ehe er behutsam fragte: „Aber was machen wir, falls die Sowjets Sonderwünsche haben sollten? ... natürlich in geringem Umfang.” Kein Problem, wenn es innerhalb eines, sagen wir, Fünfprozentrahmens bleibt.” Er winkte ab, war’s zufrieden. Details interessierten ihn offensichtlich nicht. Die gepflegten, langen Finger aneinanderlegend schloss der kompetente Vertreter von Co-Impex das Gespräch ab: „Gut, Sie liefern auf Zuruf jede Woche zunächst fünf Tonnen nach Neustrelitz.”
Hoffnungsvoll setzte ich hinzu: “Vertraglich gebunden.” Er schmunzelte. Ich sorgte mich. Vertrauenerweckend setzte mein Partner hinzu: „Eine mündliche Zusage ist ein Vertrag.” Wie gerne hätte ich ein Stückchen Papier gehabt, auf dem, was wir ausgehandelt hatten, niedergeschrieben stand. Es gab also noch eine Hürde. Die Frage, was das sein könnte, quälte mich. Acht Wochen lang lieferten wir kontinuierlich aus eigenem Aufkommen. Sogar Heiligabend fischten wir, aber sehr erfolgreich. Oberst Berlett hatte bis dahin lediglich zweimal bescheidene Sonderwünsche geäußert. Beim ersten Mal ließ er uns mitteilen, dass sein General aus Karlshorst käme. Er würde sich freuen, wenn wir ihm einen Hummer beschafften. Ich wäre notfalls selbst bis Kiel gefahren, um ihm den Wunsch zu erfüllen. Bescheidener als Berlett konnte man nicht sein.
Wir schickten ihm zwei Kilo Hummer und legten drei goldgelbe Räucheraale obendrauf. Beim zweiten Mal wollte er, für einen ähnlichen Anlass, einen Karpfen haben. Wir boten ihm an, künftig statt sechs Prozent Plus nur vier zu geben, aber dafür jedes Mal dreißig Kilo Feinfische obenauf.
Von da an nannten die Verpflegungsoffiziere mich “Väterchen Fisch”.
Berlett wurde plötzlich unterrichtet, er sei zurück in die Heimat versetzt worden. Darüber war er unglücklich. In Neustrelitz wusste er ein heiles Dach über seinem Kopf. In Russland wartete auf seine Familie und ihn wahrscheinlich nur eine Scheune. Sein Nachfolger den er noch einarbeiten sollte, war ein vierschrötiger Kerl, ein Oberstleutnant mit dem Gesicht einer Bulldogge. Sofort überzog der Mann seine Kompetenzen. Berlett hätte keine Ahnung. Statt fünf Tonnen sollten wir in der kommenden Woche zehn liefern. Die erste Sendung am Dienstag, und die zweite am Freitag. Mir war gleich unwohl zumute. Ich ahnte es. Das geht schief.
Doch der Neue setzte mich unter Druck. Was sollten wir machen? Oberst Berlett befand sich auf Reisen ins Heimatland, wenn auch sehr ungerne. Um mir den neuen Mann geneigt zu machen bot ich ihm mehrere Kilogramm Hummer an und eine kleine Kiste Räucheraale. Mit bissiger Miene senkte der Oberstleutnant sein Löwenhaupt und knurrte. War ihm das noch zu wenig?
Bei der darauffolgenden Lieferung winkte er mir mitzukommen. Da schlug mir schon von weitem ein ekelhafter Geruch entgegen. Unsere bereits vor einer Woche eingelagerte Ware stand schwarz und unangetastet in Kisten auf der Leichtkühlfläche. Mir stockte der Atem. Er hatte einhundert Zentner Speisefische verfaulen lassen. Warum? Selbst dem unfähigsten Lagerverwalter darf das nicht passieren. Eher verschenkt man die Fische. Seine breiten Schultern zuckend zog er, wie mir eine freundliche Neutrelitzer Dame übersetzte, über Berlett her. Ich biss mir auf die Zunge. Vorläufig, wie ich nun selber gesehen hätte, benötige er keine Fische. Damit drehte er sich von mir ab und tapste schwerfällig davon.
Sogleich als ich alleine war, redete der Adjutant des Neuen auf mich ein. Es dauerte eine Weile, bis ich begriff: Es ginge ihm um ein Gegengeschäft.
Wir verkaufen dir einen Waggon Mehl.” Mehl?” Was soll ich mit dem Mehl anfangen?”
Na, für die Brotfabrik!” Die beiden hielten mich ganz selbstverständlich für einen Banditen. Sollte ich das Berlett petzen? Was musste ich tun, um wieder zum normalen Handel zurückzukehren? Für uns war es überlebenswichtig geworden seiner Einheit, in den verbleibenden anderthalb Jahren, mindestens sechzig Tonnen Tolstolob, Plötzen und Bleie zu verkaufen. Wir verfügten über Kredite und die mussten mit rund acht Prozent Zinsen getilgt werden.
An deiner Stelle würde ich Co-Impex informieren.”, riet Herbert Fischer mir, als ich ihn aufsuchte um mich zu vergewissern, dass uns kein Übermittlungsfehler unterlaufen war. Er kratzte seinen Kopf, weil er keinen bessern Rat wusste. Nächstes Mal ließe er mich nicht wieder allein fahren. Fernmündlich erteilte Co-Impex mir folgende Auskunft: „Es gibt einen Strukturwandel. Jetzt schreiben wir Sommer ‘91. Wenden sie sich bitte an ‘Fischexport-import’ in Steglitz. Vielleicht wäre es besser, sie verhandeln erst mit Wünsdorf. Wir bedauern sehr. Auch uns sind die Hände momentan gebunden” In Wünsdorf kamen wir nicht weit. Wie Schulbengel standen wir vor den schwarzen, eisengeschmiedeten Eingangs-pforten zum Park der Allmächtigen. Links das große gelbe Gutshaus, in das wir nicht gelangen konnten, rechts die Straße, auf der die Muschkoten entlang paradierten. Ein höherer Sowjetoffizier kam angeradelt. Auf seinen Wortschwall hin zuckte Herbert mit den Achseln. Morgen sollst du nach Berlin-Dahlem gehen.”Morgen?” Morgen!” Noch einmal müsste ich, allerdings aus zwingenden Gründen, auf seine Dolmetscherdienste verzichten, aber die dort sitzenden Leute verstünden Deutsch. Dieses Wort ‚Morgen’ war der ganze Ertrag einer Tagesreise von fast dreihundert Kilometern. Anderntags, im Bereich Berlin-Dahlem, als ich das schlichte Schild am versteckt liegenden weißen Haus las, bedrückte mich bereits die bloße Tatsache seiner Existenz. Es umdüsterte meinen Traum vom großen Geschäft. Trotzdem ging ich mutig hinein. In einem kleinen Wartezimmer nahm ich Platz. Ich sah diese harten und bleichen Gesichter nobel gekleideter russischer Zivilisten, die geschäftig an mir vorbeieilten. Wortfetzen drangen zu mir. Im Büro des unsichtbaren Dirigenten der Fisch- und Geldströme ging es um tausende Tonnen. Ich wurde schließlich hereingebeten. Ein untersetzter, kahlköpfiger Herr mit weißer Weste, der tatsächlich gut Deutsch sprach, saß halb in sich zusammengesunken in einem schwarzen Ledersessel. Was haben Sie uns anzubieten?” Ich erklärte es.
Von meinen Tolstolob und Plötzen war nicht lange die Rede. Ein Blick hin, ein Blick her: „Achtzig Tonnen im Quartal?” Keine Größenordnung für ihn. Tiefgefrostet könnte man die Dinger quer durch sein großes Land schicken. „Eine Mark aufs Kilogramm.” Er wedelte eine Fliege weg. Ich schluckte.
Meine Betroffenheit übersah er geflissentlich. Die Hälfte steckt er in seine Tasche. 80 000 Mark im Quartal. Aber immer noch besser als nichts. Seine schwarzen Kugelaugen erstarrten, während er die für ihn wesentlichste Frage stellte: „Wie viel Räucherlachse?” Er lächelte, während ich spürte, dass ich langsam errötete.
Mit seiner Geiernase roch er meinen Widerwillen. Mühsam mich selbst beherrschend überlegte ich. Doch ich war unfähig auszurechnen, wie viele Räucherlachse ich ihm maximal bieten könnte. Was würden die Warener, was die Prenzlauer sagen, wenn ich ihnen nur sechzig, oder achtzig Pfennige für ihre Tolstolob biete? Immerhin mussten sie aufwendige Fischerei betreiben. Wir selbst hatten unsere Tolstolobbestände bereits ausgedünnt, rechtzeitig.
Mit welchem Faktor durfte ich noch rechnen, wenn der da so rigoros den Preis halbierte? Ich müsste erst mit den Leitern unserer Nachbarfischereien reden und einen zweiten Termin vereinbaren. Andererseits musste ich ihm jetzt und hier eine nennenswerte Menge Gratisfische anbieten. Immerhin nahm er uns dreihundertundzwanzig Tonnen Silberkarpfen oder Rotaugen ab. Es ging, wenn wir andere schwer absetzbare Arten einbringen könnten um ein erweiterungsfähiges Geschäft von zunächst einer Drittel bis maximal einer dreiviertel Million Mark Umsatz. Wenn er zurückzog, dann brachte ich allein unser kleines Unternehmen um die direkte Einnahme von fünfzig- bis achtzigtausend Mark, - und um wie viel indirekt? Zuerst musste ich das andere ausrechnen. Acht bis zehn Kilo jede Woche - gratis?” Das wäre im Verlaufe eines Jahres eine halbe Tonne Räucherlachse, die erst erworben sein wollten.
Über sein fettglänzendes Gesicht huschte ein kleines, leicht verächtliches Zucken.
Kalte Wut kam in mir hoch. Du willst jede Woche mindestens dreißig Kilo Räucherforellen für nichts und wieder nichts haben?  Du nicht! dachte ich. Mit Gangstern mache ich keine Geschäfte. So viele habe ich nicht!”, sagte ich laut und bereute schon wieder, dass mich Emotionen verleitet hatten. Hätte ich nicht sagen sollen, das muss ich erst überdenken? Mir schien, dass er dachte: Du Leichtgewicht!
Hm”, machte er nur, wog den runden Kopf und schüttelte ihn, wie die Russen zu tun pflegten, wenn sie ablehnten. Ich stand auf oder besser gesagt, der Ärger erhob mich. Ich hätte am liebsten die Glastür hinter mir zugeschmettert. Um einhundertsechzigtausend Mark hatte er mich schon geprellt, bevor von seinen dämlichen Lachsforellen die Rede war. Wir hörten nie wieder voneinander, noch sah ich jemals den lieblichen Schuppen im Russenmagazin zu Neustrelitz wieder.


 

Ein unvorhersehbarer Schluss

Eintrag in den Merkkalender am 5. September 1991: “Der Krieg zwischen Jürgen N. der Genossenschaft und mir ist zu Ende! Das Bezirksgericht Neubrandenburg hatte endgültig gegen ihn, für uns entschieden. Herr Kurschus war mein Anwalt, der mich wiederholt bremsen musste, wenn Jürgen auf Nachfragen Unwahrheiten behauptete. Er besaß die Stirn dem Gerichtsvorsitzenden zu sagen, er hätte bei seiner Pachtung unserer Gewässer zuvor meine Erlaubnis eingeholt. Da sprang ich auf. Kurschus beruhigte er mich: Lass ihn doch, er hat schon verloren.  Das Urteil erging schnell. Jürgen Meyer der ehemalige und nun weiter amtierende Fischereiverwaltungsbeamte im Neubrandenburger Großraum, hatte zuvor meinen Fehler ausgebügelt, den ich vor Altentreptower Gericht beging, indem ich Bewirtschaftungs- mit Pachtverträgen verwechselte, was dazu führte, dass ich als Fischdieb dastand. Ich musste mich mühsam an neue Begriffe gewöhnen. Nun lag der Bescheid vor mir.  Meine Frau sagte mir am nächsten Tag: „Ich glaube, Jürgen war hier.” Sie meinte, sie habe gesehen, wie er vor der Haustür gestanden, geklingelt und dann davon gegangen sei, noch bevor er sie oder sie ihn hätte ansprechen können, denn sie kannten einander nicht. Am Abend des folgenden Tages klopfte es an meine Wohnungstür.
Er war es. Hoch aufragend stand er vor mir. Ich blickte ihn entgeistert an. Er wäre gekommen, um mir zu meinem Sieg zu gratulieren. Jürgen streckte mir seine riesige Hand entgegen. „Du kannst mir doch nicht zu deiner Niederlage gratulieren!“ Aber sein Plan sah das vor.  Ich dachte: Was für ein Riesenunsinn.
Allein die Idee fand ich absurd, geschweige denn die Verwirklichung. Wie Kopfjäger hatten wir uns bekriegt und er kommt um zu gratulieren, weil er unterlag. Tritt ein!” Tief atmend nahm Jürgen im Sessel Platz. Ich starrte auf seinen Mund. Wie oft mochte er diese Szene in den letzten sechzig Stunden durchlitten haben? Ein Mann wie er, der nichts tat, ohne es gründlich erwogen zu haben. Härteste Brocken hatten wir uns gegenseitig in den Weg gelegt.
Ich sei ein Lügner! Er ein Ehrabschneider. Dass ich vor Jahrzehnten in Prenzlau dreißig Berufsschüler in die FDJ hineingepresst hätte. Komisch, was die Leute alles wussten. Tatsächlich war ich eine Weile angetan gewesen vom Kommunismus, dass ich mich, schnell vorübergehend, auf dem Weg zu Josef Stalin befand. Natürlich habe ich damals  25 Aufnahmeanträge von der FDJ Kreisleitung geholt und sie jedem meiner jüngeren Mitschüler auf die Klassenbank gelegt und danach eine kurze Rede gehalten. Sogar ein Stalinbild pinnte ich an die Klassenwand, war ein oder zwei Tage lang drauf und dran gewesen, in die SED einzutreten. Jürgen schaute sich aus den Augenwinkeln blickend in unserer Wohnung um. Da gab es, wahrscheinlich zu seiner Verwunderung, keine Anzeichen von Bigotterie, was er meiner bekannten Glaubensansichten wegen sicherlich erwartet hatte. Ich hätte viel darum gegeben, wenn es mir in diesem Augenblick möglich gewesen wäre, seine Gedanken zu lesen. Musste das sein?” fragte ich ihn. Nur einmal zuvor, weit zurückliegend, als er tief in einer Klemme steckte, - seine Staatsexamensarbeit wurde abgelehnt. Das sei Lehrlingsgerede.  Da habe ich seine grauen Augen so bescheiden wie jetzt, so bittend gesehen. Ich wies ihn damals darauf hin, dass er etwas noch nicht Dagewesenes beschreiben müsse und machte ihm Vorschläge… Er kam dann geradeso durch. Wie damals rührte es mich auch diesmal wieder an. Ich an seiner Stelle wäre nicht zu meinem Feind gegangen. Aber da saß er nun. Ich wollte...”, begann er stockend. Da wusste ich alles.
Sein Freiheitsdrang war stärker gewesen, als seine Vernunft. Den politischen Umsturz habe er als seine große Möglichkeit betrachtet, endlich wegzukommen von den Zwängen, die ein Leben in einem Arbeitskollektiv oder in einem Team notwendigerweise mit sich brachten. Er war nicht geboren worden, um Befehle oder Weisungen entgegen zu nehmen, sondern um sie zu geben.
Immer stand, bis dahin, einer über ihm, und darüber noch einer und so fort. Frei sein wollen und nicht frei und unabhängig sein können, das war sein Problem.
Er hatte den Kampf aufgenommen, jedes Mittel eingesetzt, auch die untauglichen. Jürgen breitete seine großen Hände aus, die ich wohl gebunden sah, die jedoch nur unterstrichen, was seine hellen, unruhigen Augen widerspiegelten. Sie baten darum, dass wir ihm vergeben möchten. Ich sah, wie tief er bereute, mit dem Schädel gegen die Wand gerannt zu sein. Ich sah diesen Hoffnungsblink. Jürgen war unbequem und halsstarrig, groß im Hass und groß genug, sich selbst zu beugen. Weich kamen die Formulierungen aus dem Kindermund, der mir nicht selten hart und kalt wie Kieselstein erschienen war.
Lange Jahre hatte er vor mir und nicht nur vor mir eine Mauer errichtet. Die stand sehr fest. Sie war hoch und breit. Deshalb war sie unüberwindlich geworden. Lange Jahre hatte er vorgeben wollen, dass sein Schild und Rüstung, die er sich zugelegt, sein angewachsener und natürlicher Panzer sei. Dieses
selbstgefertigte Ungetüm hing nun als Ballast an ihm.
 Ja, ich habe ihn manchmal wiedergehasst. Es war mir nicht leichtgefallen, diese Gefühle niederzuringen. Auch die anderen Männer hegten starke Abneigung. „Nimmst du mich wieder?” Einen Augenblick lang wusste ich nichts zu sagen. Hätte ich Nein sagen können? Aber über das Ja entschied ich nicht allein.
Die neue Genossenschaft war von uns so strukturiert worden, dass alle Mitglieder dieselben Rechte wie vorher besaßen, sogar mehr als zu alten Zeiten. Unsagbar schwer würde es werden, die Fischer davon zu überzeugen, dass er von nun an friedlicher und freundlicher mit ihnen umgehen wolle.
Wie ein aus einem bösen Traum erwachender Mann schaute er daher, als ich offen ansprach, was er angerichtet hat. Er stellte dieselbe Frage, vielleicht weil er annahm, ich hätte sie überhört: „Nimmst du mich wieder?” Mann für Mann wolle er aufsuchen, zum zweiten Mal, ja, auch das sei richtig, aber diesmal wirklich geläutert, bekehrt durch großen Schmerz. Ich kannte ihn. Er würde genauso verbohrt, genau so verbissen, wie er bisher gegen uns gewütet hatte, diesen unerhörten Anlauf solange wiederholen, bis die versteifte Wand fiel, und sei es erst beim hundertsten Versuch. Er konnte gegen alle Logik der Welt anrennen. Etwas anderes als Fische zu fangen - und darin war er Meister - kam für ihn nicht in Frage.  Er wollte an das Unmögliche glauben, anders war für ihn kein Leben möglich. Entschlossen allen Hohn und jeden Spott auf sich zu nehmen, war er zu mir gekommen, allen Zweifel, jedes Bedenken überwindend.
Seiner Frau wegen, die er mehr liebte als sich selbst, der Zukunft seiner Kinder wegen. Er musste es tun. Nicht eine Minute lang, nachdem seine Niederlage besiegelt worden war, habe er eine andere Möglichkeit erwogen. Da musste er durch. Er bitte um Vergebung. Selbst wenn ich es nicht von Herzen gewollt hätte, nach diesen Worten musste ich ihm die Hand zur Versöhnung reichen.
Mir war sonderbar zumute, als seine große Hand meine Finger umschloss.

Er wagte ein kleines Lächeln. „Wenn du zu mir hältst, dann wird das auch was.”
Am drittnächsten Tag wollten wir beraten, was ich für ihn bei den härtesten seiner Widersacher tun, wen wir für ihn gewinnen könnten.
Um seinen Wunsch zu erfüllen, benötigten wir neun Ja-Stimmen.
Es gab diesen dritten Tag nicht, nicht für ihn. Nachdem er von mir weggegangen war, sprach er viele Stunden lang mit seiner Frau. Jede Einzelheit seines langen Gespräches mit mir erfuhr sie. Danach legte er sich zum letzten Mal in seinem noch jungen Leben zu Bett. Denn anderntags verunfallte Jürgen im Verkehr auf der Landstraße tödlich. Ich hätte es mir nie verziehen, wenn ich seine dargebotene Hand ausgeschlagen hätte. Noch nie habe ich auf einer Beerdigung, einen Schlager, gespielt von einem Orgelorganisten, gehört, aber auch noch nie so beeindruckend eine schlichte Melodie empfunden wie dieses Lied: „Wenn bei Capri die rote Sonne im Meer versinkt.” Ich sah ihn die Netze ausfahren und plötzlich mich als Dreizehnjährigen auf der Ducht des Segelbootes unseres Nachbarn Janzen sitzen, sah das korngelbe, gebauschte Segel und wie die rote Sonne versank und erinnerte mich der darauf folgenden Nacht der Schrecken, - der Bombardierung Peenemündes - die aber nicht das Ende bedeuteten, sondern mir die wunderbare Einsicht gaben, zu begreifen wie wertvoll jeder Tag ist, an dem wir leben dürfen, um nach düsteren Stunden wieder und wieder die aufgehende Sonne zu sehen …

 

Präsident Dieter Uchtdorf

 

Während meiner Zeit als Ratsherr in Neubrandenburg (1990-1998) war ich zugleich Ratgeber versch. Missionspräsidenten. Ab Mitte 1996 klagten die Missionare über Schwierigkeiten zur Erlangung ihrer Aufenthalts-genehmigungen in den größerer Städten Mecklenburg-Vorpommerns. Insbesondere war das in Stralsund der Fall.  Da ich mich naturgemäß oft im Rathaus unserer Stadt aufhielt klopfte ich eines morgens bei Carlo an, einem Freund. Dieser Mann jedoch war ein eingefleischter Evangelikaler - Pietist - und keineswegs ein Freund unserer Kirche. (Er war als Berater aus dem Westen zu uns gekommen.) Er schmunzelte als ich eintrat. Seine Augen funkelten: ich habe etwas für dich! Selbst mir durfte er nicht alles sagen und zeigen... und so erhob er sich und ging hinaus, er käme gleich wieder. Zuvor rückte er ein Blatt Papier so hin, dass mein Blick unweigerlich auf die Zeilen fallen musste. Es handelte sich um das „vertrauliche“ Rundschreiben Nr. 18-95 des Landesinnenministeriums.  Ich war schockiert: Denn es betraf unsere Missionsarbeit. Sofort war mir klar: Dahinter steckt die Kultusministerin des Landes Mecklenburg-Vorpommern Frau R. Marquardt, die Ehefrau des Schweriner Hauptpastors. Es sollte sich sehr schnell herausstellen, dass es so war.  Diese Dame hatte bereits zuvor einigen Wirbel gegen uns verursacht. Nun versuchte sie, unter fadenscheinigen Gründen unsere Missionare mit gewissen Klauseln, die unter Mitwirkung des Innenministeriums erarbeitet wurden, aus dem Land zu drängen.

Wie schon angedeutet, hatte Frau Ministerin, mit SPD-Mandat im Amt, u.a. eine überarbeitete "Informationsbroschüre" herausgebracht, angeblich um mehr Kenntnisse über Sekten und Weltanschauungsgruppen zu verbreiten, obwohl sich die „alte“ von 1990 noch kaum im Umlauf befand. Die Hefte lagen zu Hunderten im Neubrandenburger Rathaus herum.

Beachte den leicht schräg gestellten Aufdruck : "aktualisierte überarbeitete Neuauflage 95"

 

Die Überarbeitung bestand im Wesentlichen darin, ein Kapitel über "Mormonen" einzufügen, die sie persönlich als ein Dorn im Auge empfand. Sie versuchte, soweit ihr das möglich war, unsere Kirche als nicht ungefährliche "Sekte" darzustellen, weil "die Mormonen" nicht offenlegen, welche Details in ihrem Tempelritual vorkommen. Das ging auch aus der „Schweriner Volkszeitung“ vom 20. Dezember 1995 hervor. Die Überschrift lautete: „Wir wollen keine Ängste schüren!“

Frau Ministerin Marquardt wollte kraft ihrer Reputation erreichen, dass Mormonen mit Argwohn betrachtet werden, oder bereits bestehende Vorurteile verstärken, was ihr durchaus teilweise gelang.  Welch ein Trick.  Diesmal politisch untersetzt und auf Staatskosten. Ich telefonierte mit dem zuständigen Journalisten Herrn Schultz, der einigermaßen rüde reagierte. Für ihn schien festzustehen, dass am anderen Ende der Strippe ein engherziger, halbblinder Sektierer steht. Einige Mitglieder der Schweriner Gemeinde reagierten empört, bestellten die Zeitung ab…  Als Mitglied des Jugendhilfeausschusses Neubrandenburgs mit CDU-Mandat hatte ich eigentlich den Ruf eines moderaten Mannes, der mit nicht wenigen PDS-Mitgliedern auf gutem Fuß stand, und mit denen der SPD ebenfalls. Umgehend suchte ich meinen Freund, den stellvertretenden OB Neubrandenburgs, Burkhard Räuber auf und sagte ihm geradezu, ich würde in der nächsten Sitzung der Stadtvertreter mein Amt als Ratsherr mit einer Erklärung niederlegen.  Burkhard, ein aktiver Katholik, schüttelte sofort den Kopf. Fest stand, dass die Neubrandenburger Presse mich bislang häufig, etwa zwei-bis dreimal in jeder Woche, seit Jahren positiv zitiert hatte. Es würde einiges Aufsehen erregen, wenn ich in meiner angekündigten "persönlichen Erklärung" u.a. sagen würde: „Seit einhundert Jahren verbot niemand (außer den Kommunisten der sechziger Jahre) unseren Missionaren, in Deutschland zu wirken. Jetzt, mit der neuen Demokratie, nachdem wir die Diktatur der Kommunisten überwunden haben, soll meine Religion der Freiheit und der Rechtschaffenheit verdrängt werden…“ Wahr ist, ich hätte meine ganze Redezeit ausgeschöpft, und die Presse hätte es im Wesentlichen weitergegeben. Diese Rede hätte ich sorgfältig vorbereitet. Burkhard wusste das, er telefonierte umgehend mit Schweriner Beamten.

 Ich informierte Präsident Dieter Uchtdorf, der mir sofort seine Sympathie und Dieter F. Uchtdorfseine volle Unterstützung zusagte und der mich umgehend bat, mein Mandat nicht nieder zu legen.  So fanden wir, Präs. Uchtdorf und ich, uns kurz darauf, im Frühling 1997, auf die erwartete Einladung hin, im Landes-Innenministerium in Schwerin zusammen. Zwei Staatssekretäre kamen zu uns. Präsident Uchtdorf nahm die Gelegenheit wahr, etwa eine halbe Stunde lang mittels eines Bildbandes beeindruckend darzulegen, was die Lehren und Absichten unserer Kirche sind.  Umgehend wurden wir unterrichtet, dass das Innenministerium M.-V. das besagte Rundschreiben zurückzieht.  Das geschah. Dieter Uchtdorf, der die 600 km weite Anreise nicht gescheut hatte, und ich fuhren anschließend zum Kultusministerium, um beim zuständigen Staatsekretär H. darzulegen, welche Richtigstellungen erforderlich wären. Daraufhin vernahmen wir, dass Frau Kultusministerin Weisung geben würde die glücklicherweise mittig angeordneten Seiten, unsere Kirche betreffend, entfernen zu lassen

Dieter F. Uchtdorf war damals Chefpilot der Deutschen Lufthansa. Er wurde im Februar 2008 als Mitglied der Ersten Präsidentschaft der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage berufen und am 30. Oktober 2012 mit dem Verdienstkreuz am Bande der Bundesrepublik Deutschland ausgezeichnet.

2004 antworte Präsident Uchtdorf auf unsere, Ingrids und meine, Gratulation zum Mitglied des Rates der Zwölf: