Donnerstag, 17. November 2016

Mein veröffentlichtes Buch (1) Fischerleben

                                                        



Gerd Skibbe
Fischerleben – im Wandel der Zeit
Junior Edition Steffen 2006

Impressum
Gesamtherstellung: Junior Edition Steffen, Steffen Verlag, Friedland/Meckl.
2006 Junior Edition Steffen
1. Auflage
www.verlag-steffen.com
ISBN

Leseprobe
Fischerleben im Wandel der Zeit

„Nach durchzitterten Nachtstunden, mit kurzen, ohnmachtsähnlichen Phasen, aus denen Biederstaedt immer erneut hochschreckte, holten sie ihn. Seit langem hatte er sein Wasser lassen müssen. Der Posten verzog keine Miene, als er auf seine Not aufmerksam machte. In dem Zimmer, in das sie ihn brachten, ruhten auf nicht aufgedeckten Ehebetten zwei Offiziere, in Uniform. Sie lagen mit ihren schwarzen, neuen Stiefeln und schliefen. Grelles Licht blendete ihn. Der Dolmetscher fragte, wem er die Pistole abgekauft und wie viel Fische er dafür bezahlt hat.
Seine Erklärungsversuche beantwortete der Mann in Zivil mit Fußtritten. Fritz schaute hilfesuchend nach den beiden Männern, die sich, gleichmäßig schniefend, auf den grünen Steppdecken räkelten.
Auf wen er habe schießen wollen.
Fußtritte.
Er solle die Fragen korrekt beantworten und nicht wie ein Weib lachen.
Schließlich bedeuteten sie ihm, er stünde vor einem sowjetischen Militärgericht und solle endlich die Wahrheit sagen. Zum hundertsten Mal, wie ihm vorkam, antwortete Fritz: „Ich habe Wild gejagt!“
Diese Lügen würden sie ihm schon noch austreiben. Wer unter seiner Führung auf Sowjetoffiziere geschossen hätte. Fritz kniff die Augenlider zusammen. „Sagen sie die Wahrheit!“ Der Zehnerukas sei ihm ohnehin gewiss, so oder so. Er sah ein, es war zwecklos, sich zu verteidigen.“

Die meisten dieser Geschichten hat mir Fritz Biederstaedt erzählt, mit dem ich jahrelang zusammenarbeitete. Nächtelang plauderte er freimütig, während wir gemeinsam an den damals noch üblichen Handwinden standen um das Zugnetz heranzuziehen.

Ich - Gerd, -



bemühte mich, nahe bei der geschichtlichen Wahrheit zu bleiben. Eingebettet in die dramatischen Ereignisse zwischen 1920 und 1992 kann der Leser nacherleben, wie es nicht nur den Fischern vom Tollensesee erging.


Junior Edition Steffen 2006
www.verlag-steffen.com ISBN




Bereits zuvor hatte ich im Lenoververlag Teil 1 veröffentlicht:



Foto mit Genehmigung, Luftaufnahme: Tollensesee und Stadt Neubrandenburg
Ein Urteil:



Sturz in die Inflation

Ein vierzehnjähriger Bengel mit Halbhosen und langen Wollstrümpfen stand wartend vor dem Treptower Tor.
Noch lag die Dunkelheit auf den Dächern der Stadt und der Wind pfiff um die Ecke des vielwinkligen großen Bauwerkes. Von Sankt Marien schlugen die Glocken eine volle Stunde. Sieben Uhr. Gleich musste die dritte Haustür von links aufgehen und der Fischermeister Franz Meltz würde in den matten Lichtkranz unter der Gaslaterne treten. Er würde ein-, zweimal nervös mit dem Kopf rucken, den starken Schnurrbart aufzwirbeln, die beiden Kescher schultern und hinunter zum Tollensebach, zu seinen Fischen und zu seinen Kunden eilen.
Die Tür öffnete sich, der erwartete Mann kam, rückte den Hut zurecht und ging auf den Jungen zu. Fischereipächter Meltz erwiderte den überlauten Gruß mit der unwirschen Bemerkung: „Fritz Biederstaedt, ick hew di all dremol seggt, dat du bi mi nich arbeeten kannst. Du büst noch to spack!“
(„Fritz Biederstaedt, ich habe dir schon dreimal gesagt, dass du bei mir nicht arbeiten kannst. Du bist noch zu dürre!“)
Auf seinen Holzpantoffeln klapperte der Junge hinter dem vorwärtsstürmenden Manne her. Dabei schniefte er durch die auffallend starke Sattelnase. Also würde seine Mutter ihn nach Berlin in die Lehre schicken. Aber hundertmal lieber als hochherrschaftlicher Diener zu werden, würde er zusammen mit den anderen Fischerknechten auf den schönen See fahren, den erfahrene Reisende die "Perle" unter den norddeutschen Seen nannten. Doch Meister Meltz hatte keine Ohren für den Bettler. Ihn belasteten schwere Sorgen. Sein Blick richtete sich auf die dunkel schimmernde Menge Menschen, die vielleicht zum letzten Mal zu ihm gekommen waren, um seine Weihnachtskarpfen zu kaufen. Denn sein zwölftes Pachtjahr für die Neubrandenburger Großfischerei ging zu Ende. Erstmalig würde es einen ernsthaften Mitbewerber geben. Die Bürgermeisterei der Viertorestadt hatte die mehr als zwanzig Quadratkilometer Wasserfläche zur freien Bewerbung ausgeschrieben.

Bild: Autor Cv ivk "Der Tollensesee"

Möglicherweise wird ihm die Wanzkaer Fischerfamilie Peters den Rang ablaufen. Der Meistbietende könnte, nach mehr als achtzig Wirtschaftjahren, nicht mehr Meltz heißen, was eigentlich undenkbar war. Nach gutem Weihnachts- und Silvesterumsatz des Jahres 1920 wurde es ernst. Mitte Januar 1921 erfuhr Fischer Meltz, dass sogar ein zweiter Konkurrent aufgetaucht war. Ein Ingenieur aus Berlin namens Johne. Das schlug dem Fass den Boden aus, ein Berliner, dazu noch ein Laie! Damit sanken für den Altpächter die Chancen noch einmal.


Bild:privat Ernst Peters sen. (ca1890-1953)
Als schließlich die drei Gebote offen gelegt wurden, verließen die beiden einheimischen Pachtbewerber den Ratssaal aus Protest. Sie beobachteten einander, gingen aufeinander zu. Sie waren schockiert, weil die Einschätzung des fischereilichen Wertes des Tollensesees durch den Berliner haargenau ihren Vorstellungen entsprach. An Stelle von Geld hatten sie übereinstimmend die Summe von einhundertundfünfzig Zentnern Fische genannt. Wer hatte das dem Herrn Ingenieur Johne geflüstert? Auf den Berliner schimpfend waren sich beide endlich einmal einig. Solche Fischmengen hatte der Klugscheißer noch nie gesehen, geschweige denn gefangen. Wusste der überhaupt etwas anderes, als in der hungernden Millionenstadt Schiebergeschäfte zu machen? Der Mann mochte wohl verwegen sein, aber Kenntnisse vom Fischfang und erst recht von der Bewirtschaftung großer Seenflächen besaß er gewiss nicht. Sein unerwartetes und forsches Auftreten spannte ihre Nerven zum Zerreißen. Die beiden Fischermeister schauten sich nachdenklich an. Der Neuling stellte ihren ganzen Berufsstand in Frage. Was werden die Stadträte tun? Dem Berliner werden sie beträchtliche Aufmerksamkeit widmen, eben weil er ein Außenseiter war und weil man einem Ingenieur vielleicht mehr zutraute als ihnen. Es war nicht auszudenken. Beide schüttelten die Köpfe.
Nachdem Meltz und Peters einige ihrer Gefühle und Gedanken ausgetauscht, gingen sie mit großer innerer Anspannung auseinander, um sich in der Stunde der Entscheidung im Neubrandenburger Rathaus wieder zu sehen. Falls der Stadtrat zugunsten Johnes entschiede, würde Fischer Meltz sich natürlich stärker als die Petersmänner betroffen sehen.
Der vorzeitig gealterte Meltz presste die Fäuste aneinander. In seinem Denken und auf seinem Gehöft war alles auf die Fortführung der Fischereigeschäfte eingestellt. Ernst Peters und Vater dagegen verfügten gewiss nur in geringem Umfang über eigenes Fanggeschirr. Für ihn, den Erben einer erfolgreichen Tradition, war es unvorstellbar, auf neue Weise seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Den Peters dagegen, mit ihrem Geld, stand die ganze Welt offen. Sie würden den Schlag hinnehmen wie einen Klaps von Mutterhand. Er aber würde davon getroffen auf den Boden stürzen. Was wären seine vielen teuren, lieb gewonnenen Gerätschaften noch wert: die Bungen und die Stellnetze, die Reusen und Waden, die Arbeitsboote mitsamt den Pätschen und die Hälterkähne, dazu die Kescher und Stangen? An all dem hingen sein Herz und seine Erinnerungen. Wie oft hatte er beim Schein einer Petroleumlampe bis in die Nacht hinein draußen im Nebel oder in der Kälte gestanden und mit der Holznadel das zerfledderte Eingarn wieder zu einer heilen Netzwand zusammengeflickt, damit die Männer frühmorgens wieder hinausfahren konnten auf den See. Was sollten dann noch diese tausend Kleinigkeiten die Gaffeln und Piekhaken? Wo bliebe er mit den Eisäxten, den Jageruten und den Knüppelwinden, den Eisschlitten, den Leinen, Tauen, Tampen, Ankerseilen? Wohin mit den bereitliegenden Reusenbügeln, dem Netzwerk, den Ledderungen, den Stellnetzblättern, die ihm seine Leute an stürmischen Tagen auf Vorrat gestrickt hatten? Wohin mit dem Katechu, den Teerfässern und den Großkesseln, in denen er die Netze imprägnieren ließ? Welchem Zweck könnte das alles dann noch dienen? Sollte er das ganze Inventar etwa diesem dahergereisten Ingenieur für ein Butterbrot vor die Füße schmeißen? Hatte er dafür ein Leben lang geschuftet? Sollte solche Verschleuderung von Werten der Abschluss seines Lebenswerkes werden?
Auch an seine Leute dachte Fischer Meltz, aber mit Zorn. Weil mit ihnen ihr ungeheurer, unbezahlbarer Erfahrungsschatz dem Berliner sozusagen wie ein Sternentalerregen in den Schoß fiele. Der Großstädter würde auf sie nicht verzichten können und sie würden ihn akzeptieren. Sie wären ihm noch dankbar dafür, dass sie für ihn arbeiten durften. Dieser Gedanke regte den Mann Meltz noch mehr auf als der Seelenschmerz, selbst fortgeworfen zu werden. Nach kurzer Zeit der Umgewöhnung wird sich niemand mehr daran erinnern, dass es ihn, den großzügigen Franz Meltz, je gegeben hatte. Sie werden ihm noch nachreden, dass er sein Lebensglück mutwillig im Alkohol ertränkte.
Wie sich schon vor der für die drei potentiellen Pächter schicksalhaften Ratssitzung herumgesprochen hatte, befanden sich unter den dreiundzwanzig stimmberechtigten Neubrandenburger Stadtverordneten auch drei Kommunisten, die jeder Privatwirtschafterei abhold waren. Das pfiffen die Spatzen von den Dächern, dass diese drei Utopisten sich einbildeten, sie selbst könnten eine Fischermannschaft aus Arbeitslosen zusammenstellen. Da war der eine und der andere mal mit hinausgefahren und hatte ins Fanggeschäft hinein gerochen. Sie glaubten ganz einfach, man nehme ein Zugnetz, werfe es im See aus und schon würden sich große Fischschwärme überlisten lassen. Diese Phantasten wollten den „Raub”, wäre er ihnen denn zugefallen, einfach an die Stadtarmen und Notleidenden verschenken! Als ob die Welt existieren könnte, wenn man auch die vor Energie strotzenden Kerle durchfüttert. Darin war Peters mit Meltz einer Meinung gewesen, dass die Jungen mit ihren kräftigen Armen hingehen und sich ein Stückchen Wiese urbar machen sollten. Statt in den Straßen und Plätzen herumzulungern und zu schielen, ob ein „reicherer“ als sie, einen Zigarettenkippen wegwirft, sollten sie Kartoffeln und Erdbeeren anbauen. Fischer Franz Meltz ahnte, dass sich mehr Ratsherren als diese drei Kommunisten gegen ihn verschworen hatten.
Sogar einige, die ihm bisher gewogen waren, könnten sich mit ihren Hintergedanken dem neureichen Peters zuwenden. Bloß um ihn zu ärgern und um ihm zu beweisen, über wie viel Macht sie als Deputierte des Volkes verfügten. Im Grunde gab es keine Argumente gegen ihn. Sie könnten ihm gut und gerne noch einmal, nur dieses eine Mal noch, den Tollensesee und dazu die ihm
vorgelagerte flache Lieps mit ihren vierhundert Hektar Wasserfläche verpachten. Dann mag geschehen was will. Hatte er nicht bewiesen, die Pachtsumme pünktlichst zahlen zu können? Waren sie nicht allzeit gut mit ihm gefahren? Der Unterschied der Gebote war bedeutungslos. Es liefe rein logisch gesehen auf dasselbe hinaus.
Aber sein Gefühl sagte ihm, dass er sich solcher Hoffnung nicht länger hingeben sollte. Nun, da nach der Revolution alles anders geworden war, musste auch in der Fischerei eine Änderung herbeigeführt werden. Egal, ob es sinnvoll war oder nicht. Das war eben diese verrückte Nachkriegswelt, die törichterweise glaubte, dass alles Neue besser ist als alles Alte. Deshalb zogen die Kerle auch so vehement das frische Menschenfleisch dem alten vor. Das wusste Franz Meltz an jenem Morgen des 22.Januar 1921 wenige Stunden vor Beginn der Plenartagung so sicher, wie er wusste, dass man einen Mann und sogar die ganze menschliche Gesellschaft zwar auf den Kopf stellen aber damit wahre Besserung nicht erzielen kann. Nur anders wird es sein, sehr viel anders. Den verlorenen Krieg überstanden, fiel er nun erst - wie paradox - ins größere Elend. Ihm war es, je länger der Krieg gedauert hatte, jedenfalls in materieller Hinsicht immer besser ergangen. Sie hatten ihm nach 1916, nach der verlorenen Schlacht an der Somme in Frankreich, jeden, auch den minderwertigsten Fisch, geradezu aus der Hand gerissen. An der Front aßen sie nach Neujahr 1917 Margarinestullen mit ekelhafter Marmelade, in der Heimat Wrukensuppe. Welche Delikatesse war dagegen ein Gericht aus gebratenen, sauer eingelegten Plötzen gewesen. Jede Karausche, selbst jeder Grätenblei war Goldes wert in einer Zeit, da es an Stelle von Kolonialwaren nur noch glasige Kartoffeln und höchstens Gerstenschrot auf Lebensmittelkarten gab, die immer kleiner wurden  .
Böse Gefühle beschlichen den Mann mit dem Faltengesicht, als er auf seine Weise ahnungsvoll aufs Rathaus zuging.
Bild Wikipedia, das damalige Rathaus, 1945 vernichtet
 Da sah er Ernst Peters schon stehen, so als warte der auf ihn. Spontan dachte er, er solle ihm auch diesmal nicht aus dem Weg gehen. Es zog ihn hin zu seinem Leidensgefährten, mit dem er einen gefährlichen, ihnen beiden wahrscheinlich überlegenen Feind gemeinsam hatte. Sonst hätte er den Feldwebel Peters nicht eines Blickes gewürdigt. Der Umstand, dass es dem nicht unvermögenden, schneidig auftretenden Peters gelungen war, eine reiche Frau zu heiraten, regte Meltz nur in sofern auf, als er wusste, dass ein Mann mit Geld immer ernst genommen wurde. Wo viel Geld war, kam stets neues dazu. Beträchtliche Geldsummen ziehen neues Vermögen an wie schöne Mädchen ihre Kavaliere. Deshalb würde Peters auch dann, wenn er nicht der Pächter des Tollensesees werden wird, seinen Weg machen.
Als Franz Meltz seinem Konkurrenten Ernst Peters die Hand zum Gruß reichte, glaubte er noch befürchten zu müssen, dass das große Fischerglück sich diesem Johne zuwenden würde. Aus vollem Herzen und mit wüsten Ausdrücken fielen sie brüderlich vereint noch einmal über den vermutlich unfähigen Ingenieur Johne her. Zum ersten und letzten Mal in ihrem Leben machten sie sich gegenseitig Mut. Denn der wenig später erfolgende Beschluss der Ratsversammlung lautete: Peters vor Johne. „Denn man tau“, erwiderte der zutiefst verletzte Altpächter, nun auch des Trostes beraubt, im Unglück nicht allein zu sein, „se warn dat schon moken. Ewer wenn se glöben, dat de Bli goldene Flossen hem, denn irrn se sick.“ („Dann man zu, ...sie werden das schon machen. Aber, wenn sie glauben, dass die Bleie goldene Flossen haben, dann irren sie sich.“)
Und er sagte noch etwas, an sich selbst gerichtet: „To spack, Franz Meltz Hunnertundachtzig harst du beden müßt! To spack!“ ("Zu dürre, Franz Meltz! Hundertachtzig hättest du bieten müssen! Zu dürre!“)
Die Bleie hatten nie goldene Flossen gehabt. Aber wenn Peters sie damals gleich gefangen hätte, schon im ersten oder zweiten Bewirtschaftungsjahr, dann wären sie nicht einmal ihren Namen wert gewesen. Ein Großfang hätte ihm wenig genutzt, solange der Geldwert instabil war. Der Krieg hatte seinen Preis; die Revolution von 1919 ebenfalls. Das Resultat beider Ereignisse war die Inflation. Zusätzlich verheerend sollte sich die Missernte von 1920 auswirken. Statt der erwarteten Brotgetreideernte von 2,3 Millionen Tonnen gelangte lediglich ein Viertel der lebensnotwendigen Menge auf den Binnenmarkt. Irgendwie musste deshalb seitens der Regierung eine Möglichkeit gefunden werden, um die Fehlmenge irgendwo in der Welt billig einkaufen zu können. Der sowieso schon schwer angeschlagene Finanzhaushalt Deutschlands musste abermals überrechnet werden. Eigentlich müsste ein Brot nun vierzehn Mark kosten. Doch die großen Politiker wussten, dass sie das nicht zulassen durften. So subventionierten sie es, und die Hausfrauen bekamen es  - zunächst noch -für Viermarkfünfzig. Das aber verschlimmerte die Finanzsituation im Großen. Ernst Peters musste mit der Preisentwicklung Schritt halten. Dem kleinen Mann erschien die Lage schon damals nur schwer erträglich zu sein. Doch das war erst der Anfang vom großen Elend. Denn noch sahen die mittleren Produzenten und die Händler die eigentlichen Gefahren zum Glück nicht so deutlich. Man hatte ja Geld in den Fingern. Die zunächst noch von den mit Zahlen bedruckten Papierfetzen hervorgerufene sonderbare Illusion verursachte, dass sich die Deutschen wieder „hochrappelten.“ Ein gewisser Optimismus lag in der Luft. Das sahen die Spitzenpolitiker Frankreichs und Englands mit Neid, und dieser Neid sollte weitere böse Folgen zeitigen. Als Siegermächte fassten sie im Januar 1921 einen für alle Deutschen verhängnisvollen Reparationsbeschluss. Unsere einst so übermütige Nation, von ihren geistigen und geistlichen Führern in den Kriegsrausch getrieben, hatte nun für ihre Sünden zu zahlen; für Verdun, für Lüttich, für ihre gewonnene Schlacht bei den masurischen Seen gegen Russland.
Insgesamt brummte das Welttribunal den Deutschen die ungeheure Strafe von zweihundertundsechsundzwanzig Milliarden Goldmark auf. Zahlbar bis 1963, jahraus, jahrein anteilig. Der Betrag sollte in Goldmark und in Naturalien, Steinkohle und Handelswaren geleistet werden, später nach Auflagen. Noch in diesem Schicksalsjahr 1921 waren zwei Milliarden fällig. Das drückte gewaltig auf die Hauptschlagader der deutschen Volkswirtschaft.
Die Arbeiter der Neubrandenburger Baustofffirma Jäger streikten, weil sie mit ihren neunhundert Mark Monatslohn nicht mehr auskamen. Sogar die Fischerknechte muckten auf. Jede Familie mit zwei oder drei Kindern, und das waren die meisten, die Ende 1921 weniger als Zwölftausend im Jahr zur Verfügung hatte, litt große Not.
Vor dem 1. Weltkrieg verdiente der in der Stadt lebende mecklenburgische Arbeiter in der 60-Stunden-Woche etwa fünfundzwanzig Mark. Aber er konnte sich sein Bier leisten, sonntags sogar zwei Flaschen. Und je mehr er sich leisten konnte, umsomehr Brauereiarbeiter fanden eine Beschäftigung. Dasselbe Rad konnte allerdings zum Teufelsrad werden, wenn es sich rückwärts drehte. Vor dem Krieg hatte jeder kleine Mann seinen Sonntagsanzug. Wobei er für fünfzig Pfennige Anzahlung vom Neubrandenburger Juden Rosenstein schon einen Billiganzug erwerben konnte, der schließlich nicht teurer als dreizehn Mark war.
Selbst die ärmste Fischerfrau besaß vor den schlimmen Jahren ihr Ausgehkleid, ihren Hut und für Wintertage ihren Muff. Nun hätten sie den zwanzig-, dreißig-, hundertfachen Betrag für dieselbe Ware hinblättern müssen. Damals kostete eine Flasche Kulmbacher Bier zwanzig Pfennige, nun war sie unerschwinglich geworden. Die Arbeiter saßen nach Feierabend mit gemischten Gefühlen in den Gasthäusern und trauerten der guten alten Zeit nach, als ein Ei noch für einen halben Groschen und ein breitrückiger Matjeshering für zwei Groschen zu haben war. Nun kostete derselbe Fisch, wenn es ihn überhaupt gab, sechs Mark. Sie fluchten auf die Ausbeuter und auf den Staat. In ihrer Trunkenheit gifteten die Männer einander an, und zu Hause bekamen die Kinder Dresche für etwas, das sie nicht verschuldet hatten.
Die Reparationsleistungen und die schlechten Ernten (auch infolge einer verfehlten Landwirtschaftspolitik) rissen in das Staatssäckel ungeheure Löcher. Der diamantharte Dollar minderte den Tausch- und Realwert der Reichsmark, von Tagesschwankungen abgesehen, unaufhörlich.
Zu alledem fasste das Reichsgericht den verhängnisvollen Spruch: eine Mark ist eine Mark. Ein Gläubiger, der 1914 eintausend Goldmark verliehen hatte, musste 1922 mit der Rückzahlung eines wertlosen Tausenders plus der Zinsen zufrieden sein. Wer vor dem
Krieg die glatte Summe von zehntausend auf seinem Konto stehen hatte, besaß in Wahrheit noch, sage und schreibe, fünfunddreißig Mark. Den Großen passierte das nicht. Die waren rechtzeitig in holländische und dänische Währungen geflüchtet. Unter diesen Zwängen leidend, musste jeder Finanzplan wie eine leergesaugte Hülle ihre Form verlieren und zusammenfallen. Jeder Laie konnte voraussehen, dass dieser zähe Ball, in seinem Bestreben, sich wieder herzustellen, den Schwächsten die Atemluft nehmen würde. Wohl denen, die auf dem Lande lebten, oder wie die Fischer, auch wenn sie bloß als Knechte schufteten, sich zusätzliche Nahrungsquellen erschließen konnten und sei es auf illegale Weise.
So zog das Jahr 1923 wie eine schwarze Gewitterwolke herauf. Die psychologischen Folgen der Angst vor einer galoppierenden Inflation wirkten sich schließlich als Katastrophe aus. Das plötzliche Misstrauen des Mittelstandes, die staatliche Finanzpolitik sei auf Täuschung der Öffentlichkeit aufgebaut, reizte und peitschte die Nerven aller. Vorsicht trieb die Händler zu überzogenen Reaktionen. Das künstliche Finanzgefüge brach zusammen. Eine Schachtel Streichhölzer, 1910 für einen einzigen Pfennig zu erwerben, kostete im November 1923 schließlich fünfundfünfzig Milliarden Mark. Selbst kleinere Fabriken mussten, um das Geld zur Löhnung ihrer Arbeiter transportieren zu können, Pferdefuhrwerke zu den Banken schicken. In sechzig deutschen Notendruckereien spuckten die insgesamt 1723 Druckmaschinen pausenlos Geldscheine mit astronomischen Zahlen aus. Tag und Nacht liefen die Aggregate der Papierfabriken. In dieser Zeit der Verschärfung der Konflikte warnte der Utah-Senator Reed Smoot den amerikanischen Kongress davor, den Bogen zu überspannen. Smoot erklärte, Deutschlands Bürger könnten durch die maßlosen Forderungen der Allierten ihren Reparationszahlungen pünktlicher nachzukommen, in die Arme von Chauvinisten getrieben werden.
In einigen Orten wurde Notgeld gedruckt. Es löste die Probleme nicht. Weiterhin überschwemmten die bunten Inflationscheine den Markt.
Wer einen einfachen Brief verschicken wollte musste zuletzt 20 Milliarden Mark auf den Tisch einer Deutschen Postfiliale legen.

Bild Wikipedia

Einmal hieß es: ”Gebt die blauen Geldscheine nicht aus” ein andermal: “Behaltet die roten, die werden demnächst aufgewertet.”
Ernst Peters kam trotz alledem einigermaßen zurecht. Seine „Massenfische“ - Plötzen, Plieten -, die seine Kunden in guten Jahren kaum anschauten, konnte er verhältnismäßig günstig verkaufen. Wenn alles wankte, seine Reusenpfähle auf den Fangplätzen standen fest. Seine Maxime lautete, solange der Wert der Geldscheine unbestimmt ist, gilt es, sich sofort von diesen Papieren zu trennen. Die Summen vom Vormittagsverkauf setzte er mittags in unverderbliche Waren um, die der Markt gerade anbot. Es schien, als wollte ihn das Schicksal für solche Umsicht belohnen. Da gab es am Oberbach eine herrliche Villa, die gehörte dem Juden Heimann. Sonderbarerweise war Herr Heimann davon überzeugt, dass die blauen Scheine nach dem Währungstohuwabohu Zahlungsmittel sein würden. Zweitens hegte er die Absicht auszuwandern, weshalb er schnell viel Geld benötigte.
Heimann bot dem Fischermeister das sehr geräumige Haus samt Garten zu einem schauderhaft klingenden Preis an. Soundsoviele Billionen in blauen Scheinen.
Ob das sein Ernst sei? Der Jude nickte. Er habe den Eindruck, die Villa stünde am falschen Ort. In Amerika müsste sein Haus stehen. Er könne seine Befürchtungen nicht in Worte fassen, aber in Deutschland liege seine Zukunft nicht. Deshalb sei er entschlossen, sofort davonzugehen.
Ernst Peters fragte sich, ob er träume oder wache und ob sie das Geschäft denn auch sofort abschließen könnten.
Herr Heimann nickte abermals Zustimmung. Großfischereipächter Ernst Peters begab sich nach Hause. Er eilte, er stürzte durch die Stadt heim und konnte mit dem Verkäufer eine Stunde später einig werden. Heimann, offensichtlich von irrationalen inneren Zwängen getrieben, unterschrieb und Peters hielt sich für einen Liebling der Götter. Bei der Besichtigung des Grundstückes stellte er fest, dass die Stallungen, das nahe Bollwerk, sowie sämtliche Umstände für ihn und seine Zwecke wie geschaffen waren. Nur die Erlenbäume am Bach störten ihn. Dass Peters die Bäume fällen lassen wollte, wurde in der Stadt bekannt. Alle, die den Spaziergang am malerisch schönen Oberbach entlang zum nahen See liebten, wandten sich hilfesuchend an die Stadtoberen. Die Ratsherren zuckten mit den Achseln. Protestierend stellten sich ein paar beherzte Männer vor die Bäume. Doch Fischer Peters beharrte darauf, dass er mit seinem Eigentum tun und lassen könne, was er wolle.
„Das kannst du nicht, Herr Großmaul!”, schimpften die Verteidiger des gefährdeten Panoramas. Sie erregten die Stadtbevölkerung. Allerdings war der ganze Wirbel umsonst. Rigoros setzte Ernst Peters seinen Willen durch. Krachend stürzten die Erlen zu Boden.
Dass er, wenig später, unmittelbar nach der Grundbucheintragung einen Holzpantoffelmacher fand, der ihm für diese Erlen gerade die Summe bot, die er selbst insgesamt für den Erwerb des Grundstückes aufgewandt hatte, war eine ihm selbst geradezu unglaublich erscheinende Tatsache. Danach schrieb der ehemalige Rekrutenausbilder in sein Bewusstsein den Satz: Ich bin der Größte!
Er zog aus der Katharinenstraße aus einem schönen Wohnhaus in seinen neu erworbenen Palast in Seenähe.
Er ahnte nicht im Mindesten, dass bittere Monate und Jahre vor seiner Tür standen.
Fürs Erste war er obenauf. Er erwarb für eine handvoll nicht gerade hochwertiger Fische Kutschen und Kaleschen, Pferde und nagelneue Ledergeschirre. Seine Leute spotteten, er ginge unter der Last des Glücks schon breitbeinig.
Was wollte ihm das Schicksal nun noch anhaben? Das Beste des Lebens fiel ihm selbstverständlich, wie Regen dem Acker, zu. Doch als wollte ihm eine unbekannte Macht beweisen, dass die Gerüchte von der realen Existenz einer ausgleichenden Gerechtigkeit mehr sind als Fiktionen der Nervenschwachen, schlug das Schicksal aus dem vollen Lauf heraus unerwartet einen scharfen Haken.
Die Nachwehen der bald überwundenen Inflationszeit, kombiniert mit Fischerpech, sollten ihn noch an den Rand des Wahnsinns treiben.
Ursache war der Gedanke eines Finanzgenies. Dieser Jemand war auf die tragfähige Idee gekommen, eine Währungseinheit zu schaffen, die durch auf Gold lautende Rentenbriefe gedeckt wäre. So kam die berühmte Rentenmark in Umlauf. Hausfrauen konnten ein Brot wieder für einen Preis unter einer Mark erwerben. Die Arbeiter mussten den sauerverdienten Wochenlohn nicht mehr in der Aktentasche oder in einem Wäschekarton nach Hause schleppen. Diese Wendung sollte das Überleben der großen Bevölkerungsmehrheit wieder bezahlbar machen.
Schlagartig minderten sich dagegen die Chancen für Glücksritter aller Schattierungen. Die Pächter von Feldern und Seen mussten zu ihrem Leidwesen nach 1924 wieder in bar zahlen. Das tat ihnen sehr weh. Für Ernst Peters bedeutete dies, für zwölftausend Rentenmark Fische zusätzlich verkaufen zu müssen. Er stöhnte laut, als ihn diese Normalität einholte. Außerdem fingen seine Männer im Jahre 1925 miserabel. Sie fingen entschieden zu wenige Fische.
Schon bald, ab Mitte 1926, musste er kurzfristig bei Bekannten und Freunden Geld leihen. Und nur wenige Monate später mahnte ihn schon der Bürgermeister, pünktlicher seinen Verbindlichkeiten nachzukommen.
Seinem Ärger über diese Aufforderung zur Zahlung machte er an der falschen Stelle Luft. Wadenmeister Jan Schlämann, den er mitsamt seinen wertvollen Fängererfahrungen von seinem Vorgänger übernommen hatte, kratzte sich ratlos das Kinn, als er die rüden Vorwürfe des unter zunehmendem Zahlungsdruck stehenden Pächters hörte. Das war leicht gesagt, gefälligst mehr und bessere Fische vom See heranzubringen. Peters belehrte Jan Schlämann in ungerechtfertigt harschem Ton. Die Bevölkerung drehe jetzt jeden Pfennig dreimal in der Tasche um, ehe sie ihn ausgebe. Mit ihren spitzen Fingern wühlten die Hausfrauen mäkelnd wie noch nie in seinen Fischkisten herum. „Se hem ja blot Wittfisch!“(„Sie haben ja bloß Weißfische!“)

Er sei ein Plietenfischer!
Das war eine schwere Beleidigung. Schlämann allerdings gab zu, er brächte in letzter Zeit vom Tollensesee überwiegend Plötzen und immer weniger Fische heim, aber er müsse sich und seine Männer deshalb jedoch noch lange nicht beschimpfen lassen. Von Peters nicht und von niemandem. Sie wären fleißiger denn je. Das sei doch keine Bewirtschaftung des Tollensesees gewesen, was sie in letzten sieben Jahren betrieben hätten, sondern Raubbau auf Pächters Befehl hin. Er habe ja den Rachen nicht voll genug bekommen können. „Disse Frechheit hew ick nich hürt!“(„Diese Frechheit habe ich nicht gehört!“entrüstete sich Ernst Peters. Doch Schlämann konterte, immer noch ruhig: „De Uprägung steiht sei ditmol nich an!“ („Die Aufregung steht ihnen diesmal nicht zu!“)
Und überhaupt verlange er für sich und die Männer mehr Geld. Mit dem Kopf auf die Villa weisend, meinte er, so schlecht ginge es Peters ja nicht. Es wurmte ihn seit langem. Der Rekrutenschinder saß in dem schönen Haus wie ein Schwan auf seinem sturmsicheren Nest und sie waren bloß dazu da ihn noch hochmütiger zu machen. „Aach! Dorher weiht de Wind!“ ("Ach! daher weht der Wind"), jaulte der Getroffene. „Dorher weiht de Wind!“, echote Schlämann, ausnahmsweise unbesonnen. Beide Männer setzten zeitgleich einen Schritt aufeinander zu. Fast hätten sie sich berührt. Zum ersten Mal standen sich der raubeinige Exrekrutenausbilder und sein langer Gentlemanfischer ungewollt erhitzt, Aug‘ in Auge gegenüber, bereit zu handfester Auseinandersetzung.
Die Stimmung erschien den Fängern unerträglich. Ausnahmslos hielten sie zu ihrem Wadenmeister.
Wenn der Pächter nicht sofort das Maul hielt, passierte ein Unglück. Falls Peters Faust auch nur zuckte, würden sie ihm bedenkenlos an die Gurgel springen. Die große Geschäftigkeit täuschten sie nur vor.
Bis es plötzlich wie ein Peitschenschlag in sie hineinknallte: „Wenn juch dat bi mi nich passt, denn söcht juch annere Arbeit!“andere Arbeit!" ("Wenn euch das bei mir nicht passt, dann sucht euch andere Arbeit") Den überraschten Männern ging der Mund auf. Sofort war ihnen klar, dass ein Hinauswurf Dauerarbeitslosigkeit bedeutete.
Peters sah befriedigt, dass dieser Hieb gesessen hatte. Wäre er gescheit gewesen, hätte er sich vorsichtig umgedreht und wäre zurück ins Haus gegangen. Mehr als diese Nachdenklichkeit konnte er nicht zuwege bringen. Übermütig jedoch fasste er nach. Viel zu schnell. Er erwarte, dass sie, solange sie sein Brot verzehrten, untertänig parierten. Ab sofort wünsche er, dass sie täglich einen Fischzug mehr machten, also vier statt drei und zwar für dasselbe Geld.
Das war zuviel. Mit dieser Provokation hatte er die Grenze überschritten. Schlämann reckte sich. Jetzt musste er handeln. Das gebot ihm die Selbstachtung. Seine Leute, die gerade den ungewöhnlich guten Liepser Nachtfang aus dem Schweff gekeschert hatten, standen immer noch wie erstarrt. Zwölf Kisten voller großer Bleie und Hechte, die sie in der Nacht gefangen hatten, bezeugten ihren Fleiß. Es lag eine Dringendbestellung aus der Küche der Artilleriekasernen vor. Schlämanns redlicher Überzeugung nach hätte der Pächter dankbar und versöhnlich sein sollen. In diesen Sekunden der Hochspannung hörte man nichts als das Poltern der gegen die Kistendeckel schlagenden, vergeblich um ihr Leben kämpfenden Fische. Peters, der schon glaubte das Machtwort gesprochen zu haben, meinte plötzlich seinen Augen nicht zu trauen. Sein Wadenmeister ging, hob eine der gefüllten Fischkisten und schüttete den zappelnden Inhalt zurück ins freie Wasser. Er nahm, ehe Peters herankam, eine zweite Kiste und schüttete sie ebenfalls aus. Die kräftigen Fische schlugen mit den Schwänzen. „Jan!“ schrie Neumann. Schlämann drehte sich ruckartig um. Ernst Peters hielt einen Kescherstiel schlagbereit. Die grauen Augen des Wadenmeisters warnten ihn dringend. Peters musste auch die Blicke der sechs Männer spüren, die ihm Funken ins Genick sprühten. Der Fischereipächter erkannte, dass sie den Verstand verloren hatten und dass es plötzlich ums nackte Leben ging. Seine Autorität aufs Spiel setzend rannte er weg. Vor der Haustür stoppte Peters jäh, drückte das Kreuz durch, wandte sich um. Markerschütternd schrie der Gedemütigte: „Jan! Kommens in min Büro!“("Jan, kommen sie in mein Büro!") Er glaubte oder hoffte wenigstens, mit dem letzten aller tauglichen Mittel dem stolzen Mann bei zu kommen. Die Papiere würde er ihm vor die Füße schmeißen und gleich ihm den anderen unbotmäßigen Fischerknechten.
Theater war es.
Auf beiden Seiten. Ein zähes Ringen. Sie konnten aufeinander nicht verzichten.
Schlämann gab zähneknirschend nach und sagte atemringend: „Meisting, loten se dat man good sünd. Wie willn uns doch nich vertürnen.”("Meister, lassen sie es gut sein, wir wollen uns doch nicht verzanken.") Auch Peters gab nach. Am nächsten Fangtag äußerte er einlenkend, drei gute Fischzüge wären besser als vier schlechte. Der soziale Friede war vorübergehend gerettet.
Vom leichten Anstieg des Lebensstandards 1928 bemerkten die Menschen vor allem in den ländlichen Gegenden wenig. Strümpfe, Nahrungsmittel, Schuhe waren billig. Aber die wenigen Groschen, die sie verdienten, rannen wie Wasser durch die Finger.
Im Dezember 1924 hatte es zum ersten Mal nach dem Krieg eine Million Arbeitslose gegeben. Ende 1928 waren es, nach kurzzeitiger Besserung, schon über drei Millionen, die teilweise in langen Schlangen vor den Arbeitsämtern anstanden. Man ging „stempeln”, empfing Arbeitslosenunterstützung. Hunderte Neubrandenburger Familienväter bekamen wöchentlich 6,25 Mark Arbeitslosengeld. Davon konnten sie sich keine Butter und nur selten Frischfische leisten. Allein die Miete verschlang mehr als die Hälfte des Geldes. Nicht wenige Raucher schämten sich, dass sie ihrer Frau die letzten fünfzig Pfennige stahlen. Da half alles Jammern nicht.
Wer noch eine Arbeitsstelle hatte, biss die Zähne zusammen.

Aufstieg mit Schmerzen

Statt ihnen mehr zu geben, beschnitt Peters wieder einmal das Deputat seiner Leute. Denn auch er musste mehr denn je rechnen. Dennoch ging keine seiner vielen Kalkulationen auf.
Wenn sie ihn weit weg wussten, verfluchten die Wadenfischer den alten Geizkragen. Allerdings in seiner Haut stecken wollten sie auch nicht, währenddem er richtig vermutete, dass sie ihn beklauten.
Ehrlich gefragt, war das Diebstahl, von den Massen selbst gefangener Fische, die Mutter Natur wachsen ließ und nicht Meister Peters, sich zusätzlich ein paar Stück einzusacken, damit die Mäuler daheim und die große, erwartungsvolle Verwandtschaft gleichfalls nicht klagten? Mit den Peterschen Bettelpfennigen konnte man einfach nicht durchkommen. Es gab kein Erbarmen in diesem Kampf ums Dasein. Auch die Stadtväter kannten keine Gnade mit dem zahlungsunfähigen Pächter des Tollensesees. Sie schickten eine Zahlungsaufforderung nach der anderen. Denn ständig war des Kämmerers Kasse leer. Dabei wollte jeder am vermuteten Reichtum der gewachsenen Stadt teilnehmen.
Hoffnungsvoll richteten sich die Blicke aller Mütter auf die Zukunft. Denn so konnte es nicht weitergehen. Andererseits fielen in jedem Herbst der ausgehenden Zwanziger mit den Blättern auch die Hoffnungen. Viele verloren den Glauben, dass es je wieder so schön wie vor dem Krieg werden könnte. Immer wieder hatten sie die Kinder am Heiligabend vergeblich vertröstet, im nächsten Jahr ginge der Weihnachtsmann nicht wieder an ihrer Wohnungstür vorbei, sondern würde dann mit einem großen Sack voll guter Gaben hereinkommen. Und nun? Die Ungewissheit wuchs. Zu den wenigen Gewissheiten für die jungen Frauen gehörte die nächste Schwangerschaft. Ernst Peters musste sich erneut bei Privatleuten Geld borgen. Im Vertrauen darauf, dass sich der Fischreichtum wie eine Goldader im eigenen Claim vor seinen Füßen befinden würde, gingen einige der besser gestellten Neubrandenburger das Risiko ein und gaben ihm zu ihren Bedingungen, was er verlangte. Da brach aber nach allem Ungemach das ganz große Unglück herein. Nach einer Periode erträglicher Wintertemperaturen kam Mitte Januar 1929 für alle eine böse Überraschung. Plötzlich wälzten sich über Nordeuropa und Deutschland extrem kalte Luftmassen. Viele hatten schon geglaubt und gehofft, dass ihnen ein zeitiger Frühling bevorstünde und damit vielleicht sogar der Aufstieg aus dem Elend. Zuvor war Schnee gefallen. Wadenhoch lag die weiße Decke. Seit langem hatte kein Winter die Menschen und die kleineren Unternehmen so unvorbereitet angetroffen wie dieser. In den Stuben der meisten Einwohner vereiste das Pumpenwasser im Eimer, sogar die Pumpen versagten schließlich. Die Städter mussten zum Preis von 5 Pfennigen je Eimer aus den Hydranten versorgt werden.
Krachende Kälte herrschte. Morgens zeigte das Thermometer nicht selten minus fünfundzwanzig Grad Celsius an. Die Metereologen bestätigten: die tiefste jemals in Deutschland gemessene Temperatur betrug am 12. Februar in Hüll minus 37.8 Grad Celsius.
Wenn der Morgenwind aufkam, waren die Straßen menschenleer. Niemand wagte weite Strecken zu gehen, um auf dem Lande für wenig gutes Geld viele Kartoffeln einzukaufen. Sie gefroren im Sack zu Stein. Mit Schubkarre und Handwagen zogen viele der auch durch die Witterung arbeitslos gewordenen Männer in die umliegenden Forsten. Sie fegten die Waldböden von allem Brennbaren frei. Sorgenvolle Blicke richteten sich auf den tiefblauen Himmel. Denn das Hoch erwies sich als sehr stabil und die Nächte waren noch recht lang. Wenn sie in der Kneipe beieinander hockten, drehten sich die Gespräche ums Essen, die sibirische Eisluft und die Politik. Es hieß, russische Winter seien erträglicher, weil die Luft dort trockener wäre. Überhaupt sei dort jetzt alles besser, sagten die einen. Die Sowjetunion, „das Arbeiter - und Bauern -Paradies“ stand ihnen wie ein Garten Eden vor Augen. Manche schworen darauf, andere widersprachen. Zu entscheiden, ob die langfristige Besserung von Moskau oder von Berlin kommen könnte, von den Kommunisten mit Teddy Thälmann oder von Hindenburg und Hitler, war schwierig. Viele glaubten an gar nichts mehr. Sie fühlten sich von Gott, dem Kaiser und ihrem Glück verlassen. Natürlich mussten sie nächstes Mal wieder zur Wahl gehen, aber die da oben würden ja doch machen, was sie wollen, sagten die Gleichgültigen, und deshalb sei es egal, ob die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiter-Partei oder die Kommunisten ans Ruder kämen. Andere meinten man sei nun einmal Deutscher und stünde deshalb einem Deutschnationalen näher als seinem Feind.
Bild Wikipedia: der deutsche
Kommunistenführer E. Thälmann 
Die Fischerknechte hatten zusätzliche Sorgen. Zwar war der Tollensesee nun zugefroren, doch sein Eismantel wuchs unentwegt. Außerdem verbot sich das Fischen bei Temperaturen unter minus fünfzehn Grad Celsius.
Sie sagten selbst, der tiefgefrorene Baumwollfaden, aus dem das Zugnetz nun einmal bestand, könnte brechen. Auch fürchteten die Männer sie könnten sich Erfrierungen zuziehen, denn man kann das Netz nicht mit Handschuhen einholen. So hauchten die Fänger daheim Löcher in die Eishaut ihrer Fensterscheiben, statt das Eis des Sees aufzubrechen. Trübsinnig starrten sie vor sich hin, denn ihr Verdienst hing direkt vom Fischaufkommen ab. Es schmerzte sie, so hilflos den Launen der Natur ausgesetzt zu sein. Manchmal um die Mittagszeit trafen sie sich in der Stadt, manchmal in der Nähe des Petersgehöftes.
Ernst Peters, wenn sie ihn ansprachen, ging wortkarg an ihnen vorbei. Sie seien arbeitslos, meinte er, und er hätte mit ihnen nichts zu schaffen. Sie sollten ihr Geld vom Arbeitsamt beziehen. Nur Hermann Müller, das Fliegengewicht, beschäftigte er als Netzmacher weiter. Der Asthmatiker hielt ihm das Geschirr instand, fertigte auf dem beheizbaren Netzboden auch neues an. Und da war noch ein junger Mann, - derselbe, den Franz Meltz an jenem Weihnachtsmorgen des Jahres 1920 mit den Worten, er sei noch zu spack, abgewiesen hatte. Fritz Biederstaedt.
Fritz (1905-1965)
Auch ihn hielt sich Peters ständig. Er fiel auf durch seine Sattelnase. Er hatte die Fähigkeit seinen derben Gesichtszügen jederzeit ein gewinnendes Lächeln aufsetzen zu können. Fritz war in seinen Lehrjahren in besten Berliner Häusern in die Breite gegangen und hatte dort vor allem gelernt, widerspruchslos zu gehorchen. Jedenfalls sagte er immer nur: „Ja! Meister!“ Das half ihm.
Dass er allerdings sowieso machte, was er wollte, hütete er als sein Geheimnis. Aber er hielt Peters wenigstens die Menge der Gläubiger vom Hals. „Der Meister ist verreist.“ Das war er in der Tat, verreist ins Traumland.

Das große Los

Mitunter stand Ernst Peters tagelang nicht auf. Er stieß, wenn er seinen Getreuen sah, kurz das Fenster auf und wollte von Fritz wissen, wie das Wetter sei, zog sich allerdings sogleich mit einem Seufzer zurück ins Bett, griff darunter und fand vielleicht unter den leeren Flaschen auch eine mit Inhalt. Wer das prächtige Fischerhaus sah, hätte nicht glauben wollen, wie viel Kummer es beherbergte. Wenn die Pechsträhne sich in die Länge zog, verlor Peters am Ende noch das schöne Dach über dem Kopf. Wie gewonnen, so zerronnen! Das würden seine Neider hämisch vermerken. Im März, endlich, änderte sich die Wetterlage. Es kündigte sich das Ende der Herrschaft des Winters an. Bis dahin hatte der Tieffrost sich in die glasharte Haut des Gewässers gekrallt und sie hier und da mit seiner titanenhaften Kraft kilometerweit aufgerissen. Wie von Schmerz erfüllt hatte der See jedesmal aufgebrüllt. Es schallte schaurig, wenn die Eismassen barsten. Nicht selten schob diese Urkraft große Eisplatten übereinander oder weit aufs feste Land hinauf und türmte sie dort zu Bergen. Peters hätte es nicht bemerkt, wenn Fritz nicht zu ihm gekommen wäre
Fritz Biederstaedt schaute sich in der verdunkelten Stube um, in die er, nach einer Weile vergeblichen Klopfens, eingedrungen war. Da wölbte sich der Körper des reglosen Mannes und Fritz Biederstaedt sah den Strick unter dem Bett liegen. Er erschrak bei der Vorstellung, was das bedeutete. Mit einem Redeschwall versuchte er seinen Herrn zu wecken, um ihn dann auf helle Gedanken zu bringen: „Meisting! Meister! Ick glöw, wi könn‘n nu to Is fischen!“("Meister, ich glaube, wir können nun zu Eis fischen.") Der Pächter reagierte langsam. Er flüsterte etwas, murmelte vor sich hin, alle wollten ihm an den Kragen. Er zählte ein paar Namen auf. Die Liste seiner Gläubiger. Auch der Name Meltz kam über seine spröden Lippen. Dabei nickte er mit dem Kopf. Meltz hatte ihn gewarnt. Als er endlich begriff forderte der Pächter seinen treuen Fritz auf, die Männer zusammenzutrommeln.
Sie sollten um Himmels Willen wieder anfangen zu arbeiten. Fritz sprang aufgeregt durch die sich allmählich wieder belebenden Straßen, um die Stammfischer auf die Beine zu bringen. Die Frage, ob der Geizkragen sie auch entlohnen könne und wolle, verkniffen die Fänger sich. Sie kamen erneut hoffnungsvoll, verluden das knochentrockene Garn, die Gaffeln und Stangen, die Seile und Haken. Nachdenklich allerdings betrachteten sie die Eisäxte. Das ging nicht an. Sie müssten Riesenlöcher schlagen, anders ließe sich der Eisblock nicht heraushieven. Und das alle fünfzehn Schritte. Vierzig Löcher für jede Seite des Zuges waren erforderlich! Mindestens! Wer wollte das leisten? Sie benötigten doppelt soviel Leute! Die würde Peters ihnen nicht zugestehen.

Nach einigem Hin und Her beschlossen sie, sich zuerst zu einigen, welchen Zug sie ziehen würden. Jan Schlämann sprach sich für Zanderskamp aus, einen zuverlässigen Winterzug, allerdings am anderen Seeende gelegen. Die Männer schüttelten die Köpfe. Zehn Kilometer Hinmarsch, zehn zurück, ein Stück Arbeit für sich. Zudem sei der See von Spalten durchzogen.
Lieber würden sie „Linden“ ziehen. Das waren nur anderthalb Kilometer Fußmarsch. Ja, aber! Man könne mit „Linden“ Pech haben. Sie wollten glauben, dass sie gut fangen würden. Am ersten Tag würden sie die Löcher für die Jageruten schlagen, am nächsten das Zeug zum Fischen ins Wasser einlassen. Als sie vor Ort ankamen, stellten sie fest, dass es, wie sie schon befürchtet hatten, nicht möglich war, den sechzig Zentimeter starken Eispanzer an einhundert verschiedenen Stellen auf herkömmliche Weise aufzubrechen. Das aber war unumgänglich.
Die Jagerute musste unter dem Eismantel vorwärts bewegt werden. Denn an ihr hingen die Leinen. Diese waren zu den Orten zu transportieren, wo die Windenschlitten standen.
Dorthin jeweils sollten schubweise die Zugnetzflügel herangezogen werden. Schließlich wurden sie im Uferbereich ans Tageslicht geholt. Einer der Altgedienten erinnerte sich, dass in Ostpreußen in solchen Fällen Stoßäxte eingesetzt wurden. Man nahm einen gut meterlangen Stahlstab, ließ vom Schmied seine Enden umschlagen, das eine um es wie einen Meißel anzuspitzen, das andere wurde mit einem Griff versehen, ähnlich dem einer Handramme. Damit konnten sie das Eisloch erheblich kleiner halten. Das ausgesplitterte Eis schwamm sogleich oben, auch wenn nur ein winziger Durchbruch erzielt wurde. So konnte es leicht vom aufschießenden Wasser abgeschöpft werden und der Arbeitsaufwand reduzierte sich beträchtlich. Endlich waren sie soweit. Sie öffneten den Zug und das Inlett. Sie fuhren das Zugnetz hinter das große Loch. Mit einem Trick drehten sie die Schlitten und stießen sie rückwärts ins Wasser, zogen die Sicherungsschleifen auf und entließen das zehn Meter tiefe und zweimal zweihundert Meter lange Garn in die Seetiefe. Ihre Erwartungen spannten sie hoch. Sie hasteten vorwärts und machten sich ans Werk. Vier Stunden später kam das Wintergarn wieder ans Tageslicht. Mit großem Hallo wurden die ersten kleinen in den Netzflügeln steckenden Plötzen begrüßt. Doch die Männer fingen erbärmlich wenig. Nur ein paar kleine Hechte, eine Kiste voll brauchbarer Fische blieben übrig, nachdem sie sich selbst, allerdings nur bescheiden bedient hatten. Es wäre ihnen nicht schwer gefallen, den ganzen Fang restlos aufzuteilen.
Als es eine ganz Woche lang so ging, begannen sie zu zweifeln, ob es überhaupt Sinn habe, was sie unternahmen.
Fritz, der am Tage zuvor einen der Hauptgläubiger kopfschüttelnd das Petershaus verlassen sah, empfand die ganze Dramatik der Situation. Wenn es Peters nicht mehr gab, dann standen auch er und die anderen Männer im Dunkeln. Niemand in der Stadt würde ihn, Karl Neumann oder einen der anderen Männer einstellen. Auch mit der hochherrschaftlichen Dienerei war es ein für allemal vorbei. Morgen für Morgen war er nun vergeblich an der Seite Jan Schlämanns übers gleißende Eis gezockelt.
Wie ging es weiter?
Noch einen Zug! Nicht weit vorausdenken, sondern nur den neuen Tag durchhalten. Zähne zusammenbeißen, nicht aufgeben! Die steif gefrorene Schlittenleine geschultert, stemmte Fritz seine Eiskrampen, die er zwischen Hacken und Sohlen seiner sorgfältig eingefetteten Lederstiefel trug, ins spiegelglatte Kristall. Daran wird er sich nie gewöhnen, auf diesen Eispickeln zu gehen. Spätestens nach einer Stunde Marsch empfand er jeden weiteren Kilometer Wegstrecke als Qual. Unentwegt drückten die Eisen unter das Fußgewölbe. Die ganze Körperschwere schien nur auf diesen drei empfindlichen Quadratzoll seiner Fußsohlen zu lasten.
Mittags dagegen, nachdem die Sonne die Oberflächen aufgeweicht hatte, patschten sie in der Eispampe, die nicht abfließen konnte, weil die untere Hälfte der Eishaut sich als immer noch undurchlässig erwies. Unter diesen Umständen war es schwierig, allein die Schlitten vom Fleck wegzureißen. Sie erwogen, das Eisfischen aufzugeben und zu warten, bis die Sonne ganze Arbeit geleistet hatte. Denn die Bächlein gluckerten schon. Allnächtlich jedoch wurden die Eisflächen wieder vom Frost gehärtet.
Karl Neumann, der klotzige Mann mit der hasenschartigen Lippe, jung verheiratet wie Fritz Biederstaedt, bestand darauf, dass sie noch den Fischzug vor Alt-Rehse machen sollten. Karl wünschte eher, auf dem See zu sterben als sich zu Hause den lieben, langen Tag hindurch Vorhaltungen machen zu lassen, er fresse seinem Sohn die Haare vom Kopf. Denn sein Eheweib war nicht gerade ausgesprochen friedfertig.
Ob er von Sinnen sei, fragten ihn seine Leidensgenossen mit gemeinen Ausdrücken, die er trotz seiner kolossalen Körperkräfte nie verwandt hätte, weil er eine natürliche Scheu davor empfand, seine Mitmenschen mutwillig zu Zornesäußerungen herauszufordern.
Wenn sie, wie er empfahl, da hinaufzögen, in die weit entfernteste Seeecke, dann wären sie ja schon kaputt, ehe sie ankämen. Karl beharrte diesmal. Fritz Biederstaedt fixierte seinen Widersacher ärgerlich, dem er sich weit überlegen fühlte, weil der Kerl, wie er meinte, nicht einmal mit Messer und Gabel zu essen verstand, sondern nur den Löffel und die Finger als Essbesteck kannte. Doch bei der Erwähnung des Fischzuges vor Alt-Rehse, war ihm zumute gewesen, als hätte er selbst den Vorschlag unterbreitet. Immer gerieten sie beide aneinander. Fritz Biederstaedt mit forschen Redensarten, Karl mit seinem walrossartigen Schnauben und dem Vorwerfen seines Bauches. Es zuckte dem fünfundzwanzigjährigen Muskelmenschen in den Fingern. Er verkrallte sie auch, wenn er in Wut geriet. Doch sie griffen immer nur die Luft. Manchmal fürchtete Biederstaedt sich vor diesen mächtigen Fäusten, denn es gab keine Garantie, dass er sie nicht doch einmal einsetzen würde. Neumann schaute ihn diesmal geradezu bittend an. Er wusste, von Biederstaedt Äußerung würde abhängen, ob sie diesen einen Fangversuch noch machten oder nicht. Jan Schlämann wagte nicht, etwas zu sagen. Ihn drückten die letzten Misserfolge nieder. Fritz dagegen könnte unbeschwert entscheiden.
Karl kaute wie immer, wenn er ungeduldig wurde, an einem der Enden seines mächtigen, blonden Schnurrbartes und wartete. Der große Mund ging ihm auf, als er Biederstaedt unerwartet reden hörte: „Los Lüd! Korl hett Recht. Trecken wie noch Old-Rähse!“ ("Los, Leute, Karl hat Recht, ziehen wir - fischen wir - noch vor Alt Rhese."
Die sieben anderen Männer wogen die buntbemützen Köpfe zunächst eher ablehnend, dann wankend und schließlich zustimmend, weil auch Jan Schlämann sich zum letzten Eiszug des Jahres 1929 bekannte.
Es war schon spät an diesem Nachmittag, aber das Eis wegen der Himmelsbedeckung noch leidlich fest.
Sie beschlossen, das Wadenzeug noch einige Kilometer weiter in Richtung Südwesten zu schleppen um festzustellen, ob ihnen durch ‚Busten‘ der Weg versperrt würde oder nicht. Obwohl sich zur Linken in Richtung Klein Nemerow weithin verlaufende blaue, klafterbreite Rinnen zeigten und gewaltige Eisbarrieren auf den beiden Landzungen Buchort und Gatsch Eck in die Höhe ragten, erkannten sie nach einstündigem Marsch, dass der Weg frei war. Am nächsten Morgen, als sie von Neubrandenburg loszogen, sahen sie alles riesengroß. Das bedeutete Sturm, zumindest eine erhebliche Wetteränderung. Oben auf einem der Eisberge lag hingestreckt eine große Erle, die viele Winter überdauert hatte, nur diesen einen nicht.
Schweigend erreichten sie ihre Schlitten, schulterten die Seile und wuchteten los in Richtung Grote Lanke, vor Alt Rehse. Endlich vor Ort angekommen, warf der Wadenmeister Jan Schlämann die Schlittenleine prustend ab. „Man tau!“("Nur zu!"), sagte er ein wenig brummig, weil sie ihm so viele Züge schon abgenötigt hatten, die nichts eingebracht hatten. Weiß der Kuckuck, wo die Fischschwärme sich hingezogen haben mochten.
„Wennt wat wat, denn wat dat wat!“ ("Wenn es was wird, dann wird es was.") kalauerte Fritz den Spruch des Wadenmeisters zu Ende. Schlämann versprach ihnen dies sei der letzte Versuch. Danach ginge es zu Kahn im offenen Wasser weiter. Schlämann galt als Genie. Er kannte die tausend Tricks der Fischerei: Wann und wo bei welchem Wetter und bei welcher Mondkonstellation gute Fische gefangen werden konnten. Nur bei
Eisbedeckung hatten seine Voraussagen bisher nichts getaugt. Sonst konnte er alles. Er kannte und nannte und erklärte jedem, der sich dafür interessierte, wenn er mit ihm über den nächtlichen See fuhr, die Namen der auffälligsten Sternbilder: Großer und Kleiner Bär, den Himmelsdrachen und Kassiopeia. Die Keplerschen Gesetze, sogar das komplizierte dritte vermochte er verständlich zu erläutern. Er besaß eine gewisse Vorstellung von den ungeheuren Dimensionen der Milchstraße und den Details des Sonnensystems. Mitunter, in besonders klaren Nächten, wies er hinauf und behauptete, es gäbe im Weltall mehr Sterne als Sandkörner auf der Erde. Das erschien den Fischern natürlich übertrieben, denn auch sie hatten gewisse Vorstellungen, nämlich wie viele Körnchen sich allein in einer einzigen Sanduhr befanden. Schlämann aber liebte es, laut über die Unendlichkeit nachzusinnen. Selbstverständlich ging es hier nicht um die Werte der Ewigkeit, sondern buchstäblich nur ums Heute und Morgen, ums eigene Überleben und das des Pächters Peters. Seufzend stieß der hochgewachsene Schlämann die Stoßaxt ins Zentrum des damit markierten Inletts. Das mussten sie aufbrechen, dahinein würden sie eine Stunde später die Schlitten stoßen und mit ihnen das Winternetz. Dahinein würden sie dann die achtzehn Schritte langen Jageruten schieben, um sie von Loch zu Loch weiterzubefördern. Bald warfen die Männer ihre Joppen ab. Sie zertrümmerten die Hauptscholle in drei Teile, die einen drückten auf die seeseitigen Kanten des nun frei schwimmenden Eises und die anderen stießen die Spitzen ihrer an langen Stangen befestigten Piekhaken in die sich leicht aus dem Seewasser erhebenden Ränder und schoben so die tonnenschweren Brocken mit Anstrengung unter die unversehrte Eisfläche. Dunkelgrünes, dumpf riechendes Süßwasser gluckste auf und dehnte sich schließlich auf zehn Quadratmetern aus. Die „Jäger“ banden die zentimeterstarken bis zu sechzig Meter langen Zugseile an die Butttampen, an denen das Netz hing. Dann beeilten sie sich, ihre Ruten von Loch zu Loch zu schieben und folgten den „Stößern“. Auf ihren Rücken wippten die geflickten, von zahllosen Regengüssen ausgewaschenen Fischersäcke, in denen das Frühstück und die Kaffeeflasche sowie trockene Strümpfe und Kleidung steckten. Etwa fünfhundert Meter Wegstrecke lagen vor ihnen. Schweißgebadet beeilten sie sich, denn die Jäger waren ihnen auf den Fersen und kurz hinter denen kamen hüben und drüben schon die beiden Männer mit den Schlittenwinden, die das Zeug immer weiter in das abzufischende Gebiet hineinbeförderten. Sie mussten sich sputen, denn der Arbeitstag war nicht eher zu Ende, bis das Zugnetz jeden Quadratmeter der riesigen Fläche umfasst hatte, bis alles wieder am fernen Seeufer ans Tageslicht befördert wurde und danach richtig verstaut auf den beiden Schlitten verteilt lag. Die Stammplätze der beiden größten Kontrahenten befanden sich jeweils an den auf ihren Arbeitsschlitten montierten Knüppelwinden ihrer Flügel. Der eine arbeitete auf der rechten Seite, der andere auf der linken, beide dreihundert Meter voneinander getrennt, jeder den anderen scharf im Auge, ob er Schritt halten könne. Beide bereit, tadelnd hin und herüber zu schreien: Korl, du büst all to wiet! oder: Fritz hol up! Im Stillen lag jeder der Fänger mit seinem Gewissen im Streit. Man bekam einen frühen Feierabend, wenn so gut wie nichts gefangen wurde. Aber wenn man´s nur für die Katze fing, lohnte es erst recht nicht. Je weiter die Windenleute kamen, umso schwerer wog die Last der sich systematisch entfaltenden Netzwände. Allmählich bewegte sich der Wadensack, der noch zum Teil auf dem Hintereis des Inletts ausgebreitet dalag, den Jan Schlämann mit großer Umsicht nur gleichmäßig ins Wasser rutschen ließ. Waren die Männer an den Windenschlitten zu schnell, dann riss es den Sack zur Seite. Das veranlasste den Wadenmeister, einen Finger in den Mund zu stecken und laut zu pfeifen. Sie schauten dann hin zu ihm und wurden dirigiert. Er winkte auch mit der erhobenen Hand als Zeichen, dass beide Seiten gleich weit gezogen worden waren. Wie ein paar ins Riesenhafte ausgestreckte Arme müssen beide Flügel zu Seiten des großen Wadensackes die vielleicht vorhandenen Fischschwärme umzingeln und sie in der Finsternis, die unter solchem starken und zudem milchig getrübten sowie mit Schnee bedeckten Eis herrscht, zusammenhalten. Nur wenn das im zehntel Schritttempo vorwärts bewegte Netz einigermaßen gleichseitig läuft, kann es die begehrten Fische auch überlisten.
Die Fischerknechte mit ihren Stoßäxten arbeiteten sich bereits wieder, nachdem sie in Schilfnähe angekommen waren, aufeinander zu. Bald würden sie das Aufzugsloch schlagen können, so groß wie das Inlett. Wie an den Vortagen erwärmte sie die Sonne. Über dem gelben Ried flimmerte die unbewegte Luft. Das Himmelsblau nahm gegen ein Uhr weißliche Farbe an. Mitten im Eis stehend, empfingen sie den Frühling. Fast fünf Stunden Schwerstarbeit lagen hinter ihnen, und doch begann der wichtigste und auch spannendste Teil ihrer Tätigkeit erst in dem Augenblick, wenn die Buttstücke, die Wadenanfänge, sich bemerkbar machten, indem sie raschelnd zwischen den frei schwimmenden Eissplittern aus dem Wasser auftauchten.
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Bild: Archiv, Eisfischrei

Dann wurden die beiden Flügel des Netzes, zuerst von den im Uferbereich verankerten Handwinden und später von Hand herausgezogen. Vom Beginn des Netzeinholens an ist alle bisherige Schwere und Knüppelei vergessen, wie anstrengend der Rest der Arbeit auch noch sein mochte, weil sich nun bald erweisen sollte, was ihnen der Zug bescherte. Jedes Mal, selbst bei den hartgesottensten Leuten, steigerte sich die Spannung. Wie bei Goldwäschern sind die Augen dann auf einen bestimmten Punkt gerichtet. Wann zeigt sich das erste verheißungsvolle Blinken? Wann kommt der erste große Fisch? Was kündigt er an? Keiner dachte jetzt daran einen Bissen zu sich zu nehmen. Nun dauerte es höchstens noch eine Stunde, dann wusste man, ob es wieder einmal umsonst oder vielleicht das große Los gewesen war, das sie gezogen hatten. Viele Geschichten gingen in ihren Köpfen herum, selbsterlebte, nacherzählte, von Phantasien aufgewertete. Sie wussten sich außerdem in völliger Sicherheit. Der Eisklotz, auf dem sie nun standen, ruhte auf dem Gelegesand. Jan Schlämann kam mit langen Schritten vom Ort des Netzeinlasses auf sie zugeschritten. Auch an ihm zerrten die Kräfte des Zweifels und der Hoffnung. Seine Aufgabe bestand nun darin, sich ein Loch in fünfzehn Metern Entfernung vom Aufzugsloch - in der Mitte der sich nun unentwegt vorwärts bewegenden Netzwände - zu schlagen und dahinein mit einer Pulskeule zu schießen, einem Instrument aus Blech, wie eine große Tüte, mit dem er Krach machte. Jedesmal wenn er das Gerät, das sich am Ende einer Stange befand, hineinstieß, riss es eine Menge Luft hinunter, die sich durch den Lichteinfall silbrig erhellte und große Scheuchwirkung besaß. Als die Hälfte des Netzes herausgeholt worden war, erschien ein großer, um seine Freiheit kämpfender Hecht. Wütend drehte sich der meterlange Fisch ins lose Garn. Das galt den abergläubischen Fischern als bestes aller denkbaren Vorzeichen. Ein Barsch durfte es niemals sein. Karl Neumann, schickte einen Anerkennung fordernden Blick zu Fritz Biederstaedt hinüber. Beiden liefen Schweißtropfen über das Gesicht. Fritz knurrte laut auf. Es war nicht auszumachen, ob es Wut oder Freude war.
Einer der Männer rief jauchzend: „Een goodes Teken!“ ("Ein gutes Zeichen.")
Wenig später kamen die ersten rotsilbern schimmernden Fische zum Vorschein. Lebhaft schlugen sie mit den Schwänzen. Sie wehrten sich gegen die Gefangenschaft. Rotaugen. Die Franzosen nennen sie so, respektvoll. Plötzen werden sie abwertend von den Mecklenburgern geschimpft, weil die Norddeutschen die große Kunst der Zubereitung dieser Fischart im Grunde nicht beherrschen. Diese zappelnden Fische vermehrten die Hoffnung auf einen guten, vielleicht sogar einen außergewöhnlichen Fischzug. Wenn sie in solchen Mengen schon vor dem letzten Wadenstück erscheinen, schlägt kein Fischerherz mehr normal. „Dat sünd Bliplötzen!“16, riefen sie in ihrer Aufregung wiederholt einander zu, naiv und offen in ihrer Freude. „Wi hem se! Wi hem se!“17 Das trug ihnen eine laute Rüge Schlämanns ein, der nicht leiden konnte, wenn jemand den Tag vor dem Abend lobte. Noch konnte jede Art von Unglück passieren. Selbst wenn es denn ein Großschwarm Bleie war, der sich im völlig unsichtbaren und inzwischen klein gewordenen Umfassungsbereiches des Zugnetzes aufhielt. Bis zuletzt war möglich, dass er noch unmittelbar vor der drohenden, endgültigen Gefangenschaft an den immerhin einig zig Quadratmeter großen Lücken unter den Zugleinen durchbrach. Oder es stand noch kurz vor dem Aufzugsloch ein abgebrochener
Reusenpfahl. Ein paar Zentimeter Holzsplitter reichten aus, den Wadensack, in dem sich der Fang sammeln soll, von vorne bis hinten aufzuschlitzen. Wer wusste schon, was sich unter Wasser und dem Eis befand? Manchmal reichte ein verloren gegangener Anker aus, um alles zunichte zu machen. Dafür gab es genügend Beispiele. Neumann schrie wie ein Schuljunge: „Hew ick juch dat nich glick secht? Hüt fäng wi wat. Hüten fäng‘n wie wat!“ ("Habe ich euch das nicht gleich gesagt? Heute fangen wir was?")
Bild privat, 1990 aufgenommen, aber
 der  geschilderten Situation vergleichbar
Im Tonfall ahmte er den Wadenmeister nach, der sich hastig die Gummijacke vom Körper zerrte und angesteckt vom Vorfreudentaumel seiner Männer wie ein junger Springinsfeld bewegte und sein Tempo als Keulenschläger verdoppelte. Fritz stellte sich ein Traumhol vor. Hundert Zentner große Bleie. Es mussten Edelbleie sein. In solchen Maßen erschienen Bleiplötze nur als Vorläufer und Schwarmbegleiter der Riesenbrassen vor. Das wollte er unbedingt glauben. Er hatte in den fast sechs Jahren seines Fischerlebens nur selten mehr als fünf, sechs Zentner dieser oft gelobten Großbrassen mit eigenen Augen gesehen. Er konnte es nicht unterlassen, obwohl er nur die Anzeichen sah, zu rechnen, wie viel Geld dem Pächter dieses Fangglück einbringen könnte. Dann würde er sie wieder normal entlohnen, dann bekam er wieder Luft zum Atmen und zum Weitermachen. Der Arbeitsplatz wäre gesichert. Der Alte mochte ihn und er mochte den verzweifelten Alten. Wenn das wahr wird, dann... Daheim mussten Stühle angeschafft werden, ein bequemeres Bett. Endlich musste die neue Joppe her, für die Frau ein Frühlingskleid. In seinen ausschweifenden Gedanken entstanden farbige Phantasiebilder: gedeckte Tische und gefüllte Gläser. Dass Ernst Peters ihm und den anderen, selbst wenn er an diesem Tage von einem Goldregen überschüttet würde, nur Pfennige abgäbe, wusste Fritz. Aber er verdrängte es. In solcher Situation sind alle Beteiligten aufs Höchste von unsinnigen Wünschen erfüllt. Fritz hatte seiner schönen jungen Frau versprochen, dass er es schaffen würde, das Elend zu überwinden. Und da erschienen endlich, wie vermutet die ersten Brassen im Garn. Zwei Achtpfünder wälzten sich in der Eispampe. Auch Jan Schlämann glaubte nun daran. Seine Männer mussten jeden Augenblick den Unterspann fassen.
Gewaltig sprudelte es aus dem Pulsloch heraus.

Soviel Wirbel konnte nur ein Massenfang verursachen. Die Unterleinenzieher bemerkten diesen kräftigen Ruck. Die unsichtbare Gewalt widerstand ihnen. Der bereits vom Wadensack umschlossene Schwarm drängte mit Macht zurück. Jetzt hieß es für die Fänger sich schnell und ganz nahe ans Aufzugsloch heranzuarbeiten. Unter keinen Umständen durften ihnen die Leinen entgleiten. Im Gegenteil, es galt das Unterspann so schnell und so weit wie die Vorsicht erlaubte hochzuziehen, aufs Eis zu bringen und festzuhalten, gleichgültig, wie schwer die Last würde. Erst wenn sie einen Teil der Sackringe um die Stangen gewickelt hatten, war ihr Anteil geleistet worden.
Mit Hilfe der Eiskrampen standen sie fest und stemmten sich gegen die Verursacher des brodelnden Wasserstromes. Energisch mussten sie dem Druck der immer noch unsichtbar zurückflutenden Menge von Tausenden und Abertausenden kiloschweren Fischleiber, die den letzten verzweifelten Ausreißversuch wagten, ihre Kraft entgegenstellen. Das waren mehr als einhundert Zentner Edelfische! Das waren zweihundert! Sie pusteten und stöhnten mehr aus Vergnügen als aus Qual. Welch ein Tag! Wie lange hatten sie darauf warten müssen? An der Anzahl der gefüllten Sackringe vermochten die Männer einigermaßen genau die Fischmenge abzuschätzen. Jan Schlämann tat das, äußerlich schon wieder gelassen. Er schaute über die Schulter zurück und sah zufällig Fritz Biederstaedt an: „Föfteigen Tunnen!“("Fünfzehn Tonnen!"), sagte er. Das klang nicht nur herrlich, das war das Größte, denn seine Schätzungen waren stets die zuverlässigsten gewesen.
„Donnerschock!“ Sie schrieen ihr Fängerglück in den Himmel. Dreihundert Zentner! Dabei hatten sie von den gefangenen Fischen bisher nur einzelne Exemplare zu Gesicht bekommen. Immer noch schwamm die Menge unter dem schneebedeckten und milchigen Eis im Verborgenen.
Wer würde nun hinuntereilen, um dem Pächter Peters die wichtige Botschaft zu bringen? Es bestand dringender Handlungsbedarf. Augenblicklich müssen die umfangreichen Maßnahmen zum
Verkauf eingeleitet werden. Wer in einhundert Kilometer Umkreis konnte solche Fischmassen einigermaßen preiswert vermarkten? „Ick lop runner!“ ("Ich lauf runter!") , bot Karl Neumanns Erzrivale Fritz Biederstaedt schneller an, als ein anderer denken konnte und flog auch schon los.
Er war bereits einige Schritte weg, da erst reagierte Neumann. Zu spät, Karl, sagte sich der Koloss und biss neidisch in seine dicken Lippen. Eigentlich hätte ihm und niemandem anders zugestanden, die freudige Nachricht hinzubringen. Er hatte die Idee gehabt und durchgesetzt. Wieder einmal hatte sich bestätigt, dass keiner den See so gut kannte wie er, und keiner des Pächters Lob und Dankbarkeit mehr als er verdient hätte. Doch da war das große Glück längst einem anderen zugefallen. Der Lakellümmel stahl ihm wieder einmal den Erfolg. Ehe er seine einhundertundzehn Kilogramm Masse hatte in Schwung bringen können, war Biederstaedt auf und davon. Karl Neumann schaute Schlämann vorwurfsvoll an, weil der auch noch hinter dem Galopp rennenden Biederstaedt anerkennend hinterher nickte. Viel mehr als das Recht zählte bei diesem dürren Schlämann, wer sich am meisten bemühte, sein lieb Kindchen zu sein.
Viel zu gern ließ sich der alte Sternenspinner von dem katzbuckelnden Biederstaedt um den Bart schnurren. Das konnte der. Das haben sie ihm ja in Berlin beigebracht. Karl Neumann konnte sich den Bengel gut vorstellen. „Jawohl, gnädige Frau, bitte sehr, Herr Baron.“ Alter Silberputzer! Karl dachte ein obszönes Wort hinterher und machte sich zornbebend über den Rest des Frühstückes her. Er biss so schnell und kräftig große Happen aus dem Quarkbrot heraus, dass der steife Schnurrbart in die weißen Krümel hineinbürstete. Nie wird er dem unterwürfigen Menschen vergessen, wie der sich gleich am ersten Tag bei den beiden Chefs einzukratzen wusste. Sich und ihn sah er in der Erinnerung an damals, als sie beide zufällig und exakt, als hätten sie sich abgesprochen, an jenem Frühlingstag des ersten Nachinflationsjahres 1924 zum ersten Mal und in derselben Absicht aufeinander stießen. Peters stand auf dem Hof und fast gleichzeitig gingen sie auf ihn zu. Er in der guten Hoffnung, er würde dem anderen vorgezogen und angenommen werden. Als wäre es vom Schicksal gewollt gewesen, waren sie gemeinsam aufgetreten und stießen sich doch sofort mit Gewalt gegenseitig ab wie Feuer und Wasser. Peters, der, wie sich herumgesprochen hatte, neue Leute suchte, nahm den linkisch ungeschickten Diener mit demselben Gleichmut an wie ihn, dem man doch eher ansah, was er an Muskelpaketen unter der blauen Arbeitsbluse trug. Peters hörte den verkrachten Diener sogar zuerst an.
Das hätte der Pächter doch auf den ersten Blick bemerken müssen, dass dieser Biederstaedt bloß ein Süßholzraspler und Ohrenkratzer war. Indessen näherte sich Fritz Biederstaedt, nach zehn Kilometern Eilmarsch, endlich dem Petersgehöft. Er fragte sich zunehmend besorgt, wie er den Pächter antreffen würde. Das Haus lag merkwürdig still da. Gewiss, die beiden Bengel, der fröhliche, hoch aufgeschossene Ernst und sein zehnjähriger Bruder Heinz drückten die Schulbank oder hielten sich bei ihren Kameraden auf. Doch auch die Ehefrau des Pächters stand nicht hinter den Gardinen. Fritz klopfte kräftig. Die Türen waren nicht verschlossen. Im dunklen Zimmer fand er sich zurecht. „Meisting!“, rief er zunächst verhalten, schließlich wesentlich lauter. Der Meister atmete doch hoffentlich noch. Schaudernd, zog er die Vorhänge zurück. Frau Peters kam über den Hof aus dem Stall, den Eierkorb tragend. Fritz eilte hinaus zu ihr.
„Fru Meistern, wie hem de Bli!“("Frau Meisterin, wir haben die Bleie!") Ihre trüben Augen blitzten auf. „De Bli!“, murmelte sie. Der freudige Schreck war groß. „Ernst!“, schrie sie laut. Sie stürmte vorneweg. Die schon beiseite geschobenen Vorhänge zog sie noch einmal, öffnete das Fenster. Irgendwie vernahm der Pächter einen hellen Ton. Zwei schwarze Schatten ragten vor ihm auf. Er konnte sich nicht konzentrieren. Schwere Mühlräder rieben gegeneinander. Seine Frau stand unmittelbar vor ihm, mit ihren in die Seiten gestemmten Fäusten. Groß wie ein Monument erschien sie ihm. „De Bli, de Bli!“, hörte er wie ein Echo. Seine zitternde Hand fuhr über die Bartstoppeln. Er fragte: „Büst du dat, Fritz?“ ("Bist du das, Fritz?")
„Jo, Meister, wie hem Bli up de Grote Lank fungen. Bli, grot as de Waschbredder.“ ("Ja, Meister, wir haben die Bleie auf der "Großen Lanke" gefangen. Bleie so groß wie Waschbretter.") Peters sah verwundert diese vor dem Hintergrund gleißender Helle sich ausbreitenden Hände. Sein weißes Gesicht kam hoch. „De Bli?“, fragte er nach und fuhr, die Decke beiseite werfend, hoch. Sofort ernüchtert saß er auf seinem Lager. In seinem Kopf war ein Stachel, dessen Spitze hieß „Bleie in Massen.“ Eine Woge frischen Blutes schoss ihm in den Kopf hinein. „Woväl hett Jan schätzt?“
„Jan Schlämann hett seggt, dat sünd drehunnert Zentner!“("Jan sagt es wären dreihundert Zentner") Ernst Peters ging der Mund auf. Fast flüsternd zuerst wiederholte er den Satz. Wie spät es sei, und welchen Wochentag sie schrieben? Sekunden vergingen. Möglicherweise wagte er seinen Sinnen nicht zu trauen. Innerlich bewegt, wiederholte Fritz Biederstaedt alles zum dritten oder vierten Mal. Zwei der Prachtexemplare hätte er selbst in seinen Händen gehalten. Peters stand mit einem Ruck auf. Sein soldatisch eckiger Schädel fuhr herum. Er stellte sich vor Fritz hin und dröhnte: „Is dat würklich wohr?“ ("Ist das wirklich wahr?")
„Meister, hew ick all eis logen?“ ("Meister, habe ich schon mal gelogen?")
Natürlich hatte er mehr als einmal gelogen, sehr sogar. Aber diese unglaubliche Nachricht war die reinste aller Wahrheiten. Peters dehnte die Brust, streckte das Rückgrat. Mit vibrierenden Händen zog er die Hose an, stopfte das Hemd ins Bund, ging zum Fenster. Wenn sein Haus gebrannt hätte, oder der Himmel wäre über ihm eingestürzt, außer dieser Meldung hätte ihn nichts mehr erschüttern können. Es galt zu handeln. Seine Frau interessierte ihn nicht. Keines ihrer vielen Worte vermochte tiefer als bis auf sein Trommelfell zu dringen. „Fritz spann an!“, den Fuchs sollte er nehmen und den kleinen Schlitten. Das wusste der Alte also doch, dass nur der Fuchs mit Stollen beschlagen worden war. Seine Frau zog ihn in die Küche. Fritz bemerkte, dass er sich nicht zerren lassen wollte. Sie habe Feuer im Herd, sie wolle ihm wenigstens einen Kaffee kochen oder ein Glas Milch warm machen. Milch und Kaffee konnten warten, seine Bleie nicht. Er erkannte, dass er keine Minute seines Lebens mehr zu verschenken hatte. Er stürzte hinter seinem Knecht her. Er riss ihm im Stall das Pferdegeschirr aus der Hand, hängte es eigenhändig, allerdings mit großer Kraftanstrengung über den Kopf des plötzlich nervösen Tieres. Das Vollblut spürte, dass etwas in der Luft lag. Fritz kam nicht dazu, Peters behilflich zu sein. Selbst die Halfter schloss er persönlich, obwohl Fritz es hätte schneller machen können. Er ging in die Remise um den Schlitten herauszuschieben.
Als Fritz das Pferd anschirrte, kam des Pächters Frau angelaufen, mit einem Beutel. Mit Gewalt musste sie ihm den zustecken. Fritz sah sie beide, den dürre gewordenen Mann mit seinem unnatürlich weißgelben Gesicht und der schwarzen Pelzmütze, der sich zitternd in den dicken Mantel einhüllte, und die untersetzte Frau mit ihrem energisch vorstoßenden Kinn. Das Tauwasser tropfte hörbar vom Dach in den grauen Schnee. Es roch nach neuem Leben. Gedankenversunken stieg Peters auf und ließ sich auf die Schlittenbank fallen.
Den ganzen Verstand eines gewieften Händlers wird er benötigen, aus diesen Massen Fisch in solchen Zeiten viel Geld zu machen. Als sie den halben Weg hinauf zum Fangort zurückgelegt hatten, begann er laut zu rechnen. Bekäme er zweiundfünfzig Pfennige aufs Pfund, den Maximalpreis, den er je im größeren Posten erzielen konnte, dann wären das über fünfzehntausend. Die beiden Glöckchen am Wintergeschirr klingelten hell. Dumpf setzten die Hufe des fuchsfarbenen, sechsjährigen Wallach auf den Waldboden vor Meyershof auf. Es lag nur noch wenig Schnee. Übermütig und vor Kraft strotzend hielt das Pferd den Dauertrab spielend durch. Eher litten im Hause Peters die Besitzer Mangel als die Tiere.
„Föfteigendusend“, bestätigte Fritz ehrfürchtig. Ernst nickte. Die Pachtsumme wäre das und die Lohnsumme, die er seinen Leuten schuldete. Ja, er würde sogar eine beträchtliche Rückzahlung an seinen Hauptgläubiger Kaufmann G. leisten können. Er wog den schmalen, harten Kopf. Aber zweiundfünfzig Pfennige würde er gewiss nicht erzielen. Sie werden ihn erheblich unter Druck setzen. Die Großhändler würden selbst viel verdienen wollen. Höchstens vierzig aufs Pfund werden sie herausrücken, diese Geldsäcke. Ihre Habgier würde seine Hoffnungssumme gewaltig senken und doch seinen Fortbestand sichern.
Wenn er nur erst vor Ort wäre, um seine Fische zu sehen. Die Kufen sirrten. Noch war es taghell. Aber die Sonne ging in spätestens anderthalb Stunden unter. Unaufhaltsam rückten die Uhrzeiger vor. Sie mussten sich sputen. Und was wäre, wenn ihm die Stettiner und die Berliner Fischgroßhändler das Fell vollends über die Ohren zögen? Und was, wenn der Wadensack ein Loch hat? Doch die düsteren Gedanken die er monatelang nicht losgeworden war, die sich nur vor dem plötzlichen Neulicht in eine unbekannte Ecke zurückgezogen aber nicht verloren hatten, fühlten sich plötzlich wieder hervorgelockt und warfen sich gnadenlos über ihn. „Hüh!“, schrie er und knallte mit der Peitsche. „Wier dat Tüch all morsch, Fritz?“("War das Netz schon morsch?") Das Sackzeug zumindest sei nagelneu und ganz stabil. Der Wadenmeister hätte die Winterfischerei mit dem Reservesack begonnen. „Jo, up Jan is Verlot!“ ("Ja, auf Jan ist Verlass.") Mit der Rechten fuhr er wiederholt über die Bartstoppeln. Du wirst kein Trinker, schwor Fritz Biederstaedt sich. Er ahnte, wie wüst es in dem Manne aussah, der neben ihm unruhig hin und her ruckte, als säße er auf Kohlen. Auf der Höhe von Deep Uhlentoch berührten die Schlittenkufen zum ersten Mal den See. Da lag ein wenig zusammengetriebener Schnee. Nun kamen gleich die Fänger und das Geschirr in Sicht. Endlich vor Ort angekommen empfingen ihn viele strahlende Gesichter. Es hatte sich bis ins Dorf hinauf herumgesprochen. Gelangweilte und Neugierige waren gleichermaßen hinunter geeilt. Hausfrauen in ihren dünnen Mäntelchen standen frierend beieinander. Die Weidenbügel ihrer Fischkörbe unter den Arm geklemmt, warteten sie geduldig. Billiger kämen sie nie wieder zu einer Mahlzeit. Hier und da lagen Plötzen auf dem Eis herum, man konnte Glück haben, einige hinzusammeln zu dürfen. Schlämann erwartete seinen aufgeschreckten Herrn am Eisloch. Ernst Peters kam langsam näher. Seine Gedanken eilten seinem ungelenk gewordenen Körper voraus. Auffallend unsicher schritt er über das weiße, vom Aufzugswasser beleckte Eis. Er schaute seinen Wadenmeister nur kurz und freundlich an, starrte dann, an ihm vorbei aufs dunkle Wasserviereck. Er nickte, als hätte er nunmehr eine deutlichere Vorstellung von den Fischmassen. Da schwammen
sie, die lange ersehnten Bleie, lauter breitrückige, fast schwarze Riesen. Greifbar nahe sah er sein Geld vor sich. Wie mit Quirlen wühlte es in seinem Hirn. Auf die Idee, Schlämann und den Männern zu danken, kam er nicht. Seine Mundwinkel hingen herunter. Dann murmelte er zweimal: „Schöne Bli!“ Das war den Fängern genug Lob. Sie kannten und mochten ihn eigentlich. Sie werden, ohne ihn zu fragen, jeder zwei, drei der Prachtexemplare in den Rucksack einpacken und dann wird es ein paar Festessen geben. In Biersoße gekochte oder saure, auch in Petersiliensoße zubereitete oder gebratene Seitenstücke. Dazu wird es Pellkartoffeln geben, und vom Gastwirt eine Kanne Bier für einen Extrablei. Die Verwandtschaft wird später etwas abbekommen, in den nächsten Tagen, wenn die Fische ausgekeschert werden. Das wird dauern, diese dreihundert Zentner abzuwiegen, einzukisten und zur Bahn zu schaffen. Viele Gelegenheiten werden sein, von denen der Alte nichts bemerken musste. Was hätten ihm die vielen, herrlichen Edelbrassen genutzt, wenn ihnen nicht gelungen wäre, sie für ihn zu fangen? Außerdem erhoben sie Anspruch auf den Beifang in den Flügeln. Fritz Biederstaedt kutschierte den Alten umgehend hinauf ins Dorf Alt- Rehse. Jetzt mussten Ferngespräche geführt werden. Der Gastwirt und der Pastor besaßen Telefone. Aber allemal zog Ernst Peters den Dunst einer Kneipe dem Geruch von Frömmigkeit vor. Mit M. und M. in Stettin wünschte er zuerst zu verhandeln, dann mit den Reicherts. Er nahm sich vor, nüchtern und gelassen zu reden, mit mannhaft fester Stimme, mit jenem Ton auf der Zunge, der den Großhändlern vorgaukeln sollte, dass er ihr Geld eigentlich nicht benötige, sie dagegen vermochten in diesen schweren Zeiten nur zu bestehen, weil es Männer wie ihn gab.
Das Fernamt brachte die Verbindung glücklicherweise schnell zustande. Er stotterte. Eigentlich wollte er sagen, er habe bereits Angebote erhalten, bessere als sie ihm je würden unterbreiten können. Doch er spürte, wie sie am anderen Ende der Leitung die Ohren spitzten. Sie wussten, dass er unter Druck stand. „Wat denn Herr Peters, sie wolln uns dreihunnert Zentner Plieten andrehen? Da machen se mal nen Punkt. Fünfzig Pfennge vor de Jrätendinger (Grätendinger),pro Pfund? Ick lach’ mir nen Ast. Fünfunddreissig sind schon füll zu fülle.“ Die Reicherts boten gar nur zweiunddreißig Pfennige aufs Pfund bei Frankolieferung. Ernst stellte sich die furchtbare Frage, ob etwa die Haffgewässer schon eisfrei waren, vielleicht durch den Schiffsverkehr. Gegen alle Logik drängte sich ihm diese Befürchtung auf. Dann musste er sofort zuschlagen. Ihm wurde schwarz vor Augen. Die Transportkosten abgezogen und dann noch vielleicht ein Loch im Wadensack. Dann war der ganze herrliche Raub wie ein Schlag ins Wasser. Er dachte allerdings auch, sich selbst beschwichtigend, dreißig effektive Pfennige sind besser als Nichts. Nur mit Mühe beherrschte er seine Zunge. Aus der plötzlichen Panikstimmung heraus hätte er fast zugegriffen.
„Na, denn nich Herr Peters, ick muss ja schließlich auch leben. Leben und leben lassen, Herr Peters.“
Diese Artigkeit nahm ihm die Luft. Wenn Berlin ihm jetzt einen Korb gab, dann musste er mit dem Preis in den Keller gehen. Als er sich mit Grüneberg, Berliner Markthallen, verbinden ließ, wummerte sein Herz. Zehntausende, hunderttausende Bleiesser wohnten in Berlin, die steinreichen Juden, vielmehr als in Stettin. Fischkenner, die aus „Plieten“ eine Delikatesse zu bereiten wussten, weil die Jüdinnen durch Generationen hindurch einander von Mund zu Mund die perfekten und geheimen Rezepte übermittelt hatten.
Am anderen Ende meldete sich der Prokurist des bekannten Großhändlers Grüneberg im freundlichen Ton: „Ich habe schon seit vierzehn Tagen auf ihr Angebot gewartet. Berlin nimmt ihnen jeden Heringsschwanz ab.“ Das klang wie Himmelsmusik. „Auch Bleie?“
„Wenn sie groß sind, bis fünfhundert Zentner, ohne mit der Wimper zu zucken!“ Ernst presste den Hörer aufs Ohr und sagte: „Ganz so viele habe ich nicht!“
„Her damit. Fündundachtzig Pfennige. Ich gebe ihnen auch neunzig pro Kilo, aber franko, mein Herr!“ Im Hirn des Pächters hämmerte es: Nur ein Groschen weniger als sein Wunsch. Dreizehntausendfünfhundert! Er wusste es plötzlich. „Top!“, dröhnte Ernst in die Sprechmuschel hinein, als hätte er Angst, sein Verhandlungspartner könnte das schnelle Wort noch bereuen. Pro Tonne Neunhundert. Das war zwar nicht sein Hochziel, aber nach den Stettiner Angeboten fast paradiesisch.
Sie jagten wieder hinunter zum See. Ernst Peters knallte mit der Peitsche. „De Bli, Meister Meltzen, hem doch goldne Flossen!“ Fritz Biederstaedt sah und hörte den Pächter seit Jahr und Tag zum ersten Mal wieder lachen.
Es begann zu dunkeln. „Morgen früh um sieben fangen wir an zu verladen.“ Und: „Wer steht die Nacht hindurch Wache?“
Neumann schielte nach Fritz Biederstaedt. „Na Lackel? Wer macht jetzt die Punkte? Wem wird er wohl das Vertrauen aussprechen?“ Eine Weile zögerte der kräftige Karl noch, dann riss er die Hand hoch. Die Männer nickten heimlich spöttisch, das hatten sie gewusst, wenn es einen Dummen gibt, dann meldet er sich auch. So war das im Leben.
Als die zehn Männer, unter ihnen der schulschwänzende Primaner Ernst, am nächsten Morgen wieder um die Landzunge des Rehser Eck bogen, sahen sie den aus der Entfernung klein erscheinenden Karl Neumann vor einem riesigen, halbrunden und blau schimmernden Eisloch stehen. Die jüngeren, noch unerfahrenen Fischer rissen ihre rauen Münder auf, mit dem ganzen Ausdruck von Entsetzen. Wadenmeister Schlämann lachte. Das kannte er. Die Menge wirbelnder Fischschwänze hatte das Eis stundenlang unterspült und zermürbt. Die Großfische hatten sich Luft und Licht verschafft. Es war allerdings die Bestätigung, dass alles in bester Ordnung war. Die Fische hatten keinen Ausweg gefunden. Zwei volle Arbeitstage lang kescherten die Männer, wogen und verluden die zappelnden, sich vergeblich wehrenden Prachtbrassen und schafften sie mit schweren Ackerwagen zur Bahn. Junior Ernst machte wie ein Alter mit, rannte, die gefüllten Fischkiepen schleppend, mit Biederstaedt um die Wette. Sieben Jahre trennten sie, doch es verband sie die gemeinsame Lust am Plaudern. In der Stadt indessen ging es wie ein Lauffeuer um: Peters hat die Bleie. Man konnte es auch in der Presse lesen: Große Bleie zu kaufen bei Ernst Peters am Oberbach. Seinem ärgsten Gläubiger liefen
wahrscheinlich Schauer des Entzückens über den Rücken: „Der liebe Gott verlässt einen redlichen Geldborger nicht!“
Die Dreihundertzentnergrenze war längst überschritten, die Städter außerdem versorgt worden, legal und illegal, doch der Segen nahm noch lange kein Ende. Immer noch sprudelte es aus dem Wadensack heraus. Es schien, dass die Fische immer größer wurden. Dieses Wunder allerdings war keins, denn die stärksten Fische drängten und verdrängten aus der äußersten Fluchtnische stets die schwächeren. Als auf dem Notizblock des Wadenmeisters, die Vierhundertzentnersumme erschien und überschritten wurde, ging der hochgewachsene Schlämann auf den „Alten“ zu und gratulierte ihm. Das Selbstwertgefühl steifte seinen Rücken. Sie hatten durchgehalten, obwohl auch er in diesen furchtbaren Wintertagen der Verzweiflung manchmal sehr nahe gewesen war. Seinem strahlenden Gesicht war anzusehen, dass er eine seiner Maximen dachte: Vom letzten Zoll einer Durchhaltestrecke hängt die Entscheidung ab, ob gute Vorsätze zum Ziel führen oder nicht.
Eine Stunde später erhielt der Alt-Rehser Gastwirt einen Anruf aus Berlin. Die Fischgroßhandelsfirma Grüneberg bestätige Herrn Peters die von ihm deklarierte Qualität der Brassen mit Dank. Der Gastwirt schickte einen Boten hinunter. Als Peters diese Nachricht entgegen nahm, fühlte er sich minutenlang schweben. Das Glücksgefühl riss ihn hin zu sagen, dass sich jeder Mann zwei Bleie einsacken dürfe, obwohl er wusste oder zumindest annehmen konnte, dass sie sich bereits eingedeckt hatten. Das erschreckte sie. So kannten sie den berechnenden Mann nicht. Ehe er seine Großzügigkeit bereute, schlugen sie zu und hofften nur, dass er sie das nicht irgendwie abbüßen ließe.
Ernst Peters, nachdem er fast zwanzigtausend Goldmark kassiert hatte, dachte daran zunächst seine Gläubiger zu befriedigen. Als zweites würde er zur Kämmerei gehen und die Talerchen dort mit Genuss auf den Tisch legen. Dreimal hatte er es durchgerechnet, es verblieben ihm trotz alledem fast sechstausend.
Zuerst aber ging er zu seinem Hauptquäler, der ihm das Leben vergällt und zur Hölle gemacht und ein Gutteil dazu beigetragen, dass er sich schließlich den Strick zurechtgelegt hatte. Ernst Peters sah die Szene im Voraus, wie G. sich bemühen würde, den Eindruck zu verwischen, den er mit zahllosen rigorosen Auftritten hinterlassen hatte.
Und so geschah es!
Als Kaufmann G. den Batzen Bargeld samt den Zinsen in seiner Hand hielt, atmete er tief durch und beteuerte mit weicher Stimme, als hätte er Kreide gefressen, das hätte doch noch Zeit gehabt.
Ernst Peters dachte sich seinen Teil. Als sein Gegenüber ihm auf die Schulter klopfte und sich auch noch verneigte, durchfröstelte es ihn. Diese Gesten galten nicht ihm. Dieses Bücken war nicht entschuldigend gemeint.
G. tat es nicht als wiedergewonnener, alter, neuer Freund, wie er glauben machen wollte. Ausschließlich dem Geld galt seine ganze widerliche Unterwürfigkeit. Nichts und niemanden anders als der Geldmacht hatte G. sein Leben lang von Herzen gedient.
Peters hätte fünfzig Mark draufgegeben, wenn er nur eine Minute lang all die niederträchtigen Gedanken des anderen hätte lesen können.

SS marschiert

Ein milder, glückhafter Frühling folgte. Die Reusen auf der Lieps fingen ungeahnte Fischmengen, vor allem Hechte. Fritz Biederstaedt war jedesmal überrascht, wenn er den Steertpfahl einer neuen Reuse zog. Grünbraun wälzten sich zwischen den peitschenden Aalschwänzen die armlangen Laichhechte. Nie zuvor kauften die Bürger wie in diesen Wochen. Alles lief gut. Auch der Verbindungsgraben, den der jeweilige Pächter des Tollensesees gemäß einem uralten Privileg mit Reusengeschirr verstellen durfte, erwies sich als Goldfluss. „Der alte Graben“ wurde diese Fischhauptstraße im Unterschied zum „Neuen Graben“ genannt. Diesen hatte der Großherzog von Mecklenburg-Strelitz auf seine Kosten graben lassen müssen, weil der damalige Pächter ihm die Durchfahrt verwehrte und nach der Klage vor dem Landesgericht sein Recht behielt.
Beide Kanäle verliefen zwischen dem großen und tiefen Tollensesee sowie der flachen, sich wesentlich schneller erwärmenden Lieps. Da sich das wärmere Liepswasser alljährlich im Frühjahr weithin als Lockstrom in den noch kalten Tollensesee ergießt, schwimmen ihm Barsche, Plötze, Hechte entgegen um an einem freundlicheren Ort Fischhochzeit zu halten.
Bild Wikipedia: Lieps, durchschn. 1.80 m tief
Allerdings baute der besitzergreifende Mensch zwischen Fischsehnsucht und Erfüllung gemeine Hindernisse und Fallen auf und sortierte die Gefangenen aus nach seinem Gutdünken. Die kleinen Zukunftsträchtigen ließ er passieren, die ausgewachsenen Exemplare waren dem Tod geweiht. Schlämann, wenn er allmorgendlich die in den Reusen gefangenen Mengen entgegennahm und sie teilweise in die hölzernen Fischkästen umfüllte, schüttelte den Kopf ungläubig und murmelte mehr als einmal vor sich hin: Ein Glück kommt selten allein! Er konnte sich nicht erinnern, dass jemals so viele Fische in vergleichbar kurzem Zeitabschnitt gefangen wurden. Fritz Biederstaedt genoss es in jenem Jahr in vollen Zügen, Fischer geworden zu sein. Er roch nicht die stinkenden, seit einigen Nächten in den Maschen verendeten und feststeckenden Fischkadaver, die er mit Gewalt ausschütteln musste.
Nach dieser unangenehmen Arbeit wusch er sich und atmete tief die Mailuft ein, die zwischen den ihn umgebenden grünenden Birken und Erlen wehte. Er liebte die Schönheit der Landschaft und freute sich der Fischmengen, die er überlistet hatte. Er erfreute sich des besseren Lebens, auch der besser ausgestatteten Wohnung, da er um einen geringen Preis ein paar Möbel erwerben konnte. Jedesmal, wenn er nach getaner Arbeit den schmalen, leicht am Ufer dahingleitenden Kahn mit einem Stakruder heimwärts schob, malte er sich das Bild aus, wie seine Inge im Korbstuhl vor dem Fenster und der Geranienbank saß. Immer wenn er zurückfuhr, dachte er, wie gut es das Leben mit ihm gemeint hatte. Denn wäre er nur zehn Jahre früher geboren worden, wie sein ältester Bruder Paul, dann läge er jetzt an seiner Stelle unter dem Boden vor Verdun, wo die
kaiserlichen Generäle zehntausende deutsche Jungen sinnlos ins Trommelfeuer der Franzosen gejagt hatten. Die bösen Jahre lagen zum Glück weit zurück.
Dann kam die Zeit, in der die ersten Hakenkreuzfahnen in der Stadt wehten. Bunter wurden durch sie die von grauen Hausreihen beherrschten Straßenzüge. Öfter als sonst sah man fröhliche Gesichter. Bloß Schlämann meckerte: „Dat dömliche Tüchs wat uns noch veel Arger moken!“32
Das mitunter scharfe Spötteln über die Nazis sei Schlämanns Verschrobenheit zuzurechnen, glaubte Biederstaedt und der Junior stimmte ihm zu.
Als es 1936 keine Arbeitslosen mehr gab, hörte Fritz Biederstaedt die Leute auf den Straßen und Plätzen immer dasselbe reden. Nun sei es wieder fast so gut wie zu Kaisers Zeit geworden: Heil Hitler!
Pächter Peters gab ein rauschendes Fest. Der vierundzwanzigste Geburtstag seines Ältesten wurde aufwendig gefeiert.
Eigentlich war das Ereignis nur ein Anlass zum Feiern unter vielen. Möglicherweise hätte sich Ernst Peters senior vor dieser Festlichkeit sogar gedrückt, wenn ihm eine gute Ausrede eingefallen wäre. Denn Vater und Sohn mochten einander nicht. Dem Vater war sein ältester Spross, der junge Fischereigehilfe, der kurz vor seiner Meisterprüfung stand, zu zimperlich, dem Sohn der Vater zu poltrig, allzu ungehobelt, zu laut.
Auch an diesem Tage gingen sie sich unübersehbar aus dem Weg und blieben einander ein Ärgernis.
Fritz schien, es würde zwischen beiden immer schlimmer. Wenn Ernst Peters junior aus seinem Zimmer kam, ging er blicklos an seinem auf dem Hof umherkrakelenden Vater vorbei, stieg in den Heuer, gab den Leuten ein Zeichen, kurbelte den Motor an, legte den Gang ein, fuhr los ohne den Alten zu fragen. Fritz Biederstaedt litt unter diesem Zerwürfnis seiner Chefs. Einerseits liebte er den echt aristokratisch wirkenden Sohn, andererseits mochte er den Senior, der seine Rolle als pedantischer Unteroffizier aufregend widersprüchlich spielte, weil die Liederlichkeit seiner Erscheinung nicht zu seinem Anspruch passte, denn manchmal hielt ihm nur ein
Bindfaden die Hosen auf den Hüften. Doch niemand konnte es dem ehemaligen Rekrutenausbilder recht machen.
Vater und Sohn befanden sich nur in einer Hinsicht in gewisser Übereinstimmung. Politik interessierte sie nicht. Beide meinten, jeder auf seine Weise, sie seien nur urdeutsch.
Fritz Biederstaedt, der auch an diesem Geburtstagsnachmittag und am Abend dienerte, richtete seine Meinung nach der seiner Vorgesetzten aus. Umso mehr schmerzte ihn die schneidende Härte, mit der sich die beiden Petersmänner behandelten. An diesem neunten Oktobertag kamen, um den angehenden Fischermeister Ernst junior zu gratulieren, auch zwei seiner ehemaligen Schulkameraden in schwarzer SS-Uniform. Sie schüttelten ihm übermütig die Hände. Der eine rechts, der andere links. Hoch soll er leben! Halb im Scherz meinten sie schließlich, bei seiner sportlichen Figur mit Gardemaß würde ihm ihre Uniform gut zu Gesicht stehen und es wäre hoch an der Zeit für ihn, sich richtig zu entscheiden. Jeder anständige Deutsche würde die Farben seines geliebten Führers tragen, braun oder schwarz. Schwarz sei auf jeden Fall besser, wenn man sich den Pöbel anschaue, der in Braun ginge. Schwarz sei die deutsche Elite. Deshalb jedenfalls wären sie überzeugte SSler.
Einer der beiden, Bäcker H., nun ein angehender Gerichtsassessor, frozzelte, Ernst junior solle es lieber doch nicht tun, denn schon jetzt würden ihm die Herzen der meisten Mädchen der Stadt zufallen. Dann verdrehe er ihnen ganz und gar die hübschen Köpfe und sie beide wären trotz ihrer feschen Uniformen abgemeldet. Ernst junior war verlegen und zugleich heimlich stolz auf sich. Er wusste, dass er nicht nur gut aussah, sondern einfach gut war, gebildet und menschenfreundlich, dass er, wenn er hoch zu Ross ausritt, bewundernde Blicke auf sich zog. Wie viele Menschen grüßten ihn! Wie viele würden ihn dann vielleicht bewundern. „Reitet für Deutschland.“ Jemand hatte ihn mit dem Hauptdarsteller dieses Filmes, Willy Birgel, verglichen, dem er ein wenig ähnelte. Ein paar Sekunden lang wünschte er eine Steigerung seines Glücksgefühls und stellte sich vor, was er noch erreichen könnte. Alles musste besser werden, das schuldete ihm das Leben. Und so erwärmte ihn plötzlich der Gedanke, dass auch seine Zukunft, dank des Führers Adolf Hitler groß und bunt wie ein Garten Gottes vor ihm und der deutschen Jugend lag. Nie zuvor hatte er das so lichthell empfunden.
Tante Ilse, die seinetwegen von Berlin gekommen war, eine Volljüdin, zog ihren Neffen Ernst junior nach dem vorabendlichen Kaffeetisch beiseite. Sie gingen in die Veranda, setzten sich nebeneinander. Die Glastür stand offen. Wenige Schritte von ihnen entfernt tanzten seine fröhlichen, jungen Gäste einen Foxtrott zu plärrender Musik aus dem Grammophon. Die unbequemen Jacketts hatten sie ausgezogen, die Mädchen in den Arm genommen und sie setzten die Beine im Rhythmus von „Liebe Lotte“. Fritz sah die elegante Frau neben dem schönen Ernst sitzen. Sieh mal an, dachte er. Er hätte zu gern gewusst, was sie miteinander tuschelten.
„Hand aufs Herz, Junior, wie vielen deiner Kameraden hast du anvertraut, dass ich Jüdin bin?“
Ernst junior verstand sie nicht oder wollte sie nicht verstehen. Doch als sie seinem Verständnis ein wenig nachhalf, legte Ernst tatsächlich die Hand aufs Herz. Seine germanischblauen Augen leuchteten. “Tante Ilse, von mir wird niemand jemals etwas erfahren!“
„Niemals?“ „Niemals!“, sagte er und hob die Rechte zum Schwur. Sie griff behutsam nach dieser Hand und holte sie mit sanfter Gewalt herunter. Mit kleiner Geste winkte sie ab. Ihre freundlichen dunkelbraunen Augen suchten seinen Blick. „Nie schwören, Ernst, wir sind alle nur Menschen. Dein Wort reicht mir.“
Weich von Gemüt, sah Ernst sich außerstande, viel zu reden, seine Lidwinkel füllten sich mit Wasser. Er neigte sich über ihre Hand und küsste ihre Finger. Er wusste tief in seinem Herzen, dass Juden bessere Menschen als die Christen waren.
Aber er wusste natürlich auch, dass der ungewöhnlich kluge Jude Rosenstein sein Geschäft am Markt vor Jahresfrist aufgegeben hatte und in die Emigration gegangen war. Seiner Meinung nach war der Mann aus kaum begründbarer Furcht geflüchtet.
Biederstaedt hielt es nicht mehr an seinem Platz. Er ging auf die beiden zu mit einem Tablett. Er bot ihnen Champagner an. Das war jedoch, wie er schnell bemerkte, kein Techtelmechtel zwischen den beiden. Aber was war es dann?
Ein kleiner Hintergedanke blieb. So küsste man einer Tante nicht den Handrücken. Fritz Biederstaedt wollte das Geheimnis herausfinden und hielt seine unverschämte Neugierde für eine Tugend.
Gern trug er weiße Handschuhe, die seine unbedingte Sauberkeit belegten. Viel zu selten gab es Gelegenheiten, sie zu tragen. Mit Hingabe bewies er an jenem Abend seine noch nicht verlernte Dienerkunst. Elegant wie ein Oberkellner balancierte er die Speisen. Mit den in Berlin auswendig gelernten Floskeln umschmeichelte er zu deren Verwunderung die Gäste des späten Abends. Sogar dem Gutsbesitzer von Neverin, der zu später Stunde hereinkam, fiel er auf. Fritz war überglücklich zu hören, wie sie den Pächter seinetwegen lobten. Man hob an zu singen. Die Gäste waren beschwipst, Ernst junior angeheitert, Vater Ernst betrunken.
Die leichten Disharmonien überhörten sie. Wie Minuten verrannen die Stunden. So erschien den Gastgebern der ganze Abend rundum gelungen.
Irgendwann nach Mitternacht stellte Diener Fritz ermattet das Tablett ab und da er sich ungestört glaubte, trank er hastig hintereinander ein paar Gläser Wein, schlief im Sitzen eine Weile, schrak dann jedoch zusammen. Das hätte er sich in Berlin nie erlauben dürfen. Er erhob sich, nahm eine der vier SS-Mützen vom Garderobehaken des Flures und betastete mit seinen Handschuhen die Totenkopfkokarde und den darüber angesteckten silbernen, flügelausbreitenden Reichsadler. Er setzte die Kopfbedeckung auf. Sie war ihm zu groß. Fritz nahm eine andere. Auch die rutschte über seine stark fliehende Stirn auf die kräftigen Augenwülste. Er trat vor den Spiegel und lachte. Wie ein Clown sah er aus. Wer sich wohl diesen Blödsinn mit dem silbernen knopfgroßen Totenschädel und den gekreuzten Beinknochen ausgedacht hatte? Dieses Emblem konnte niemand für voll nehmen. Er ahnte nicht, dass dieses Zeichen den Weltuntergang bereits heraufbeschworen hatte, ahnte auch nicht, dass es im westlichen Ausland genügend sonst nicht unbedeutende Berufspolitiker gab, die darüber, ihrem Kenntnisstand zum Trotze, naiv wie er dachten. Gerade als er die Uniformmütze zurücklegen wollte, kamen als Kette zwei Mädchen Arm in Arm mit den beiden jungen SSlern und Ernst Peters junior, leicht schwankend und harmlos lachend auf den Flur.

Ernst Peters jun. (1912- ?)
1995 lud er mich zu einem Gespräch nach
Bremerhafen ein. "Woher kennst du die Details, die du in deinem
Buch beschreibst?"
"Dein Freund Fritz Biederstaedt hat sie mir jahrelang
erzählt, wenn wir nachts fischten."
"Ich habe geweint vor Freude, weil es so zutreffend
geschrieben ist.

 Schade, schade, sangen sie, ein wunderschöner Tag sei nun zu Ende. Übermütig nahm eines der Mädchen dem Diener Fritz die Mütze, die er ausprobiert hatte und soeben zurücklegen wollte, aus der Hand und setzte sie dem Geburtstagskind verkehrt aufs Haupt. Ernst lächelte freundlich.„‘ne Jacke fehlt Dir noch!“, meinte das andere Mädchen. „Zieh sie mal an, meine passt Dir bestimmt!“, ermutigte ihn daraufhin spontan einer der beiden SS-Angehörigen. Ernst jun. gehorchte. Die Jacke passte ihm wie angegossen. Ernst schloss gerade die Knöpfe, als Schlachter Gau den Flur betrat. Der war Hauptscharführer. Sein Blick fiel sofort auf den verunzierten Kopf des Fischersohnes, den anzufauchen er sich nie erlaubt hätte. Wütend fuhr der ortsgewaltige SS-Führer ersatzweise seinen Unterscharführer H. an, man verhohnepipele die heiligen germanischen Symbole nicht. Da höre bei ihm jeder Spaß auf. Sätze, kurz und hart wie Ohrfeigen. Beide SS-Jungen rissen die Knochen zusammen. Ernst tat es nicht, er rückte zunächst seelenruhig nur die Mütze gerade. Das verwandelte ihn enorm. Er spürte, dass alle Blicke anerkennend auf ihm ruhten. Da noch erwartungsvolles Schweigen herrschte, nahm auch er halb unwillkürlich, halb widerwillig Haltung an, drückte das Rückgrat durch. Schlachter Gau murmelte etwas, schien unerwartet besänftigt, betrachtete Ernst mit großem Wohlgefallen. Seine Augen leuchteten. Er stemmte seine Fäuste in die Hüften.
Das Bild begeisterte den Mann. So hatte man sich den Bilderbuchgermanen vorzustellen. Intelligent, zackig und absolut gehorsam. Kaum spürt der Herrenmensch die Uniform auf dem Leib, nimmt er Haltung vor dem Oberherren an. So war das. Mitdiesen Kerlen konnte man die Welt aus den Angeln heben. „Rührt euch, Männer!“, kommandierte der robuste Fleischer bemüht freundlich.  „Einsfünfundachtzig, wie?“ Ernst junior nickte: „Nicht ganz, Herr Hauptscharführer.“ „Jawohl!“, bestätigte Gau „der Führer macht euch alle größer!“ Das war es, was Ernst Peters junior in diesen wenigen Augenblicken empfand und auf eine Weise begriff, die ihm selbst unerklärlich schien. Es war ein inneres Leuchten, nicht grell, eben angenehm. Deutschlands Glanz und Größe! Das ging ihm ins Blut. Eine Melodie vom Heroismus. Nur Fritz Biederstaedt erschrak, als er seinen Freund Ernst junior so verändert unmittelbar vor sich stehen sah. Da gab es, seinem Empfinden nach, nichts mehr zu lachen. Diese beiden schwarzen Kleidungsstücke hatten den feinen, freundlichen Ernst für ihn unerwartet in einen arrogant wirkenden Bengel verwandelt.
In den sonst leger auftretenden Zivilisten schien auf einmal ein Geist von unerbittlichem Gewissen und Schneid gefahren zu sein. „Komm zu uns!“, lockte Herr Schlachtermeister Gau sofort, überzeugt, dass dem großen Pächterssohn zwar zufällig, aber definitiv die vorgeschriebene Lebensrolle auf den Leib gerückt war. Zufällig hatte inzwischen Heinz, der siebzehnjährige Bruder von Ernst, die Szene betreten. Seine Augen bewundernd auf den älteren Bruder gerichtet, die Hacken zusammenreißend, rief er aus: „Jawohl Hauptscharführer, wenn sie befehlen, dann kommen wir!“
„Grünschnabel!“, flüsterte Ernst, im Ton verbindlich, zog ohne Hast die Jacke aus und hängte die Mütze auf den Garderobenhaken. Als Heinz dicht neben ihn trat, möglicherweise um seinerseits zu probieren, ob er sich als schwarzer SSler gefallen würde, sagte Ernst leise: „Halte Dich bitte zurück!“
Nachdem sich die Gäste überschwänglich bedankt hatten und davon gegangen waren, suchte Ernst seinen Freund Fritz.
Müde hockte Diener Fritz Biederstaedt im Korbstuhl und sehnte sich nach seinem Bett. Ernst junior sah ihn, ging auf ihn zu. Als Fritz aufschaute bemerkte Ernst die Ablehnung in Biederstaedt offenem Gesicht. Der stille Vorwurf störte ihn. Ernst war plötzlich zumute als fielen Wermutstropfen in seinen Sekt.
Beschwichtigend legte er ihm die Hand auf die Schulter, drückte ihn zurück auf den Sitz und sagte leise: „Fritz, du brukst di dorbi nix to denken.“ ("Fritz, du brauchst dir dabei nichts zu denken.") Er würde niemals ein Nazi werden, was auch geschehen würde. Niemals!
Als Ernst junior sich in sein Zimmer begab, schimmerte noch lange um ihn herum das Licht des unvergesslichen Abends.
Die vielen Komplimente waren ihm zu Herzen gegangen - und zu Kopf gestiegen. Die SS riss sich ja geradezu um ihn. Er dachte es plötzlich deutlich: „Warum nicht? Wenn ihr wollt, dann komme ich eben!“
Tief in Gedanken versunken stellte er sich vor dem Einschlafen die beiden bildhübschen Neubrandenburgerinnen vor und fragte die beiden Schemen, ob sie ihm zustimmen würden. Das war keine Frage. Sie waren begeistert von seinem mannhaften Entschluss. Schon eindämmernd stellte Ernst sich das Bild vor, wie sie mit ihm auf der Palais-Straße spazieren gingen, Neid weckend. Wenige Tage später war es soweit. Ernst junior schritt hochaufgerichtet und in blitzenden Lederstiefeln als forscher SS-Mann über den Hof. Alle, außer Schlämann, sagten, keinem stünde die schwarze Uniform so gut zu Gesicht wie ihm. Ernst glaubte es. Er wusste es. Und dieses Wissen veränderte ihn.
Die Schlagzeilen in der Presse schienen auf ihn plötzlich nicht mehr abschreckend zu wirken. Jedenfalls beteiligte Ernst junior sich nicht mehr an den Spötteleien. Er sehe die Dinge mit neuen Augen.
So bestätigte sich für seinen Freund Fritz Biederstaedt, dass wahrscheinlich jedermann plötzlich kurz- und schiefsichtig werden kann. Jan Schlämann sagte Ähnliches, allerdings sehr leise. Der Junior zeige bereits die ersten Symptome einer speziellen Sehschwäche, die in ganz Deutschland grassierte. Einige Äußerungen des jungen Ernst ließen tatsächlich den Schluss zu, dass er krank war. Er ging, als hätte er einen Stock verschluckt. Neuerdings übersah und überhörte er auch, dass die Leute “Guten Morgen” sagten und wie üblich grüßten.
„Heil Hitler!”, erwiderte Ernst wohl zehn mal am Tag. Auch andere Zeichen des Wandels fielen auf.

Plötzlich wurden auf dem Petershof statt der kleinen Hakenkreuzfähnchen, große Flaggen gehisst. Die Zivilisten, solange in der Überzahl, wurden durch Uniformierte verdrängt. Nichts schien mehr wie zuvor zu sein. Noch vor wenigen Wochen hatte Ernst junior mit Fritz darüber gelästert, dass seine ehemaligen Klassenkameraden sich in ihrer albernen Kledasche und mit diesen unnatürlichen Bewegungen abfanden. Es war noch gar nicht so lange her, als sie mit dem Fischereiwagen an den draußen im Blumenborn exerzierenden SSlern vorbeigefahren waren und herzlich über die paradierenden Bengel mit ihren ungelenken Beinen gelacht hatten. Freiwillig mitmachen? Niemals!
Ernst junior hatte noch vor drei Wochen nichts dagegen gehabt, dass Jan Schlämann Hitler für einen Popanz hielt und das auch sagte. Doch all das, galt plötzlich für ihn nicht mehr. Dass die Nazis primitiv seien, war nicht mehr wahr.
Jetzt argumentierte Ernst: „Unser Führer hat allen Brot und Arbeit gegeben. Guckt euch an, was Adolf Hitler aufgebaut hat! Deutschlands Aufstieg hat begonnen. Die Reichsautobahn, die Siedlungen...“, „und die Rüstung”, setzte Schlämann leise hinzu.
Beide, der Junior und Biederstaedt bekamen es wohl mit. Doch Ernst entwertete auch diesmal Schlämanns kritische Anmerkung.
Deutschland sei auf Friedensmission.
Er gab wirklich eine hervorragende Figur ab. Sein leuchtend blondes Haar kontrastierte zu dem Schwarz seiner nagelneuen Uniform. Er lachte wie früher, schaute wie früher harmlos in den Tag hinein, aber er war nicht mehr derselbe.

Krieg möt dat gäben!  ("Krieg muss es geben")

Vergeblich fischten in jenen Wochen und Tagen die Volksgenossen und Herren Arbeiter. (Hitler hatte tatsächlich alle offizielle Knechterei abgeschafft.) Das tat dem Großpächter zunächst nicht weh. Er verfügte zwar über beträchtliche finanzielle Reserven, doch allmählich nervte es ihn, zuschauen zu müssen, dass die Kette der Misserfolge immer länger wurde. Denn er verärgerte seine Stammkunden mit der ständigen Wiederholung seiner für faule Ausreden gehaltenen Beteuerungen: „Miene Lued fängen in Oogenblick nix.“("Im Augenblik fangen meine Leute nichts.") Er musste im Umkreis Fische aufkaufen. In solchem Umfange war das noch nie nötig gewesen. Da entstanden allmählich die sonderbarsten Mutmaßungen. Aberglauben, der wieder einmal nahrhaften Boden fand, machte sich breit und trieb seine seltsamen Blüten. Nur Fritz Biederstaedt brachte noch in nennenswerten Mengen Fische heim. Große Hechte, die er mit der Hechtschnur, quer über den See ausgefahren, gefangen hatte. In Abständen von fünf Metern zweigte eine halb meterlange Mundschnur ab, an der jeweils an einem Haken des kräftigen Drillings Plötzen als Köder gesteckt worden waren. Der Fänger genoss natürlich das Vergnügen, jeden Morgen zehn, zwölf stattliche und um ihre Freiheit kämpfenden Fische in den Kahn hineinzuhieven. Doch wer kaufte schon diese Riesenraubfische? Die Situation war für den Fischereipächter Peters sehr unangenehm. Da gäbe es in einem der Wieckhäuser eine Pusterin und Wahrsagerin. Die müsste man mal befragen. Ein Kind, das mit vierzig Fieber im Kinderwagen zu ihr hingeschoben wurde, verließ sie, wie erzählt wurde, fünf Minuten später fieberfrei. Gewusst, wie man Schmerzen und permanente Misserfolge wegbläst. Jedenfalls war es nicht einfach für Ernst sen., sogar seine besten Kunden unbefriedigt wegzuschicken und achselzuckend zu wiederholen: „Deet mi leed, wie fäng‘n momenton nix.“36 So erwog er alle Möglichkeiten, auch die der Wahrsagerei.
Die geheimnisvolle Frau fand, dass sich Karobube und Pikdame kreuzten, machte ein sehr nachdenkliches Gesicht und sagte schließlich, es stünde ihm noch großes Geld ins Haus. Dass über ihm der Himmel einstürzen würde, sah sie nicht voraus. Ernst senior dachte und sagte: Hauptsache Geld! Denn viel länger durfte sich die Serie seiner Misserfolge nicht fortsetzen. Die Länge hatte die Last. Kein Fachmann verstand, weshalb sich in den riesigen Umfassungsnetzen, trotz aller Raffinesse monatelang nichts Nennenswertes finden ließ. So begierig und intensiv sich auch die Blicke der Fänger nach jedem neuen und vergeblichen Zug in den tiefen und geräumigen Wadensack bohrten. Der farbigste aller norddeutschen Seen lag nicht nur wie leblos, er schien wirklich leblos zu sein, bar jeden Fischschwarmes. Des schönen Sees Außen- wie sein Innenleben schienen gleichermaßen erstorben zu sein. Tag und Nacht spiegelte das unnatürlich glatte Wasser den gewölbten Himmel wieder, tags das wolkenlose Blau und die Silhouetten der blinkenden und brummenden Trollenhagener Flugzeuge, nachts das Sternenlicht.
Doch die Fänger erwarteten viel mehr von ihrem See, als sich wie ein erstarrtes, wenn auch schönes Bild zu präsentieren. Von der Schönheit bissen sie nichts Nahrhaftes ab. Sie verstanden die Welt nicht mehr. Nicht war mehr wie ehedem. Sogar der Optimist Schlämann wusste keine Argumente mehr, wenn sie sagten: „De Olle het denn See utplündert. Kein Wunner, hei het jeden Schwanz mitnohmen.“ ("Der Alte hat den See aisgeplündert... er hat jeden Schwanz mitgenommen.")  Sogar jene, die es besser wissen sollten, lästerten insgeheim: „Hochmut kümmt vör den Fall!“
Nun sei er gefallen. Zu lange war der Großpächter mit stolzem, steifen Genick gegangen.
Selbst Schlämann winkte nur noch matt ab. Seine Behauptung, sie hätten die Fischbestände keineswegs überfischt, klang nicht mehr
überzeugend. Wann und wie hätte er das Gegenteil beweisen können, angesichts dieser katastrophalen Fangresultate?
Es gab die sonderbarsten, unsinnigsten Erklärungsversuche. Schlämann schüttelte nur den Kopf. Überhaupt wunderte er sich im Stillen, wie leichtgläubig die Menschen geworden waren. Ernst junior war dafür das beste Beispiel. Sich kritisch zu äußern wagte Schlämann schließlich nur noch gegenüber Fritz Biederstaedt und dessen neuen Freund Kurt Willig, der seit einigen Monaten in der Fischerei Peters Beschäftigung gefunden hatte. Willig widersprach dem alten Wadenmeister nicht. Auch nicht als Schlämann die Katze aus dem Sack ließ: er sei der Überzeugung, dass in der bisherigen Weltgeschichte dem Politikergeschreie immer nur, statt des versprochenen Glücks, die Verheerung folgte. Noch nie haben Schreihälse die Welt verbessert. Noch nie, außer unmittelbar vor
Kriegen, hätte man soviel Prahlerei vernommen und so viele Uniformen in den Straßen der Stadt gesehen. Wer weiß, was das noch werden wollte, was da herauskam, wenn die Illusion erst platzte. Der kinderreiche Fischer Kurt Willig lud Fritz und Jan Schlämann gelegentlich samstags abends zum Skat ein. Willig der sich einen Volksempfänger geleistet hatte, liebte Volksmusik, Biederstaedt nicht weniger und Schlämann empfand die Untermalung ebenfalls als angenehm, weil, der schlafenden Kinder wegen, die Geräusche etwas gedämpft herüber kamen. Eines Abends unterbrach der Nachrichtensprecher die Musik. Eine Ankündigung folgte.
Der Führer würde sprechen. Fünf Minuten lang ertrug Schlämann die Rede, der Fritz Biederstaedt und Kurt Willig wie gebannt lauschten. Die suggestive Redegewalt Hitlers ließ sie eine Weile vergessen, dass sie eine neue Runde ausspielen wollten. Das war Schlämann zuviel, er erhob sich abrupt, er müsse jetzt gehen. Da Willig gerade einen Grand ohne Vieren gewonnen hatte, vermutete der neue Mann, Schlämann sei geizig. „Wir spielen doch bloß up nen teichtel Penning.” ("Wir spielen doch nur um einen zehntel Pfennig.")
„Das ist es nicht!”, sagte der erregte Wadenmeister und ging.
Einige Tage später, als sie auf dem Tollensesee wieder Tagesfischerei betrieben, nachdem sie eine Woche lang mit geringem Erfolg nachts hinausgefahren waren, unkte Schlämann den Führer nach: „Mich hat die Vorsehung bestimmt, euch in eine lichte Zukunft zu führen.” Fritz Biederstaedt drehte sich um, ob Ernst junior das gehört haben mochte. Das war nicht der Fall. Kurt Willig lachte auf. Es war ein befreiendes Lachen, nach der Verkrampfung die sich eingestellt hatte. Denn er hasste die Disharmonie und er hasste es, sich in der Finsternis auf dem gespenstisch wirkenden See herumzutreiben. Jawohl, die lichte Zukunft lebe hoch. Nachts gehörte ein richtiger Mann eben an die Seite seiner Eheliebsten.
Das Umspuren auf Tagesarbeit sollte sich als richtige Entscheidung erweisen. Ein stiller Novembertag kam und sollte ihnen eine große Überraschung bescheren. Es war ungewöhnlich warm. Das Wetter wäre noch für September schmeichelhaft gewesen. Sie fischten vor Tollenseheim. Wie immer in jenen Wochen gingen sie den Tag mutlos an. Legten wie seit je die Flügel des Zugnetzes zweihundert Meter von der Simsenkante entfernt über dem zwanzig Meter tiefen Wasser aus. Innerlich unbeteiligt taten sie, was sie seit Jahrzehnten ausübten. Ruderten „zu Land“, das Drahtseil hinter sich von den Knüppelwinden abrollend. Ankerten mit Pfählen und starken Leinen im Schilfgürtel, wanden das Netz heran, fuhren langsam „zu Loch“. Zogen und hoben die Wade Stück um Stück herein in die Kähne, missmutig und einander veralbernd. Sie beendeten den Zug, indem sie den Unterspann des großen Wadensackes entmutigt herein zogen. Die Männer nickten einander zu. Sie hätten sich lieber ins Schilf schieben sollen und, statt hier vergeblich zu schuften, zwei Stunden lang den Kummer ausschlafen sollen. Das sei es gewesen. Nämlich nichts, wie immer in den letzten Wochen. Da aber schäumte, völlig überraschend der See vor ihnen auf, als wollte er überkochen. „Brassen!“ schrie einer. „Brassen!“
Normalerweise zeigten sich bei offenem Wasser hunderte Quadratmeter wandernde Blasenflächen, wenn solcher Massenfang bevorstand. Die verängstigten Fische stießen aus den sich heftig schließenden und sich wieder öffnenden Mäulern Luftblasen, die aufstiegen, um im Nu zu zerplatzen. An diesem grauen auf der Wasseroberfläche sich fortbewegenden Blasenteppich konnte man üblicherweise den Umfang und damit ungefähr die Größe des Fischschwarmes einschätzen. Nicht die Spur eines Anzeichens hatte sie diesmal vorbereitet. Die Überraschung war perfekt Nun standen die Fischer händeringend und erstaunt da, jeder dem anderen auf die Schulter klopfend: „Bli! Bli!“
Nur, Peters konnte sie diesmal nicht günstig verkaufen. Erstens war es zu warm, zweitens stellte Berlin so gut wie unerfüllbare Bedingungen. Die Fische sollten lebend transportiert werden.
Wie das? Bei diesen Temperaturen? Das wusste doch ein Kind, dass proportional mit den Wassertemperaturen der Sauerstoffbedarf der Fische anwuchs. Wie sollte er die Massen lebend nach Berlin schaffen lassen? In wie vielen Fässern? Jedes Literchen Wasser verursachte zusätzliche Frachtkosten. Und dann dieser lächerlich niedrige Preis. „Herr Grüneberg! Sie waren doch früher großzügig!“
„Früher, Herr Peters. Die Zeit ist anders geworden, die Menschen haben mehr Geld denn je in den Fingern.“
„Na also!“
„Nix na also, wer hat, hält es zusammen, nicht wahr, Herr Peters. Das Geld ändert die Menschen.“ Er müsse den Käufern heutzutage die Fische billigst nachwerfen, und das habe eben Folgen bis hinauf nach Neubrandenburg. Es klickte. Da wandte Ernst senior sich vom Telefonapparat in der guten Stube weg an Fritz Biederstaedt der mitgehört hatte, und sagte leise, mit belegter Stimme „Krieg möt dat wedder gäben, Fritz. Krieg!“ Dann würden sie ihm jeden Fischschwanz mit Dank und Kusshand wegkaufen. „Krieg möt dat gäben.“
Dieser Satz hallte nach. Teilweise musste Ernst senior Kompensationsgeschäfte abschließen und statt Bargeld seine Fische gegen Karpfen für die Weihnachts- und Silvesterversorgung eintauschen. Schließlich jedoch vermochte er es die über dreihundert Zentner, wenn auch zu einem nicht ganz befriedigenden Preis, bis auf einen kleineren Restposten umzusetzen.
Peters machte soviel Geld, dass er sich außer dem „Adler“ einen schönen dunkelblauen BMW leisten konnte. „Ewer dat har uk miehr Geld warn künnt!“ ("Aber das hätte auch mehr Geld einbringen können.") meinte er, halb mit sich und der Welt versöhnt. Von da an nahm er sich vor, seinen Mitmenschen in Fragen Geldausgeben eine Lektion zu erteilen. Er würde ihnen zeigen, dass Geld wie Blut in den Adern rollen muss, kräftig und frei. Pulsen muss es, am Hals und im Handel, quer durch die Sparkassen hindurch. Das war das Gesetz des Lebens: freier Fluss.
Fritz Biederstaedt avancierte zum Cheffahrer. Herr Peters kam eines Morgens unrasiert und aufgeregt auf Biederstaedt zu, der gerade den BMW gewaschen und abgeledert hatte. Er verlangte, sofort in die Stadt gefahren zu werden. Fritz hatte zu gehorchen. Obwohl der Chef nicht gerade gepflegt aussah. Die wenigen Haare hingen wirr herum. Sein Unterhemd stand offen, und er ging in Holzpantoffeln. Fritz öffnete ihm vorschriftsmäßig die Wagentür. Der Chef ließ sich ächzend in die roten Lederbezüge fallen und streckte, als sei er der Dirigent eines Orchesters die Rechte aus. Geradeaus Fritz, immer geradeaus. Sie ließen das Stargarder Tor hinter sich, und Peters zeigte immer noch geradeaus. Blumenborn kam in Sicht. Der steife Arm des Großpächters wiederholte die Geste. Fritz glaubte, es ginge nach Heidehof, wohin ihn gelegentlich die Gedanken und die Schritte zogen, weil dort ein Mädchen namens Irmgard wohnte, die inzwischen eine junge Frau an der Seite eines Mannes geworden war, der bloß ans Geldverdienen dachte. Doch unmittelbar vor dem Wegekreuz wies der Finger des Fischermeisters nach Süden. Immer geradeaus Fritz. Immer der Nase nach. Der Turm der Neustrelitzer Garnisonskirche tauchte auf und damit der Geruch der bekannten Gaststätte am Markt. Geradeaus! Immer geradeaus!
Fritz nahm sich vor, nicht mehr zu fragen. Es war ohnehin sinnlos geworden, mit dem Manne vernünftig zu reden. Er hatte sich seit einigen Wochen damit abgefunden, dass jegliche, auch haarsträubende Absichten des vermögenden Pächters von ihm widerspruchslos realisiert werden mussten. Er ahnte, dass eine Verrücktheit in der Luft lag.
Hinter Oranienburg schien Herr Peters wieder bei klarem Verstand zu sein, denn gähnend strich er sich über den Schnurrbart. „Wi führn jetz no Berlin ton Hoorschnieden, Fritz!“
„Nach Berlin! Zum Haareschneiden! Meister! Wie Sie wünschen!“ Dabei verstellte er den Rückspiegel, um das Gesicht des Mannes zu betrachten. Sehr wohl, wir fahren einhundertundfünfzig Kilometer in die Reichshauptstadt zum Kämmen und zum Haareschneiden.
In Pankow angekommen, fühlte Herr Peters sich gutgelaunt. Vor dem nächsten Friseurladen möchte er aussteigen. Das nächste Friseurgeschäft befand sich auf der gegenüberliegenden Straßenseite und war ein Nobelladen. Breite, blitzende Fenster und blaue Übergardinen fielen ins Auge. Seitlich von der Eingangstür hing an einer dünnen Kette ein großes Silberbecken herab. Das Kennzeichen der Zunft der Barbiere, die früher auch den Aderlass ausübten. In makelloser Schrift stand geschrieben: Damen- und Herrensalon. „Meister, se willn doch dor nich rinnergohn?“("Meister, sie wollen doch da nicht hineingehen?") warnte Fritz ehrlich besorgt, fuhr rechts heran und trat mit leichtem Unbehagen zaghaft auf die Bremse. Peters tippte ihm auf die Schulter. Chauffeur Fritz wandte sich um und schaute in die stahlgrauen Kugelaugen eines Mannes, der ihm wortlos und mit starkem Nachdruck bedeutete, wer hier das Sagen hatte und wer der Befehlsempfänger war.
Diese Blicke schienen ihn mit der Frage zu durchdringen: „Oder glaubst du etwa, dass ich ein bisschen verrückt bin?“
Fritz musste sich zusammennehmen, sonst wäre ihm herausgeplatzt: Meister, bloß ein bisschen? Beherrscht, wie er es in dieser Stadt gelernt hatte, dachte er schließlich: Verrückt sind wir allesamt. Was wären wir sonst wohl? Automaten, seelenlose. Das gab Fritz Biederstaedt vor sich selbst zu.
Innerlich aufstöhnend stellte er den Motor ab, stieß mit einem Ruck seine Tür auf, stieg aus, um seinem Herrn und Meister höflich die Autotür zu öffnen, als sollte ein Generaldirektor zum Vorschein kommen. Ihm war schrecklich zumute, als spotteten von allen Seiten höhnisch lachende Gesichter. Denn statt eines Mannes im Frack verließ ein verschwitzter Pferdeknecht den Fond. Mühsam richtete sich der Pächter auf. Fritz hätte vor Scham in den Erdboden sinken können, als Ernst senior in seinen abgelatschten Holzpantinen über das Berliner Pflaster schlurfte. Die Liderlichkeit des Menschen schrie zum Himmel. Anfangs schien ihm, dass alle Uhren stockten. Schließlich nach nicht endenwollender Zeit, nahm Fischer Peters die letzte Stufe zum Friseursalon. Er drehte sich zu seinem Bediensteten um, legte langsam die Hand auf die Türklinke, hob den Kopf wie ein Grandseigneur und verschwand hinter der ominös erscheinden Tür. Fritz erwartete das Schlimmste. Wahrscheinlich hatten hinter den Vorhängen des attraktiven Geschäftes ganze Heerscharen von Angestellten und Lehrlingen gestanden und sich neugierig gefragt, ob der unmögliche Kerl es wagen würde. Er hatte es gewagt! Fritz schielte hinüber. Er konnte den Blick nicht wenden. Gleich werden sie die Tür aufreißen, ihn mit sanfter Gewalt hinausbefördern, wie damals in Gransee, im Cafe, das Peters ebenfalls in ziemlich verwahrlostem Zustand nach einem anstrengenden Arbeitstag betreten hatte. Damals allerdings begleiteten ihn seine ebenso verwildert aussehenden Leute, die jemandem mit zarten Nerven schon durch ihren bloßen Anblick Angst machen konnten. Fritz wusste, was geschehen musste. Die Cafehausbesitzerin, empört über diese Zumutung, hatte ihn aufgefordert, die Gastsstube zu verlassen. In seinen Dreckstiefeln hatte sich Ernst senior breitbeinig hingestellt und unverschämt gekräht: „Wissen Sie nicht, dat ick Fischermeister Peters ut Niebrandenborch bün. Ick hew dat Geld un kann alles köpen!“ Er wünsche sowieso, die ganze käufliche Welt auf den Kopf zu stellen. In das sonst wahrscheinlich unerschütterliche Gemüt der guten Dame hinein schrie Peters damals, er verlange, schnell und höflich bedient zu werden, sonst zerschlage er ihr sämtliches Glas.
Sie würde die Polizei rufen. „Tun sie das, meine Dame. Aber die und die Torte ist meine!“ Dabei stieß er mit seinem Knotenstock, den er bei sich hatte, mitten in die rote Creme erst der einen, dann in den weißen Schaum der anderen. Was ihr sein Spaß wert sei. Unter Zeugen erkläre er, er würde jeden Pfennig berappen, den sie von ihm fordere. Möge sie nur ihren Aufstand machen, seiner wäre sowieso der größere.
Schließlich halfen seine eigenen Leute nach und er fand sich unversehens auf der Straße wieder. „Meisting, dat güng to wiet. Wi hem drunken, un dat bekümmt se nich.“ ("Meister, das ging zu weit. Wir haben getrunken und das bekam ihnen nicht.")  Fritz wienerte die Karosse, um seine Nerven zu beruhigen. Mit stockendem Atem erwartete er immer noch den Augenblick des peinlichen Hinauswurfes, bereit, seinen Herrn zu retten, ihn in den Wagen zu zerren und schnellstens die Flucht anzutreten.
Es verging die Zeit. Wer weiß, was er ihnen da drinnen wieder einmal erzählte. Erstaunlicherweise hüllte sich der Salon lange, lange in tiefstes, fast andächtiges Schweigen. Dann ging sie auf die schöne, braune Ladentür. Herr Peters verließ das Geschäft freudestrahlend. Geschniegelt und gebürstet, bestens rasiert und wohlgelaunt, sehr zufrieden mit der deutschen Hauptstadt und mit sich selbst klapperte Peters zurück mit einem Gesichtsausdruck, der besagte, das Pflaster Berlins empfange die Ehre, von exquisiten Neubrandenburger Holzpantoffelsohlen berührt zu werden. Denn hinter ihm herdienernd bedankte sich der Cheffriseur: Der Herr Großfischereipächter möge ihm baldigst wieder die Ehre geben und seinen ihm allezeit zur Verfügung stehenden Salon aufsuchen.
Daraufhin riss Fritz dem Fischereipächter mit geweiteten Augen den Verschlag dermaßen respektvoll auf, dass selbst den kleinen Lehrmädchen, die verstohlen hinter den Gardinen dem einmaligen Schauspiel zusahen, schließlich der einzig mögliche Gedanke kommen musste: Hier fährt ein verkappter, freigebiger Prinz wohlbehütet wieder heim zu seiner königlichen Fee. Frau Anna Peters hätte seine Glücksfee sein können, wenn sie von ihm dementsprechend zuvorkommend behandelt worden wäre, wenn er nicht ständig an eine andere in Möllenhagen gedacht und ihr die Geschenke zugesteckt hätte, die ihr nicht zustanden. Wenn er Anna nicht so oft in den Zorn hinein gejagt hätte.
Wie oft hatte sie, hilflos auf ihn wartend, dagestanden, weil wieder einmal jemand auf unverzügliche Bezahlung einer offenen Rechnung bestand, die sie nicht begleichen konnte, während ihr Mann irgendwo in der Weltgeschichte genau die Summen verschleuderte, um die er zu Hause feilschte. Vielleicht war sie in der Tat immer noch seine gute Fee und er müsste es nur erkennen und sie bloß wachküssen.
Nur, war es dazu nicht bereits zu spät? Es war viel zu spät. In den Herzen der Pächtersleute nagte seit langem der unüberwindliche Vorwurf gegenseitiger Untreue.
Nach einem langen durchfeierten Abend, es war Anfang Juni 37, im Hause der Peters, warf Fritz sich, der seine unentbehrlichen Dienste wieder einmal zur Verfügung gestellt hatte, gegen ein Uhr nachts todmüde ins Heu der Stallung. Gegen fünf Uhr weckten ihn laute Stimmen. Da er neugierig war, kam er aus dem Versteck heraus und wurde sogleich von dem sich ausnahmsweise liebenswürdig gebenden Großpächter angesprochen und genötigt, ihn und die beiden Kaufleute, Bendschneider aus Neubrandenburg und Schober aus Berlin zum Fischfang zu begleiten.
Fritz Biederstaedt wurde vor Schreck nüchtern. Ob der Meister etwa mit den offensichtlich mehr als angeheiterten Gästen aufs unsichere Wasser hinausfahren und selbst die Reusen heben wolle. „Selbstverständlich, Fritz.“ Fritz sollte bereits seit einigen Wochen alles für „selbstverständlich“ halten. Doch das ging ihm zu weit. Falls er mit den Männern in diesem Zustand auf den See hinausfahren würde und einer von ihnen fiele über Bord, würde jedes Gericht der Welt ihm die Schuld für diesen möglicherweise folgenschweren Unfall geben. Zu seinem Glück trafen die Wadenfischer ein, die ausnahmsweise zu Tage fischen wollten. Sofort wies der alte Peters an, dass Schlämann den kleinen Motorheuer am Bollwerk festmachen solle. Mit schrägem Blick auf die drei wankenden Gestalten äußerte Wadenmeister Schlämann seine Bedenken: „Herr Peters, ich mache Sie darauf aufmerksam...“ Peters schnitt ihm aus rauer Kehle das Wort ab: „Ück bün die Verantwortung!“ ("Ich bin...) Die mit fünf Köpfen eigentlich unterbesetzte Fangmannschaft nahm, scharf und leise spottend, in den Arbeitskähnen Platz. Geübt sprangen die Fänger in den schaukelnden, noch leeren Booten umher und legten Pätschen und Ankerpfähle zurecht. Dagegen kletterten und stolperten die drei Herren mehr als sie stiegen, einander umständlich an den Händen haltend, in das Heckteil des von schwarzem, halbverbrannten Öl besudelten Bootes. Ohne Unterstützung des Dieners Fritz wäre das gleich schief gegangen. Fritz hoffte nur, sie würden ihn in Ruhe und an Land lassen. „Nö, Fritz Biederstaedt, du kümmst mit uns mit!“, kommandierte der Chef. Der sechste Mann sei nicht zur Arbeit erschienen. Das also hatte er doch noch bemerkt. Biederstaedt gehorchte, obwohl er sich mehr als elend und außerdem hungrig und durstig fühlte. Es gab noch einen guten Grund, widerspruchslos folgsam zu sein, Fritz hatte sich geschworen, unter allen Umständen seinen schwer erkämpften Rang vor Schlämann zu verteidigen. Er biss also auf die Zunge und plante während der hoffentlich recht langen Anfahrt zum Fangort sich ins allerdings erst einzuladende Garn zu kuscheln und bis zur letzten Minute zu schlafen. Schlämann ärgerte sich. Mehr als schlecht gelaunt wegen der drei Störenfriede, kurbelte er den Heuermotor an, schaute noch einmal fragend ins gerötete Gesicht des Pächters, fand aber keinen Gesinnungswandel und legte abrupt den Gang ein. Die Schraube quirlte das grünlichblaue Wasser des sich hinschlängelnden Oberbaches auf. Auf zu neuem Fang. Zu zehnt total überbesetzt, ging es hinaus. Das konnte nicht gut gehen! Peters meinte wohl, die Wellen würden seine Gäste gehörig nüchtern schaukeln und der frische Wind ihnen wieder das gekühlte Blut ins Gehirn treiben.
Soeben erschien die Sonne über den Hügeln der schönen Viertorestadt. Der Tag versprach, angenehm zu werden, - noch war er es nicht. Die Männer hängten, nach der ersten kurzen Fahrtstrecke am Ende des Oberbaches, die Kähne ab und schoben sich hin zum Zugnetz, das sich auf der Trockenhenkstelle befand. Mit schnellen, tausendmal trainierten Griffen hatten sie binnen zehn Minuten, in denen die beiden Kaufleute sitzend eingeschlafen waren, das schwarz schimmernde Netz in die Arbeitskähne eingeladen. Nun ging es endgültig in Richtung Südwest.
Wieder tuckerte der Motor laut aber gleichmäßig und beruhigend vor sich hin.
Kaum hatte die im Kielwasser schlingernde Fuhre die Linie Augustabad-Belvedere überfahren, hoben und senkten sich die Boote heftiger. Wasserspritzer weckten die beiden schlaftrunkenen Gäste. Das im Sonnenlicht blinkende Wellenspiel machte ihnen plötzlich bewusst, dass sie sich mitten auf dem See befanden, meilenweit entfernt von jeglicher Hoffnung auf Gemütlichkeit. Im Rhythmus der zunehmend härteren Wellenstöße hoben und senkten sich ihre Mägen. „Umkehren!“, schrie Schober.
„Wo denkt ihr hin!“, erwiderte Peters, in ihm waren gerade durch das Rauschen des Wassers die Urjägerinstinkte geweckt worden. Er hatte es im Gefühl, sie würden einen bedeutenden Zug machen.
Kaufmann Bendschneiders Kinn hing beeindruckend schräg herunter. Er kannte den See und den Starrsinn des Großfischers. Er klammerte sich an Schobers neues Jackett, das einen beträchtlichen
Ölklecks abbekommen hatte. „So schön! So schön!“, dröhnte Peters. Er besaß die seltene Gabe, markerschütternd zweistimmig singen zu können. Wenn er richtig losröhrte, schien es, dass die Natur verstummte. Wann immer seine Freunde sich die Ohren zuhielten, um nicht völlig die Kontrolle über ihre Nerven zu verlieren, fühlte er sich besonders ermutigt.
Je mehr es schaukelte und stampfte, umso fröhlicher wurde er.
Aufgestiegen aus der Tiefe in die Höhe!
Das war ihm immer gegenwärtig gewesen.
Grünlich von Angesicht, schickten die beiden Kaufleute sich längst noch nicht ins Unvermeidliche. Sie begehrten energisch, an Land gesetzt zu werden. Peters stieg aufs Schweff.
Wie Napoleon vor Austerlitz dirigierte er mit schwenkenden Armen: „Vorwärts Kameraden!“
Umzukehren vor einer Schlacht? Absolut ausgeschlossen!
Die illustre Fuhre rauschte durch die gischtenden Wellen. Schlämann war wütend. Wenn Peters ihm über Bord fiel, dann war der Teufel los. Zudem musste er auf die beiden Männer im Vorderteil des Heuers Rücksicht nehmen. Ohne sie hätte er Vollgas geben können. Aber das kopflastige Boot kam nicht voran. Immer wieder, wenn das Boot auf dem Wellenkamm ritt, schlug die Antriebsschraube nur Schaum.
Ernst Peters reckte schon wieder den langen rechten Arm, wies diesmal nach Westen auf den Punkt Meyershof. Schlämann krauste die Stirn. Er verwünschte den sich fortwährend einmischenden Pächter.
Indem er dem Befehl sofort nachkam, führte er ihn ad absurdum. Das Steuer herumreißend, brachte er die Kähne quer zur Windrichtung und damit augenblicklich übermäßig in Krängung. Sofort hagelte es aus den Arbeitskähnen laute Proteste. Denn ungemein hart schlugen die nebeneinander liegenden Bootswände aufeinander. Die Boote nahmen außerdem eine Menge Wasser über. Das war es ja, was er wollte.
Er wünschte im Überwind zu fischen und nicht auf der Strömung. Anders konnte er den Alten, der sich sonst ja auch nicht darum kümmerte, wo er das Netz auslegen ließ, nicht überzeugen, dass sein Entscheid widersinnig war. Jedenfalls würde er unter keinen Umständen sich und seine Leute auf der wellenschlagenden Seeseite quälen lassen. Peters, als er so die scheinbare Zunahme der Windkraft zur Kenntnis nehmen musste, lenkte ein. Er machte eine grobe Bemerkung und ließ seinen Oberfischer endlich gewähren, zumal der beteuerte, vor Meyershof sei die Scharkante bereits ab- und leergefischt worden.
Schlämann lachte sich eins ins Fäustchen, drehte vorsichtig zurück. Er schnitt die Wellen, die von achtern immer bedrohlicher heranrollten. Kurz vor „Dörpen“, wo der Tollensesee dreißig Meter tief ist, wogten sie in enormer Höhe. Zwanzig Minuten später, hinter dem großen Schmerberg angelangt, lag das Seewasser erstaunlich ruhig da. Sie waren im Windschatten der sich weit hinschwingenden Buchenwaldhänge angelangt. Die ihren Bauch haltenden Gäste dankten dem Himmel für das Wunder der Windstillung.
Dass er „Mümmelloch“ als Zug ausgewählt hatte, war bald zu erkennen. Peters sprang auf, wollte laut losschimpfen, sah aber die Warnsignale in den Mienen seines Wadenmeisters. „Dor givt dat nix!“("Da gibt es nichts."), reagierte Peters heiser, mit abnehmender Kraft. Auf dem Zug habe er, zu dieser Jahreszeit, noch nie gute Fische gesehen. Schlämann schaute ihn kalt an. Willst du hier auf dem See vor deinen Gästen und deinen Leuten einen handfesten Krach haben, bitte schön. Bei Ostsüdostwind wird im Spätfrühling „Mümmelloch“ oder die „Rill“ gezogen. So war das seit Urväterzeiten. Wenn du das nicht weißt, dann schere dich an deinen Biertisch.
Der Pächter schlug um. Er kommandierte: „Nu wat Mümmelloch treckt, wo ‘t nix gäben det!“  ("Nun wird das M. gezogen, wo es nichts (zu fangen) gibt.") Er wolle vor seinen Freunden den Beweis der Zuverlässigkeit seines intuitiven Wissens antreten. In lautem Plattdeutsch erklärte er, er könne auf zehn Kilo Fisch genau voraussagen, dass hier nichts zu holen sei. Dabei schnalzte er mit der Zunge. „Twintig Pund!“ ("Zwanzig Pfund.") Übermütig reckte Peters den Daumen seiner Rechten. Wer die Wette mit ihm halten wolle. Für zehn Mark verkaufe er im Voraus den zu erwartenden kläglichen Raub.
Bendschneider wollte zugreifen. Peters jedoch stieß den blau und grün aussehenden Schober an. Schober schüttelte den Kopf missmutig, er wolle nach Hause, nichts anderes als heim zu Muttern. Nach dieser unendlich langen Nacht bedurfte er nichts als des liebevollen Trostes. Ernst Peters wollte den Berliner nun erst recht reizen. Ob er Bange habe. Jedes der zu erwartenden zwanzig Pfund koste ihn eine halbe Mark, der Rest sei Gewinn. Eins zu X. Peters unkte, X könnte unter Umständen eine beträchtliche Größe sein und die könne Schober für zehn Mark kaufen. Er verlöre doch höchstens zehn Reichsmark, gewönne aber vielleicht, vielleicht etwas hinzu - egal wie viel. Nach oben sei alles offen. Dabei zwinkerte er noch spöttisch, so dass Schober nicht recht wusste, woran er mit seinem Duzfreund war. Vom Pächter herausgekitzelt, kam im Berliner der Spielerinstinkt zum Vorschein. Der Mann mit Schlips und Kragen griff in die Hosentasche nach dem Portemonnaie. Zwei silberne Hindenburgmünzen lagen obenauf. „Topp!“ Das Geld und die noch nicht gefangenen Fische wechselten den Besitzer. Fritz Biederstaedt, der zwar ununterbrochen gegähnt hatte, und in der Zwischenzeit in den linken Kahn übergestiegen war, wobei er alles beobachtete, konnte sich noch nicht zusammenreimen, was sich gerade zutrug. Denn es waren nur Wortfetzen gewesen, die er aufnehmen konnte. Vielleicht hatten sie gewettet, wann sie wieder daheim ankämen. Die Fischereiarbeiter lösten sich kurz darauf vom kleinen Motorboot und schoben ihre Wadenkähne vom ölverschmierten Heuer ab.
Die Wadenleute ruderten kraftvoll in Richtung Land. Die beiden Hinterfischer nahmen die Hökelsteine des Wadensackes, dann rafften sie ein paar Meter dieses Sackes zusammen und warfen alles zugleich mit Schwung über Bord hinter sich. Ein paar Meter voneinander entfernt patschten die Rundsteine gleichmäßig auf die bewegte Wasserfläche. Diese Gleichzeitigkeit des Aufklatschens galt allgemein als sehr gutes Vorzeichen. Die Fänger beeilten sich, den Sack des Umfassungsnetzes in voller Länge auszufahren. Dann trennten sie sich voneinander, schlugen jeweils einen Winkel von neunzig Grad und fuhren in entgegengesetzte Richtungen die Flügel aus. So trieben die vier Ruderer ihre Kähne voran, während die im Heck der Arbeitskähne stehend arbeitenden Fischer klafterweise die Wade über Bord beförderten. Allmählich nahm der Wind ab. Mehr und mehr glätteten sich die Wogen. Der Himmel blaute, es wurde wärmer. Die Tage der Schafskälte schienen endlich überwunden zu sein.
Kaufmann Schober stellte befriedigt fest, dass sich seine Magennerven beruhigt hatten. Er begann es zu genießen, dass die Männer in den nächsten zwei Stunden ausschließlich für ihn arbeiteten. Vergessen waren alle Übelkeiten, die Müdigkeit und Unlust des Morgens. Freundliche Gedanken tauchten aus der Tiefe seiner Seele auf. Sein Tag brach an. Zum ersten Mal in seinem Leben fühlte er sich nach einer durchzechten Nacht nicht hundeelend.
Peters scherzte, sie sollten doch wenigstens einmal erleben, wie ihm in den frühen Jahren seiner großen Fangpleiten zumute gewesen sei und sich trösten mit dem wunderschönen Bild der Natur. Diese sich im Morgenwind wiegenden tiefgrünen Simsenfelder und das Widerspiegeln der Himmelsfarben auf der silbrigen, glattgewordenen Haut des Tollensesees. Bendschneider wunderte sich, denn er hatte gemeint, der Mann Peters sei stumpf geworden für die feineren Empfindungen.
Als Schlämann behutsam und in weitem Bogen um das ausgelegte Netz herumfuhr und in Landnähe kam, stellte er den Motor ab. Sie glitten kaum hörbar zischend am Gelegesaum entlang. Schober bemerkte, dass Schlämanns Blicke im Wasser etwas suchten. Er versuchte sich darin ebenfalls und sah in Metertiefe und immer nur wenige Meter voneinander entfernt verschieden große Hechte unmittelbar vor der Simsenkante. Sie flohen bei Annäherung des Bootsschattens nicht panikartig, sondern schwammen ruhig zur Seite. Ihre grünen pfeilartigen Leiber hoben sich deutlich vom gelblichen Sandgrund ab. Peters winkte ab. Das wusste er doch, dass hier, wo die Wade niemals entlang glitt, stets schöne Raubfische standen und sich sonnten. Im Herbst wird er in diesem
Bereich mit den Dreiwandnetzen staken lassen und sich für den Winterverkauf mit Mümmelloch-Hechten eindecken.
Aber Wadenmeister Schlämann nickte mit seinem schmalen, langen Kopf auf sonderbare Weise. Dann, wiederholt schüttelte er ihn. Ob etwas los sei, fragte der Pächter. „Ach iwo Meister!“, erwiderte er dem leichtfertigen Mann, der sich partout als Genie der Intuition erweisen wollte und nun höchstwahrscheinlich bis auf die Knochen blamieren würde.
Als nach dreißig Minuten, das Auf- und Einziehen des langen Netzes begann, wurde Peters bald blass. Denn kurz hintereinander erschienen zwei große Hechte auf dem Flügel. Wie elektrisiert wirkte er. Sofort war ihm klar, was das bedeutete. Neumann gelang es nicht, die beiden Fische ins lose Garn einzuschlagen.
Eiligst warfen sie sich herum und flohen zurück in den weithin sich ausdehnenden Umfassungsbereich.
Wäre der Vertrag nicht gewesen, hätte Pächter Peters, der alles aufmerksam verfolgte, seinen Hinterfischer heftig beschimpft. Man lässt Fische, die man im Netz vor sich hat, nicht einfach entkommen. So aber konnte er nur hoffen, dass sämtlichen Fischen die Flucht gelänge. Blank müsste der Zug herankommen als gezogene Niete. Da jedoch hob der immer noch ahnungslose Fritz Biederstaedt jubelnd einen anderen Hecht hoch, ein meterlanges Exemplar, als wollte er dem Pächter gratulieren: Sieh mal Chef, was wir für dich tun. Da das erwartete Freudenecho ausblieb, regten sich in Biederstaedt Gemüt unklare Fragen. Er spürte es als noch namenlose Unbehaglichkeit. Erst als im Maschenwerk stattliche Barsche mit ihren leuchtend roten Flossenenden auftauchten und er Ernst Peters Reaktionen der Unlust und sogar des Entsetzens bemerkte, schloss sich der Kreis unsanft. Aus Übermut hatte der Alte eine Riesenwette angezettelt und verloren! Jetzt war es heraus!
Schlämann kniff sich ins Fell um festzustellen, ob er träume oder wach sei. Es kamen immer mehr Fische zum Vorschein, sogar große Plötzen. Die anderen, noch ahnungslos ihr Netz ziehenden Männer schrieen sich gegenseitig zu, hier wären sie richtig. Noch war ihnen nicht zu Bewusstsein gekommen, dass auch der Wadenmeister Schlämann so merkwürdig stupide reagierte.
Übrigens, der Fischzug war längst nicht zu Ende. In diesem Typ des Wadensackes hatten bereits zweimal mehrere hundert Zentner Großbrassen Platz gefunden. Herrn Schobers Gesicht rötete sich. Er starrte entgeistert seinen unerwarteten Gewinn an, der sich auf wunderbare Weise unentwegt mehrte. Pure Goldfische zappelten für ihn. Pächter Ernst hockte sich mit grauem Gesicht auf die ölgetränkte Heuerbord und grub selbstquälerisch in den Windungen seines Verstandes. Reuig suchend fragte er sich, ob ein gnädiges Schicksal ihn einen Winkelzug finden ließe, um sich doch noch aus dem Dilemma zu ziehen. Bendschneider lästerte, ob Ernst Peters sich nun vor Wut in den Hintern beißen könnte?
So erfuhren endlich auch die gleichgültigen unter den Arbeitern, was sich gerade vor ihren Augen ereignete. So also war das. Der Alte bekam Dresche. Schlämann steckte es ihnen dann definitiv. Der Pächter hätte restlos alles für ein Butterbrot versetzt.
Kurt Willig war der Einzige, der gelassen schmunzelte. Dass sie selbst am Ende die eigentlichen Verlierer sein würden, verdrängte er. Auch er gönnte Peters von Herzen eine schmerzhafte Niederlage. Strafe musste sein, weil er sie betrog, indem er ihre Deputate kürzte, weil er ihnen argwöhnisch hinterherspionierte, weil er Jan Schlämann mit dem Fahrrad zuvorgekommen war und ihn mit einer Waffe gestellt hatte. Bloß weil der sich seine früher übliche Sonntagsration illegal zusammengestellt und in einem Fischbeutel verwahrt im Buchort unter einem Weidengebüsch versteckt hatte, verstecken musste, wie sie selbst auch. Weil es anders kaum noch gute Gratisfische gab. Da hatte sich der argwöhnische und knickrige Großpächter auf der Oberbachbrücke mit dem Fernglas postiert und beobachtet, wie Schlämann und sie sich den Mundraub sicherten. Das müssen ihm die Spatzen aus den Dachrinnen zugepiepst haben: Ernst, deine Leute haben einen neuen Dreh gefunden, mit dem sie dich hintergehen. Aber er hatte nie gefragt, warum sie ihn hintergingen. Den Tesching schulternd, war er in seinem roten Zorn hingeradelt nach Buchort und hatte sich da
rechtzeitig auf die Lauer gelegt. Als endlich der Wadenmeister am Ort ankam und die Beute suchte und fand, hob Peters die Waffe, richtete sie auf den Übeltäter mit den schockierenden Worten: „Jan! Klaut ward nich!“ ("Jan, geklaut wird nicht!") Sogar Fritz Biederstaedt freute sich, den übermächtig gewordenen Mann leiden zu sehen. Das war die Strafe für den sich zunehmend unerträglich auswirkenden Hochmut. Alle Hochmütigen der Welt müsste man einen Tag in der Woche mittels ähnlicher Kur behandeln. Inzwischen kamen die Passagiere, des von Herrn Bendschneider vorwärtsgeschobenen Heuers, noch näher an die schließlich den Wadensack ziehenden Fänger heran. Der Wind war völlig abgeflaut.
Der langgestreckte See lag in seiner ganzen Ausdehnung wie ein Riesenspiegel da. „Meisting!“, rief Fritz heimtückisch, „hem wi nich siehr schöne Fisch fungen?“ ("Meister, haben wir niht sehr schöne Fische gefangen?") Seine dunklen Knopfaugen funkelten listig. Er dachte an frühere Backpfeifen zurück, die er vom Alten zu Unrecht bekommen hatte. Mit schnellen Handgriffen deckte er das Oberteil des Sackzeuges auf. Erst jetzt sah man die ganze Bescherung.
Die große Anzahl grüner Hechtrücken erschreckte sie allesamt. Solch reicher Vorsommerzug gehörte seit je zu den Ausnahmen. Mit einem Ruck streifte Fritz Biederstaedt die Ärmel hoch und griff in seiner Erregung tief ins Wasser. Die Fingerspitzen und die Haut seiner bis über die Ellenbogen eingetauchten Rechten empfanden die Menge weicher, glatter Aalleiber wie ein ihn umgebendes Knäuel Schlangen, - nur angenehmer. Schnell packte er einen der Starkaale, riss ihn aus dem Wasser, hob ihn stellvertretend für die anderen ungefähr zweihundert Stück in die Höhe. Es dauerte nicht lange und der hochaktive Fisch vermochte sich aus dem geübten Griff seines Peinigers zu befreien. Hart auf die Wasserhaut klatschend, entkam der muskulöse Fisch zunächst noch einmal. Der griesgrämige Bendschneider zuckte nervös zusammen. Pächter Peters brummte. Das Schlimmste war, er hatte seinem Freund Schober in die Hand versprochen, ihn in bar auszuzahlen. So fiel außerdem noch die Qual des Verkaufs auf ihn. Jede einzelne Reichsmark, die er aus dem Verkauf dieser Fische, die ihm nicht gehörten, erlösen wird, wird sein Herz mit Kummer belasten. Wie ein Lauffeuer würde die Rede von seiner Dummheit durch die Straßen der Viertorestadt sausen.
Aribert Schober legte seinem lieben Freund Ernst Peters die beringte Hand auf die hängende Schulter und sagte heuchlerisch weich: „Kondoliere Ernst!“ Und im selben Atemzug: Jetzt könne er sich das ja leisten. Er lade alle Anwesenden zu einem Umtrunk im nahen „Heidehof“ ein.
Schlämann ignorierte des Chefs Gefühle. Gern nehme er mit seinen Männern die freundliche Einladung an. Der Herr wird diesmal nicht darauf bestehen, dass sie die Fische erst nach Neubrandenburg schaffen müssten um sie dort in die sicheren Hälterkästen zu setzen. Denn falls sich ein Loch im Sack befände, käme es diesmal - welch’ verkehrte Welt - seinen Wünschen nur entgegen. „Kumm Ernst“, spöttelte nun auch Herr Bendschneider, „dat helpt ja allens nich, Spoß möt sin.“ ("Komm Ernst, es hilft ja alles nicht. Spaß muss sein.")
Ernst Peters versuchte ein Lächeln aufzusetzen. Das misslang ihm. Als sie an der kleinen, nach dem letzten Eisabgang verschobenen und unsicheren Heidehofer Brücke angelangt waren und die fünfzig Stufen fast hinter sich gelassen hatten, wandte er den trostlosen Blick. Der herrliche See lag wie ein kostbares Gemälde zu seinen Füßen und verhöhnte ihn. Ich bin dein, aber nicht dein allein. Das satte Grün und die dunklen Konturen malten sich auf der blinkenden Fläche wieder. „Nicht dein allein.“
Wenn er jetzt einen Wunsch frei hätte!
Schwerfällig stakend nahm Pächter Peters die letzten Stufen der steilen Holztreppe. „Achthunnert Mark!“, jammerte er. Fritz hörte es. Jede Stufe musste ihm den Betrag den er so schmählich verloren hatte, schmerzhaft ins Gehirn hineingebohrt haben. Achthunnert Mark, achthunnert Mark! Für das Geld bekam man ... Fritz, der die junge Frau des Gastwirtes wieder zu sehen hoffte, wollte und konnte mit den Männern nicht lange mithalten. Kurz nach zwei ging er hinaus. Er suchte nicht lange, obwohl er ahnte, sie müsste in der Nähe sein. Die Müdigkeit übermannte ihn. Da es warm war, legte Fritz sich auf der Sonnenseite des Grundstückes ins Gras unter einen abgeblühten Forsythienstrauch. Da würden sie ihn schon entdecken, wenn sie heimzukehren wünschten. Biederstaedt schlief sofort ein, umschmeichelt vom sanften Wehen der erwärmten Mittagsluft. Um vier Uhr begaben sich die Fänger zu den Booten, füllten die Fische aus dem sprudelnden Wasser im Wadensack hinüber in den Heuer, mussten sich beeilen, denn bei diesen Mengen Barschen, Aalen und Hechten wurde das Schweffwasser knapp, obwohl sie mit ihrer Körperlast für zusätzlichen Tiefgang des Motorheuers sorgten. Sie rauschten davon in Richtung Neubrandenburg. Doch ihr Blick und Verstand waren sehr getrübt.
Obwohl es noch heller Tag war, vermochte es Jan Schlämann, der die Steuerpinne umklammert hielt, nicht, die ihn heimtückisch anschleichende Schläfrigkeit zu beherrschen. Auch der Selbstvorwurf, soviel hätte er nicht trinken dürfen, machte ihn nicht munterer. Gegen diese Art von Körperschwere half wenig, die selbstgestellten Denkaufgaben zu lösen, die ihn normalerweise wachhalten konnten. Wiederholt nickte er am Steuer ein, riss sich allerdings immer wieder energisch hoch, sah, dass auch Herr Peters abgeschaltet hatte und seinen Kummer ausschlief. Belustigt nahm er noch wahr, wie Schober und Bendschneider, diesmal im Heckteil, auf der schwarzen Bank vor ihm, eng aneinandergerückt, dahockten. Ihre Köpfe und Schultern sanken unentwegt herunter und eben so oft richteten sie sich mit halber Willenskraft auf. Die unbequeme Haltung und die lauten Motorgeräusche sowie das wiederholte Aufstauchen des wasserschneidenden Stevens auf die Wellenkämme, die der sich plötzlich neu erhebende Nordost verursachte, ließ die beiden offensichtlich nicht richtig zur Ruhe kommen. Andererseits drückte sie die Last traumschwerer Lider nieder. Auch die fünf Männer in den Wadenkähnen schliefen.
Jan Schlämann fühlte mit ihnen, bis auch ihn, unglaublich sanft, aber mit süßer Macht, die schwarze Nacht umarmte.
Plötzlich schrammte es hart. Die beiden Herren wurden nach vorne auf die Schweffdeckel geschleudert. Schlämann stieß sich die Knie und stürzte mit unwillkürlich gespreizten Armen auf die beiden Kaufleute.
Sofort krachte es zum zweiten Mal. Die im Schlepp befindlichen, noch frei schwimmenden Arbeitskähne waren aufgefahren. Dieser Ruck schob den Heuer noch höher hinauf auf das unsichtbare Hindernis, wobei, mit peitschenknallendem Geräusch, eins der starken Sisalseile platzte. Es wirbelte noch etwas herum. Das waren die netztragenden Wadenkähne. Sie schwenkten augenblicklich ein, stießen gefährlich gegen andere Steine. Der Heuermotor lief weiter, die Schraube rotierte noch. Schlämann machte dem Spuk ein Ende. Sekundenlang herrschte das Schweigen des Entsetzens. Außer den beiden Gästen war jedem klar, wie schlimm das war, was sich zugetragen hatte. Nur, das Wissen darum änderte noch nichts an der Situation.
Da ragte er hervor, der „Große Stein“ an Land, der Vater der vielen Kleinen rings um ihn herum, am Steilufer vor Dörpen und Schopwasch.
Ernüchtert vernahmen die Männer Schlämanns Kommandos, der, ohne sich um die Anwesenheit des Chefs zu kümmern, anordnete, was sofort zu tun sei. „Leinen lösen!“ Seine ganze Art verriet seine Verachtung für den Pächter, dessen Leichtsinn sie das Pech des Tages zu verdanken hatten. „Dat geiht nich!“ ("Das geht nicht!") sagte Kurt Willig und zog das Taschenmesser. „Jawoll! Dörchschnieden!“ ("Durchschneiden!"), bestätigte Schlämann. Es gab einen Ruck der Entspannung.
Dann stellte Neumann als erster fest, dass Fritz Biederstaedt fehlte. Auch das noch! Fritz war während der Überfahrt unbemerkt über Bord gefallen! Wie Messerstiche fuhr ihnen der Schreck in den Leib. Ein Blick zurück zum schräg gegenüber liegenden Heidehof. Vier Kilometer weißblaue Wellen und sonst nichts. Sofort mussten sie das auf einem Felsbrocken gestrandete Motorboot flott ziehen. Höchste Eile war geboten. Zu sechst, einschließlich des immer noch kopflosen Pächters, bemühten sie sich mit Leibeskräften, vom Heuer aus und in den zwischen den Steinen wieder freischwimmenden Arbeitskähnen mit Pätschen und Stangen das Zugboot frei zu schieben, herunter von diesem dämlichen Stein. „Zugleich!“ Sie stemmten sich mit äußerster Anstrengung dagegen, um den Heuer auch nur um Daumenbreite zu bewegen. Es gelang nicht. Den vier Männern im aufgelaufenen Heuer war klar, dass ihr Eigengewicht sich zusätzlich nachteilig auswirkte. Doch aus dem Motorkahn in die anderen Kähne über zusteigen war der Tieflage der Arbeitsboote wegen und andererseits wegen der vielen weiteren knapp unter der Wasserlinie befindlichen Hindernisse unmöglich. Ein Anlegen nebeneinander verbot sich deshalb und wegen des heftigen Wellengangs ebenfalls. Außer der Sorge um Fritz, die alle vorwärts trieb witterte Peters bereits eine Minute nach dem Auflaufen höchste Gefahr für den Fang. Denn er hörte, wie die Hechte im fast leer gelaufenen Schweff nur noch matt umherpatschten. Durch die Wucht der Auffahrt hatte sich der Heuer um ein paar entscheidende Zentimeter höher aus der Wasserlinie gehoben. Das Schweffwasser rann durch die Löcher. Wenn nun noch die Fische verreckten, dann war für ihn das Maß voll. Karl Neumann schlug in seiner Aufregung vor, die Männer im Schleppboot sollten sich ausziehen und über Bord springen. Das musste ihnen doch einleuchten, denn Fritz Biederstaedt kämpfte im sturmbewegten See vielleicht nicht mehr lange. Das Seewasser war noch zu kalt.
Aber die Herren zögerten. Neumann schüttelte den gewaltigen Kopf. Mit diesen wasserscheuen, hirnlosen Kerlen sitzt er nun zusammen auf dem See fest, angebunden sozusagen wie ein Kalb an einer Kette. Statt sich die Siebensachen vom Leib zu reißen und ins Wasser zu springen, erwiderten sie ihm, er sei ein Klugscheißer, er solle ihnen das mal gefälligst vormachen. Karl Neumann fauchte sie an. Er würde es tun. Er hatte schon die blaue Bluse über die roten Ohren gerissen, da brüllte Schlämann, ob er verrückt geworden sei und kommandierte ebenso laut: „Zeug überziehen!“ Neumann trieb der Gedanke zur Hast, er läge an Biederstaedt Stelle im schäumenden See. Ob sie sich immer soviel Zeit ließen, das einzig Richtige zu tun?
Es war natürlich vernünftig, einen der beiden Arbeitskähne zu erleichtern. Mit dem leeren Boot kämen sie nahe genug heran um die Heuerbesatzung aufzunehmen. Peters schrie dazwischen, sie sollten sich endlich beeilen, ehe die Fische krepierten.
Neumann und Willig haspelten mit fliegenden Händen das Garn und die Leinen herüber. Beide in Wut. Die schönen Fische. Und Biederstaedt?
Sie hatten natürlich schon überlegt, die Wadenboote zu verankern und den Havaristen mit den vorhandenen Knüppelwinden und dem Drahtseil frei zu schleppen. Doch das verbot die Uferbeschaffenheit. Seeseitig fiel nach wenigen Metern das Gelege stark ab. Solchen langen Pfahl hatten sie nicht, einen entsprechend großen, tief genug greifenden Anker ebenfalls nicht.
Endlich gelang es, die vier Männer in den entleerten Wadenkahn einsteigen zu lassen. Alle dachten, nun würden sie das an einer kurzen Leine befestigte Motorboot schnell frei bekommen. Sie wollten es glauben. Sie zerrten und ruckten, sie stöhnten und fluchten. Es wollte nicht gelingen. In seiner Verzweiflung machte Ernst Peters Anstalten, sich zu entkleiden. Die Angst Schober würde auf Schadensersatz bestehen, brachte ihn fast um den Verstand. Das wäre effektiv eine Verdopplung der Schadenssumme. Karl ahnte, was sein Herr vorhatte. Der kräftige Pächter wollte sich unter das Heck des havarierten Heuers bücken und mit voller Manneskraft den letzten Versuch wagen, das Boot auch nur millimeterweise anzuheben.
„Ick mok dat, Meister!“ ("Ich mache das, Meister"), rief Neumann mehr als eifrig. Wenn einer über die erforderlichen Kräfte verfügte, dann war er das. Der Zorn seines Kindergemütes war umgeschlagen in kalte Entschlossenheit. Nun entkleidete er sich wirklich. Im Nu zog er sich Hemd und Hose vom Leib. Weiß leuchtete sein gewaltiger Hintern.
Er sprang schnell ab. Rauschte nackt durchs beißend kalte vom Sturm heraufgewirbelte Tiefenwasser, das ihm bis zur Herzgegend heraufschlug.
Rein gefühlsmäßig wusste er, was er tun müsste, wie tief er sich bücken, wie er sich hinstellen, wo die Schulter ansetzen und wann er seine kolossalen Muskeln strecken musste. Unmittelbar, bevor die nächste größere Woge heranrollte, schrie er laut: „Tau!“ ("Jetzt!") und straffte den gebräunten, aus dem Seewasser auftauchenden Oberkörper.

Kurz darauf war der Heuer befreit. Alle tatschten und klopften wenig später dem nackten Karl Neumann auf die Schulter und die Hüften und hielten, was er getan, im Übrigen für eine Selbstverständlichkeit über die niemand je wieder nachdenken wird. Peters sträubte sich zurückzufahren. „De Kierl is längst to Hus!“ ("Der Kerl - Biederstaedt - ist längst zuhause."), behauptete er. Seine Zähne knirschten.
Als erstes kümmerte er sich um das Wohlbefinden seiner, besser gesagt Schobers, Fische. Er hob den Schweffdeckel und stellte überrascht fest, dass sie die trockene Viertelstunde anscheinend schadlos überstanden hatten. „Meister“, sagte Schlämann ernst, „sünd Se sicher, dat wi Fritz nicht verloren häm?“ ("Sind sie sicher, das wir Fritz nicht verloren haben?")
Ernst Peters hob den eckigen Kopf und schüttelte ihn. Natürlich nicht! Er tippte gegen die eigene Stirn. Sein Hirn sage ihm, der Kerl läge hundertmal eher bei einem Weib im Bett oder sei längst daheim, als so blöde zu sein und mir nichts, dir nichts über Bord zu gehen. Insgeheim gab Schlämann ihm Recht. Anderes wäre ja nicht auszudenken.
Dennoch mussten sie die Suche aufnehmen. Nicht einer konnte sich erinnern, ob er denn mit ihnen gekommen sei. Das war ja das Sonderbare, das sie so beklommen machte.
Während der Rückfahrt zur Gaststätte Heidehof hielt sogar Ernst Peters Ausschau nach ihm oder nach Anzeichen seiner Kleidung. Manchmal hatte man einen schwimmenden Schuh oder Stiefel gefunden, den Ertrinkende sich vom Körper gerissen hatten. Nicht selten zogen sie sich in Panik gänzlich aus.
Sie fanden nichts, auch in der Gaststätte erhielten sie keine Gewissheit. Der aufhorchende Wirt reimte sich wahrscheinlich einiges zusammen. Er stotterte hilflos. Er starrte Peters sen. vorwurfsvoll und finster an. Der Pächter ballte die Fäuste und fluchte beim Herabsteigen der steilen Ufertreppe, seine schlimme Befürchtung nicht mehr verbergend. Schweigend fuhren sie heim. Was sollten sie Biederstaedts Frau sagen?
Eine Stunde später bog ihr Heuer in den Oberbach ein. Die Stimmung war unerträglich. Es würden mehrere Fischerfrauen dastehen, sie ärgerlich erwarten und unbequeme Fragen stellen. Die Sonne schien bereits von Nordwesten herein.
Da sahen sie jemanden, der winkte. Fritz Biederstaedt! Er stand wie ein Gespenst scheinbar in der Luft. Er war auf einen Baumstubben geklettert und rief, als sei nicht das Geringste passiert, mit seiner dunklen Stimme, wo sie denn um Himmels Willen solange gesteckt hätten. „Ick hew mi Sorgen mokt üm juch!“ ("Ich habe mir schwere Sorgenum euch gemacht.")
Da brach es laut und grob aus allen Mündern zugleich hervor. Was er sich einbilde, sie an der Nase herumzuführen? Ein Schwall von Worten ergoss sich über den insgeheim von jedem für verloren gehaltenen Fritz Biederstaedt. „Dämelack, alter!“, schimpfte Peters und tobte noch einmal los, den ganzen Kummer und die Spannung der vielen Aufregungen von der Seele reißend. An dem Tag als die Neubrandenburger Zeitung davon berichtete, dass in Hamburg der Stapellauf des ersten deutschen schweren Kreuzers stattfand, standen Fritz und Jan Schlämann arbeitend im Hof. Sie flickten das am Vortag zerrissene Zugnetz wieder zusammen. Plötzlich wandten sie die Köpfe gleichzeitig. Denn oben im Haus war geräuschvoll ein Fenster aufgestoßen worden. Ernst junior grüßte zackig herunter. Er winkte mit der Zeitung, rief übermütig: “Dat wat fiert!“ ("Das wird gefeiert.") Die beiden Männer schauten sich verdutzt an. Kurz darauf erschien der junge Chef auf dem stets aufgeräumten Fischereihof. Er trug zwei braunfarbene Bierflaschen in der Rechten, eine dritte unter dem Arm, während er mit der Linken immer noch das große Blatt schwenkte. Auch seine glänzenden Stiefel fielen ins Auge. „Dorup möten wie anstöten!“ ("Darauf müssen wir anstoßen."), rief er bewegt. Biederstaedt liebte des Juniors Herzlichkeit und griff zu, ehe er wusste, was er begrüßen und feiern sollte. Schlämann, als er hörte, worum es ging, kniff vorsichtshalber die Lippen zusammen. Dennoch brummte er vor sich hin. Die beiden jüngeren Männer hatten ihre Meinungen in einer, seiner Auffassung nach, sehr oberflächlichen Art und Weise gebildet. Was die Zeitung schrieb hielten sie für wahr und gut. Schlämanns Überzeugung nach schwärmten sie von Sachen, die ihnen selber schlecht bekommen würden. Nach den ersten geleerten Flaschen holte Ernst junior neue. Dem Griesgram zum Trotze tranken und freuten sie sich. Schließlich blies Fritz Biederstaedt, wenn auch nur aus Sympathie für Ernst, die dicken Backen auf und trompetete übermütig: „Deutschland, Deutschland, über alles...“ Dabei warf er aus der Stimmung heraus die kräftigen Beine im Paradeschritt. Sein Freund Peters junior machte sogleich mit. Während sie exerzierten, streckten beide die Arme aus, jeder seine Bierflasche wie eine senkrecht stehende Fahnenstange in der Hand, beide beschwipst. Durch die Erschütterungen und Schüttelei kam Schaum hoch und quoll über den Flaschenrand. Meister Schlämann ließ aus Empörung die Arbeit liegen und ging nach Hause. „Dummheit lässt grüßen!“ murmelte er grantig, konnte und wollte das nicht mit ansehen.
Damit spaßte niemand ungestraft. Dass Deutschland wieder Waffenfestung sei in der Welt und irgendwann „mehr“ als der Tommy sein wollte, hielt er für tödlich.
Als Monate später die beiden Peterssöhne Heinz und Ernst nach Nürnberg zum Reichsparteitag fuhren, knurrte Schlämann vor Biederstaedt unvorsichtig, dass der Hitlersche Größenwahn dem nächsten Katzenjammer bloß vorauseile.
Die Jungen seien dabei, verblendet wie jene bei der Begeisterungswelle 1914, sich in ihrer Beschränktheit das eigene Grab zu schaufeln. Dass er mit dieser Unkerei tatsächlich seine Verachtung zum Ausdruck gebracht hatte, bemerkte er jedoch erst, als Fritz ihn bösartig anfunkelte. Auf seinen Freund, Ernst junior, ließ ein Fritz Biederstaedt auch nicht den Schatten eines Makels fallen.
Fritz Biederstaedt hatte sich eine Illustrierte gekauft die vom Reichsparteitag berichtete. Ihm war die große Begeisterung der Reporter wie eine warme Woge entgegen geschlagen. Die herrlichen Bilder hielt er Meister Schlämann am Tage nach dessen unbesonnener Kritik vorwurfsvoll unter die spitze Nase. Doch Schlämann erwiderte fest: „Fritz mark di dat. Övermaut deit selten gaut.“ ("Fritz, merke dir das. Übermut tut selten gut.")
Eine ganze Woche lang, nachdem er wieder heimgekehrt war, schwärmte Ernst junior, während der nächtlichen Arbeit des Fischens, wie er den Reichsparteitag empfunden hatte. Unentwegt hätten sie jubeln können. Niemand fühlte mehr den Regen und die Kälte, als ihr Führer auftrat.
Bild Wikipedia: Reichsparteitag Nürnberg, 1938
Es sei von ihm eine wunderbare Kraft ausgegangen. Ein Übermensch, von Gott geschickt, sei da auf sie zugekommen. Das männlich harte Gesicht unbeirrt nach vorne gerichtet wirkte wie aus Stein gemeißelt. Schritt um Schritt sei der Barhäuptige auf sie zugegangen. Die fest aufsetzenden Stiefel, das EK eins, diese Augen, diese Musik. Den Gedenkkranz für die Gefallenen seiner Bewegung begleitend, leicht gesenkten Hauptes, war Adolf Hitler im Rhythmus der Takte des Badenweiler-Marsches dicht an ihnen vorbeigeschritten. Die Herzen Hunderttausender gehörten nur diesem Manne. Voller Ehrfurcht wie vor einer Weihehandlung hätten sie jedem Ton gelauscht. Heinz habe vor Rührung geweint und ihm selbst hätten sich die Augen gefüllt. Aber Heinz musste es besonders nahe gegangen sein. Er hatte gerade den Reichsberufswettkampf als Sieger absolviert und war mit einer vom Führer persönlich unterzeichneten Urkunde geehrt worden. Und da sie ihn nun von Angesicht zu Angesicht erlebten und der Führer ihnen persönlich unter so vielen Bedeutenden einen Blick der Anerkennung schenkte, sei das für ihn ein unfassbares Glück gewesen. Freudebebend dankte Ernst dem Allmächtigen, in eine so schicksalsträchtige Zeit hineingeboren worden zu sein. Der Gottgesandte, auf den die Arier seit ihrer ersten Auseinandersetzung mit den ihnen geistig unterlegenen Völkern und erst recht im Streit und Kampf mit den asiatischen Horden sehnsüchtig gewartet hatten, sei gekommen, um Deutschland den ersten Rang unter den zahlreichen Nationen zu geben. Tausend Jahre lang würde die Sonne über glückliche Reichsgaue leuchten.

Biederstaedt hörte gespannt zu, als Ernst schilderte, wie er und Heinz den großen Amtswalter-Appell der NSDAP aus gewisser Entfernung miterlebt hatten. Es war am Abend gewesen. Hunderte Scheinwerfer zauberten einen Lichtdom über den Häuptern von zweihunderttausend Menschen. Aus der Ferne dröhnte die Rede Adolf Hitlers: „Dass ihr mich gefunden habt, unter so vielen Millionen, ist ein Wunder! Dass ich euch gefunden habe ist Deutschlands Glück!“
Überwältigt vom Strom der Freude hätten er und Heinz schließlich nur noch geschluchzt: „Unser geliebter Führer!“
Bild Wikipedia: Leibstandarte Adolf Hitler. 1938
Diese starke innere Bewegung des sonst so schneidigen Heinz konnte Biederstaedt sich gut vorstellen. Denn Heinz Peters hatte gerade vor der Fahrt nach Nürnberg die Berufung in die „Leibstandarte Adolf Hitler“ erhalten.

Fritz liebte die Petersjungen. Beides blonde Recken, beide mit hochfliegenden Plänen und hehren Idealen von der Größe ihres Volkes.
Es gab also doch eine Vorsehung.
„ Ein Volk, ein Reich, ein Führer!“ Das klang wie Musik. Doch bereits drei Wochen später bemerkte Fritz, dass Ernst bedrückt umherlief. Dass er Kummer hatte, stand ihm ins Gesicht geschrieben. Fritz fragte ihn schließlich, doch Ernst winkte ab. Noch möchte er darüber nicht reden.
Unfähig zunächst, sich auszusprechen, verbarg er andererseits nur schwach, dass sich etwas verändert hatte. Eines Nachts, nachdem Ernst und Fritz die Fische aus dem Wadensack gekeschert und sich eine Weile nebeneinander gesetzt hatten, um auszuruhen, gab Ernst junior zu, dass er schwer erschüttert und wieder auf dem Boden der Tatsachen angekommen wäre.
Sein SS-Führer Gau habe ihm auf den Kopf zugesagt: „Ernst, du hesst doch Juden in diene Verwandtschaft, nich?“ ("Ernst, du hast doch unter deinen Verwandten Juden, ncht wahr?")
Mit großer Beklemmung und bloß stotternd hätte er dem Grobian Gau auf die Frage nach dem Ariernachweis von Tante Ilse antworten können: „Deutsche Verwandtschaft, Deutsche!“
Er habe endgültig zur Kenntnis nehmen müssen, dass gewisse Theorien Hitlers ihn praktisch und persönlich nachteilig betrafen.
Danach ging es mit seiner SS-Gesinnung steil bergab.
An diesem Umschwung nahm Fritz betroffen Anteil.
Ernst erzählte plötzlich Einzelheiten über eine Stadt Guernica. Hitlers Göring hätte diese Stadt schon vor Monaten ausgelöscht. Der Begriff „auslöschen“ hatte nach der Frage des SS-Führers Gau,
weil sie in beängstigender Weise gegen Tante Ilse zielte, in seinem Innern wie eine Kolik gewühlt.
Solange sei ihm das Schicksal der baskischen Stadt Guernica gleichgültig gewesen, wie der Name irgendeines Unbekannten, der in einer fremden Stadt gestorben war. Doch nun sah er verbotene, aber wahre Fotografien mit unfreiwilliger Gedankenverbindung zu seiner nichtarischen Verwandtschaft. Da lagen Schulmädchen neben Pferdekadavern, alles in Stücke gerissen. Das haben Deutsche gemacht! Deutsche wie er.
Ernst fühlte sich verraten und verletzt.
Er sammelte immer mehr bittere Erfahrungen, bis er schließlich Biederstaedt und Schlämann gegenüber insgeheim bekannte, dass die allgemeine SS, der er angehörte, nur eine gemeine Bande sei. Diese unflätigen Redensarten und geistlosen Prahlereien der meisten Vorgesetzten regten ihn längst auf. Selbst die Anzüglichkeiten, wenn über Mädchen zweideutig gewitzelt wurde, mochte er nicht.
So leichtfertig, so miserabel von lieben Menschen zu reden, sei ihm ein Gräuel. Dieselben Halunken, die eine verheiratete Frau zu einem Abenteuer überredet hatten, stellten ihr hinterher ein miserables Zeugnis aus. Einerseits hieß es „Blut und Ehre!“, andererseits wühlten sie im Dreck der Unehre. Alles, was sie über die Juden sagten, sei zotig und verlogen. Wie begründet erschien Ernst Peters jetzt dagegen die damals noch unverständliche Angst der Tante Ilse. Bitte Ernst, verrate mich nie!
Die Organisation, der er zugehörte, sei ein Ungeheuer.
Ob Heinz, wenn er diesen seinen Gesinnungswandel erkannte, schweigen würde? Nun da er in Berchtesgaden Dienst leistete?
Es war beängstigend, den jüdischen Exodus mitzuerleben. Vor der Machtergreifung Hitlers wohnten über einhundert Juden in Neubrandenburg. Jetzt konnte man sie an zehn Fingern abzählen. Die Heines zu dritt, zu zweit Angehörige der Familie Rosenstein. Wer noch? Die Geschwister Wolff, das machte sieben. Die Schwestern Eliasowitz, Abraham Salomon, Paula Kallmann, Frau Jakob. Es mochten noch vierzehn verwegene, heimattreue Leute sein. Mehr nicht. Doch wie es schien, waren diese wenigenm Harmlosen gewissen Bösewichtern dennoch ein Dorn im Auge. Jedenfalls hetzten sie, je mehr sich die Proportionen zu Ungunsten der heimischen deutschen Juden verschoben.
Weshalb, fragte Ernst junior sich? Keiner verkaufte so billig wie die Heines, wie die Wolffs. Ihre Verwandtschaft hatte zwischen 1914 und ’18 im Kriege höchste Lorbeeren geerntet. Eiserne Kreuze, sogar den „Pour le merite“.
„Was“, fragte Ernst Peters junior sich, „war der wahre Grund für den deutschen Rassenhass?“ Er konnte es sich nicht erklären. Denn denjenigen Juden, die Christen geworden waren, gestanden die Verfolger - wie es ihm schien - Sonderrechte zu. Diese Leute beschimpfte kaum jemand trotz ihres Judenblutes. Es ging also gar nicht um die angebliche Schädlichkeit des jüdischen Erbgutes. Ging es vielleicht um die Befriedigung eines Hasses aus Neid?
Ernst spürte natürlich, dass eine gewisse niederträchtige Stimmung gelegentlich auch ihn befiel, die er jedoch schnell überwand und der er nicht erlaubte, ihn zu verderben.
Wann immer er andere nach dem wahren Grund der anhaltenden Verwünschungen fragte, gab es lediglich ein trotziges „Darum!“
Die ihm namentlich und von Angesicht als freundliche Mitbürger bekannten Juden sprachen wie alle, dachten wahrscheinlich nicht schlechter und nicht besser. Nur der üble Atem ihres Fastens war da, und das Faszinierende ihrer geistigen Wendigkeit. Deshalb? Das verstehe, wer will. Noch nie hatte er einen einzelnen Neubrandenburger im Gespräch unter vier Augen reden hören, man müsse die Heines oder die Rosensteins wegjagen. Im Gegenteil, jeder lobte sie für ihre Großzügigkeit. Was, um alles in der Welt, war des Pudels Kern? Ernst junior täuschte sich nicht. Es lag etwas nie Dagewesenes in der Luft. Der Führer allein konnte diese Stimmung nicht über die Städte legen. Auch der Geist von ein paar tausend Fanatikern, die nie irgendwelcher Argumente bedürfen, konnte nicht diesen undurchdringlichen, flirrenden Nebel machen. Gnadenlos wird es den Harmlosen an den Kragen gehen. Warum? Warum wirklich? Das war ihm ein Rätsel. Daran würde er sich niemals beteiligen. Deshalb würde er nie wieder nach Nürnberg
fahren, so schön und gastlich die Stadt ihm auch erschienen war und so beeindruckend diese Massenaufmärsche auch auf ihn gewirkt hatten. Viel lieber fuhr er auf den See und genoss die Stille und die Schönheit der Natur.
Am 9. November zerstörten SA Leute das Schuhgeschäft Wolff in der Treptower Straße.
Als Ernst junior das erfuhr, ging er, in tiefes Nachdenken versunken, in sein Zimmer. Er starrte auf das postkartengroße Foto seines Bruders Heinz und hielt mit ihm stumme Zwiesprache. „Niemals!“, schwor er sich. Wann immer, er wird dem Treiben ausweichen und den Lumpen die kalte Schulter zeigen.
„Aber reiße deinen Mund nicht zu weit auf!“, sagte er sich. Denn jäh fuhr ihm wieder die Angst um Tante Ilse in die Knochen.
Wenig später schickte Schlachter Gau seinen Lehrling und ließ Ernst mitteilen, es sei Dienst für den Abend angesetzt. Da war sie schon, die erste Gelegenheit, laut Nein zu sagen. Ernst jun. wunderte sich über die Intensität des Gefühls, dass eine neue Bosheit in die Welt gesetzt werden sollte. Oder war es mehr? Hatte er sie an den Schulungsabenden nicht reden gehört, man müsse den Juden „heimleuchten“. Dieser eindeutige Begriff kam ihm lebhaft in Erinnerung, als der kesse Lehrling vor ihm stand. „Sage deinem Meister, ich muss die Nachtfischerei leiten! Ich muss mich für heute entschuldigen!“
Der zum Oberscharführer beförderte Schlachter Gau wunderte sich sehr, dass einer seiner besten Männer ausgerechnet an einem für die Bewegung wichtigen Tag freiwillig zur Nacht arbeiten ging. Hatte der Kerl Peters denn keine Ehre im Leib?
Als Ernst gegen Abend hinausfuhr, am Steuer sitzend, und die Weite des dunkelnden Sees vor sich sah, atmete er tief durch. „Niemals!“, sagte er laut und spürte, dass da auch auf ihn ein Verhängnis zukam.
Er hatte den schweren Fehler begangen, die schwarze Uniform anzunehmen, eine zweite ähnliche Dummheit wird er unterlassen. Dein gutes Gewissen ist wertvoller als Lametta und höchstes Lob. Was half ihm der Gewinn der halben Welt, wenn ihn dieser Besitz
unglücklich machen würde? Da konnte er Heinz nicht verstehen, dass der immer noch mit Begeisterung Hitlers und seines Luftmarschall Görings Angriffe deutscher Sturzkampfbomber auf spanische Städte verteidigte. Diese furchtbar heulenden Ju 87 hatten ihre Bomben über wehrlose, schlafende Städter ausgeklinkt.
Sie könnten dem Falangistenführer Franco zwar zum Sieg verhelfen. Aber was, außer dem Ruf, Mörder zu sein, würden sie sonst noch dauerhaft erwerben?
In dieser Nacht brannten Ernsts Kameraden in Neubrandenburg die Synagoge nieder.
Obwohl sich der Feuerschein am Himmel widerspiegelte hatten er und seine Männer es nicht bemerkt, da sie in einer von hohen Buchen eingeschlossenen Bucht arbeiteten.
In dieser Nacht, einen Monat nach seinem sechsundzwanzigsten Geburtstag, brannten reichsweit zweihundertundfünfzig Synagogen.In London und Paris, sogar in New York hörten die Menschen den Schrei und sahen später entsetzt die heimlich aufgenommenen Bilder.

Bild Wikipedia, 1938 Synagoge zu München 

Einundneunzig deutsche Bürger jüdischen Glaubens wurden in dieser Nacht, vom 9. zum 10. November ermordet und ihr Blut verlangte nach Rache.
Doch der deutsche Alltag schien wie gewohnt seinen Fortgang zu nehmen.
Ernst wusste nun was er tun musste. Er würde versuchen sich zurückzuziehen von diesen Unmenschen. Hätte er sich seine ersten heimlichen Bedenken nur eher zu Herzen genommen.
Einmal hatte einer von der höheren SS-Charge die Katze aus dem Sack gelassen: “Was wir Ausbilder des Führernachwuchses wollen, ist ein modernes Staatswesen nach dem Muster der hellenischen Stadtstaaten. Fünf bis zehn Prozent der Bevölkerung, ihre beste Auslese soll herrschen, der Rest hat zu arbeiten und zu gehorchen! Innerhalb von zehn Jahren wird uns auf diese Weise möglich sein, Europa das Gesetz Adolf Hitlers zu diktieren und die wahre Völkergemeinschaft mit Deutschland als führender Ordnungsmacht an der Spitze aufzubauen... ihr Mitglieder der SS seid des Führers Elite!“

Diese Elite steckte nun Häuser an und verprügelte wehrlose Grauköpfe! Jeder Satz den er je zugunsten Hitlers gesprochen peinigte ihn. Wie hatte er sich je freiwillig unter den „Führereid“ stellen können? Wort für Wort des Gelübdes kam ihm in den verstörten Sinn: „Ich schwöre dir, Adolf Hitler, als Führer und Kanzler des Reiches Treue und Tapferkeit. Ich gelobe dir und den von dir bestimmten Vorgesetzten Gehorsam bis in den Tod, so wahr mir Gott helfe!“
Jawohl, er, Ernst Peters junior, war so töricht gewesen, diesen Eid des SS-Mannes auf sich zu nehmen, - doch er wird ihn brechen, gemäß seinem Gewissen, das für ihn über jedem Gelöbnis stehen wird, solange er atmet.
Der stete Aufstieg und der schnell vermehrte Reichtum kombiniert mit den Symptomen der ersten Stadien von Delirium tremens führte zunehmend zur Schlaflosigkeit des Großpächters Peters. Eines Nachts ging Ernst senior in den Stall und nestelte eine der langen Kuhketten ab, welche die Rinder auf der Viehweide trugen. Die schleppte er treppauf, treppab über die Metallschienen der Stufen.
Unsanft aus den Träumen gerissen, fuhren die im Hause wohnenden Mieter und seine eigene Frau hoch. Auch Sohn Ernst schüttelte den Kopf und wollte wissen, was das bedeuten solle.
„Wenn ick nich schlopen kann, bruken annern Lüd dat uk nich!“ ("Wenn ich nicht schlafen kann, brauchen andere Leute das auch nicht.")


Juni 39 und was danach kam

Ernst senior zog mit seiner Leibmannschaft in Richtung Volkshaus. Er krähte Kommandos und sie gehorchten. Peters verstummte allerdings, als aus der Großen Wollweberstraße plötzlich ein Leichenwagen einbog. Seine Männer nahmen ehrfürchtig die Mützen ab und blieben stehen. Ernst starrte einen Augenblick lang auf die schwarzen Decken und die rabenschwarzen Federbüsche am Zaumzeug der Rappen. Im Trauergefolge sah er Franz Meltz. Ihm schien, als hätte er das runzlige Gesicht gesucht. Der kleine Mann mit dem großen schwarzen Zylinder schaute ihn durchdringend an. Es war, als wollte der Mann Ernst erneut warnen. Ernst spürte,dass sich eine kalte Hand auf sein Herz legte. Nur selten war er abergläubisch. Doch diesmal hatte das unerwartete Auftauchen des dunklen Gefolges etwas Drohendes. Unwillkürlich nickte Ernst Peter dem von ihm verdrängten Fischereipächter einen Gruß zu.
Ohne die Geste zu erwidern, schritt Meltz davon.
„Ach was!“, sagte Peters laut und schob seine düsteren Gedanken beiseite.
Kaum war der Zug aus seinem Blickfeld gewichen, fing er wieder an, sich wie gewohnt aufzuführen. Das war doch ganz normal. Man musste sich eben hochkämpfen, wenn es erforderlich war auch auf Kosten anderer. Und wenn man schließlich oben war, dann hatte man das Recht, es auch zu genießen.
Das ganze Volkshaus gehörte ihm und seinem Geld. Zu seiner Clique zählte neuerdings auch der kleine, stuckige Wilhelm Bartel, sein bester Aalfänger, der später in seine Rolle hineinsteigen sollte, auch Hermann Müller, ein absolutes Leichtgewicht von knapp 50 Kilogramm Haut und Knochen, der ständig von Asthmaanfällen geplagt wurde, sowie Jan Schlämann, der Philosoph und Fritz Biederstaedt waren an jenem Frühlingsabend dabei. Wobei sie zunächst noch unlustig nur an den Gläsern nippten. Schließlich jedoch tranken und sangen sie und betranken sich erheblich. Aus Versehen stieß der sonst kultivierte Jan Schlämann gegen einen Blumentopf, der polternd hinunterfiel. Er entschuldigte sich sofort und war, wenn auch vergeblich, bemüht, den Schaden zu reparieren. Aufgeschreckt vom Krach erschien der Gastwirt Max Reimer. Die unvermeidliche Zigarre zwischen den gelben Zähnen rollend schüttelte der drahtige, nicht sehr große Mann den kahlen Kopf und fragte verärgert, ob das habe sein müssen. Wie von der Tarantel gestochen sprang Ernst senior in die Höhe. Er sei der Fischermeister Peters und könne Blumentöpfe herunterstoßen lassen, so viele und so lange es sein Herz begehre. Er hatte die Stirn gefaltet und die Rechte geballt. Die drückte er energisch auf den Gästetisch.
(Wenn er sich selbst als Momentaufnahme hätte sehen können, wäre ihm der Mund vor Ehrfurcht aufgegangen.) Jedes Wörtlein mit Nachdruck aussprechend, gab er eine Grundsatzerklärung ab: „Wenn miene Lüd sich up den See rümmerdriven wenn du noch mit dienen Mors int worme Bett liggen dest, denn dörben se uk eis nen lütten Bloomenpott doolschmieten." (" Wenn meine Leute sich auf dem See herumtreiben, zu einer Zeit wenn du noch mit deinem Hintern im Bett liegst, dann dürfen sie auch einen kleinen Blumentopf umschmeissen,")

„Das können sie tun! So viele und so oft wie sie wollen, bei sich zu Hause!“, entgegnete der Gastwirt scharf akzentuiert auf Hochdeutsch. Die Erwiderung kam prompt: „Dunnersdach un Friedach, weker betolt hier den Kromt, du orer ick?“ ("Donnerstag und Freitag, wer bezahlt hier den Kram, du oder ich?")  Mehr wollte der zigarrenpaffende Wirt nicht hören. Dann mögen sie tun und lassen, was sie für richtig hielten. Er wandte sich von der Szenerie ab.
Ernst senior, weil ihm der Gastwirt den Rücken zukehrte, meinte wahrscheinlich, er würde nicht für voll genommen. Aber er irrte sich. Solange jemand die Münzen tanzen lässt, wird er auch ernst genommen. Peters regte sich auf, verlangte von seinen Männern, sie sollten dem unverschämten Kerl auch noch die anderen Blumentöpfe hinterher schmeißen.
Fritz Biederstaedt erhob sich aus anderem Grund und riss dabei, infolge Verlustes seines Gleichgewichtsgefühls den linken Stellagenteil mit den rotleuchtenden, Pelargonien zu Boden. Das machte ein Heidenspektakel. Die Besucher des Hauses liefen zusammen. Ernst Peters freute sich. „Dat hesst du good mokt!“ ("Das hast  du gut gemacht."), lobte er seinen getreuen Fritz, der sich für sein Missgeschick schämte. Aber auf solchen Radau kam es Peters ja gerade an. Wie ein Mime im Theater wünschte er im vollen Rampenlicht und im Mittelpunkt der Ereignisse zu stehen. Bewundernd sollten sie zu ihm aufschauen. Seht Leute, so sieht ein Mann aus, der sich mit eigener Kraft aus dem Elend hochgezogen hat. Ich trage den größten Orden im Knopfloch. Auch wenn ihr blind seid. „So wat dat mokt!“ ("So wird das gemacht"), anerkannte er und ordnete an: „Fritz, riet den Rest uk noch dool!“ ("Fritz, reiss des Rest auch noch runter!") Der Rest bestand aus einer Topfgalerie, längst der Balustrade. Peters war seit seinen Tagen als Spieß und Rekrutenausbilder gewohnt, dass man ihm aufs Wort gehorchte. Darauf bestand er und bemerkte doch nicht mehr, dass sie ihn betrogen und nur so taten, als würden sie ihm zu Willen sein. Häufig hintergingen sie seine dämlichen Weisungen, die er oft schon eine Minute später nicht mehr zu wiederholen gewusst hätte.
Er glaubte, wenn er auf dem See geschrieen hätte: „Springt alle Mann över Buurd!“("... über Bord"), dann würden sie das auch tun.

„Die schönen Blumen!“, jammerte der zartfühlende, ebenfalls hochdeutsche Netzmacher Müller ehrlich bedauernd, als Ernst die braunen Töpfe von den Brettern fegte. „Ach wat! De Blomen vertroogen dat!“ ("Ach was, di Blumen vertragen das."), erwiderte der Pächter. Damit war für ihn das Thema Blumen erschöpfend behandelt. „So, nun wat no Usadel führt!“ ("So, nun fahren wir nach Usadel.")
Gewohnt, ihm wenigstens nicht laut zu widersprechen, nickten Bartel, Müller und Biederstaedt ihre Zustimmung mit verdecktem Spott. Insgeheim übereinstimmend erklärten sie ihn für übergeschnappt. Diesen Ausflug ins 15 Kilometer entfernte Restaurant würden sie verhüten. Peters würde die Idee vielleicht ohnehin schnell wieder vergessen. Sorgenvoll dachten sie an ihre Ehefrauen. Denn es war spät geworden. Doch Ernst Peters verlangte dröhnend: „Fritz, führ den BMW vör!“ Biederstaedt erschrak bei der Vorstellung, er solle die Männer kutschieren.
In diesem Zustand sollte er Auto fahren? „Man tau!“("Nur zu!"), raunzte der Alte. Fritz stolperte die Treppe herunter. Sein Schädel wog schwer und Nacht umfing ihn. Die Sterne am Himmelszelt umkreisten ihn eine Weile wie ein Feuerrad. Das überwand er mannhaft und machte sich auf den Weg zum Petersschen Gehöft. Ihm war elend zumute. Er fürchtete sich vor der Ehefrau des Pächters. Ihr in die Arme zu laufen wäre schrecklich. „Man tau, man tau!“, höhnte er. Dabei richtete er sich immer wieder auf. Da drüben, da drüben. Da drüben lag das Petershaus, in dem sie ihn schon erwartete. Anna Peters würde es ihm verbieten und ihm die Autoschlüssel entwenden. Wie sollte er sich dagegen wehren? Mit ziemlichem Unbehagen dachte er an die letzte Szene zurück. Die Arme in die Hüften gestemmt, hatte sie ihn abgekanzelt. „ De leve Gott hett uns den Verstand gäben, dat wi em gebruken, Fritz!“ ("Der liebe Gott hat uns den Verstand gegebn, damit wir ihn gebrauchen, Fritz!") Er hätte den Meister zurückzuhalten.
Fritz Biederstaedt kämpfte mit Büschen, Sträuchern und riesigen Baumstämmen, die da, wo er entlangtaumelte, nicht hingehörten. „Ne, Fru Meistern!“, rief er ein ums andere Mal. „Se ehren Mann kann man nich uphollen, de löppt as ‘n Pierd.“("Nein Frau Meisterin, ihren Mann kann man nicht aufhalten, der galoppiert wie ein Pferd.") Fritz klammerte sich krampfhaft, während er das Selbstgespräch führte, an einen im Walldickicht stehenden Baum. Seinen Meister mit einem Pferd zu vergleichen, machte ihn heiter. Unwillkürlich kam eine gewisse Erinnerung herauf. Fritz fiel ein, wie Ernst Peters senior seinen  Schimmel am Halfter durchs ganze Haus in Annas gute Stube geführt hatte. Trab, trab! Sie war aufgeschreckt von den lauten und ungewöhnlichen Geräuschen hereingekommen, hatte um die Ecke geschaut und laut und entsetzt aufgeschrieen. Herr im Himmel!
Fritz schüttelte sich vor Lachen. Mit ihm war die halbe Fischermannschaft zusammen gerannt. Und so hatten sie denn staunend und schadenfroh dagestanden an der Brüstung vor den weit geöffneten Verandafenstern und sich allesamt riesig gefreut, einen ausgewachsenen Gaul neben dem Klavier in der noblen Petersschen Wohnung zu sehen.
Pferdenarr Ernst hatte sich wieder einmal von einem Rosstäuscher den Weissen andrehen lassen. Gehorsam war der Vierbeiner die Stufen zur Veranda heraufgeklettert und seinem neuen Herrn getreu durch den Wintergarten bis ins Zimmer gefolgt. „Ick froch di Anna, is dat en Zossen?“ ("Ich frage dich Anna, ist das ein Zosse?" Zosse hatte sie seinen Schimmel geschimpft. Vor Schreck muss es ihr für ein paar Sekunden lang die Sprache verschlagen haben. Erstarrt wie Lots Frau war die energische Hausherrin mit hoch erhobenen Händen stehen geblieben. Mitten auf ihrem guten Teppich stand das riesige Tier und glotzte sie gleichgültig an, während ihr dickfelliger Ehemann ihrer Antwort harrte. „Nich, dat du mi den Prachtgaul wedder mies moken deest.“("Nicht, dass du mir diesen Prachtgaul wieder mies redest.") Er wünsche nur zu wissen, inwiefern sie Veranlassung sehe, ihm das schöne Ross nicht zu gönnen. Oder ob sie kurzsichtig sei. Ob sie diese Fesseln gesehen und diese Kruppe schon betatscht habe. Dabei drosch Ernst senior dem gewöhnlichen Zossen eins auf die hell schimmernden Hinterbacken, wobei der große Wallach zum Glück stille hielt, statt unwillig mit dem langen Schwanz zwischen den Notenblättern herumzufegen.
Fritz riss sich zusammen. Er kam wieder voran. Wasser rauschte, wie er es nie rauschen gehört. Er konnte und konnte es sich nicht erklären. Dann erhob er sich vom Boden und sah die bekannte Silhouette. Scheppernd lachte er auf. An der Vierrademühle war er angekommen. Fast richtig. Welch ein Trost.
Da es dauerte, sprachen die Männer im Volkshaus den klaren Getränken weiterhin kräftig zu. Kurz bevor der Gastwirt die Polizeistunde hätte anmahnen müssen, betraten neue Gäste den unteren Raum. Ein Herr Uniformierter und eine schöne Dame waren das, wie Herr Peters sehr wohl aus den Augenwinkeln bemerkte. War es sein allgemeiner Zustand oder reizte ihn das neue Publikum? Jedenfalls legte er sich plötzlich mit seinem Wadenmeister an, dass der ihn damals bestohlen hätte! Schlämann, der leicht zu beleidigen war, verwahrte sich vor dem unmotivierten Angriff. Das gehöre hier nicht her. Doch ein Wort gab das andere.
Schlämann wehrte sich noch gesittet. Es sei längst vergessen und Ernst senior möge bitte nicht in alten Wunden herumrühren.
Unbeherrscht fuhr der Pächter ihn an: „Wat wohr is, blivt wohr!“("Was wahr ist„das bleibt wahr!") "Ernst Peters juckt wull (wohl) dat Fell!“, erwiderte Jan Schlämann schroffer, als er wahrscheinlich beabsichtigte, und sagte auch: „Wenn der Herr wieder einmal Streit wünscht, bitte sehr.“ Hermann Müller rutschte unruhig auf dem Stuhl umher. Die Vorzeichen standen auf Sturm. Deshalb warf er ein: „Wir sind hier, um lustig zu sein.“ Sofort stimmte er mit seiner schwachen, asthmatischen Kehle ein Lied an. „Lustig ist das Zigeunerleben!“ Schiefer konnten die Töne kaum liegen. Müllers Gesang ertrank umgehend im Wortschwall des Wadenmeisters. „Du!“ presste Jan Schlämann schließlich heraus, obwohl er Peters sonst siezte, „Du drückst unsern Lohn, damit du hier den großen Krösus markieren kannst!“ Und Samstags nachmittags bewiese er ihnen seit Jahren immer nur dasselbe, nämlich, dass er nichts weiter als ein elender Kleinkrämer und Ausbeuter sei.
„Wat bün ick?“, empörte Ernst sen. sich.
„Ein Utbeuter! Jawoll!“ Unverantwortlich schmisse er zum Fenster raus, was sie ihm, mit diesen Händen, mühsam zusammengekratzt haben. Er selbst mache doch selten einen Finger krumm, außer um die schönen Talerchen einzufordern und um sie wieder zum Fenster hinauszuwerfen.
Peters sprang jäh in die Höhe. Er beugte sich. Man sah ihm an, dass es ihm in den Fäusten zuckte. Hass flackerte über sein Gesicht. Die Augen rollten. Vielleicht sah er vor sich, wie Schlämann vor Jahren seine Fische in den Oberbach zurückgeschüttet hatte. Der Skandale gab es viele. Netzmacher Müller fürchtete sich. Diesmal wollte es bitterer Ernst werden. Falls Schlämann auch nur sekundenlang die Nerven verlor, wenn er sich erheben sollte, dann war es passiert. „Jan! Nicht aufstehen, nicht aufstehen, Jan!“, bettelte Müller flüsternd dem neben ihm sitzenden, sehnigen Wadenmeister ins Ohr. „Um Gottes Willen!“ Der Wadenmeister jedoch überhörte Müllers viel zu schwache Bitte, weil Peters ihn reizte. „Worm!“, hatte Peters ihn genannt. Er, Jan Schlämann, ein Wurm von Fischerknecht? Das wagte der Nichtswisser, dieser Saufaus? Der Venus nicht von Mars unterscheiden konnte, geschweige denn Sirius von Alpha Centauris. Jetzt riss es ihn endgültig hoch. Er brüllte.
Aufgeregt erschien der zigarrerauchende Gastwirt und schielte herüber. Jeden Augenblick würden die Stühle fliegen. Soviel verstand er von der Psyche trunkener Männer, an denen alter Ärger fraß. Sich einzumischen wäre sinnlos, sie zur Vernunft zu bringen unmöglich, sie hinauszuwerfen, wäre ein Fehler. Das würde bedeuten, wichtige Kundschaft zu verlieren. Nichts zu sagen, ging auch nicht an. Es verprellte die anderen Gäste. Es war immer wieder dasselbe. Wahnsinnig könnte er werden in diesem Beruf.
Da richtete sich der enorm dürre und kleine Müller zwischen den Hünen auf. Er breitete seine schwachen Arme aus und legte den kernigen Recken je eine gespreizte Hand auf die Brust und hauchte: „Das hat er doch nicht so gemeint! Bitte setzt euch nieder.“ Er sagte nicht einmal, auf wen er sich bezog. Wie weiche Mutterhand glitt sein dürftiges Wort über die rauen Kerle. Verdutzt und aufmerksam schauten sie herunter auf den Kleinen, der in ihren Augen immer eine große Autorität gewesen war, weil er die Kunst des Netzschneidens wie kein zweiter beherrschte. Auch Wilhelm Bartel starrte auf den dünnen Mund und den bemerkenswert mageren Kopf des um Atem ringenden Mannes.
Wie ein Beschwörer wirkte der Netzmacher. Mit einer handvoll Silben brachte er die Hitzköpfe unerwartet zur Besinnung.
Gehorsam nahmen sie Platz. Die Gäste schauten hoch, weil die Ruhe fast noch mehr als der Lärm auffiel.
In diesem Augenblick, da die beiden hochverärgerten Fischersleute nach innen lauschten, meldete sich mit durchdringend quäkender Stimme der stadtbekannte SA-Müller zu Wort. Offensichtlich nicht völlig Herr seiner Sinne, äußerte er sich anmaßend. Laut und vernehmlich rollte es durch den Raum: „Pack schlägt sich! Pack verträgt sich!“
Seine Erklärung war sicherlich nur an die in ihrem reizenden, feuerroten Kleid dasitzende Dame gerichtet.
Doch törichterweise setzte der Mann seinen Kommentar über das Thema Ehrenmänner fort. Seine schöne Begleiterin bemühte sich, ihn zu bremsen. Zu spät. Ernst Peters große Ohren waren bereits überreizt. „Herr!“, brauste er hitzig auf und lehnte sich über das Geländer und schaute von der Empore wie ein Volksredner herunter. „Wer hier ein Ehrenmann ist und wer nicht, das weiß ein Heini aus Braunau nicht!“
Wie eine scharfe Lanzenspitze stand das Ausrufezeichen. Ungewollt kam so, der, wie jedes Schulkind wusste, in Braunau am Inn geborene Herr Reichskanzler Adolf Hitler ins Spiel.
SA Müller, mit seinem dicken Parteiabzeichen auf dem braunen Schlips unter dem exakten schwarzen Kragen, zuckte zusammen. Brüsk schoss er hoch, wiederholte entgeistert: „Heini aus Braunau? ... blab, blab... ist jetzt und hier persönlich... angegriffen worden...“ Er war sichtlich, wenn auch vergeblich, bemüht militärisch straff dazustehen.
Seiner Würde als Uniformierter unter den Zivilisten war er allemal gewiss. Giftig zischte er: „Alle Gäste haben das gehört, mein Herr! Ich nehme sie als Zeugen.“ Der Herr Fischereipächter Peters habe den Führer beleidigt.
An den verschiedenen Tischen entstand Bewegung. Man ging, oder traf Anstalten zum Aufbruch. Reimann rief: „Polizeistunde, meine verehrten Damen und Herren!“
SA-Müller räusperte sich oberlehrerhaft: „Herr Wirt, ich verlange Klarheit wegen Führerbeleidigung!“
„Na, na!“, beschwichtigte Schlämann den Wichtigtuer, „Du wast doch woll nich schlicht schlopen hem?“("Na, na, beschwichtigte Schlähmann, du wirst doch wohl nicht schlecht geschlafen haben.") Im Hintergrund lachte jemand mit heller Stimme. Türen klappten. Reimann wiegelte erneut ab. „Polizeistunde!“ Er machte die Geste höflicher Aufforderung, das Feld endlich zu räumen, und zwar friedlich. „Was soll das heißen, mein Herr?“, regte sich der SA-Mann auf. „Dat du nen groten Doesbüddel büst!“ ("Das du ein großer Dummkopf bist."), vollendete Ernst senior kurz und bündig. Da er überhaupt keinen Anlass sah, irgendein unter gegebenen Umständen daher gestolpertes Wort für voll zu nehmen, drehte er dem Menschen da unten den Rücken zu. Seine Söhne waren Elite-SSler! Was wollte der Luftikus von ihm? Jeglicher Ahnung bar, welche Missachtung er damit gegenüber der deutschen SA zum Ausdruck brachte, wandte Peters sich wieder den Getränken zu. Für die Wolke der Beklemmung, die auf dem Hause lastete, hatte er kein Gespür. Jeder Deutsche wusste allerdings, eine Führerbeleidigung hatte immer Folgen. Die Gestapo musste in jedem Fall unterrichtet werden.
Sogar Schlämann fühlte sich allmählich unbehaglich in seiner Haut. Er machte Zeichen, sie sollten den ungemütlichen Ort baldigst verlassen. „Soll die Polizei doch kommen.“, widersetzte sich Peters. Es war ihm anscheinend nicht klar, was er damit sagte. Auch SA-Müller rief nach der Polizei.
„Lot em doch!“("Lass ihn doch!") , trotzte der sonst so bedächtige Schlämann
„Lot em doch!“, krähte Peters. Allerdings irgendwo in der Tiefe ihrer Hinterstübchen dämmerte beiden Männern etwas. Was sie im Rausch sagten, würden sie nüchtern zu verantworten haben. Trotzig gegen dieses innere Lichtlein setzten sie sich nochmals hin, reichten einander die Hand demonstrativ und bekundeten, was sie anginge, ginge keinen anderen Heini irgendetwas an. Gar nichts.
Das wolle er doch mal sehen, pustete sich Jan Schlämann verwegen gegen die eigene, schwache Mahnung auf, ob gewisse Herren Dunsel um Mitternacht bei Windstärke zehn im kleinen schaukligen Kahn auf dem bewegten Tollensesee gelassen neben ihm sitzen könnten. Ob sie mit ihm in die Gesänge, die er bei größten Gefahren in die Welt hinausbrüllte, einstimmen könnten. Oder ob ihnen die Angst  um ihr bisschen Leben die Gurgel zuschnürte, wenn Urgewalten das tanzende Boot hoch auf den nächsten Wellenberg hinaufschmissen und dann wieder in sausender Fahrt hinabrissen ins tiefe Loch. Wahrscheinlich hatte dieser gestiefelte SA-Kater, obwohl er seit Jahrzehnten Neubrandenburger war, nicht einmal die Spur einer Ahnung, wie der höllisch tiefe, von Sturm und Orkan gepeitschte See sich darstellen kann, wenn einer sausenden Welle die nächste folgte, nachts, wenn die Macht der ungeheuren, weißschäumenden Brecher sich plötzlich steigerte und zum Kampf auf Tod und Leben herausforderte, eben weil dieser See dreißig Meter tief war und fast ozeanisch erregt sein konnte.
Hermann Müller und Wilhelm Bartel schauten einander an, sie zogen sich nach diesen peinlichen Prahlereien zurück. Das war eben ihr Beruf als Wellenreiter. Die beiden Meister hatten jedes Maß und jede Norm gebrochen. Augenwinkend mahnte Hermann Müller Jan Schlämann mitzukommen. Obwohl er nie einen Waffenrock getragen, wusste er, dass ein Uniformierter immer als der höherwertige Mensch galt.
Militärs mussten siegen oder sterben. Das war ihnen von Kriegstreibern eingebläut worden.

Fritz Biederstaedt indessen war nach einigen Umwegen doch noch in der Petersschen Garage angekommen. Er öffnete das Tor, fand auch den Autoschlüssel und stieg erleichtert ein. Auf ihn war Verlass. Als er sich auf den Fahrersitz hockte, verloren sich seine Gedanken.
Nach einer ungewissen Zeit schreckte er hoch. Er sah zunächst nichts, außer einem kreisrunden schwarzen Loch. Er war aufgeprallt. Den Autohimmel konnte er fühlen ebenso die heruntergekurbelte Fensterscheibe. Fritz schnupperte den Benzingeruch und erbebte. Im Dunkeln war er losgefahren und verunfallt. Lag im Straßengraben. In seiner Erinnerung sprangen ein paar Ortsnamen hin und her. Usadel, Klein Nemerow, Heidehof, Neubrandenburger Volkshaus. Er überlegte krampfhaft, kam jedoch zu keinem überzeugenden Ergebnis, außer der Befürchtung, dass er verbluten würde. Er vernahm Gebrüll von Kühen von einer fernen Viehkoppel her. Das Gewissen schlug ihn. Bei dem Versuch, den steinschweren Kopf anzuheben, um sich umzuschauen und zu tasten, wo sein Meister sich befand, fiel er wieder in Ohnmacht.
Nach langer Dunkelheit, sah er einen hellen Spalt, dann das Licht. „Biederstaedt! Fritz Biederstaedt!“, rief er nach einem Gedankenblitz, vor Freude erschrocken. „Alter Esel! In der Garage hast du geschlafen!“ Wie ein Kind lachte er auf. Es endete jedoch mit einem Krächzen, als er versuchte sich zu bewegen. Die Knochen! Mit Gewalt rückte Biederstaedt die Gelenke ein, um die Karosse zu verlassen.
Inge!
Er wird was erleben. Das war klar. Wieder einmal hatte sie vergeblich eine ganze Nacht hindurch auf ihn gewartet. Fritz weigerte sich vorläufig, die Konsequenzen auszudenken.
Frisch machen musst du dich, dachte er, und, irgendwo wird er ein paar Blumen aus einem Vorgarten klauen. An den Fingern seiner Hand konnte er nachrechnen, dass es Sonntag sein musste. Gute Inge. Schönste und Beste. Keine Sorge! Doch es war mehr Beschwichtigung seiner eigenen Sorgen.
Beim Hinuntergehen zum nahen Oberbach zog er Jacke und Hemd aus. Beides hängte er in das weiße Gerüst mit den blaublühenden Clematis. Einen Augenblick lang wollte die Vorfreude auf bislang Versäumtes Gutes in ihm aufkommen. Aber als Fritz sich über den Bollwerkbalken dem Wasser zuwandte, fuhr er jäh zurück. Der Gedanke und Wunsch, seine treue, liebe Frau müsse ihm noch einmal, ein allerletztes Mal, verzeihen, blieb ihm auf halbem Weg im dumpfen Summen und Sausen seines Kopfes stecken. Denn in dem sachte dahin fließenden blaugrün schimmernden Bach erblickte er eine widerliche Fratze. Die war verschrammt, geschwollen und schwarz. Ein blöder Kerl starrte ihn an, ein kantiges Landsknechtsgesicht mit einer riesigen Sattelnase. Solche derb heraus stoßenden Jochbeine hatte er noch nie gesehen. Die vollen Haare standen ihm zu Berge. Entsetzt griff er mit der Rechten ins Wasser und verwischte das Bild, das ihn erschütterte. Er stürzte das Nass über sich und rief pustend und prustend ein paar Male hintereinander. „Tun Dübel, Fritz Biederstaedt, wo kümmst du her?“ ("Zum Teufel, wo kommst du her?") Die ganze Wahrheit war dermaßen schrecklich, dass er vor ihr weglief.
Ernst Peters nahm zwei Tage später auf dem Hof dem Briefträger die Post ab. Einen der Briefe betrachtete er auffallend lange. Nachdem er ihn geöffnet hatte, verfinsterte sich sein graues Gesicht. Jäh äußerte der Pächter abfällig vor sich hinfluchend, ihn bestelle niemand irgendwo hin. Niemand! Biederstaedt schaute dem Davongehenden nach. Ernst senior schlug die Haustür hart ins Schloss.
Weiter fiel auf, dass der Wortgewaltige an den beiden folgenden Tagen sonderbar still und gedankenversunken über den Hof ging. Donnerstag früh kam Ernst Peters senior im neuen Oberhemd an. Er trug auch seine gute Hose und ging zu Fuß davon. Es musste also Schlimmes passiert sein. Der Ortsgruppenführer der NSDAP Herr N. hatte den Fischereipächter „in einer wichtigen persönlichen Angelegenheit“ zu sich beordert.
Bereits seit Tagen grübelnd, wie viel er verbrochen haben mochte, nagten an Vater Peters die geheimen Bedenken, er könnte seinen beiden Söhnen, vor allem seinem Heinz, Schaden zugefügt haben.
Das Flackern in seinem Innern wollte sich diesmal nicht unterdrücken lassen. Mancherlei Unbesonnenheiten standen in gewissem Zusammenhang. Ernst sah plötzlich ein, dass er sich in letzter Zeit im Rausch öfter unvorsichtig geäußert hatte. Vor allem das Bild von SA-Müller beschäftigte seinen Geist.
Er konnte es nicht leugnen, ihm war eine Beleidigung des Reichskanzlers Hitler unterlaufen. Auch wenn der geschniegelte und gescheitelte Kerl im Volkshaus ihn herausgefordert hatte und somit an dem Blödsinn schuld war. Alle möglichen Behauptungen könnten aufgestellt werden, an denen eventuell ein Körnchen Wahrheit hing. Am schlimmsten für Ernst Peters senior war die Befürchtung, dass er sich vielleicht nicht richtig verteidigen könnte. Es soll eine Menge Verhaftungen gegeben haben, weil einer bloß mal laut gedacht hatte.
Seine ganze Forschheit war wie weggeblasen. Ihm war zumute, als wäre ihm ein Stückchen seines Ichs abhanden gekommen. Selbst wenn er gewollt hätte, er sah sich außerstande, kräftig an die Bürotür des Ortsgewaltigen zu klopfen. Unmittelbar bevor er die Knöchel seiner Finger hob, sah Ernst Peters senior mit den Augen seines Sohnes Heinz, die Massenaufmärsche des Nürnberger Parteitages. Hunderttausende blitzende Stiefeln im Paradeschritt. Die Treuesten der Treuen defilierten an dem größten aller Führer vorbei, den zu verleumden er sich herausgenommen hatte.
Solche Allmacht provozierte niemand ungestraft! Der Würgegriff am Halse saß fest. Peters musste ein zweites Mal die Rechte heben, um anzuklopfen. Da saß, die Beine von sich gestreckt, von Kopf bis Fuß ein Flegel, der ehemalige Stellmachergeselle Willi B. hinter einem niedrigen Schreibtisch. „Ernst, kumm rin!“ ("Ernst, komm  herein!"), sagte der nicht mehr ganz junge Mann, schnarrend. Der Mensch erhob sich nicht, rückte sich nicht zurecht, reichte ihm nicht die Hand, sondern schob die Stirn in Falten. Er machte nur eine knapp einladende Geste, wies auf einen Stuhl. Ernst bebte. Gegeneinander laufende Gefühle rissen ihn hin und her. Zudem musterte ihn der Stellmachergeselle, als sei er, der Fischermeister Peters, ein Stück Rindvieh auf dem Markt. Er saß kaum, da kroch ihm dieser rohe Holzwurm auch schon ohne Umweg auf den Leib: „Wat hest du di dorbie dacht, Ernst Peters?“("Was Ernst Peters, hast du dir dabei gedacht?")
Intelligent war der Kerl nie gewesen, aber sich nun sehr seiner Macht bewusst. Die schwarze SS-Uniform hatte aus dem mickrigen Hungerkünstler einen stattlichen Mann gemacht. „Zu dir bin ich nicht bestellt worden“, dachte Ernst Peters sich wehrend, brachte es auch, unsicher, zum Ausdruck. Sie wussten voneinander, kannten sich aber eigentlich nicht. Persönliche Beziehungen hatte es zwischen ihnen nie geben können. Da lagen doch Welten zwischen ihnen. Die kalten Augen des anderen glitzerten. Wahrscheinlich ahnte der, was er dachte. Für einen dünkelhaften Plötzenfischer hielt er ihn, der sich immer noch als der Größere vorkam.
„Volksgenosse Peters“, sagte der SSler auf Hochdeutsch in offensichtlich gewollt furchteinflößendem Ton: „bei mir bist du ganz richtig! Ich vertrete den Ortsgruppenführer.“
„Mien Heinz is bi de Leibstandarte Adolf Hitler...“ ("Mein Heinz ist bei der Leibstandarte Adolf Hitler...") , begann Ernst vorbeugend seine Verteidigung. Es war der untaugliche Versuch,
jemanden zu beeindrucken, der sich nicht beeindrucken lassen wollte. Ernst biss sich, kaum dass er so hilflos angefangen, auf die Zunge. Was wollte er damit sagen? Dummes Zeug. Er hörte im Geiste schon, wie sein Gegenüber spotten würde: „Üm so schlimmer, Ernst, üm so veel schlimmer!“("Umso schlimmer, Ernst um soviel schlimmer!) Außerdem war es eine Frechheit, dass der Kerl ihn duzte. Dem schaute der kleine Blödmann, der er war, doch klar aus den Augen. Aber auch sein Zorn machte Ernst Peters nicht wirklich mutig. Er fragte schließlich bescheiden: „Wat is der Grund, wat wollt ihr von mir?“
Keine Antwort.
Ernst Peters kniff die Lider zusammen. Denn von dem goldgerahmten Bild starrten die scharfen Hitleraugen feindselig auf ihn herunter. In diesen Räumen hatte noch kein Besucher gewagt einen Bogen zu überspannen. Dem Stellmachergesellen war die Blickrichtung des ihm ausgelieferten Mannes nicht entgangen. Ruhig sagte er: „Ernst, du hesst di in de Brennessln set‘t!“("Ernst, du hast dich in die Brennnesseln gesetzt,")
Sich in der Öffentlichkeit mit SA-Müller anzulegen, sei mehr als eine Unbedachtheit gewesen.
Ob er nicht wüsste, dass SA-Müller in Berlin große Verwandtschaft hat. Jedenfalls sei ein Anruf aus dem Reichssicherheitshauptamt gekommen. Die Ortsgruppenführung NSDAP solle prüfen, ob ein Fall von Führerbeleidigung vorliege. Ernst dachte einen Augenblick lang, so spricht man nicht mit jemandem, der stürzen soll. Er musste sich allerdings erinnern, dass er sich beim Verlassen der Gaststätte noch einmal an den SA-Mann gewandt hatte. Wer weiß, was er alles im Nebel getan und gesagt hatte, das er nun in Klarheit wird zu verantworten haben. Er schluckte. Was könnte er denn noch gesagt haben? „Gesagt? Gesagt, Ernst, hast du, Hitler sei ein Heini! Aber du bist dem SA-Mann an die Wäsche gegangen, oder etwa nicht?“ Soviel wusste Peters noch, absichtlich war er dem Kerl nicht zu nahe gekommen. Vielleicht hatte er ihn unbeabsichtigt gerammt. Das war seine Art nicht, fremden Menschen den Schlips gerade zu rücken. Das hätte er sich nicht einmal, als er noch Spieß gewesen war, so ohne weiteres herausgenommen. Ernst Peters sagte das. Es klang glaubwürdig.

„De Kierl mökt sich vör sien Liebchen grot un ick kom dorför in Düwels Köck. Ne!“("Der Kerl machte sich vor seinem Liebchen wichtig und ich komme dafür in des Teufels Küche? Nee.") Weiter sei nichts gewesen. Das kenne man doch. Willi B. kratzte sich am Kinn. Er dachte angestrengt nach. Steckte seinen kleinen Finger ins Ohr und schüttelte ihn unverschämt lange: „Dat helpt allens nix, Ernst; lech di nich an mit de SA-Lüd.“ ("Lege dich nicht mit den SA-Leuten an!") Wenn er könnte, würde er ihm ja gerne aus der Patsche heraushelfen. Aber das sei nicht so leicht.
Er ließ Ernst senior eine Weile schmoren. Dann beugte er sich vor:
Am Dienstagabend fände ein Kameradschaftsabend der SS im ehemaligen Logenhaus statt. Peters begriff nicht, was der schwarze Stellmacher von ihm wollte.
„Dien Bestes, Ernst, dien Bestes!“ ("Dein Bestes, Ernst, dein Bestes.") und da zwinkerten sie plötzlich, die dümmlich wirkenden Augen seines Gegenüber. Er halte, ehrlich gesagt, die ganze Vollfressigkeit der SA-Kameraden für bekloppt. „Ick pörsönlich holl von den Müller gor nix. Wenn dat no mi güng, wür ick den Fatzke wägen dat grote Mul nen Lütten utwischen.“ ("Ich persönlich halte von dem Müller gar nichts. Wenn es nach mir ginge, würde ich den Fatzke wegen seiner großen Fresse eins auswischen und für bekloppt halten.")  Fischermeister Peters begriff gar nichts mehr. „Blot (bloß) keine Müssverständnisse, Ernst!“, schmunzelte der andere, jetzt offen und freundlich. „Wat is denn dien Bestes, Ernst?“ Er starrte auf den Mund des Fischermeisters und nickte erwartungsvoll.
„Rookool!“, entfuhr es dem Fischermunde. Räucheraale!
Aus den Augenwinkeln blitzte es Peters an: Na sühst du, Ernst, so einfach is dat. Es mache sich prima. Am Samstag käme aus der Zentralkanzlei ein direkt Unterstellter des Inspekteurs der SS-Reiterei. Der könnte, wenn er wollte und sich überzeugen ließe, die verfahrene Sache wieder ins rechte Lot rücken. Niemals aber dürfte er ein Sterbenswort verlauten lassen, welchen Weg er zur Behandlung der heiklen Angelegenheit zu begehen vorgeschlagen hatte. Obwohl er nun wieder frei atmete, ärgerte Ernst Peters sich auf dem Rückweg maßlos, dass sie ihn so überlisteten, Gratisaale zu spendieren. Die solle er, wenn er sie geräuchert habe, zu Herrn Willi B. bringen, nach Hause, sagte er zu Fritz Biederstaedt: „Betohlt hett hei schon!“ ("Bezahlt hat er schon!")

Fritz Biederstaedt zuckte und juckte es in der Seele. Es war nicht das erste Mal, dass Ernst senior etwas auszubügeln hatte. Wenn er nur dahinter käme, was der Alte diesmal wieder verbockt hatte. „Betohlen möt sind, Meister!“ ("Bezahlen muss sein, Meister!"), spöttelte der Exdiener Biederstaedt und rechnete sich indessen seinen Vorteil aus, dass er statt zwanzig, vierundzwanzig Aale in den Rauch des kleinen Ofens auf der Fischerinsel hängen könnte. Einen zur Probe, einen für die Flasche ‚Klaren’ und zwei für die Familie.

Nach dem Kameradschaftstreffen stand für den Berliner SS-Führer fest, wer solche auserlesenen Köstlichkeiten produzierte, der konnte nur ein guter Deutscher sein, und noch nie hätte seines Wissens ein guter Deutscher den Führer beleidigt.
Reichsweit herrschte Feindschaft zwischen der SA und der SS. Das war für Ernst senior gut. Der Berliner SSler winkte ab. Die Sache sei beigelegt. Da war niemals etwas gewesen, außer der krankhaften Einbildungskraft eines Möchtegerns. Er werde von der sehr erfolgreichen Untersuchung, einen kurzen Bericht schreiben. Herr Peters hätte nur zum Ausdruck bringen wollen, dass nicht jeder Heini den Führer aus Braunau beleidigen darf. Erledigt.
Ernst Peters ärgerte sich nicht lange. Ihm könnten sie nun erst recht den Buckel runterrutschen.
Aber er irrte gewaltig. Wäre er nicht der Vater dieser Prachtjungs gewesen, hätte ihn die ungewollte Beleidigung Hitlers möglicherweise die Freiheit gekostet. Ein scharfes Wort zur Unzeit reichte mitunter zur Einweisung in ein KZ aus. Zum Glück wussten seine beiden großen Söhne auch nicht alles von ihm. Zum Glück konnte niemand Gedanken lesen.

Noch klarer durchschaute sein alter Wadenmeister Schlämann das ganze Gehabe.
Doch nur auf dem großen See, wenn der Wind kräftig blies und die harten Wellen rauschten und niemand weiter zuhörte, dann ließ Schlämann sich manchmal gegenüber Fritz Biederstaedt über seine Ablehnung Hitlers aus. Schlämann lebte in der irrigen Annahme, der ehemalige Diener hasse wie er selbst den Nazizauber und überhaupt das ganze Überzackige. Es ginge den meisten Kerlen nur um die Weiber, lästerte der alternde Wadenmeister. Weshalb um alles in der Welt zwängten sich die dämlichen Bengel sonst in die eng anliegenden Jacken? Selbst die Breeches waren effektiv bloß ein Korsett. Als hätte ihnen das Leben weiter nichts zu bieten. Vielleicht ginge es den scharfen Burschen noch ein wenig um die Illusion von eigener Sicherheit. Was jedoch auf Platz Nummer Eins rangierte,
mache schließlich die ganze Menschheit blind vor ihrer düsteren Zukunft. Wie Wahnsinnige tanzten sie hinter ihrem höchsteigenen Henker her. „Wenn die Weiber“, schimpfte der lange Schlämann prophetisch, „das bunte Blech an der Heldenbrust“ nicht liebten, wären Krieg und Sieg vorüber, bevor alles begänne. Weil sie Gewisses nie genug von den auf ihren schlanken, hübschen Beinen stolzierenden jungen Damen bekommen konnten, setzten die blöden Hammel ihr Leben aufs Spiel.
Bloß die Herren SA-Müller und Co werden schlau genug sein, andere diesen Preis entrichten zu lassen. Selbst den Teufel in der Hölle werden sie am Schwanze packen lassen. Doch schließlich würde sie alle derselbe Leibhaftige holen, mit dem sie sich zu bösem Spiel eingelassen hatten.

Als Hitler seinen Krieg gegen Polen begann, wurde allen Mitgliedern der SS unter dem linken Arm die Blutgruppe eintätowiert. Das betraf auch die beiden älteren Petersöhne. Ernst junior, während er den Arm hochnehmen musste, spürte bei jedem Stich: Du hast einen Fehler gemacht. Der wird dir das Genick brechen. Die Eitelkeit hat dich geritten und das endet schlecht.

In einer Nacht auf dem See, äußerte er zu Fritz Biederstaedt, unter keinen Umständen würde er abwarten, bis er in einer der bewaffneten SS-Einheiten ins Feld einrücken müsste. Wer Gotteshäuser in Brand steckte und friedliche Menschen kaltblütig erschlug, der war zu allem fähig. Um der Gefahr zu entgehen, von solchen gottlosen Haufen assimiliert zu werden, melde er sich freiwillig zur Infanterie. Bloß nicht wie Heinz in einen dieser SS-Verbände gesteckt werden. „Ick verlot mi up di, dat du dat Muhl hölst!“ ("Ich verlasse mich darauf, dass du dein Maul hälst!")
„Ewer Ernst, glöwst du, dat ick nich dichthollen kann?“("Aber Ernst, glaubst du, dass ich nicht dichthalten kann?")
Doch gewogen hatte er seine Worte nicht. In seinem Herzen war die Ehrfurcht vor Adolf Hitler, wie Unkraut gewachsen.
Sie sprachen über Heinz.
Heinz mochte wohl immer noch gewisse Naziideale hegen, sagte Ernst junior vertrauensselig. Doch sicherlich nagten auch an ihm die ersten Zweifel. Jedenfalls wenn er auf Kurzurlaub käme, würde Heinz auffälligerweise nicht mehr darüber reden, sondern Unbekümmertheit vorspielen.
Für Ernst war die Vorstellung mit Hitlers Leibstandarte oder mit den gerade erst von Heinrich Himmler aufgestellten „Totenkopf-Standarten“ in den Krieg zu marschieren, unerträglich.
Die Wehrmacht nahm den Kriegsfreiwilligen Junior Ernst trotz seiner SS-Zugehörigkeit. Sie hätten ihn aber auch verweisen können, und er wäre in der falschen Ecke gelandet.
Die Kreisbauernschaft reklamierte ihn umgehend. Niemand außer ihm könne den großen Fischereibetrieb leiten.
Auch als die deutsche Wehrmacht in Frankreich einfiel, wurde Ernst junior nicht eingezogen. Er solle Fische fangen. So wandte sich sein Schicksal noch einmal zum Guten.
Unterscharführer Heinz Peters dagegen, Vaters Liebling, gehörte den Einheiten der deutschen Heeresgruppe C an, die ursprünglich zum Frontalangriff auf die von den Franzosen für unüberwindlich gehaltene Maginotlinie eingesetzt werden sollte. Die Heeresführung unter General Manstein erbat jedoch zusätzliche Unterstützung zur Ausführung seines berüchtigten „Sichelschnittes“. Hitler beorderte auf die Bitte Mansteins hin, mit „seiner“ Leibstandarte einen der schlagkräftigsten Truppenverbände an den nördlichen Rand der riesigen Festungsanlage.

Bild  Wikipedia. Manstein umging die im Ostteil Frankreichs liegende Maginotlinie, indem er von Luxemburg aus bis an den Ärmelkanal vorstieß.
Diese hochmotivierten, höchstausgerüsteten Kampfeinheiten durchstießen das Terrain im ersten Anlauf und stürmten mit Hochdruck in Richtung Dünkirchen vor. So gelangte Heinz Peters mit den Siegreichen bis kurz vor den Ärmelkanal. Da traf ihn an einem Sommersonnentag des Jahres 1940 die tödliche Kugel.

Der ahnungslose Vater hatte gerade eine Sondermeldung gehört und in seiner Begeisterung herausgeschrieen, nun hätten sie es den Franzosen und den Tommys aber gezeigt. „Hitler hat sie zusammengemäht!“ Am liebsten wäre er jungenhaft jubelnd über den Hof gerannt.
Da traf die furchtbare Nachricht ein.
Wochenlang ging der geschlagene Mann gebückt und stumm. Seinen Herzenssohn hatten sie niedergemäht.
Der Älteste und der Jüngste bedeuteten ihm zusammen nicht so viel wie dieser.
Anna Peters ließ sich tagelang nicht blicken.
Die Neubrandenburger Zeitung brachte in der düstersten Woche der Pächterfamilie am 13. Juni 1940 die schwarzumrandete Anzeige: Für Führer, Volk und Vaterland. In tiefster, aber stolzer Trauer. Deine Eltern, deine Brüder.
Tags darauf erhielt der Vater die ebenfalls schwarz gerandete Beileidskarte von Franz Meltz. Ernst setzte sich tief in Gedanken versunken auf einen Netzballen. Er beachtete die Männer nicht, die in dem Raum Seile zusammenspleißten. Biederstaedt fühlte etwas von der Trauer des Alten. Fritz musste sich daran erinnern, wie sie vor gar nicht langer Zeit gemeinsam und übermütig ins Volkshaus gezogen waren. An ihm zog das Bild vorbei, wie der kleine Mann Franz Meltz mit dem hohen schwarzen Zylinder hinter dem Leichenwagen herging. Da war noch Friede gewesen, aber in Franz Meltz schon jene düstere Vorahnung vorhanden, die Verlierer mitunter haben.
Vielleicht hatte der tieftraurige Pächter an dasselbe Bild zurückgedacht. Denn als er sich erhoben hatte, legte Peters seinem treuen Knecht Fritz die schwere Hand auf die Schulter und bekannte leise: „Dat har ick nich seggen dürft.“ Er wandte sich um, ging vor sich hinmurmelnd hinaus: „Dat har ick nich seggen dürft, dat et Krieg gäben möt!“("Das hätte ich nicht sagen dürfen, dass es Krieg geben muss.") Wie früher sein Widersacher Meltz ging er fortan oft hinter den schwarzen Wagen her.
Somit erforderten die Umstände weiterhin die Anwesenheit des jungen Meisters daheim. Während dessen Kameraden im Osten vorwärts gehetzt und verheizt wurden, durfte der junge Ernst, nun auch noch von immer mehr Kriegsgefangenen unterstützt, dem harmlosen Abenteuer Fischfang nachgehen.
All das Böse hatte er nicht gewollt. Nie und nimmer. Verflucht das Morden. Verdammt die Judenverfolgungen und die Waffengänge. Immer hatte er nur gehofft, dass Deutschland über alles in der Welt bleiben könnte. Schön und groß. Ein bisschen reich. Zuerst kamen die schnellen Siege auch auf Kreta und dem Balkan - wo er seinen Gesinnungsidioten Mussolini aus dessen Niederlagen heraushauen wollte, musste -  aus dem Überraschungseffekt heraus.

Doch urplötzlich und ohne Not griff Hitler Sowjetrussland an, obwohl er erst wenige Monate zuvor mit den Sowjets einen Nichtangriffspakt eingegangen war. Wieder war er erfolgreich. Seine Truppen stießen bis Moskau vor, weil er so den größten Landraub seit Jahrhunderten plante - auch weil er die Juden vom Erdball tilgen wollte. Hitlers "Wehrmacht" sollte den mörderischen Einheiten der SS nur den Weg ebnen.

Bild Wikipedia: blau der Herrschaftsbereich Nazideutschlands 1941-42

Dann überraschte General Winter die Deutschen an der Russlandfront.
Zum Trost verteilte Adolf der Schreckliche an die Überlebenden den „Gefrierfleischorden.“
Weder die Jahre 1942, noch 1943, brachten das ersehnte Ende des Krieges.
Im Sommer 1944 zog der Krieg unerwartet sogar die kleine romantisch gelegene Fischinsel auf dem Tollensesee in seinen Hexenkessel hinein. Fritz Biederstaedt hatte auf dem Barschberg seine Stellnetze ausgefahren, die zwar keine große Mengen, aber zuverlässig die wertvollen pfündigen Barsche einfingen. Deshalb übernachtete er da oben. Einmal, unmittelbar nach zwölf Uhr, krachte es neben seinem Bett. Fritz floh ins Freie und warf sich ins Gras. Das ist dein Tod! Eine Anzahl Bomben explodierten in seiner Nähe. Was wollten sie hier vernichten? Das armselige Domizil der Prozentfischer? Dazu hatten sie den langen, kostspieligen Ausflug nicht unternommen. Die angloamerikanischen Piloten hatten wahrscheinlich die Torpedoversuchsanstalt am anderen Seeende treffen wollen. Ihr Leitflugzeugführer musste die Karte von dem bis in die Höhe hinaufblinkenden Tollensesee seitenverkehrt auf seinen Knien gehalten haben. Offensichtlich hielt er den Schatten des Inselhauses für die militärische Anlage und gab deshalb Befehl an seine Begleiter, die vermeintliche Abschussbasis zu vernichten. Denn von Spezialisten der Neubrandenburger TVA wurden die Steuereinrichtungen der Torpedos auf Zuverlässigkeit getestet.
An manchen Tagen schossen die Marineoffiziere bis zu acht Stück in Richtung Nonnenhof, in zehn Kilometer Entfernung. Da fingen sie die noch nicht scharfen Waffen wieder auf und stellten sie definitiv ein. Die sollten über die Umwege Kiel und Le Havre, mittels deutscher U-Boote, britische Schiffe treffen.
Das alles half nicht. Der ausgewachsene Krieg kehrte wütend in das Nest zurück, in dem er geboren wurde.
Am fünfzehnten Oktober 1944 überrannten die Einheiten der dritten Belorussischen Front die Reichsgrenze bei Gumbinnen. Eine Woche danach fielen die Ruinen der ausgebomten Kaiserstadt
Aachen den Soldaten der ersten und der neunten amerikanischen Armee in die Hände. Zwischen der West- und der Ostfront lag zusammengepresst ein jammervoll demoliertes deutsches Heimatland.
Nicht nur das Oberkommando der Wehrmacht sah die Höllenpforten weit geöffnet. Die Herren Generale um Hitler und Keitel grübelten, wie sie den millionenfachen Männerverlust wettmachen könnten. Und so peitschten sie die Reserven aus den Hochschulen und Lazaretten zusammen, riefen die Hitlerjungen des Jahrganges achtundzwanzig komplett und teilweise den neunundzwanziger zur Hilfe. Auch die UK-(Unabkömmlichkeitsstellung) Stellung des immer noch jungen Ernst Peters wurde aufgehoben. Man beorderte ihn im November nach Süden an die inzwischen bis Budapest vorgerückte Front. Trotz seiner Infanterieuniform hatte er große Sorge, in russische Gefangenschaft zu geraten. Ein einziger dummer Zufall und man entdeckte die kleine Null unter der linken Achsel. Ernst rannte, wenn es ging, mehr als einmal um sein Leben in Richtung „Ami“ - Front. Kein Gedanke mehr an Glanz und Gloria ehemaliger großgermanischer Illusionen. Ein Hagel von MG Salven aus russischen Rohren streckte ihn nieder, er raffte sich auf - wie ein Wunder unverletzt- und schüttelte sieben Projektile aus dem untern Teil seines weiten neuen Wehrmachtsmantels.
Dass er letztlich den Amerikanern in die Arme lief, war sein Glück.
Jede Nacht träumte der Kriegsgefangene Ernst junior von daheim, währenddem er wochenlang hungernd und frierend auf nacktem Ackerboden kampierte. Ein „Hunne“ mehr unter so vielen Lebensunwerten, die nicht verdienten, verpflegt zu werden, wie nicht wenige Westalliiertenkommandeure allen Ernstes glaubten.
Dass die östlichen Machthaber ihre Gefangenen darben ließen, war wohl eher darauf zurück zu führen, dass alle Menschen des sowjetischen Imperiums bittere Not litten. Jedenfalls sagte Wilhelm Bartel das, der ehemalige, fleißige Aalfänger im Dienste der Petersfamilie.

Der nun fast dreißigjährige saß, fast zweitausend Kilometer vom Tollensesee entfernt, im Kriegsgefangenenlager Taganrog fest. Nach dem ungeheuren Desaster von Stalingrad, war er nur noch wenig mehr als eine Nummer.
Der Rest seines Wesens bestand, wie der Restteil seiner unglücklichen Kameraden, scheinbar nur aus Hunger.
Einmal, in seinem zweiten Gefangenschaftsjahr, wurde Fischer Bartel mit drei Kameraden abkommandiert, die für das Lager Taganrog bestimmten Brotmengen von der Großbäckerei abzuholen. Der erfahrene Wachhabende bemerkte natürlich die Differenz zwischen der am Tor der Brotfabrik entgegen genommenen Menge Brotlaibe und deren Anzahl beim Abladen an der Verpflegungsbaracke. Tschitirie, tschitirie. Ausgerechnet vier Brote fehlten. Eine furchtbare Lästerung folgte, ein viersilbiger, menschenverachtender Satz, der angeblich seit Katharina der Zweiten, in allen russisch sprechenden, bürgerlichen und sozialistischen Armeen gleichermaßen kursierte.
Wenn sie nicht vor seinen Augen jeder sofort ein ganzes Brot verzehrten, dann schieße er die vier Diebe über den Haufen. Wilhelm Bartel, der Einssechzigmann mit dem breiten Kreuz, nahm das Zweipfundbrot als Gnadengeschenk an und verschlang es, wie das erste, binnen weniger Minuten. Die andern drei Männer konnten ebenfalls wie die Wölfe fressen. Ob sie noch ein drittes Brot hinuntergeschluckt hätten?
Wilhelm berichtete, wie er in den Hochsommertagen des vorletzten Kriegsjahres auf einer trostlosen Baustelle Ziegelsteine schleppen musste.
Eine bissige Kasachin sei gerade ihre neue Aufpasserin geworden. Missgünstig sei sie gewesen, konnte wie ein Kerl fluchen. ‚Jihr Faschisten!’
Nicht ahnend, dass sie ihn verstehen konnte, riss Wilhelm Bartels Vordermann einen plumpen Witz auf ihre Kosten.
Das gab es hin und wieder, wenn der Galgenhumor sie packte. Sein Spott bezog sich auf ihren breiten Schoß und ihren übergroßen Busen.
Wilhelm konnte sein Grinsen geradeso verstecken. Sofort riss die Kasachin den Riemen ihrer “Spagin” von der Schulter herunter. Sie schwankte sekundenlang, ob sie schießen oder dem Beleidiger nur den Holzkolben ihrer Maschinenpistole um die Ohren schlagen sollte.
„Cherkommen!”
Ohne die Bürde abzusetzen, hielten beide Lastträger auf die beleidigte, wütende Bewacherin zu. „Jich värstehe Deitsch, du Schuft.” Sie hantierte noch mit der Waffe. Wilhelm zuckte nicht. Wenn sie schoss, dann war es eben aus mit diesem Hundeleben, das nun schon über anderthalb Jahre währte und dessen Ende nicht abzusehen war.
Aber sie schoss nicht, schlug nicht. Sie beruhigte sich wieder. Sie war keine Schönheit, aber sie war eine Frau. „Du hast deine Norm heite finfzig Prozente erfillt!”
Das hieß, der Beleidiger ginge an diesem Tag und vielleicht in den folgenden Tagen mit einer halben Portion Abendbrot zu Bett, auf die Pritsche. Das konnte der Tod sein, den sie über ihn verhängte.
Aber sie musste sich wehren.
Wilhelm taumelte. Mit schuldbewusst gesenktem Kopf und roten Ohren stand er unsicher wie ein lausiger Knirps da. Er wirkte noch kleiner, als er ohnehin war. Krampfhaft hielt er die Griffe der mit Steinen beladenen Trage. Inmitten des staubigen Bauplatzes übte sie die absolute Macht aus. In solcher Lage tut man nur, wozu man aufgefordert wird.
Mit ebenso rauer wie eiliger Stimme teilte sie dem überraschten Wilhelm Bartel mit, er erhalte eine Gutschrift über einhundertundfünfzig Prozent.
Wilhelms Kopf kam wieder höher.
Brüderlich vereint, wie sie seit Monaten gemeinsam Ziegelsteine schleppten, würden sie beide zusammen doch wieder über die übliche Tagesration von je einer Schüssel Kascha und vierhundert Gramm Brot verfügen. Das Überleben für die nächsten Nächte schien gesichert.
Wilhelm Bartel teilte auch an diesem Abend seine Ration in drei Teile. Ein Drittel tauschte er gegen Tabak, das zweite verzehrte er gleich. Das letzte Drittel nahm er zu sich, ehe er einschlief.
Der starke Machorkaqualm, den er gewohnheitsgemäß tief in sich saugte, übertäubte den Hunger.

Solche Lebensweise musste sich rächen. Starker Husten gesellte sich bald zur Erschöpfung.
Der Tag seines völligen Zusammenbruches stand vor der Tür. Im März ’45 war Fischer Bartel am Ende angelangt. Wilhelm sah plötzlich nichts, als das gähnende schwarze Loch. Kopfüber stürzte er da hinein. Aber die Körnchen der Sanduhr rannen weiter. Wie gern wäre er noch einmal hinausgefahren auf den schönen Tollensesee. Wie gern hätte er seine Frau Gertrud und Rita, die kleine Tochter, wieder gesehen, nach nunmehr zwei Jahren Gefangenschaft. Noch einmal, bevor er ausatmete, zogen die Bilder seines Schicksals in schneller Folge herauf.
Zu Zeiten des alten Ernst Peters waren ihm und seinem Kumpel gelungen zwei unbekümmerte Mädchen zu angeln. Er seufzte abgrundtief, denn das Abenteuer auf der Fischerinsel war schließlich Vergangenheit. Man musste jedoch immer wieder nach vorne denken, und da vorne war nur dieses Ungeheuer mit dem übel stinkenden, schwarzen Rachen.
Eins dieser Mädchen stach ihm, wie ihm schien, in den Arm. Für ihn ungezählte Tage später schlug Wilhelm Bartel wieder die Augen auf. Die Fieberträume wichen vor den Realitäten zurück.
Eine Ärztin! Ein schneeweißer Kittel. Die Dolmetscherin sagte, er bekäme noch eine Woche Urlaub im Lazarett. Aber ohne Machorka!
Den scharfen Vorwurf steckte er gelassen ein. Das hätten sie ihm nicht dolmetschen müssen. Denn die resolute, bebrillte Doktorin hatte seine rechte Hand ergriffen und in Höhe ihrer Augen gezerrt, sie gedreht und gewendet und dabei zornig auf seine gelbbraun eingebrannten Fingerkuppen verwiesen. Wilhelm krümmte sich zwar unter ihrem gestrengen Blick, doch er dachte: Du rede nur! Wenigstens ein Laster braucht der Mensch, um einen Grund zum Weiterleben zu haben. Sie schien zu ahnen, was er dachte. Das nahm sie ihm übel. Ihr langer Zeigefinger fuhr hart hin und her. In einem Ton, der verriet, wie gern sie ihm die Ohren lang ziehen würde, ließ sie ihm mitteilen: “Mit seiner Gesundheit spielt man nicht! Ja ihr Krieger! Alles kaputtmachen, das habt ihr schon gelernt, aber wie wäre es, wenn ihr etwas Besseres tun würdet?“
Am Entlassungstag stand - für ihn sehr verwunderlich - die blauäugige, ungeduldige Kasachin vor der Lazarettbaracke.
Es war ein warmer Frühlingsmorgen. Sie trug ihre braungraugrüne Wattejacke geöffnet. Wie immer stand sie mit der geschulterten ‘Spagin’, wie immer rauchend: “Dawei, dawei!”, drängte sie, als hätte sie es eilig, ihn wieder an die Arbeit zu treiben.
Warum war sie überhaupt da?
Ihm schien, dass sie aus den Augenwinkeln lächelte. Aber da hatte er sich wohl getäuscht. Verdeckter Hohn und Hass waren es, die ihn anfunkelten. Vielleicht war ihr Mann gefallen... durch jemanden wie ihn.
Sich selbst schnell in Bewegung setzen konnte Wilhelm wirklich nicht. Von wegen, dawei! Er ging langsam vor ihr her, etwas aufgepäppelt durch die Traubenzuckerspritzen. „Na lewo, … na prawo!” Wie ein orientalischer Sklave seiner Herrin gehorchte er ihr. Zornig geworden, wegen ihrer rüden Art, wünschte er ihr einen Fluch an den steifen Hals.
„Dawei, dawei!”
Blöde Ziege! Dich wollte ich nicht geschenkt haben!
Wilhelm schaute sich plötzlich um. Die Umgebung erschien ihm fremdartig. Wohin führte ihn die Aufseherin?
Wilhelm schnupperte Fisch- und Wassergeruch. Das erregte ihn. Als er dann die schwarzen und grünen Fangboote im nahen Hafen liegen sah, ging ihm das Herz auf. Er wandte sich zu ihr, studierte ihr breites, von einer blauen Dunstwolke umrahmtes Gesicht. Sie lächelte.
Jede Frau ist schön, wenn sie lächelt. “Hast du...?”
Sie nickte.

Die Augen wurden ihm feucht. “Du verfluchter Fritz!”, schimpfte sie, nur um ihre innere Bewegung und Rührung zu verstecken, die er besser spürte, als sie glaubte. „Chier wirrst du rabotten!”
Keine Steine mehr schleppen! Hinausfahren aufs Wasser! Fische fangen! Er sah die Heimat wieder! Wer Fische essen durfte, der kam auch wieder zu Kräften. Wie lieblich Tran doch duften konnte.
Mit Netzen aus Fäden so stark wie Bindfäden, wie ihm schien, fuhr er nun Tag um Tag aufs Asowsche Meer hinaus. “Otschen karascho!”
Im Asowschen Meer gab es mehr Fische als die kühnsten Planer ahnten. Wilhelm erfuhr, dass hier jährlich allein 85 000 t Feinfische, meist Zander, angelandet wurden. Eine schier unglaubliche Menge.
Noch hatte das sowjetische Politbüro ja nicht den weiteren Ausbau der Schwerindustrie im Bereich der Zuflüsse Don und Donez beschlossen, noch floss das Wasser reichlich und klar. Aber das Verhängnis drohte bereits. Die Entwürfe für die Entwicklung einer gigantischen Stahlproduktion gab es schon. Die Warner wurden beiseite geschoben. Sie mahnten, wenn zuviel Wasser der großen Ströme industriell verbraucht und als Dampf in die Luft gejagt würde, könnte es passieren, dass ein Umkehreffekt eintritt. Statt von Norden nach Süden Süßwasser ausfließen zu lassen, könnte das schwefelwasserstoffhaltige und deshalb giftige Wasser des Schwarzen Meeres durch die Meerenge von Kertsch eindringen und sämtlichen Fischen des Asowschen Wundermeeres den Garaus bereiten.
Die wenigen mutigen Kritiker sollten eines Tages leider Recht bekommen. An Stelle von Fischen befanden sich später in den Netzen nur Quallen.
Es nahte damit auch der Tag des Fehlurteils: Verfluchte Fischer! Ihr habt eure Pläne nicht erfüllt!
Aber dies traf erst später ein.
Die Taganroger Kollegen erkannten auf den ersten Blick, dass ihnen ein Mann half, der sein Fach verstand. Blitzschnell vermochte der untersetzte Deutsche mit einer selbst geschnitzten Stricknadel die während des Fangvorganges zerrissenen Netze fehlerfrei auszubessern.
Es ist nicht einfach sich im Maschenwirrwarr klafterweise zerfledderter Netzflächen zurechtzufinden. Da war von Wilhelms Hand weder eine Masche dazugemogelt noch eine unterschlagen worden. Das ist wichtig, weil solche Fehler sich fortsetzen und somit auf der Netzfläche Spannungen entstehen können, die seine Fangfähigkeit beeinträchtigen. Sie staunten über sein Arbeitstempo, wenn er neue Stellnetze anfertigte.
Bereits zu Ernst Peters Zeiten war Wilhelm Bartel stets der schnellste Anschläger gewesen. Ihm rannen die Maschen durch die Linke, als wäre sie handgerecht für ihn angefertigt. Mit der Rechten traf seine Stricknadel mit hundertprozentiger Sicherheit das erste Loch unter dem Fadenkreuz. Wilhelm lachte selten oder nie laut, sondern schmunzelte nur, wenn er sich freute. Bloß seine kräftigen Lippen wölbten sich dann.
So auch an jenem denkwürdigen 8. Mai 1945.
Ja, er war in der Seele froh, dass es wieder den guten alten Frieden gab. Frieden! Alles musste sich nun von Grund auf zum Guten ändern. Weihnachten würde er vielleicht wieder daheim sein.
Er stellte sich die Heimat herrlich vor. Er hatte sie zwei lange Jahre nicht mehr gesehen, - nur im Traum manchmal.
Neubrandenburg war jedoch, wie tausende andere schöne, deutsche Städte, in diesen beiden Jahren, in eine Trümmerwüste verwandelt worden.

In den Tagen der Siegesfeiern stahl er den in Alkoholorgien Schwelgenden zwei stattliche Zander. Wilhelm schmuggelte sie dreist aus dem Hafengelände. Er besaß, seitdem er fischen ging, einen Propusk, der ihm das erleichterte. Der kleine Ausweis gab ihm gewisse Bewegungsfreiheit.
Einen Fisch wollte er der Ärztin schenken, die ihm das Leben gerettet, den anderen hatte er der Kasachin zugedacht. Allerdings, wenn sie ihn schnappten, dann konnten ihm seine neuen Vorgesetzten das als Verbrechen ankreiden. Möglicherweise stand auf solchen Diebstahl der Hinauswurf aus der Fangbrigade. Dann wäre es aus mit den Vergünstigungen. Dessen war er sich wohl bewusst. Wenn sie zornig sein wollten, kannten sie kein Pardon. Hunger herrschte trotz des Sieges überall in der zerstörten Sowjetunion und das würde, nach Lage der Dinge, noch jahrelang so sein. Denn die Bauern und Ernährer hatte der Moloch Krieg ausgetilgt. Jedes Fischlein wurde streng ‚bewirtschaftet’.
Beide Edelfische versteckte er deshalb an sicherer Stelle. Wütend, als Wilhelm sie endlich gefunden hatte, fuhr ihn die Kasachin an. Er sei ein Hundesohn. Sie wüsste sowieso nicht, wo die Ärztin wohne und für sich selbst nehme sie nichts an.
Das sieht euch Fritzen ähnlich, Leute bestechen! Aber die Kinder verhungern.
Wenn er das je wiederholte, dann lasse sie ihm sämtliche Knochen brechen.
Wilhelms hageres Gesicht zuckte. Gewiss spielte sie ihm ihren Zorn nur vor. Sie würde annehmen!
Wilhelm spionierte ihr nach. Sie akzeptierte tatsächlich!
Je rechts und links unter dem Arm trug sie ihre kostbare Last. Das konnte für ihn nur gut sein. Hart die langen schwarzen Soldatenstiefel aufsetzend wirbelte sie Staub auf. Wilhelm beobachtete, wie seine Kasachin eins der Kinder auf der Straße packte und ihm mit eckigen Bewegungen einen der beiden Fische gab. Seinen mühsam geklauten Zander! Diesen Wunderfisch, der gut zubereitet und frisch verzehrt selbst Schwerkranke wieder auf die Beine bringen konnte. Als wäre der Teufel hinter ihm her, rannte das Kind mit dem Geschenk des Himmels davon. Es hielt geradewegs auf ihn zu. Verlegen kratzte Wilhelm Bartel den kahlgeschorenen Kopf. Er stand verdeckt und schaute. Irrtum ausgeschlossen. Es war ‚seine’ “Prawda”, in die er den Zander eingewickelt hatte. Das aus dem Deckblatt herausgerissene Viereck hatte ihm als Zigarettenpapier gedient. Weder die “Iswestija” noch die Gewerkschaftszeitung “Trud” eigneten sich so gut zum Papirossadrehen wie Stalins “Prawda”.
Vielleicht war der von ihr weitergeschenkte Fisch der, den sie der Ärztin bringen sollte. Neugierig geworden blieb Wilhelm ihr mit sicherem Abstand auf den Fersen. Sie hielt einige Male Leute an und sprach mit ihnen.
Der Weg, den sie entweder für ihn oder für sich selbst ging, war weit. Vor einem grünen Holzhaus blieb sie stehen. Ein Hund schlug an, eine alte Frau erschien. Anscheinend verstand die Babuschka nicht, dann jedoch bedankte sie sich mit Verneigungen, die nicht aufhören wollten. Die Kasachin wandte sich um.
Wihelm drückte sich in ein Gebüsch. Sein Herz klopfte stark, als sie dicht an ihm vorbeiging. Ihr Gesicht war gerötet, ihre dichten Augenbrauen gaben ihr einen überaus gewinnenden Ausdruck.
Er war klug genug sie nicht anzusprechen.
Die Kasachin sah er nie wieder.
Aus unerfindlichen Gründen wurde Wilhelm im Herbst ’45 gegen Ende der Fangsaison versetzt. Es war aus mit den lebensrettenden Zusatzmahlzeiten. Die Schwere der neuen Arbeit und der blaue Dunst warfen ihn bereits drei Monate später erneut auf die Bretter. Statt im Heimatzug befand er sich nun auf dem Weg in die Hölle. Niemand brachte ihm Fische. Es gab auch keine Traubenzuckerrationen mehr.
Wieder im Lazarett, siechte er dahin, statt sich zu erholen. Eine andere Ärztin behandelte ihn. Dysenterie dritten Grades wurde diagnostiziert. Über sechsunddreißig endlose Monate der Kriegsgefangenschaft lagen nun hinter ihm. Ein Sichtvermerk bezeichnete ihn als Todeskandidaten.
Das Kopfschütteln der sowjetischen Lagerärzte nahm kein Ende. Von den 100 000 deutschen Soldaten, die im Stalingrader Raum kapitulierten, waren zu diesem Zeitpunkt bereits weit über 50000 verstorben, die meisten verhungert. Eine Untersuchungskommission Moskauer Ärzte beriet sich mit den gefangenen deutschen Kollegen.
Einige wiesen bereits früher, aber vergeblich darauf hin, dass nur die überwiegend an Pflanzenkost Gewöhnten mit Kascha und Brot existieren könnten, weil der Vegetarier Verdauungstrakt einen halben Meter länger ist, als der eines Mischkost verzehrenden Fleischfressers. Das war der über Tod und Leben entscheidende Unterschied. Die einen erschlossen die in der kargen Nahrung steckenden essentiellen Aminosäuren vollständig, die andern nicht.
Das Sterben muss aufhören! verlangten die russischen Generalärzte gemeinsam mit ihren deutschen Fachkollegen. Sie beschlossen, wenn auch für die meisten Gefangenen zu spät: Erstens: Sofortige Entlassung aller an Dysenterie der Stufe drei erkrankten.
Zweitens: In den Schlachthöfen des Landes müsse man endlich das Blut auffangen und es konservieren, verarbeiten und als Nahrungsmittel den Gefangenen zukommen lassen.
Dem ersten Beschlusspunkt verdankte Fischer Wilhelm die vorzeitige Heimkehr. Er gehörte zu jenen sechs Prozent von den im Stalingrader Territorium gefangen genommenen deutschen Soldaten, die schließlich heimkehren durften.
Das geschah ihm, auch dank der Freundlichkeit einer unbekannten Kasachin.

Ausgehebelt

Diesseits der Elbe leuchteten die roten Sowjetsterne. Jenseits des westlichen Elbufers begann man fleißig Englisch zu lernen.
Auch Ernst Peters jun. saß fest. Selbst wenn er aus der Kriegsgefangenschaft entlassen würde, an Heimkehr war nicht zu denken. Denn falls ihm nur ein einziger Neubrandenburger nicht gut gesonnen war, konnte dies schlimmste Folgen für ihn haben. Entschiedener als die anderen Siegermächte hielten die Sowjets die SSler für die Hauptschuldigen.
Ernst musste mit dem Heimweh leben. Wäre er frei gewesen und zurückgekommen, er hätte seine Heimatstadt nicht wieder erkannt.
Von den beiden südlichen Straßenzügen abgesehen, bestand die Neubrandenburger Innenstadt im Wesentlichen aus rauchgeschwärzten bizarren Trümmerwänden.

Auch die berühmte Marienkirche stand nun zerstört da.

Bild Wikipedia

Hunger und Typhus griffen um sich. Wohl dem der sich zusätzlich Nahrung verschaffen konnte.

Auch die Bezirks-Hebamme K. aus Prillwitz, bettelte bei Fritz Biederstaedt um einige Fische. Es war verboten, Fische unter der Hand zu verscherbeln. Er, der nun Schritt für Schritt an die Stelle des jungen Ernst Peters rücken sollte, hätte ihr ein paar Plieten schenken können. Nur, die große energische Dame, mit dem kleinen schwarzen Hut auf dem langen Kopf, glaubte sie sei etwas Besseres. Ihr herrisches Auftreten ärgerte ihn, er solle sich nicht so haben. Herrschsüchtige Weiber konnte Fritz auf den Tod nicht ausstehen. „Gnädige Frau!“ sagte er, „das kostet aber was!“ Sie verstand ihn falsch und schaute ihn unfreundlich an. Die harten Gesichtszüge der etwa gleichaltrigen Dame verrieten, dass sie von Männern wie ihn keine gute Meinung hegte. Als sie begriff, dass er meinte, was er sagte, händigte sie ihm das fast wertlose Nachkriegsgeld ohne Dank aus, drehte sich um und ging, dass die beiden Vogelfedern über ihren Ohren nur so wippten. “Alte Tunte!”, rief Biederstaedt ihr hinterher.
Das musste sie gehört haben. Denn sie hielt inne, während sie den kurzen Weg vom Holzsteg zum Land zurücklegte. Sie drehte sich zwar nicht um, doch die Art, wie sie stockte und weiterging und wie sie die Hacken aufsetzte, war der scharfe Ausdruck ihres Ärgers und ihrer Arroganz.
Das hatte sich im Dorf Wustrow zugetragen, wo er Ende Juli ’45 verbotenerweise ein paar Fische gegen Milch oder sogar gegen Butter eintauschte. Denn noch war die Rote Armee nicht allgegenwärtig und noch behandelten die Russen Übertretungen des Gesetzes nach Laune und eher großzügig. Ein ‚bisschen’ Klauen und ‚Schieben’ gehörten eben zur normalen Tagesordnung.
Einige Wochen später saß Fritz, nach getaner Arbeit nichtsahnend unter einer riesigen Weide im Gras und verzehrte sein Mittagsbrot, am Ufer des Nonnenbaches in Seenähe. Er liebte es gemütlich zu speisen. Die Lederschürze unter sich ausgebreitet, lag er mehr, als er saß, im Schatten. Er schaute, die noch gefüllte Bierflasche in der Hand, hinüber zur nahen Gaststätte und dem Wirtschaftshaus Nonnenhof. Viele seiner Erinnerungen hingen an dieser Umgebung.

Da kam sie plötzlich in sein Bild. Die resolute Bezirks-Hebamme stutzte kurz, als sie ihn liegen sah, stürzte, sich einen Ruck gebend, auf ihn zu, grüßte nicht, sondern herrschte ihn abermals an: „Setzen Sie mich schnell nach Prillwitz über!” Fritz wischte verdutzt Krümel von seinen Lippen, richtete sich halb auf und ärgerte sich zugleich, dass er ganz ähnlich einem Rekruten auf dem Kasernenhof, ihr beinahe gehorsam gewesen wäre.
Trotzig streckte er sich wieder der Länge nach hin. Da könne ja jeder kommen! Wer sie sei, dass sie sich herausnähme ihn herumzukommandieren?
Sie wäre Hebamme im Dienst. Da sei ihr Ausweis.
Das war viel.
Ihre Miene drückte ihren Unmut aus. Er wollte gerade fragen, ob sie auch ‘bitte’ sagen könne, als ein Fenster des großen Hauses des Pächters Leo Siebold aufgestoßen wurde. Ein ihm unbekanntes hübsches Gesicht zeigte sich, ein heller Wuschelkopf, eine etwa dreißigjährige Frau. Im Tonfall großen Zornes rief die Erregte herunter: ”Lassen Sie sich hier nie wieder blicken!”
Augenblicklich drehte sich die Gescholtene von Fritz ab. Die Hebamme legte genau so wie er sie bereits vor kurzem gesehen, den Kopf in den Nacken und ging mit eckigen Bewegungen auf die kleine Nonnenbrücke zu. Sie entschwand hinter dem Gestrüpp von Holunderbüschen und niedrigen Eschen. Fritz rieb seine Sattelnase, schurrte über seinen Bartansatz und räumte seine Schürze sowie die Kleinigkeiten beiseite. Ihm war der Appetit vergangen.
Wenige Tage später bestellte Bürgermeister Schwarzer, Fritz Biederstaedt zu sich ins Amt. Er machte sich mit Bedenken auf den Weg. Hatte ihn jemand angezeigt? Etwa wegen der paar Fische, die er verscheuert hatte? Elende Neider! Sieben fadenscheinige Ausreden legte er sich zurecht. Manchmal war es zum Verrücktwerden. Er könnte vielen helfen und durfte es nicht. Jedermann hungerte und die Furcht vor noch schlimmerem Hunger trieb junge, hübsche Mütter manchmal zum Äußersten, nämlich sich selbst als Tauschware anzubieten. Oberbürgermeister Schwarzer behelligte ihn erstaunlicherweise nicht. Schwarzer musterte Fritz Biederstaedt, der zu den wenigen Leuten gehörte, die gut beleibt gingen. Es schien, dass der Bürgermeister zögerte, ob er den vierzigjährigen Biederstaedt siezen oder duzen sollte. Schwarzer vermied zunächst beides. Er benötige eine Auskunft. Fritz kenne doch den Pächter des Anwesens Nonnenhof, Herrn Leo Siebold. Zur Person des Pächters gäbe es einige Fragen.
Und ob Fritz ihn kannte. Was er ihm, Siebold betreffend, sagen könne.
Nur das Beste! Das zu Nonnenhof gehörende Land werde gut bewirtschaftet, der Mensch Siebold sei umgänglich und zu ihm stets offen und freundlich gewesen. Ein engagierter Mann und Vogelliebhaber, ein Naturfreund, möglicherweise ein Liebhaber hübscher Gesichter.
Aber das interessierte den Bürgermeister nicht. „Gehörte der Mann der NSDAP an?”
„Nicht, dass ich wüsste!”, erwiderte Biederstaedt, schielte jedoch vorsichtig ob da eine Falle war. Er war betroffen. Aufpassen, Fritz! Ihre Mitgliedschaft wurde den Exnazis sehr verübelt und denen, die Umgang mit ihnen gepflegt hatten, traute man nicht. - Nein. Er sei sicher.
„Jemand klagt den Pächter Leo Siebold an, er sei Parteigenosse Hitlers gewesen und SS-Sonderführer. Was halten Sie davon? Sie waren doch näher mit ihm bekannt.”
„Nix holl ick dovon!“ ("Davon halte ich nichts!"), erwiderte Fritz. Lediglich bekannt wäre er mit Leo Siebold gewesen, nicht befreundet. Schwarzer winkte ab und Fritz strich in seiner Aufregung hörbar mit dem Daumen seiner Rechten über die rasierten Wangen. Woher er die Sicherheit nehme. Biederstaedt zuckte die Achseln. Das wäre ihm gewiss aufgefallen. Schließlich sei er während des ganzen Krieges hellwach gewesen. Seines Wissens hätte Herr Siebold sich nicht verstrickt, selten wären bei ihm SS-Leute zu Gast gewesen.
Da rief man den Oberbürgermeister ans Telefon im Nebenraum.
Fritz Biederstaedt schielte zum Tisch. Er sah da das Schreiben liegen welches Schwarzer während der Fragerei wiederholt zur Hand genommen hatte. Er wusste sogleich, das war es. Es lag offen da. Solange der Herr Oberbürgermeister telefonierte, durfte er sich erlauben, neugierig zu sein. Fritz hörte und bemerkte, dass es dauerte. Er legte den Kopf schief.
Prillwitz 7. September 1945, entzifferte er mühelos, dann mit Erstaunen die Anschrift der Hebamme K., Prillwitz.
Fritz überlegte nicht lange. Ein innerer Zwang, es ganz und gar zu erfahren, trieb ihn an. Er las schnell: „Bei meinen Besuchen in Nonnenhof fielen mir stets die SS-Besucher und die Parteileute auf, die dort verkehrten. Es besteht die Möglichkeit, dass Siebold in der heutigen Zeit und bei der abgelegenen Lage des Grundstückes SS- und Parteifreunde dort versteckt unterbringt. So hat er z.B. den in Neubrandenburg bekannten SS-Mann Busse bei sich aufgenommen...”
Der Stuhl im Nebenzimmer ruckte.
Fritz Biederstaedt setzte sich kerzengerade hin, spielte Desinteresse vor. Aber er war doch mehr als vorher aufgeregt. Die Dame K. ist wohl von allen guten Geistern verlassen. Fritz erinnerte sich allzugut der Frau mit dem Wuschelkopf, die sie des Hauses verwiesen hatte. Eifersucht kann eine Frau durchaus zu gefährlicher Verleumdung verleiten. Leo Siebold war ein gutaussehender, sportlicher Typ. Mit beeindruckend hoher Stirn, mit einer geraden langen Nase, dunkel, schlank, fast elegant.
So ein Biest! Biederstaedt dachte über die K. ein noch schlimmeres Wort. Der Siebold hat sie bestimmt aus gutem Grund abblitzen lassen. Möglicherweise ist sie verrückt vor Habgier. Oder alles zusammen, - eine Megäre. Dieses Wort hatte Biederstaedt in Berlin aufgeschnappt, bei Freifrau von Stein. Nie verwandte diese Dame von Welt vor der Dienerschaft, der er jahrelang angehörte, ein Schimpfwort. Aber es gab im vornehmen Haus nicht wenige weibliche Bedienstete, die einander nicht immer mit Koseworten bedachten. Oberbürgermeister Schwarzer kehrte zurück und schaute Fritz Biederstaedt nachdenklich an. Sein Blick wanderte heimlich vom Brief auf seinem Schreibtisch zu dem großflächigen, ein wenig verlegen wirkenden Fischergesicht. Schwarzer verzog seine Miene kaum merklich. Bürgermeister Schwarzer fragte wie obenhin: „Bist du nun der Chef bei den Fischern?”.
“Nee. Chef ist der alte Peters. Na ja, man mökt, wat man kann!”
Biederstaedt fiel, wenn er plauderte, fast immer ins Plattdeutsche. Wahrscheinlich war es dem Sozialisten Schwarzer zu wenig, ein belangsloses Gespräch zu führen. Tausend Sorgen plagten ihn.
Er besaß kein Rathaus, dafür aber viele Ruinen. Er sollte verwalten, aber die alten Verwaltungsbeamten waren geflohen oder vor dem Einmarsch der Roten Armee mit ihren Familien steinbeschwert ins Wasser des Tollensesees gesprungen. Er musste der zahlenmäßig ums Doppelte gewachsenen Stadt das tägliche Brot zur Verfügung stellen, obwohl die Russen die Getreidelasten auf den Speicherböden bereits halbiert hatten.
Seine beiden Sekretärinnen sollten eine Menge Post erledigen, jedoch bei Einbruch der Dunkelheit mussten sie das Schreiben einstellen, weil es weit und breit keine Glühlampen gab, es sei denn, man fand eine in einem einsturzgefährdeten Keller der niedergebrannten Bürgerhäuser.
Vielleicht wollte er fragen, ob Biederstaedt ihm ein paar Kilo Plötzen überlassen könnte, um ein begehrtes Tauschmittel zu erlangen.
„Also halten wir fest. Sie kennen Herrn Siebold persönlich und stellen ihm ein gutes Zeugnis aus.”
Fritz nickte und kratzte seine Wange. Schwarzer stellte noch ein paar Fragen und entließ Biederstaedt mit dem Wunsch, allezeit viele Fische zu fangen, denn der Hungertod als wahres Schreckgespenst kündigte bereits sein unerbittliches Regiment an. Die Thyphusfälle im Notlazarett ‚Fischerhaus’, Pfaffenstraße, nahmen rasch zu. Schwindsucht und Avitaminosen herrschten. Es stellte sich heraus, dass Siebold bereits verhaftet worden war. Fritz erfuhr es, als er in Wustrow nachfragte. Das Weib hatte es mit ihrem diffamierenden Brief erreicht. Sollte Siebold Nonnenhof nie wiedersehen? Wen die Russen abholten, der war verloren. Nun fehlte nur noch, dass fortan die Bezirks-Hebamme an Stelle des Domänenpächters in Nonnenhof schalten und walten wird.

Eine Woche später, als Fritz seine Netze unmittelbar vor Nonnenhof stellen wollte, schien ihm, dass der langbeinige Pächter Siebold gleichmütig auf der kleinen Anlegebrücke stand. Biederstaedt fuhr näher heran. Er glaubte seinen Augen nicht zu trauen. Es war Siebold. Der umgängliche Mann grüßte ihn. Fritz stellte den Motor ab. Er winkte zurück. Siebold ermutigte Fritz Biederstaedt näher zu kommen. Der Pächter Nonnenhofs schaute ihn eine Weile an. Während Biederstaedt den uralten Heuer mit einem Stakruder kurz vor dem Steg zum Halten brachte, mahnte er sich zur Zurückhaltung.
Auf beiden Seiten war das Bedürfnis vorhanden, Fragen zu stellen.
„Es gibt große Schweinehunde!”, bemerkte der etwa fünfzigjährige Siebold, „auch weibliche!“ Er krauste die kluge Stirn.
Biederstaedt nickte vorsichtig.
Ihn beunruhigte, dass die scharfe Hebamme die Anzeige nicht anonym verfasst hatte. Sie musste ihrer Sache sehr sicher gewesen sein. Wer weiß, welches Ränkespiel sie noch betrieb, das ihn, Biederstaedt, möglicherweise persönlich betraf.
Konnte sie wirklich glauben, dass es Menschen gibt, die Verräter belohnen?
„Kämmerer Schillo hat mich herausgehauen!”, ergänzte der Freigelassene und lächelte Biederstaedt an.
„Ich auch!”, wollte Biederstaedt hinzufügen, doch aus gewissen Bedenken unterließ er es. Domänenpächter Siebold nickte: „Jeder Punkt der Anklage hat sich als restlos unwahr erwiesen!”
“Gägen de Lögen is also doch een Krut wussen.” ("Gegen Lügen ist also doch ein Kraut gewachsen."), sagte Fritz. “Dat kümmt allens rut!” ("Es kommt alles heraus!"), bestätigte der Nonnenhofer und er lächelte geheimnisvoll.

Um viele Wohnungen verkleinert, war die kleine Provinzstadt Neubrandenburg durch den enormen Flüchtlingsstrom gewachsen. Unter den Menschen aus dem Osten befanden sich auch Binnenfischer, die nach neuen Möglichkeiten Ausschau hielten.
In die Fischerei neu aufgenommen wurde Fritz Milster, ein Pommernflüchtling. Auch er ein Mann, der den Heimatverlust nie verwand.
Der alte Ernst Peters kam nicht mehr zu sich. Für ihn war das Leben aus. Auch wenn seine Männer gut fingen und er anstelle wertlosen Alliertengeldes von den Verpflegungsoffizieren der Roten Armee Nahrungsmittel und Kleiderstoffe erhielt, für die man in jeder Tauschzentrale außer kitschigen Ölgemälden auch wertvolle oder Weltliteratur kistenweise erwerben konnte. Nachdem sein Heinz gefallen war und der Älteste nicht heimkehren durfte, wusste er nicht, für wen er noch schuften lassen sollte. (Denn den dritten Sohn obwohl er ihm ähnlich sah, konnte er, übrigens sehr zu Unrecht, wie alle Freunde der Familie wussten, nicht anerkennen.)
Die zuständigen Rotarmisten hatten schon lange bemerkt, wie es um ihn bestellt war. Sie hielten sich an Fritz Biederstaedt als den Natschalnik. Gern wollte er Chef sein. Es lag ihm sehr, im ungeordneten Geschehen mitzumischen.
Fritz fand nach der Übereinkunft, die er mit dem alten Ernst getroffen, in den ersten Nächten dieser, seiner persönlichen Machtübernahme vor Aufregung kaum richtigen Schlaf. Immer wieder schrak er in freudiger Erregung hoch und malte sich die mögliche Zukunft bunt aus. Aus dem dunklen Elend ging unerwartet sein Stern auf. Vierzig Jahre war er nun alt, einsichtiger geworden und doch noch jung genug, um seiner Frau Ingeborg ein schöneres Leben bieten zu können. Das wollte er, nach nicht wenigen schwerwiegenden Fehlern, die er begangen hatte.
Dann kam Egon, ein Frühheimkehrer, aus amerikanischer Gefangenschaft.
Fritz nahm den hochgewachsenen Mann auf, weil er Mitleid empfand. Das Hungergesicht beeindruckte ihn. Andererseits kam ihm der Kerl von Anfang an nicht geheuer vor. Es war jedoch nur ein vages Gefühl gewesen. Das Lachen und dieses Grinsen hatte er gleich als falsch empfunden, diese zusammengekniffenen Augen hatten ihm von Anfang an nicht gefallen. Aber sollte Egon doch Fische fangen. Falls er wirklich verschlagen und listig war, half ihm das im Beruf.
Der wird froh sein, einen nahrhaften Job gefunden zu haben und schon deshalb niemanden behelligen.

Diese Fehleinschätzung sollte sich für Fritz als verhängnisvoll erweisen. Im April 1946 ergab sich für ihn die erste Möglichkeit, den Berliner Schwarzmarkt zu testen. Die ATG (Autotransportgesellschaft) hatte für eine Berlinreise, von der er zufällig erfuhr, noch freie Transportkapazität zu vergeben. Herzklopfend bot Biederstaedt dem Fahrer zehn Pfund Fische an, für den Fall, dass er ihn und ein paar Kisten Fische mitnähme. Aber einen Rucksack voll Bleiplieten müsste auch der ATG-Chef abbekommen. Der würde vielleicht Krach schlagen, wenn er von der Schmuggelei erführe. Denn Fische, sowie alle Lebensmittel, wurden noch schärfer als zuvor bewirtschaftet. Andererseits reisten täglich zehntausende Großstädter mit Kleidung und geretteten Wertgegenständen von Süd nach Nord und mit Mohrrüben, Wruken, Kartoffeln und Zuckerrüben von Nord nach Süd. Sogar auf den Trittbrettern der Reichsbahnwagen dritter Klasse hockten sie wie Trauben an den Reben. Auch auf den Dächern der D-Züge saßen die Verwegenen dicht beieinander, solange es die Witterungsbedingungen zuließen.

Bild: Bundesarchiv

Fritz und seine Kollegen benötigten unbedingt Nägel, Anderthalb- oder Zweizöller. Die Fischkisten fielen auseinander. Für Nägel bekäme er außerdem in Rostock auch Catechu, ein Konservierungsmittel, das wie schwarzes Kolophonium aussah, mit dem unbedingt alljährlich die Hanf- und Baumwollnetze bonitiert werden müssen. Sonst verfaulte das Sommerzeug unter der Hand. Die Rückfahrt müsste er allerdings mit dem Zug antreten. Kein Problem, meinte Biederstaedt. Wenn er mehr als einen Zentner Nägel auftreiben könnte, dann würde er sie als Expressgut aufgeben. Aber diesen Schacher perfekt zu machen, traute er nur sich selbst zu.
Fritz bekam einen Schreck, als er endlich in Berlin angekommen, die brodelnde Menschenmasse im Zentrum der riesigen Ruinenstadt sah. Im Schatten der gespenstisch wirkenden, schwarzgefärbten Mauerreste wogten sie richtungslos hin und her. Offensichtlich warteten zahllose Frauen und Kinder nur auf eine Gelegenheit wie die, welche er zu bieten hatte. Sofort als der lahme von Holzgas
getriebene ehemalige Wehrmachts-LKW anhielt, näherten sich Gruppen neugieriger Halbstarker.

Hunger tut weh.
Acht Kisten Frischfische unter diesen Umständen feilzubieten, hätte einen Aufstand verursacht. Die ohnmächtige Wut in den Kindergesichtern bemerkend, gab der Fahrer Gas. Die Meute hätte sie ausgeraubt.
Die Polizei wäre ihm dazwischen gefahren. Sie mussten schnellstmöglich das Weite suchen. Auf dem Potsdamer Platz entdeckte Biederstaedt unschwer die Geübten, die hinter dem halbgeöffneten Mantel Zigaretten anpriesen.
Einem der Schieber bot Fritz die Bleiplieten im Block an. Sofort wurde er beiseite gezogen. Nägel? Keine Hürde! Fünf Kilo Fische ein Kilo Nägel. Kleine? Große! Top! Dass er unerfahren war, sahen die Großschacherer. Eröffnete sich ihnen eine Goldgrube? Wie oft er liefern könne und welche Mengen. Wo er herkomme. Er hätte voraussehen müssen, dass sie ihn nicht wieder aus den Augen ins Nichts entlassen würden. Biederstaedt hätte wissen müssen, dass alles Tun und Lassen Folgen hat. Leichtsinnig gab er bekannt, er komme vom Tollensesee. Dass ihm die Russen zumindest vorläufig nur wenig Spielraum ließen, interessierte die Spekulanten wenig. Wo ein Wille sei, fände sich der Weg. „Weißt Du nicht, dass Hunger weh tut?“ Sie schleppten ihn quer durch die Stadt, um ihn mit ihrem Großhändler bekannt zu machen. Er wurde als Herr über zwanzig Quadratkilometer Fischgewässer vorgestellt. Fritz bekam die Nägel und freute sich offenherzig wie ein Kind. Er war naiv genug zu glauben, sie würden ihn bewundern. Das Gefühl, einen schwerwiegenden Fehler begangen zu haben, wiegelte er ab. Da sich sein LKW- Fahrer auf einer anderen Ganoventour befand, halfen ihm seine neuen Freunde zur nächstgelegenen Station und das war Bahnhof Zoo. Im Vertrauen auf die Bahnbeamten gab er das wertvolle Expressgut auf. In der Auskunft erfuhr er von einem gleichgültigen uralten Beamten, dass sein Personenzug ab Stettiner Bahnhof ausgefallen sei und der nächste D-Zug zwölf Stunden Verspätung habe. Das grobe, mürrische Gesicht des Mannes ging ihm nicht aus dem Sinn. Meine Güte, kann man sich selbst hassen?

Fritz las, während er hungrig umherschlenderte: „Heiße Brühe“, ging der freundlichen Einladung folgend in den dunklen Wartesaal. Er bestellte und schlürfte sie in sich. Gedankenlos sah er die Fettaugen auf dem grünen Wasser schwimmen, sah um sich das Elend in den Gesichtszügen unendlich vieler grauer Menschen, sah in jener Nacht des Wartens immer wieder eine ungeheuer dicke, noch junge Schieberin inmitten der schweigenden Hungernden. Sie thronte in ihrem schwarzen Wollmantel auf einem Haufen gefüllter Kartoffelsäcke. Wie das Plusterkleid einer brütenden Henne bedeckte ihr Gewand den Besitz.
Fritz ließ sich von einem klapprigen Ober eine zweite Brühe bringen. Und wieder fragte er sich nicht, wie das Wunder der Fettaugen auf dem heißen Wasser in diesem ausgemergelten Berlin zustande gekommen sein mochte. Bis er zwei Frauen bemerkte, beide bedeckt mit einer breiten Stola aus Katzenfellen. Die Erleuchtung kam heftig wie ein Blitz. Er sprang sofort auf, schüttelte sich im ersten Schreck, dann stockte er, und lachte in sich hinein. Na und? Schließlich sind Katzen längst nicht die hässlichsten Viecher.
Schlafend und unverschämt schnarchend, hockte die junge Dicke immer noch da oben, wie eine böse Hexe auf einem Berg funkelnder Diamanten. Das mochten fünf oder sechs Zentner Kartoffeln sein. Und immer noch saß daneben das kleine blasse Mädchen mit ihrer Mutter. Reglos starrten beide mit stumpfen Mienen auf den bewachten Kartoffelberg.
Auf der Heimfahrt, eingekeilt zwischen Unmengen Reisenden stehend, erinnerte Fritz sich der müden Augen des blassen Mädchens im Wartesaal. Fritz Biederstaedt schwor sich, Mensch zu sein. Nie wieder würde er eine Mutter, wenn sie ihn anbettelte, von sich weisen.

Im Sommer ’46 weigerte der See sich plötzlich wieder, seinen Reichtum antasten zu lassen. Fritz bekam umgehend Ärger mit dem ersten Verpflegungsoffizier Kabanow. Der verstand ihn überhaupt nicht. Wenn man ernsthaft wolle, dann könne man jederzeit Fische fangen. Auch der Genosse Stalin habe im November 1942 seinen Armeekommandeuren empfohlen zu wählen. Entweder brächten sie an seine Stadt in die Wolga Nachschub, oder er ließe sie an die Wand stellen.
Kabanow tobte. Ob er sich deutlich genug ausgedrückt hätte? Fritz zuckte die Achseln. So schlimm werden sie doch nicht mit ihm umspringen. Schließlich war der Krieg zu Ende.
Kabanows Gesichtsausdruck verriet einen bevorstehenden Wutanfall.
Meine Güte! Kerl! Ich kann doch nicht zaubern. Mit Händen und Füßen versuchte Fritz zu erklären, warum man einen tiefen Rinnensee nicht kontinuierlich wie ein Mohrrübenbeet abernten kann. Fische sind hochsensible Geschöpfe. Es gibt Fischarten, die auf eine Veränderung des Luftdruckes von einem zehntel Millibar reagieren, obwohl sie in der Tiefe eines Sees eigentlich nichts vom „Draußen“ spüren dürften.
Das wünschte der Russe keineswegs zur Kenntnis nehmen zu wollen.
Jedes folgende Wort schrie er gesondert heraus: „Du musst dein Soll pinktlich erfillen!“ Unnachgiebig und radebrechend verlangte Kabanow die Belieferung seiner Einheiten. Vertragstreue zumindest innerhalb einer Woche! Seine Arbeiterfaust stieß geradlinig nach vorne, schlug jedes Gegenargument K.O. Die Sieger ließen sich von deutschen Faschisten nicht auf der Nase herumtanzen. Sowjets werden Feinde wie Feinde behandeln. Das möge er sich dick hinter die Ohren schreiben.
Fritz bemühte sich, wie er früh in schwierigen Situationen gelernt hatte, verbindlich zu sein und höflich zu lächeln. Der derbe Mann empfand es wahrscheinlich als widerliches Geziere und Getue, „Frauen lachen!“ Die rotumrandeten Augen des Russen verhießen nichts Gutes. Mit ihm spaße man nicht.
Fisch und Fisch und nochmals Fisch!
Das ging einige unerträglich lange, vom Fangpech belastete Wochen so. Mitte Juli stellte ihm Kabanow, der mittlerweile selbst Schrammen abbekommen haben mochte, ein Ultimatum. „Wenn du
bis Sonnabend nicht jeden Tag dreihundert Kilogramm Fische ablieferst, schieße ich dir Loch in deinen Kopf!“
Die alten Mitfischer Mildener und Neumann, die den bösartigen Auftritt des Russen miterlebten, runzelten die Stirn. Denn das Wetter sah nicht nach Fangverbesserung aus. Es war wie verhext.
Am Donnerstag kamen zum Überfluss zwei Besucher, deren Visagen Fritz in Berlin gesehen hatte. Die Männer vom ‚Kudamm‘ hielten schnurstracks auf ihn zu. Es war, als wollten sie sagen, gewartet haben wir lange genug, jetzt wollen wir Taten sehen. „Du hast uns Fische versprochen. Wir haben dir geholfen! Oder etwa nicht? Wo bleibt die Gegenleistung?“
Auf Platt erwidert Fritz, sie seien quitt.
„Mensch! Du hast uns dis Maul wässrig jemacht!“
„Du hast was unterschrieben!“
„Dat is nich wohr!“
„ sajen wir mal, du lüferst dat dreifache in eine Woche, oder wir fangen an, unjemütlich zu wern.“
„Mensch! Wir wolln doch bloß dein Bestet.“
Eine Sekunde lang kämpfte Fritz den Satz herunter: „Ick mok den Hund los.“ Stattdessen fluchte er: „Seid ihr des Teufels, Männer?“
„Ja!“ lautete die Antwort, „auch das. Du weißt doch, was wehtut!“
Die beiden hatten ihm gerade noch gefehlt. „Ich habe große Sorgen, kommt im September wieder, wenn es wieder fängt.“ Er hätte es bemerken müssen, dass sie die Abweisung scheinbar gelassen hinnahmen. Er hätte sich Gedanken machen müssen und sich gewisse Fragen stellen sollen. Vielleicht wäre ihm ein Licht aufgegangen, wenn er in diesem Zusammenhang auch an Egon gedacht hätte. Er wollte nicht ahnen, dass die beiden Halunken nicht gekommen waren, um sich mit leeren Worten abspeisen zu lassen. Sie hatten ihm vor allem ins Gedächtnis gerufen, dass es sie und ihre Interessen immer noch gab und dass sie mehr Macht besaßen, als er sich vorstellen konnte. Aber in dem Augenblick, als die beiden Männer scheinbar verständnisvoll nickten, betraten zwei energisch auf ihn zustürmende Russen das Fischereigelände. Sie nahmen seine Aufmerksamkeit voll in Anspruch. Plötzlich hatte er die Schieber aus den Augen verloren. Fritz plagten tausend unbeantwortbare Fragen. „Ja, wir fahren sofort auf den See!“ Aus Angst stieg er völlig unvorbereitet zu seinen Fängern in die Kähne. So wie er stand und ging. Froh, dass er sich die Blutsauger und die Russen auf diese Weise vom Halse halten konnte. In Schuhen, statt in Stiefeln befand er sich an Bord des Kutters. Ohne Schürze, ohne Verpflegung. Er bemerkte nicht, dass Egon sich mit Handschlag von den Berlinern verabschiedete. „Los Lüd, Motor anschmieten. Los! Wech, bloß wech hier!“103 Sie fingen so gut wie nichts mit dem Zugnetz. Auch der Freitag verging, und Fritz vermochte seinen Verbindlichkeiten nur zum Teil nachzukommen. Die Stellnetzfischer hatten sechzig Kilogramm gefangen. Doch das rettete ihn nicht. Mindestens das Zehnfache der Menge musste her. Er überraschte Kurt Willig, als der einen toten Hecht mit Steinen fütterte. Fritz sprang sofort an. Seine derbe, fliehende Stirn stieß nach vorne. „Glaubst du, dass mich dein Betrug vorm Galgen rettet? Kabanow schlägt mich tot.“ Er warf ihm ein paar ungeheure Schimpfworte an den Kopf...
Kabanow kam um die Ecke gebogen, als wäre er gerufen worden. Augenscheinlich war er betrunken.
Er nestelte an der Pistolentasche. Zitterte. Wo die Fische bleiben. Einen Tag gebe er ihm noch. „Morgen Towarischtschi!“ Fritz saß endgültig der Galgenvogel im Genick. Eine einzige Nacht blieb ihm. Er fuhr nach anstrengender Tagesarbeit mit auf den See hinaus. Sie legten den sichersten Zug, „de Wied“, vor Tollenseheim an. Alles vergeblich. Schon beim Aussetzen des Netzes zogen niedrighängende Sturmwolken auf. Noch lag zwar die Seehaut glatt wie ein Spiegel. Doch das schlechte Omen winkte schon.
Fritz hatte zwar den Wetterbericht gehört, aber nicht damit gerechnet, dass die Wetterfront so schnell heraufkam. Das fast dreihundert Meter lange Fangzeug trieb im See nach links, dann plötzlich ebenso rasant nach rechts, wie ein Fetzen Papier in einer winderfüllten Häuserschlucht.

Es gehörte zu den Geheimnissen, hinter welches kein Binnenfischer jemals gekommen war, warum die Wassermassen bereits mehrere Stunden vor einem Sturm in heftige Bewegung geraten. Ströme und Gegenströme toben sich dann aus. Es schien, zwei uneinige Titanenhände hätten ins Wasser der riesigen Wanne hineingegriffen und es machtvoll umhergewirbelt. Wenn das geschah, verlor jedes Zugnetz den Bodenkontakt und die verschreckten Fischschwärme suchten vermutlich das stillere Zentrum des Gewässers auf. Da waren sie sicher. Dahin war noch nie ein Netz gelangt. Da gab es keine Turbulenzen.
Das Wassertreiben mochten die Luftdruckunterschiede auf zehn Kilometer Seelänge verursachen oder die starken Temperaturgegensätze zwischen Oberflächenwasser und dem Seewasser des Hypolimnion. Gleichgültig was die physikalische Ursache sein mochte, die Tatsache der inneren Strömung an sich verdarb häufig die besten Fangabsichten. Fritz sah an diesem Schicksalstag die schnellen Richtungsänderungen an dem heranzuwindenden Drahtseil mit Schrecken. Es war aus. Das Wasser gluckste wie seine Seele. Außer, dass dieses seitliche Zeugtreiben den fischereilichen Misserfolg mehr als nur erahnen ließ, erschreckte Fritz zusätzlich die Angst, sein großes Netz könnte auf die scharfkantigen Steine des Nachbarzuges getrieben und zerrissen werden. Das wäre nicht zum ersten Mal so. Einmal hatten sie auf diese Weise ein Loch von über einhundert Meter Länge gerissen. Machtlos gegen die unsichtbar im Seeinnern tobenden Naturgewalten hielten die Fischer auf seinen Zuruf mit der Arbeit des Heranwindens inne. Fritz kapitulierte vor den Naturgewalten. Schnell mussten die Ankerleinen nun gelöst und dann das Garn aus dem wilden See geborgen werden, um größeren Schaden zu verhüten. Eine erste Windbö fegte dahin. Die sechs Wadenfischer rafften im Eiltempo ihr Geschirr zusammen. Achtzig Meter vom Schilfgürtel entfernt, trieben sie weiter, bis sich wahrscheinlich auf einer Flügelseite die Unterleine hinter einem auf dem Seeboden liegenden großen Stein verhakte. Ob das ein Glück- oder Unglücksfall war, musste sich noch zeigen. Es pfiff. Die Arbeitsboote schaukelten bereits bedenklich auf dem schwarzen Wasser. Im Westen lag nur noch ein sonderbarer heller Strich über dem Horizont. Er kündigte die eigentliche Gefahr an.
Biederstaedt, als siebenter, als freier Mann, wollte den Kutter schnell von der entfernten Ankerstelle holen. Er fuhr mit dem Beiboot hin. Musste gegen den stärker werdenden Wind und die Strömung ankämpfen. Er hätte heulen und toben können, doch das half ihm auch nicht weiter. Fisch musste her. Fisch! Aber wie?
Während er sich durch die Nacht schwer rudernd abmühte, haderte er wüst mit den Umständen und sich selbst. Denn er sah, was ihn erwartete: eine Zelle mit Gittern. Es sei denn, er ließ sie einen zweiten Zug anlegen. Er sah es deutlich. Es gab keine Wahl. Er musste unbedingt diesen zweiten Zug wagen und zwar auf der anderen, der windgeschützten, Seeseite. Aber wie sollte er das seinen Männern beibringen? Sie werden meutern. Dann musste er ihnen, zum ersten Mal in seinem Dasein als ihr Chef, ernsthaft Konsequenzen androhen. „Verrat! Verrat!“ schrie er sich aus. Dieses unbezähmbare Wogen in seinem Innern war unerträglich. Er musste es hinausbrüllen, ob sie ihn hörten oder nicht.
Mit bitterbösen Gedanken kam Biederstaedt am breiten, verankerten und deshalb auf den langen Wellen tanzenden Kutter an, rammte Holz auf Holz. Jäh vom Wunsch erfüllt am liebsten alles zerstören zu wollen, riss er die Lederschürze vom Leib. Schwang sich über und trat wütend gegen die kleine Tür, ging zornentbrannt in die Kabine, warf mit einem Fluch den Motor an, holte mit schlimmen Gefühlen die Halteleine mit dem Anker ein. „Nein!“, tobte er gegen sich selbst. Er wird nicht Hand an sich legen. Das wird kein Fritz Biederstaedt tun, solange Luft in ihm ist. Sich durchkämpfend, suchte er sich in der Schwärze der Nacht zu orientieren. Er sah nur einen dunklen Punkt in der Finsternis zur Rechten. Das mussten die anderen sein. Die Wellen schäumten. Dicke Regentropfen zerplatzten an der kleinen Sichtscheibe. Er tuckerte auf seine Männer zu.
Es wurde noch einmal ruhiger, vor dem eigentlichen Sturm, eine Minute lang. Der Augenblick des tiefen Einatmens war es. Fritz Biederstaedt kam nahe an sie heran und erkannte, dass sie das Zeug noch nicht restlos geborgen hatten. Ihn trieb die Verzweiflung zur Unvorsichtigkeit. Er schrie hinüber zu den schwarzen Schatten in den schwarzen, winzigen, schaukelnden Booten. Sie sollten sich beeilen, sie müssten noch einen zweiten Zug anlegen.
Wie ein Soldat mit Rang kam er sich vor, der seine Truppen besiegt sieht und wie von Sinnen verlangt, sie sollten vorwärts stürmen. Es war ihm gleichgültig, dass sie aufgebracht und zurückschreiend konterten, er sei wahnsinnig geworden. Fritz wischte sich den Angstschweiß von der Stirn. Er hätte schweigen müssen, solange sie das Garn hereinhaspelten. Der Wind trieb ihn schräg und schnell an ihnen vorbei. Die zunehmende Entfernung übertönend, fuhr er sie grober an, als er wollte. Das Letzte mochten sie nicht mehr gehört haben. Ob sie nicht wüssten, dass ihm das Messer an der Kehle stünde. Er gurgelte es wüst heraus. Nein, schrie er wiederholt sich selbst an und warf, mit der Handkurbel drehend, wieder den Motor an. Fritz bemerkte nicht, dass er sich bereits mitten im Gebiet der unterseeischen Findlingsbrocken von Kalbertoch befand. Der nächste Wellenberg konnte ihn machtvoll auf die Steine werfen. Dann war es nicht nur mit der Nachtfischerei aus. Er schaltete, indem er wütend den Vorwärtsgang einrückte. Sein Kutter kämpfte sich voran. Vielleicht hatten ihn nur wenige Meter von der Katastrophe getrennt.
Ungeschickt, steuerte er direkt auf die Männer zu. Wasser deckte seine Scheibe zu. Weiße Kämme wogten. Sie verfluchten ihn sicherlich. Da war er schon bei ihnen. Die Männer wirbelten jäh durcheinander. Denn die Kräfte der vorwärts schießenden Kuttermasse und der Widerstand der beiden zurücktreibenden Arbeitskähne bewirkten, dass die dünne Stevenleine zerriss, die sie hastig über den Kutterhaken geworfen. Dennoch hatte der heftige Ruck ausgereicht, die Kähne zu stoppen. Die Spitzenfischer drohten Fritz Biederstaedt wütend mit den Fäusten. In seiner Verwirrung machte er den Motor aus. Sein Manöver war mehr als ungeschickt gewesen. Pitschnass mussten sie geworden sein. Doch sie konnten die Ankerleinen einhängen und schließlich eiligst übersteigen. Fritz
kroch aus der Kabine hervor. Wenn er wenigstens gewartet hätte, bis sie alle hinter ihm auf der schwarzen Ducht Platz genommen, oder noch klüger, bis er sie aus der Windzone weg hinüber in den Windschatten gefahren hätte. Nein, noch bevor der erste Mann in die schützende Kabine flüchtete, kommandierte er herum: „Los Lued, de Storm luert nich, führn wi daohl un trecken noch Dörpen!“ ("Los Leute, der Sturm wartet nicht, fahren wir hinunter und ziehen noch Dörpen!")
Seine Stimme hatte sich selbständig gemacht, sein Tonfall war herab in Basstiefe gesunken. Zwingen konnte er sie nur schwerlich, aber den Fischern den Willen lassen schon gar nicht. Der Wind sauste. Sie umringten ihn, während er noch auf den morschen Schweffbrettern draußen stand. Diese Wand aus Ablehnung und Wut war beängstigend. Aber selbst wenn sie ihn in Stücke rissen. „Dörpen“ musste noch gezogen werden. In diesen Sekunden großen Schweigens nötigte Fritz sie, jeder für sich, zu entscheiden, ob sie ihm folgen sollten oder ob sie riskieren wollten, dass er sie wegen Befehlsverweigerung anzeigte. Sonst müssten sie ihn totschlagen und über Bord werfen. Die Zeiger der Uhren rückten auf die letzte Tagesstunde vor. Große, unwirklich helle Wolkenbatzen stürmten herüber. Sie mussten sich beeilen. Jetzt fehlte nur noch, dass der Motor nicht ansprang. Binnen weniger Augenblicke würde der volle Sturm losbrechen. Sie mussten unbedingt den Bereich von Alt Meyershof erreichen. Die Fischer zwängten sich und drängten an ihm vorbei unters Dach.
Der riesige Deutzmotor donnerte los. Fritz schaltete unüberhörbar. Breitbeinig stellte er sich vor das Steuer. „Du weißt selbst, dass es sinnlos ist!“ dröhnte der sonst besonnene Reiniger und klopfte die Wassertropfen von seiner Jacke. Als Letzter war er hereingekommen, nahm neben den anderen Männern in völliger Dunkelheit Platz. Er war ein Mann, der, wenn er nicht angesprochen wurde, selten den Mund auftat, immer hochdeutsch, immer freundlich. Umso erstaunter war Fritz, dass er ihm ins Ohr geschrieen hatte.
Das Schiff brach die Gewalt der meterhohen Wellen, indem es langsam und genau gegen die Windrichtung anfuhr. Das minderte auch die Gefahr für die im Schlepp befindlichen Arbeitsboote. Langsamer als im Schritttempo ging es vorwärts. Erst zweihundert Meter vor Rehser Ecken, nach einer knappen dreiviertel Fahrstunde, nahm die Kraft des aufgewühlten Wassers merklich ab. Plötzlich tauchten sie in den Windschatten, den das Steilufer und die hundertjährigen Buchenkronen boten. Eine weitere halbe Stunde später langten sie auf der Zughöhe von Dörpen an. Sie hatten Zeit genug gehabt, alles zu bedenken und der Höhepunkt vor der endgültigen Entscheidung war erreicht. Biederstaedt biss die Zähne zusammen, drosselte das Fahrtempo. Das war die Aufforderung: Ergebt euch!
Einer gehorchte. Kurt Willig, sein wahrer Freund. „Lued!“ ("Leute!") , rief Willig, aber nur dieses eine Wort. Stumm krochen die Männer einer nach dem anderen aus dem Dunkel hervor. Zuletzt Egon. Man hörte noch das gewaltige Rauschen, doch es war nicht unmöglich, den Zug anzulegen. Direkt unter dem Holz brachen die Höhen von Neuendorf jeden Sturm aus nordwestlichen Richtungen. Sie stiegen schließlich wortlos hinüber in die Kähne, nahmen die Pätschen, stießen sich vom Schleppboot ab, obwohl sie nur schwache Umrisse vom Schilfgürtel in zweihundert Metern Entfernung erkennen konnten.
Das Zeug trieb erstaunlicherweise wenig. Das Netz kam voller Fische und problemlos heran. „Mach’ dat man, Fritz!“, sagten sie, nachdem sie auf dem Fischereigehöft angekommen waren, in der Halbfinsternis die halbpfündigen Barsche und eine Menge Plötzen verwogen hatten und eine Batterie von vierzig gefüllten Fischkisten aufgestapelt dastand. Das war viel mehr, als ihre Fangschuld betrug. Sie hatten die Menge nach Arten sortiert und beim Schein einer kleinen Glühlampe verwogen, der letzten die sie durch Eintausch von zwei Kilo Aal hatten auftreiben können. Mildner und sogar Karl Neumann klopften Fritz Biederstaedt auf die Schulter, als sie sich verabschiedeten.
Die Russen lachten, als sie am Nachmittag ankamen und die Bescherung sahen. Unbekümmert darüber, dass die guten Fische in der Wärme des Tages ohne Eis dagestanden hatten, verluden sie
die gefüllten Kisten. Vielleicht ließen sie einen Teil der empfindlichen Ware noch einen weiteren Tag auf die Verarbeitung warten, das nahmen sie nicht so genau. Auch interessierte sie herzlich wenig, dass Fritz Biederstaedt auch weiterhin hätte Pech haben können. „Ti rebak, ti dolschen snatch. Karascho?“ - Gut. Du bist der Fischer!
Kabanow geizte nicht mit Lob und Prämien. Sechs Meter Anzugstoff warf er am folgenden Tag auf den Frühstückstisch. Seine grünlichen Augen leuchteten. Wenn er reichlich Fische verteilen konnte, sollten sich die Fänger mit ihm freuen dürfen. Er war doch kein Unmensch. Lediglich sein Glück fiel auf sie zurück, oder sein Unglück dreifach. Mehr war es nicht. Er stieß mit Biederstaedt, Willig und Mildener an. Druschba! Biederstaedt kniff die Lippen zusammen.
Ein unbekannter Mann schaute zur Tür herein, sah sich um und seufzte: „So sorgenlos wie ihr lebt, möchte ich es auch mal haben!“

Waldheim

Fritz zog den Fehlschluss, er hätte in Kabanow einen ständigen Freund gewonnen. Er glaubte allen Ernstes, es könne ihm nun nicht mehr viel passieren. Deshalb holte er heimlich aus dem Versteck des doppelstöckigen und maroden Inselhauses, endlich seine schöne Armeepistole heraus. In den letzten Kriegstagen hatte er das gefährliche Ding samt passender Munition auf der Straße gefunden. Mancherorts lagen damals herrenlose Waffen in Massen herum.
Wie oft hatte Fritz die griffige Waffe liebevoll in seiner Hand gewogen. Mit ihr war man Herr über Leben und Tod. Sie erschien ihm wertvoll wie Gold. Endlich konnte er sich leisten, mit einem bisschen Vorsicht seiner heimlichen Leidenschaft zu frönen und wildernd auf Jagd zu gehen.
Beim ersten Knall zuckte Fritz noch zusammen. Später sagte er sich selbst beruhigend, wer da im Nonnenhofer Bruch geschossen haben mochte, sei bei der Anzahl wildernder Russenoffiziere sowieso ungewiss. Ohnehin könnte er gar nicht gefasst werden, denn Boote hatten die Sowjets nicht. Außerdem würde ihm schlimmstenfalls schon eine gute Ausrede einfallen.
Rehe und sogar Wildschweine fielen ihm zum Opfer. Nicht dass er das Fleisch benötigte, sondern ihn stachelte der Genuss einer Illusion an. Welcher Triumph, mit einem Fingerdruck einen wehrhaften Keiler zur Strecke bringen zu können.
Fritz saß an seinem Unglückstag abends, wie in letzter Zeit schon häufiger, in der kleinen wohnlichen Küche und putzte hinter vorgezogenen Gardinen seinen Revolver. Inge ging zu Bett.
Da polterte es plötzlich, harte Geräusche. Fritz gelang es noch, die Waffe zu verstecken. Die Türen flogen krachend auf. Vier Russen mit den roten Armbinden der Armeepolizei umringten ihn. Vier Läufe von Maschinenpistolen starrten ihn an. Ein mongolisch aussehender Offizier drängte sich vor. Inge öffnete die Tür auf einen Spalt.
Sie schrie kurz und schrill auf.
Der kräftige Mongole schob Fritz beiseite, schaute unter den Küchentisch, zog einen Kochtopf hervor. Mit spitzen Fingern nahm er den Deckel herunter und fasste ebenso den grauen Wolllappen, hob ihn vorsichtig, als läge darunter eine Giftschlange. Da glänzte ihn der deutsche Armeerevolver an.
Ein Schwall russischer Worte ergoss sich über Fritz Biederstaedt. Einer packte ihn energisch beim Kragen. Fritz vermochte es nur noch, nach seinem Jackett zu greifen. Er kam nicht mehr dazu, es anzuziehen. Auch war er außerstande, ein Wort hervorzubringen. Er hörte Inge hinter sich herrufen. Die Türen fielen krachend ins Schloss. Während sie ihn vorwärts stießen, über den schwarzen Bürgersteig, hatte er eine Vision. Nur einmal, in weit zurückliegender Zeit, hatte er Inge so gesehen. Sie stand in diesen Augenblicken des Schreckens vor ihm auf dem Hügel vor Bökbarg. Ihr rotes Kleid leuchtete. Umgeben vom Gras und den gelben Blumen der Wiese, völlig umgoldet vom Sonnenschein, lehnte sie sich an den Stamm einer Birke und strahlte ihn an.

Sie rissen ihm die Jacke aus der Hand, warfen sie ihm über den Kopf und stießen ihn durch die schweigende Finsternis zu ihrem Fahrzeug. Hart und hastig ging es zu. Halb zerrten, halb warfen sie ihn unter Fluchreden brutal auf die Ladefläche des hochbordigen LKWs. Der schwere Laster fuhr ruckend los und schaukelte wild. Die vielen Kurven und Ecken, die sie schlugen, verwirrten Fritz noch mehr. Er kam in ein Haus, in dem es kalt und feucht war. Unverständliche Worte rings um ihn herum. Sie brachten ihn in einen Keller. Ein Ellenbogen rammte ihn. Fritz fiel hin. Die Tür knarrte und wieder umflatterten ihn Kommandos. Sein Herz schlug bis zum Hals. Es ist aus, Fritz Biederstaedt.
In die Pausen der unwirklichen Stille hinein schrie jemand aus der Tiefe des Grauens jammervoll. Woher das kam, war ihm zunächst unerklärlich. Einmal schien ihm, dass ein Kater mit menschlicher Stimme aufjaulte, dann, dass ein Mitgefangener irgendwo sich aufbäumte.
Fritz lag zwischen losen Brettern. Er fühlte das Jackett in seiner Hand. Alles dehnte sich, wie ihm schien. Ihm kam es so vor als würde sein Kopf sich unentwegt weiten.
Nichts denken! Grau in Grau war die Zeit. Sie bewegte sich nicht. Inge selbst war grau geworden und unendlich fern von ihm. Fritz begehrte nichts, als selbst in dieses ferne Grau hineinzusinken.
Sobald er in seinem Kummer hinüberfiel fuhr Fritz mit der jähen Erkenntnis hoch. „Wenn du dir Egon B. nicht zum Feind gemacht hättest, wärst du in Freiheit.“
Dass er unentwegt und heftig schlotterte, lag nicht nur an der Kälte.
„Wegen seiner großen Fresse! Du hast ihn falsch behandelt! Verraten aus Zorn! Egon wusste!“
Alles schien ihm plötzlich gegenwärtig zu sein. Doch vor allen anderen Empfindungen setzte sich die eine durch:
Du kommst hier nie wieder raus! Nie wieder.
Schwach aus unerforschlicher Tiefe hatte er kurz zuvor eine zaghafte Gegenstimme vernommen. Gern hätte er ihr gelauscht und sich ihr anvertraut. Die schwieg nun auch.

Als das Schlimmste empfand er, dass seine Gedanken nichts änderten. Weinend wandte Fritz den Kopf zur Wand. Es schüttelte ihn durch und durch. Er schluchzte nach seiner Inge. Nie wiedersehen!
Sein schwarzes Gedankenkarussel rotierte unaufhörlich mit ihm von bekannten in unbekannte Räume, nur unterbrochen von Sekundenschlaf.
Nur manchmal an diesen ersten beiden Tagen seiner Gefangenschaft konnte er klar denken. Fritz erinnerte sich nun auch daran, dass Neumann und sogar Milster ihm gelegentlich Hinweise gegeben hatten, vorsichtig zu sein, denn Egon B. schüre die Stimmung gegen ihn. Und er hatte immer wieder abgewinkt. Sogar gelacht hatte er, leichtfertig und überheblich, als sei ein Biederstaedt unverwundbar, bloß weil er bisher gut durchgekommen war. Als sei das bereits eine Garantie, als gäbe es überhaupt eine Art von Vertrag mit dem Leben. Du Narr! fuhr er sich selber an. Der Ring schloss sich definitiv. Wie Schuppen fiel es ihm von den Augen: Egon hatte während der ganzen Zeit der Frühjahrsfischerei die Berliner Schieber bedient! Daher die Amizigaretten. Deshalb waren die Schwarzhändler nicht wieder aufgetaucht. Und ich habe euch nicht glauben wollen.
Am sehr frühen Morgen nach wiederum durchzitterten Nachtstunden, mit kurzen ohnmachtsähnlichen Phasen, aus denen er immer erneut hochschreckte, holten sie ihn. Seit langem hatte er sein Wasser lassen müssen. Der Posten verzog keine Miene, als er auf seine Not aufmerksam machte.
„In dem Zimmer, in das sie ihn brachten, ruhten auf nicht aufgedeckten Ehebetten zwei Offiziere, in Uniform. Sie lagen mit ihren schwarzen, neuen Stiefeln und schliefen. Grelles Licht blendete ihn. Der Dolmetscher fragte, wem er die Pistole abgekauft und wie viel Fische er dafür bezahlt hat.
Seine Erklärungsversuche beantwortete der Mann in Zivil mit Fußtritten. Fritz schaute hilfesuchend nach den beiden Männern, die sich, gleichmäßig schniefend, auf den grünen Steppdecken räkelten.

Auf wen er habe schießen wollen.
Fußtritte.
Er solle die Fragen korrekt beantworten und nicht wie ein Weib lachen.
Schließlich bedeuteten sie ihm, er stünde vor einem sowjetischen Militärgericht und solle endlich die Wahrheit sagen.
Zum hundertsten Mal, wie ihm vorkam, antwortete Fritz: „Ich habe Wild gejagt!“
Diese Lügen würden sie ihm schon noch austreiben. Wer unter seiner Führung auf Sowjetoffiziere geschossen hätte. Fritz kniff die Augenlider zusammen. „Sagen sie die Wahrheit!“ Der Zehnerukas sei ihm ohnehin gewiss, so oder so.
Er sah ein, es war zwecklos, sich zu verteidigen. Am fünften oder sechsten Tag kamen ein paar andere Deutsche hinzu. Der Keller füllte sich. Unter den für ihn neuen Inhaftierten befand sich ein gewisser Rohloff, der Personalchef bei Rinker gewesen war. Der kräftige Mann mit dem großen zusammengefallenen Gesicht nickte bloß oder schwieg. Er stand stundenlang und starrte durch den winzigen Sehschlitz auf die Straße. Man sah aber nur die Beine der ahnungslos vorübergehenden Menschen. Einer sagte später, der dicke Rohloff sitze schon ein Jahr lang ein und habe Monate zuvor einmal die Beine seiner Frau gesehen. Fritz Biederstaedt drehte sich ab und legte die Hand auf die Augen.
Jemand meinte, sie würden gesammelt. Sie würden sie im Dunkeln verrecken lassen, sagte ein anderer.
Fritz kam nach Fünfeichen, dann nach Waldheim, wo er Bruno Roloff wieder sah. Stets stand Fritz die Summe von 3650 Hungertagen wie eine ihn ringsum einschließende, bis in den Himmel reichende Felsenwand vor Augen. Schon die ersten hundert Tage lehrten ihn, dass es auf Gottes Erdboden nichts Schlimmeres gibt als bösartige Deutsche. Es gab Menschen, wenn auch wenige, die in den schrecklichen Konzentrationslagern Hitlers und Heinrich Himmlers gelitten hatten und nun als widerliche Aufseher Rache nahmen.

Ihre heillose Wut, die besten Jahre ihres Lebens unter der Fuchtel von Sadisten verbracht zu haben, kehrte sich gegen die vermeintlichen Urheber ihres Elends. Zudem gab es Mitinsassen, denen nachgesagt wurde, sie hätten Leidensgefährten für eine Scheibe Brot verraten.
Am schlimmsten ging es den verhafteten Jungen. Fritz Biederstaedt sah sie onanierend. In geringer Entfernung seiner Baracke befand sich das Frauen- und Mädchenlager. Vielleicht war es Zufall, vielleicht Teil eines fluchwürdigen Planes. Beide Seiten fanden, wenn die Innenlampen leuchteten oder wenn die Fenster geöffnet wurden, freien Blick aufeinander. Verzweifelt suchten die Jungen und Mädchen einander vorzuweisen, dass ihr Liebestrieb lebte. Alle trugen mindestens die Last des Zehnerstrafmaßes, auch diejenigen, die nicht das Geringste verbrochen, sondern nur verleumdet worden waren.
Vierzig Lebensjahre in Freiheit, benötigte der unglückliche Fischer und Exdiener, um so etwas wie ein schwarzer Philosoph zu werden und vierzig weitere Wochen, um tiefer und besser zu sehen. Nie zuvor hatte er sich die Zeit genommen, kritisch darüber nachzudenken, wovon er wirklich überzeugt war und weshalb er eigentlich lebte. Erst jetzt, als er in der todsicheren Hölle saß, stellte sich seine bisherige Lebensweise von selbst in Frage. Was war wirklich wichtig gewesen?
Das Mädchen im Heidehof? Ihr blendender Teint und ihre weißen Knie? Ihre Umarmungen und ihr Flüstern? Mit bitterstem Nachgeschmack war er oft von ihr weg auf die Fischerinsel gefahren, nicht nur, um seine Netze zu stellen, wie er sich selbst zu überzeugen versuchte, sondern um nicht gleich danach Inge frech in die Augen hinein lügen zu müssen, es sei alles in bester Ordnung.
Noch vor wenigen Jahren meinte er, er wüsste das Wichtigste und worauf es ankam im Leben: nämlich, wie man Gewissensbisse ausschaltet. Man leugnete einfach, schuldig zu sein. Der verfluchte Alkohol! Die bösen Weiber hatten Schuld! Aber er wusste dennoch, wen er schlecht gemacht hatte. Dieses Wissen und das Unvermögen zu zeigen, er könnte ein besserer sein, plagte ihn.
Wenn er wenigstens eine sinnvolle Tätigkeit in diesem verfluchten Lager fände. Doch immer musste er nur dasitzen und sich kaputtgrübeln. Fritz versuchte zwar die Selbstvorwürfe von sich zu weisen, jedoch kehrten sie mit bestimmten Erinnerungen unaufhaltsam ins Bewusstsein zurück. Einmal hatte er Kurt Willig zu einem dieser folgenschweren Abenteuer verleiten wollen. Einfach weil es ihn reizte, das Verbotene zu tun. Das muss zwei Jahre vor dem Polenfeldzug gewesen sein. Inge ging nach langer Ehe endlich schwanger. Er würde eine Woche lang auf der Insel bleiben. Ganz fest hatte sie sich an ihn geklammert und leise gesagt, dass sie ein ungutes Gefühl quäle. Er möge bitte, wenn möglich, jeden Abend wenigstens für eine Stunde nach ihr sehen.
Da waren zwei Abende, an denen das auch möglich gewesen wäre. Doch schon am Ende des ersten Tages gab es zwei schöne junge Frauen in der Schenke am Nonnenbach. Waldheim-Häftling Fritz Biederstaedt sah die beiden schwarzhaarigen Mädchen deutlich vor sich, aber auch die volltrunkenen Ehemänner der beiden. Denn die lagen pustend mit ihren betäubten Schädeln auf den rohen Brettern eines Klapptisches.
Wahrscheinlich aus ihrer Enttäuschung heraus, schamlos von ihren starken Beschützern im Stich gelassen worden zu sein, gingen die beiden Damen sofort auf das Angebot ein, mit ihm und seinem Freund Willig auf der romantischen, mitternächtlichen Fischerinsel eine Aalsuppe zu kochen. In einer guten Stunde wären sie wieder zurück.
Doch die Uhr zeigte schon die Stunde vor Mitternacht an. Kurt und er hätten längst in den Federn liegen müssen. Der frühe Morgen verlangte stets, dass sie schnellstens ihre Aalschnüre heben müssten. Vielleicht reizte es die beiden Damen, ihren Männern eine harmlos gemeinte Lektion zu erteilen. Vielleicht fühlten sie wie er den Nervenkitzel vor dem Ungewöhnlichen. Als sie einstiegen in den Heuer, umfasste Fritz die kleinere mit Blicken und genoss die Stimmung und Vorfreude auf ein Erlebnis zu zweit. Wunderhübsch sah die fast knabenhaft zart wirkende junge Frau in ihrem enganliegenden Kleid aus. Das festzustellen hinderte ihn die Dunkelheit nicht. Kurt Willig kurbelte den kleinen Deutzmotor an und schon rauschte der Heuer los. Die beiden, wahrscheinlich wegen der harten Motorengeräusche, Verunsicherten klammerten sich fest aneinander. Fritz konnte sich genau seiner damaligen Aufregung erinnern. Sie lamentierten nicht, Angst vortäuschend, schrieen weder Zeter noch Mordio als es Ernst wurde, sondern machten mit. Der Jubel, den er damals spürte, war ihm sehr gegenwärtig. Auch allerdings die Wucht der Selbstanklage wie gemein es von ihm gewesen war, die Tatsache zu verdrängen, dass Inge auf ihn wartete.
Kurt wird sich mit der größeren begnügen müssen, hatte er gedacht. Es war schon erstaunlich für ihn zu erkennen, über welch großes Kapital der Mensch doch mit seinem Erinnerungsvermögen verfügt. Ein jahrzehntealter Gedanke, sogar ein Lustgefühl ließ sich wie ein handfestes Geldstück, aus der Tiefe des Sackes heraufholen.
Eine Stunde! Was tut man nicht alles für eine Stunde erwarteten Glücks. Aber lohnte es, dafür einen Teil des eigenen und das halbe Leben seiner Frau zu opfern? Schon Schlämann hatte immer behauptet, die alten Griechen hätten deswegen verheerende Kriege geführt. Deswegen!
Fritz Biederstaedt lauschte dem Klang des glucksenden Wassers, wie es schäumte und an den Bordwänden entlangrauschte. Nonnenhof blieb, wie die Gedanken, an Inge weit zurück. Nichts und niemand sollte ihn hindern.
Kurt Willig, Vater von fünf Kindern, dröhnte ihm allerdings ins Ohr, er würde nun umkehren. Er wolle sofort aus dem Spiel steigen.
„Kurt! Dat lot ick mi nich entgohn! Eine Stund‘, Kurt!“("Kurt, das lasse ich mir nicht entgehen...")  Und das Bein gegen die Ruderpinne stemmend, hatte er Kurt schließlich überzeugt, es gäbe nun kein Zurück mehr. Biederstaedt seufzte auf. Er sah sie leibhaftig, die drohende Faust des Mannes, die er blitzschnell herunterziehen musste, aus Sorge, die jungen Frauen würden sich erschrecken.
„Fritz, seit Klock vür sünd wi unnerwägs.“ ("Fritz, seit vier Uhr sind wir unterwegs.")  Das halbe Leben! Aber was ist die eine Hälfte ohne die andere? Vielleicht spürte der alte Familienvater es nicht wie er. Was waren dagegen die eintausendvierhundert Haken, die sie aufgenommen hatten. Was
waren fünf Kilometer Schnur gewesen gegen das? Wie wenig galt ihm der Erfolg von sechzig Kilo Aalen? Was war das schon? Mit einer Unterbrechung von gut zwei Stunden Mittagsschlaf hatten sie fast achtzehn Arbeitsstunden hinter sich. Wenn Kurt auch hundertmal hinterher gesagt und geschimpft hatte, er hätte von vorne herein auf das fragwürdige Vergnügen gepfiffen.
Wäre Kurt Willig nicht so hirnrissig gewesen, es wäre ein Riesenvergnügen geworden...
Nie wird er vergessen, wie die beiden Frauen auf der feuchten Ruderbank in kaum zu durchdringender Finsternis dagesessen hatten. Wie Küken kauerten sie und froren anscheinend jämmerlich. Unglaublich das ganze Bild, wie sich vor dem etwas heller erscheinenden Nachthimmel die riesigen Pappeln der Inselzone abzeichneten.
Leichter Westwind bewegte die mächtigen Baumkronen. Kurz bevor sie ankamen und ins total Finstere vor dem einsam aufragenden Inselhaus eintauchten, ging mit lautem Krachen der Motor aus.
„Uk dat noch!“, fluchte Kurt, „Hüt geiht alles scheif!“("Auch das noch, heute geht alles schief,") . Beängstigende Stille breitete sich danach aus. Unheimlich säuselten die Blätter der sich duckenden Weidenbüsche. Aufgeschreckte Schwäne gaben Laut.
Er möge sich bitte beherrschen, hatte er Kurt noch einmal eindringlich zugeraunt. Als die beiden Damen jedoch zu begreifen begannen, wo sie gelandet waren, bekamen sie den ersten größeren Angstanfall. Ob der Motor wirklich kaputt gegangen sei.
Kurt bestätigte es mit dem für ihn typischen Tonfall mürrisch. Das und sie hätten ihm gerade noch gefehlt.
Zu allem Unglück trat eine der beiden Schönheiten auch noch ins Wasser, statt auf den festen Steg. So gut wie ihm möglich war, hatte Fritz sie getröstet und ebenso beschwörend wie auch gegen besseres Wissen versprochen, ehe die Suppe fertig sei, hätte sein Freund Kurt den Schaden längst behoben. Ihrer Ehemänner wegen brauchten sie sich nicht zu sorgen. Aus Verlegenheit, in der er sich sah, hatte er noch zuversichtlich gelacht. Er kenne das, wie schwer weinmüde Köpfe wiegen könnten. So manche Nacht hätte er im nasskalten Kahn statt im Bett geschlafen.
Mit seiner väterlichen Art hatte er schon mehr als eine Frau betört.
Sie wünschten sofort zurückzukehren zu ihren Männern!
Unmöglich! Fritz könnte sie doch hinüberrudern.
Doch Kraft und Lebenslust waren schlagartig aus ihm gewichen. Eine Weile hatte er drinnen nach einer neuen Schachtel Streichhölzer suchen müssen. Die Petroleumlampe ließ sich eher finden. Er entzündete den vorbereiteten Kienspan im Herd, goss das abgestandene Seewasser in einen verrußten Kochtopf, taumelte mehr als er ging zum Wasser und kescherte ein paar Aale aus dem Schweff. Sagte: „Ierst de Supp!“  ("Erst die Suppe!")
Dann übergab er, mit letzter Willenskraft den sich sträubenden Frauen die lebhaften Fische und suchte für sie noch ein Messer. Den Aufschrei des Entsetzens beider, niemals könne er ihnen zumuten, die Schlangen zu töten, nahm er gerade noch wahr. Er sagte noch, er käme gleich wieder, kam aber nicht weit, fiel der Länge nach in sein weiches, immer weiß bezogenes Bett, das breit und ungeheuer einladend in einer der beiden Raumnischen stand. Mit knapper Mühe war ihm noch gelungen, wenigstens einen der beiden langschäftigen Lederstiefel abzustreifen, dann war es aus mit seiner Konzentrationsfähigkeit. Der Körper verlangte unabweisbares Recht. Wahrscheinlich werden ihn die beiden Damen heftig bestürmt und vergeblich gerüttelt haben.
Nach ungefähr vier Stunden ohnmachtsähnlichem Tiefschlaf muss er hochgeschreckt sein. Es war exakt die Stunde und Minute, in der sie aufzustehen gewohnt waren. Punkt vier Uhr.
Der neue Tag kam mit einem Summton herauf. Aus seinem von unangenehmen Geräuschen erfüllten Schädel tauchte die ebenso unangenehme Frage auf: Was war gestern Abend gewesen? Traum oder Wirklichkeit? Die plötzliche Bestürzung muss ihm die Erkenntnis heraufgerüttelt haben dass die hübschen schwarzhaarigen Damen noch irgendwo saßen und heulten. Mit eiserner Energie befahl Fritz sich aufzustehen. Im Halbtaumel irrte er durchs Haus. Er fand nur Kurt. Der ruhte auf dem anderen Lager. „Kurt! Höchste Tied!“ ("Kurt, höchste Zeit!")
Während er sich abmühte, seinen Mitfischer zu wecken, drehte der sich geräuschvoll herum, wandte ihm den breiten, verlängerten Rücken zu und schrie sich markerschütternd mit einem ungeheuer obszönen Ausdruck den angestauten Zorn von der Seele.
Das gewisse Wort hallte so intensiv und lange in der Vielzahl der Hirnwindungen des Sträflings Fritz Biederstaedt nach, bis er die Konsonanten und Vokale herauslachen musste.
Zwei dicke Tränentropfen fielen auf die spindeldürren Schenkel des Häftlings. Sie besiegelten ein für allemal die Zeit der Freiheit, Inges Zeit, die er ihr so oft zu flüchtigem Missbrauch gestohlen hatte.
Niemals wird er das große Tor des Zuchthauses verlassen.
Hundertmal davor und danach schaute er denselben Traum. Ohne auch nur einen einzigen Schritt vorwärts zu kommen, marschierte er mit zentnerschweren, kalten Füßen im tiefen Matsch des auftauenden Eises auf dem Tollensesee. Zehnmal wachte er in jeder Nacht auf. Starrte in ein von Ächzen, Stöhnen und Gestank erfülltes Loch und musste sich gewaltsam beruhigen. Die Eispampe, in der er stecken blieb, gab es im ehemaligen KZ und jetzigen NKWD-Lager Waldheim nicht. Hier gingen die Tage nicht vorwärts und der Hunger nahm nie ab.
Tags malte er sich aus lebhaft sprudelnder Erinnerung die Bilder vom wogenden Ried der Lieps, die niemand außer ihm privat befahren durfte. Er hielt mit seinem eigenen Segelboot in den weißgetupften Seerosenfeldern. Inge lag vor ihm im Badeanzug, in weichen Kissen.
Über den Wipfeln der Birken und Erlen, die unmittelbar am Ufer standen, taumelten die schwarzen, wie Rauch wehenden Zuckmückenschwärme ihre betörenden Massenhochzeitstänze, getragen nur vom warmen, aufsteigenden Atem der Baumkronen. Alles erschien ihm wie damals an jenem Junitag. Inges schönen, weichen Körper stellte er sich vor, und wie er ihn berührte. Erfreuen konnte er sich an diesem Bild nicht.
Zu sehr fraß an ihm die Sorge, was sie gerade tat. Hatte sie die Kraft, auf ihn zu warten? Wie lange noch? Wusste sie etwas? Hatte sie es herausgefunden, mit wem er einige Nächte auf der Fischerinsel zugebracht, wenn seine Mitfischer hinunter zu ihren Familien gefahren waren? Ahnte sie, was ihm jahrelang die kleine, schielende Heidehoferin bedeutet hatte? Konnte er es ungeschehen machen?
War es nicht sonderbar, dass ihn gerade die Kleinigkeiten verraten konnten?
Hatte sie ihm jede Ausrede geglaubt oder sich längst gerächt und Gleiches mit Gleichem vergolten?
Die Sehnsucht nach seinem wunderschönen Zuhause verzehrte ihn. Solange es alltägliche Wirklichkeit gewesen war, hatte er es nicht geschätzt. Erst der Verlust zeigte ihm, dass er glücklich gewesen war.
Nun wurde, was er in der Freiheit nie so klar gesehen hatte, zur unersetzlichen Kostbarkeit. Er war mit etwas gesegnet worden, das er manchmal wie Glimmer behandelt und missachtet hatte. Noch einmal von vorne anfangen zu können, dachte er, das wäre mein größter Wunsch! Es verblasst ja alles andere, und nur die Sehnsucht nach dir ist geblieben. Was sind mir jetzt die anderen Menschen wert, die an mir wie Nebelschwaden vorbeizogen und mir nur für Minuten vorgaukeln konnten, sie könnten mein Leben für immer versüßen.
Gerade dieser sich immer wieder einstellende Selbstvorwurf, viel zu oft die Illusionen hochgeschätzt und das eigentliche Leben darüber vernachlässigt zu haben, quälte ihn.
Im schier endlosen Winter von ’47 zu ’48 erkrankte Fritz lebensgefährlich. Parathyphus und Ruhr herrschten erbarmungslos. Vor seinem inneren Auge rollten Tag und Nacht nie zuvor geschaute Gemälde als endlose Kette herrlichster Visionen vorbei. Eine Farbenpracht ohnegleichen ergoss sich als Flut von Ideen und Szenen über ihn.

Manchmal während dieser Zeit befand er sich in seinen wirren Träumen und Gedanken im Berlin der zwanziger Jahre. Er sah sich wieder als Diener bei der bezaubernd schönen Freifrau von Stein.
Manchmal war alles sogar noch klarer als damals. Es waren die Szenen auf der Salontreppe, wo sich die Pärchen hastig zusammengeworfen hatten, im Spiegelbad, wo sich General a.D. Berg und die Gräfin von Schöne unbeobachtet glaubten. Es waren die Bilder von feierlichen Banketten und den Stunden danach. Unverwüstliches Toben war es. Aber er sehnte sich nicht mehr danach, sondern nach der Ruhe seines Heimes.
Später, als Fritz sich allmählich zu erholen begann, weil ihm jemand täglich einen Teelöffel Zucker in den Mund gesteckt hatte, dachte er darüber nach, wie sonderbar deutlich er im Traum die Freifrau und ihre Gäste vor sich gesehen hatte. Ganz klar war sein Urteilvermögen gewesen.
Ihr vornehmes Wesen hatte ihn unbewusst als Ideal begleitet. Diese Frau liebte er über alles. Weil sie eben nichts vortäuschte. Gleichmäßig war sie jedermann gegenüber freundlich.
Den kleinsten Diener im Hause hatte sie nicht seinem Stande gemäß behandelt und den größten General und Schauspieler nicht einem anderen Menschen vorgezogen. Sie sprach nie mit zwei Zungen. Sie sprach nicht, wie so viele ihresgleichen, geringschätzig von ihren Angestellten. Sie hielt ihre Diener nicht für eine Unterart der allgemeinen Menschen- und Herrenrasse. Ihr war nie gleichgültig gewesen, was er hörte und sah.
Die meisten anderen Herrschaften täuschten sich selbst und ihre Mitmenschen, was das Zeug hergab.
Exaktes Rollenspiel laut Drehbuch nach traditioneller Regie zu sämtlichen offiziellen Anlässen, ehe der Vorhang aufging und die Scheinwerferlichter jede Pose beleuchteten. Es hatte ihn immer belustigt zu sehen, wie sie an ihren Krawatten zogen, oder wie die Damen ihre Mienen zurechtsetzten, kurz bevor ihr Auftritt kam. Aber dann das Geschehen nach Herzenswut und -lust hinter der Bühne, vier, fünf Stunden später, nachdem reichlich Wein geflossen war. Erst hinter den Kulissen gaben sie sich, wie sie beschaffen waren. Nicht wenige der Großen hatte er bar jeder Kultur erlebt.
Schüsseln voll ätzenden Spottes könnte er über Männer wie General a.D. Berg ausgießen. Charmant gab sich der Mann in der Öffentlichkeit als makelloser Kavalier. Als wäre sein Gemüt rein wie frisch gefallener Schnee. Aber nach dem fünften Glas redete und prahlte er ungehemmt, als wäre er in vertrauter Kriegsgewinnlerrunde.
Ein ganz gewöhnlicher Waffenschieber war er.
Einmal hatte Fritz ihn ertappt, oben den Frack, mit der kleinen Blume am Revers, unten die nackten Knie und die entblößten Schenkel. Wo der a.D. erschien, ging nicht ein Mann, sondern eine randvoll gefüllte Chronik des Krieges und des Verderbens umher. Gerade zwischen seinem Schein und Sein klafften unüberbrückbare Abgründe. Erobern musste er, und sei es das jüngste Küchenmädchen. Das Verrückte war, dass außer der Freifrau viele dem neureichen General ins Gesicht hinein Komplimente machten, nachdem er aber weggegangen war, lästerten sie gnadenlos: Wussten sie schon, meine Liebste..., mit der Gräfin Schöne hat er es..., tun beide immer so als würden sie sich wieder einmal zufällig treffen..., ein Taugenichts, vom Scheitel bis zur Sohle.

1949

Am Vorabend des 7. Oktober 1949 verkündigte der kommunistische Präsident Wilhelm Pieck, anlässlich der Staatsgründung der Deutschen Demokratischen Republik, eine Generalamnestie für Verbrecher mit Urteilen aus SMAD-Zeiten bis zu zehn Jahren. (Sowjetische Militär-Administration)
Unerwartet kam auf diese Weise auch für Fritz Biederstaedt der Tag der Freiheit. Aber wie traf ihn diese gute Botschaft an? Ausgezehrt und kleinlaut trat er kurz darauf die Heimreise an. Mit allen Bedenken und Bangen sah er seiner ungewissen Zukunft entgegen. Erneut bedrängte ihn hinsichtlich seiner Frau große Sorge.
Im Zug von Berlin nach Neubrandenburg saß jemand, der ihm bekannt vorkam. Der Mann sprach ihn kurz vor Neustrelitz an, ob er der Fischer Fritz Biederstaedt sei. Scheu blickte der Bekannte, an dessen Namen er sich nicht erinnern konnte, und tuschelte Unbestimmtes.
Fritz fragte sich, was diese Andeutungen ausdrücken sollten.
Ihn interessierte nicht, was der eigenartige Mensch wollte. Er wünschte, dass man ihn in Ruhe ließ. Es fehlte noch, dass der Mann ihn fragte, wo er solange gewesen sei. „Die Russen saugen uns bis aufs Blut aus!“, flüsterte sein Gegenüber sonderbar unnatürlich. Die Schienenstöße ließen die rollenden Räder in jeder Sekunde hart aufschlagen. Fritz schaute nach draußen. Er öffnete das Abteilfenster auf einen kleinen Spalt und sog die heimatliche Luft tief in die Lungen. Neubrandenburg erwartete ihn schon, hoffentlich auch Inge, die im letzten Brief geschrieben hatte, in Neubrandenburg sei alles beim alten. Genau das erwartete er nicht. Gerade dieser Satz hatte ihn erregt, weil ihre wenigen Worte etwas völlig Neues versteckten. Das spürte er doch. Nichts war so geblieben, wie es einst gewesen war. Schließlich war er selbst sehr verändert worden. Diese drei langen Jahre hatten ihn gezeichnet.
Warum er umgezogen sei, fragte der unsympathische Bekannte. Wahrscheinlich wusste der neugierige Kerl, dass er gesessen hatte. Wer ist umgezogen? fragte Fritz sich. Die Frage war ein Signal. Es betraf Inge. Doch was ging das den an? Fritz schalt sich aus. Wie oft hatte er auf Gefühle geachtet und sich geirrt und verschätzt. Nervös schaute er, ob Burg Stargard in Sicht kam.
„Du kennst sie ja die lieben Mitmenschen, sie reden viel!“, sagte der andere. Als sein ungebetener Gesprächspartner das ausgesprochen hatte, konnte Fritz sich plötzlich erinnern. Der Mann mit der schiefen roten Nase war Schmiedegeselle und hatte gelegentlich Peters Pferde beschlagen. Hufschmied Marlows Geselle. Er hatte mit ihm nie näher zu tun gehabt. Der Mensch war ihm unheimlich. Mit unstetem Blick, wie ein böser Kobold, hockte er auf der harten Pritsche. Nur um ihn zu quälen, saß er ihm gegenüber. Übrigens, die Fischer seien jetzt ganz und gar selbstständig. Den alten Peters hätte die Stadtverwaltung völlig kaltgestellt. Es ginge den Männern aber eher schlecht als recht. Zu den hundert Fragen, die Fritz niederdrückten, packte der Gnom ein Dutzend neue. Fast noch schlimmer als in den Tagen seiner Gefangenschaft spürte Fritz, wie wund sein Inneres war. Grau von Angesicht und schmal stand er vor dem Abteilfenster hinter dem die herrliche Hügellandschaft vorbeirauschte. Was werden ihm die nächsten drei Stunden bescheren? Fritz strich sein angegrautes Haar zur Seite und versuchte, seiner Pergamenthaut ein Lächeln aufzusetzen. Wer Waldheim und Fünfeichen überlebt hat, den kann nichts mehr schrecken. Hast du es soweit geschafft, kommst du auch bis ans Ende durch.
Egal was es ist, die Welt wird ihn nicht erschüttern. Und wenn schon, ein Biederstaedt wird es nie zeigen.
Als der Personenzug die letzte Kurve vor der Einfahrt in den heimischen Bahnhof nahm, kreischten die sich am Schienenrand hart reibenden Räder. Es klang ihm als schrilles Hie! Hie Fritz, hie bist du hie! Es zirpte darüber auch ein sonderbares: „Di is nich‘ hie!“
Die war aber nicht die schielende, schöne Heidehöferin. Die war Inge. Schmerzhaft vernahm er, dass es nicht aufhören wollte. „Die ist nicht hie!“
Nein, verrückt war er nicht. Noch nicht. Noch lange nicht. „Die ist nicht hie.“
Bis der Zug hielt, schrillte es in ihm. Schroff drehte er dem Schmiedeknecht den Rücken zu, als der sich verabschieden wollte. Als ginge Fritz aufs Neueis, prüften seine Füße den Boden des Bahnsteiges.
Fritz Biederstaedt fragte sich, ob er sich nicht zuerst Mut antrinken sollte. Mit den fünfzig Mark Handgeld kam er ohnehin nicht weit. Es war spät geworden und begann zu dunkeln. Fritz verließ den Wartesaal und wischte sich über die Lippen. Er wählte den Weg zur Marienkirche hinunter. Schlich, nachdem er einen Teil der Trümmerwüste Neubrandenburg mit wehmütigen Gefühlen durchquert hatte, die Katharinenstraße hinauf. Sah beklommen das einstige Wohnhaus der Fischerfamilie Peters.
Er pochte an die Tür des kleinen Hauses, indem er mit seiner Inge gewohnt hatte. Eine große, alte Frau öffnete und gab ihm Bescheid. Frau Biederstaedt sei umgezogen. Sie nannte die Straße. Das war nicht weit. Fritz ging schnell. Noch bevor er anklopfte, hörte er ihre Stimme.
Jetzt bist du daheim, dachte er, bewegt bis auf den Seelengrund.
Die Tür öffnete sich und ein kleiner, um ein Geringes schief gewachsener Mann erschien, starrte ihn ausforschend an, fragte mit kalter Stimme, was er wolle. „Ich bin das!“, sagte Fritz.
„Bin ja nicht blind!“, entgegnete der andere. Möglicherweise hatte er mehr als nur ein Foto von ihm gesehen und ihn trotz des ihm ins Gesicht geschriebenen Elends erkannt.
„Wer ist denn da?“, fragte ihre Stimme.
„Besuch aus Waldheim!“ antwortete Fritz.
„Aus Wald...“, ihre Stimme brach zusammen.
Fritz horchte und lauschte, ob Inge wenigstens einen Zipfel von sich sehen lässt. Sekundenlang war nichts als Schweigen in diesem Grau des Hintergrundes. Des fremden Menschen kantiges Gesicht zuckte. Es schien, er genoss seine Überlegenheit, ehe er das kurze Gespräch beendete, indem er sagte: „Du siehst ja, der eine, der hier Platz hat, bin ich!“
Fritz Biederstaedt konnte sich nicht wenden. Wie oft hatte er den Angstschrei Inges gehört, nachts wenn er sich auf dem Fußboden umherwälzte, jedesmal wenn jemand das Kommando „Jetzt“ gab, weil sie so dicht nebeneinander schliefen, dass ein Einzelner kaum fähig gewesen wäre, seine Schlafhaltung unabhängig von seinen Leidensgenossen zu verändern. „Jetzt weißt du es! Jetzt!“ Das Kommando hatte Gewalt über ihn. Er drehte sich herum, wollte gehen, befahl sich das auch.
In Wahrheit lauschte Fritz Biederstaedt hinter sich. Sie war doch da. Könnte sie ihm nicht einen einzigen Augenblick schenken? „Bist du diesem Kerl hörig?“, fragte er sich wütend und gleich darauf wieder matt.

Er schlurfte die Külzstraße hinunter, vor sich hinmurmelnd und sich selbst wüst beschimpfend: „Was hast du dir eingebildet?“
Sollte sie zehn Jahre warten, bloß um es einfach fortzusetzen, das Hundeleben, wie es bisher in den vergangenen zwanzig Jahren gewesen war? Drei Abende von sieben hast du in der Kneipe gehockt und weitere drei auf der Fischerinsel verbracht. Wolltest du sie glauben machen, das Vagabundieren sei vorbei? Nichts ist vorbei, bloß weil du dir das versprichst. Die Vergangenheit hängt dir an, wie die Wurzel dem Baum.
Sie hat die Verbindung, mit einem scharfen Schnitt, ein für allemal beendet. Aus, mein Lieber, es ist ausgeträumt. Den Lebenskampf gewinnt nur, wer klar sieht.
Die Nacht verbrachte er in der Bahnhofsmission. Wen hätte er sonst noch mit seiner Anwesenheit belästigen sollen?
Fritz wagte es, am nächsten Tag, bescheiden und mit allem Mut, den er zusammenraffen musste, bei seinen ehemaligen Fischerkollegen anzuklopfen, vorgewarnt durch den Hufnagler G. Er hatte keine Wahl. Wohin sonst sollte er gehen? Auch sie waren umgezogen, zweihundert Meter den Oberbach hinauf. Sie hatten sich inzwischen eine schon einmal benutzte Baracke gekauft. Der Pommernflüchtling Fritz Milster, mit neuer grüner Jägerjoppe und mit neuem grünen Rucksack, gerade im Begriff, nach Hause zu gehen, weshalb er zufällig die breite Eingangstür des Holschuppens öffnete, schaute ihn erschrocken an. „ Fritz?“
Fritz nickte. Er wusste, wie sehr er sich verändert hatte. Dem Alten schien das Herz zu stocken. Offensichtlich war er sekundendenlang unsicher was er tun oder was er besser lassen sollte. „Kumm doch rinner!“ ("Komm doch herein!"), lud er Biederstaedt ein. So plötzlich einem Abgeschriebenen gegenüber zu stehen, war nicht leicht. Viel Gutes hatten sie ihm nicht nachgesagt. Der Name Fritz Biederstaedt stand für einen Mann, der sich stets das größere Stückchen vom kleinen Kuchen abgeschnitten und der sich immer mehr und besser vorgekommen war als die übrige Menschheit. Das war eben das Sonderbare. Ein gewisser Menschentyp fiel immer wieder auf die Beine, hatte einfach Glück. Während die einen im Dreck der Schützengräben verbluteten, spielten andere jahrelang den Hahn im Korbe. Die einen inmitten von endlosen Flüchtlingstrecks in tausend schmerzvollen Irrungen und Wirrungen, geplagt von Frost und Schneegestöber, bedroht von unberechenbaren Raketen und Granaten aus der Luft und vom Lande, die anderen indessen schauten bloß neugierig zu. Sie hatten sich allezeit in der sicheren Heimat in weichen, weißen Betten geräkelt. All zu vieles sei ihm in jenen wenigen Augenblicken des ersten Wiedersehens mit Biederstaedt durch den Kopf geschossen, erzählte später der stets ausgeglichene Milster.

Milster öffnete die zweite Tür. Biederstaedt wurden die Knie weich. Was werden sie ihm sagen? Wie wird Egon sich verhalten, wie Neumann? Da saßen sie. Sie drehten nach ihm die Köpfe. Es schien, jemand hatte die Zeit angehalten. Lauter Augen. Lauter Nein. Biederstaedt riss sich zusammen. Gewollt herzlich grüßte er sie. „Schönen Dach uk alltohop!“("Schön guten Tag alle zusammen!") Wie immer klang es, als hätte er bloß verschlafen. Ihm sausten die Ohren. Den Schnaps auf dem Tisch sah er. Die beiden bunten Flaschen, die geleerten Gläser. Ihn wunderte, dass es immer noch dieselben Gläser waren.
Dieselben! Als unangemessen empfand er es. Gegen das Gesetz des steten Wandels. Immer noch auch derselbe Tisch, dieselben Männer. Hatte nur er sich völlig geändert? Egon sah er nicht. War das ein gutes Zeichen?
Auch der asthmatische Netzmacher Müller schaute Fritz offen, neugierig und kühl an. Deutlicher als früher erkannte Biederstaedt das Harte in den Zügen seiner Männer. Er kam ihnen sicherlich wie ein Gespenst vor. Unwillkürlich hörte Fritz sich, wie er in früheren Tagen mit ihnen geredet hatte: „Los Lued! Wi trecken noch einen Toch!“ ("Los Leute, ziehen wir noch einen Fischzug!")
In diesem Augenblick musste er vor sich selber zugeben, dass er manchmal die Macht wie eine Peitsche gebraucht und dabei irrigerweise geglaubt hatte, er bliebe trotz alledem für immer „ihr Fritz“. Ihm wurden die Knie weich. Ihre Mienen brachten vor allem die eine Frage und Aussage zum Ausdruck: „Was willst du hier? Wir haben dich nicht gerufen!”

Egal welche Maske er sich überstülpte, er war nicht „ihr Fritz“. Das erste Staunen Milsters war es, nur vermehrfacht. Dass er sich hier hereintraute, fanden sie unerhört. Einhellig standen sie für ihre Überzeugung ein, dass sie ihm nicht gestatten würden, jemals wieder Einfluss über sie zu gewinnen. Fritz wusste nicht, ob er lachen oder weinen sollte, um ihre Herzen zu erweichen. Er spürte, wie sich die Frosthand um sein Herz spannte. Für sie war er tot, gleichgültig, dass sie einmal gehört hatten, er habe seiner Frau geschrieben. Möglicherweise war das ein Brief aus dem Jenseits gewesen, ein unglaubwürdiges Gerücht. Sie hatten ihn vergessen wollen. Der alte Fritz Biederstaedt lag für sie unter dem Rasen.
Der dürre Netzmacher Müller, der früher immer zu ihm gehalten hatte, kämpfte laut atmend seine Erregung nieder, brachte jedoch auch nicht viel mehr heraus als nur ein dürftiges „Na, Fritz wieder unter den Lebenden?“ Auch ihm musste überdeutlich vor Augen stehen, wer dieser Fritz Biederstaedt gewesen war. Kurt Willig, wenn er anwesend gewesen wäre, hätte ihm bestimmt Platz angeboten.
Nein! Wir sind ausgebucht. Noch einen Fresser ernährt die kleine Fischerei nicht. Das logen sie ihm vor? Ihm wurden die Augen feucht, ihm schien, er hätte diese Begründung schon zehnmal vorher gehört. Wortlos drehte er sich um. Hob die Hand wie früher grüßend. Er befahl sich die Beine fest aufzusetzen, auch die andere Tür nicht ins Schloss zu schmettern. In seinem Schädel drehte sich rasend schnell ein Riesenrad zu durcheinander dröhnender Rummelmusik. Fritz schlich mehr, als er schritt, den Weg an den vom Herbstwind bewegten Pyramidenpappeln entlang, zur Schillerstraße. Milster kam mit lang ausgreifenden Schritten hinter ihm her. „Jo! Wat moken wi mit di?“ ("Ja, was machen wir mit dir?"), fragte er pustend, denn er war nicht mehr der Jüngste. Es tröstete Biederstaedt nicht, dass der Alte Mitleid zeigte. Fritz biss in die vorgewölbten Lippen und strich mit dem Daumen, wie er das seit je tat, wenn er aufgeregt war, über den kräftigen Bartansatz. Bitte kein Mitleid! Das wäre ja wohl das Letzte.

Es sei alles gesagt worden. Seine Kollegen waren freie Männer geworden und zumindest einige von ihnen füllten diesen Anspruch auch aus, wie es schien. Sie wünschten ihn nicht als zusätzliche Bürde am Halse zu haben. In Waldheim hatten sie ihm versichert, sein ehemaliger Betrieb sei verpflichtet, ihn wieder einzustellen. Aber sollte er die Männer mit einem Dokument zum Nachgeben zwingen? Das würde er nie und nimmer tun. Lieber ginge er Steine karren oder weit weg.
Wie hatte Mildener es formuliert? Menschen wie er könnten sich nicht ändern. Lasst ihn bloß noch einmal hochkommen, dann walzt er wieder über den Hof wie ein Gutsbesitzer, der die Peitsche gegen die Lackstiefel klopft.
Stets hätte er dem Alten zu ihrem Nachteil zu Munde geredet. Wie gezielte Fausthiebe hatten ihn diese ungehobelten Behauptungen als endgültige Ablehnung getroffen. Wie ein Stück Franzosenkraut nach einer Frostnacht war er erstarrt. Verfärbt und lasch hatte er dagestanden in der Baracke, die trotz ihrer Armseligkeit der Ausdruck ihrer Unabhängigkeit war.
Das alles durchlebte er ein zweites Mal, während der wenigen Minuten, in denen der ruhige Milster neben ihm herging.
Unter diesen Umständen durfte er auch nicht dessen freundlich gemeinte Einladung zur Übernachtung annehmen. Ihm zu Dank irgendwelcher Art verpflichtet sein müssen, wollte er nicht. Auch das Andere nicht! Aus Händen seiner ehemaligen Kollegen ein Gnadengeschenk entgegennehmen?
Nein! Dreiundzwanzig wechselvolle, zumeist gute Arbeitsjahre lagen hinter ihm. Für immer. Mein Gott, wie schön war es gewesen!
Mit betäubten Schmerzgefühlen saß Fritz die Nacht über vor einem schon mehrmals geleerten Bierglas im Wartesaal seiner Heimatstadt. Sie hatten ihn ausgespieen wie ein Fisch ein wertloses Sandkorn. Rings um ihn herum saßen in dieser langen Nacht graue, fremde Menschen, die aneinander nicht interessiert sein konnten. Zwischen seinen Beinen eingeklemmt, stand der kleine, schäbige Holzkoffer, indem sich alles befand, was er noch besaß. Draußen pfiffen in Abständen die Lokomotiven. Ihr Tosen drang tief in sein Gemüt ein. Die schwarzen Eisenkolosse riefen ihm mehr als einmal zu: Komm mit! Was zögerst du? Für dich sind Neubrandenburg, deine Frau, dein schöner See und deine Zukunft verloren.
Zehn lange Stunden hatte er sich gegen die Endgültigkeit dieser Einsicht gestemmt. Aber wohin nur, dachte er verzweifelt? Wo willst du neu anfangen? Hast nichts, bist nichts, kannst nichts.
Gegen fünf Uhr früh stieß ein Besen gegen seinen Koffer, dann gegen sein Bein. Eine dunkel gekleidete Frau schaute ihn an. Sie reinigte das graue Parkett. Sie lächelte entschuldigend. Ein flüchtiger Blick nur. Ein abgehärmtes Gesicht mit sanftem Ausdruck, noch jung. Er sah diese unendlich trostlose Miene. Du auch, dachte er, mitfühlend. Er versuchte zu lächeln und spürte doch, dass auch seine Züge eingefroren waren. Fritz sah die kleine Strähne hellblonden Haares unter ihrem Kopftuch. Da schaute die Frau ihn noch einmal an und gab ihm einen längeren Blick.
Vielleicht lag in ihm nur eine Spur dessen, was er seit Jahren ersehnt und seither nicht mehr gesehen hatte.
Draußen raste ein Güterzug über die stählernen Schienen, laut auf die Stöße schlagend, hart wie die Schläge, die sein Kopf in den Sowjetlagern von Sadisten hatte hinnehmen müssen. „Dass du es nicht ausplauderst!“ Ratsch, batsch, flogen die Fäuste an den Schädel. „ Dass du dich erinnerst, dass wir da sind!“ Ratsch, batsch!
Aus dem schwarzen Schlund der Loks drangen gellende Schreie, die jede menschliche Seele erschauern ließen.
Dass die Frau in ihrer unansehnlichen Kleidung aber immer noch dastand und ihn mit diesen großen Augen anleuchtete, spürte Fritz wie eine wunderbare Wohltat. Es umfing ihn wie ein Sonnenstrahl, der sogar den tristen dunklen Herbstmorgen durchdrang. Sie ging wieder ihrer Arbeit nach. Doch die erste, wenn auch wortlose Freundlichkeit seit Jahren, die er für die Länge eines Atemzuges
erhalten hatte, war als wunderbares Geschenk zu ihm gekommen. Für ein paar unglaublich erfüllte Sekunden wusste er, dass er noch einmal glücklich sein würde. Blinzelnd rieb sich der vierundvierzigjährige Biederstaedt den Schlaf aus den Augen.

Mädchen, du bist mir vom Himmel geschickt worden. Ich bin noch lange nicht am Ende angelangt. Noch bin ich nicht am Boden zerstört. Ich werde noch gute Tage sehen. Noch habe ich Mut zu kämpfen. Zum ersten Mal seit langem dachte er Gutes. Das hatte sie bewirkt. Dass es das noch gibt! wunderte er sich. Seine Blicke umfassten sie. Er schaute sich nicht satt. Ihre Hüften, ihren Kopf berührte er in Gedanken. Unter ihrem Wolltuch war, wie er sich vorstellte, volles blondes Haar. Als Wunder der ersten Schöpfung betrachtete er sie, ließ sie nicht mehr aus den Augen, hängte sich an sie. Es war wie ein sich glücklich ankündigender Sonnenaufgang nach einer kalten Sturm- und Regennacht.

Eine Woche später, die sie ihm versüsst hatte, begegnete er auf der Straße dem Netzmacher Hermann Müller.
„Fritz! Um Gottes Willen! Ich habe mir deinetwegen die größten Sorgen gemacht. Es war unverantwortlich, was sie dir an den Kopf geworfen haben. Komm wieder zurück. Kurt Willig und Milster haben sich für dich eingesetzt und ich auch. Sie werden dich nicht umarmen, aber dein Platz ist an unserer Seite!“ Hermann zerrte einen roten Ball aus der Jacketttasche, knautschte ihn und sprühte den Balsam in seinen Mund. Dann fuhr er fort zu lösen, was ihm auf dem Gewissen lastete.
Es sei unverantwortlich gewesen. „Aber du kennst sie ja, wenn sie sich geärgert haben.“ Sie hätten nie gelernt, sich zu beherrschen. „Es geht bei ihnen nicht durch die Siebe. Was sie denken, sagen sie, unbereinigt.“ Keuchend stand der Asthmatiker vor ihm, klein und unscheinbar. Fritz Biederstaedt hätte den Alten umarmen können. „Danke Hermann. Ich komme!“ Das konnte er sich lebhaft vorstellen, wie der Zwerg die Hünen zusammengestaucht hatte: „Schämt ihr euch gar nicht? Alles im Leben, das man aussendet, kommt doppelt zurück auf den eigenen Kopf.“


Ende Teil 1 Fortsetzung folgt

         
                                                                Gerd Skibbe




                                              Tollensefischer – im Wandel der Zeit




                            


                                                      Junior Edition Steffen 2006


                                                                                  Impressum
                        Gesamtherstellung: Junior Edition Steffen, Steffen  Verlag, Friedland/Meckl.



                                                               2006 Junior Edition Steffen

                                                                           1. Auflage





                                                                   www.verlag-steffen.com

                                                                                                ISBN
     

Freitag, 11. November 2016

Gelegentlich liest man...

Sonderbar, es geht uns zwar alle an, aber nur wenige sind daran interessiert auf den Kern ihres eigenen Wesens vorzudringen.
Wissenschaft blockiert es obendrein. Weil für sie nur gilt was  mess- und nachweisbar ist. Für sie ist kein Weg bereitet einzudringen in Beweggründe und das Sein der Seele.
Henning von Treskow ein entchiedener Feind Hitlers schrieb nach dem erfolglosen Führerattentat aus der Todeszelle: 

Bundesarchiv Bild 146-1976-130-53, Henning v. Tresckow.jpg
Wikipedia (1901-1944) zuletzt Generalmajor der Deutschen Wehrmacht


"Der sittliche Wert eines Menschen beginnt dort, wo er bereit ist sein Leben für seine Überzeugung niederzulegen."

Donnerstag, 10. November 2016

Geschichtskritische Betrachtungen aus dem Blickwinkel eines Mormonen (9)

      4.2  Das erste ökumenische Konzil zu Nicäa warf lange Schatten auf die antike Welt

      Die Großkirchen - Mormonen sind dankbar dafür,  dass es sie gibt! - stehen doppelt in der Pflicht. 

-       Sie müssen, ob sie es wollen oder nicht, zum Original zurückkehren, wenn sie das Überleben des Christusglauben wünschen, denn es wurden, vor allem im vierten und sechsten Jahrhundert, zu viel an ihm herumgepfuscht. Aus einer Kirche der bescheidenen Gleichen wurde eine von besoldeten Verkündern dominierte. Hier der privilegierte Klerus und da die zahlenden Laien. Das war  so gewiss nicht vorgesehen. Üble Einfügungen, wie der Pomp an Kleidungen, Kirchengebäuden, außen und innen, erfolgten auf Kosten der Verinnerlichung des Geistes der Wahrhaftigkeit und der Toleranz. Einzig der große Komponist hätte das Recht auch nur eine Note seiner Partitur zu ändern. Da ist viel mehr Ballast.  

Jeder Theologe weiß z.B., dass ein Altar in einer christlichen Kirche keinen Platz hat, im jüdischen Tempel sehr wohl.  (1) Bertelsmann-Universal-Lexikon „Bis ins 3. Jahrhundert gab es im Christentum keinen Altar.“

Früher wurde ein Abendmahlstisch von den Diakonen in den schlichten Versammlungsraum hereingetragen.  (2) Heinz Kraft Habilitationsschrift „Konstantins religiöse Entwicklung“  „Konstantin ordnete an, (dass in seinem Mausoleum G.S.) Kirche  gehalten wird.  Er ließ einen Altar hineinstellen...“

Die Kirche duckte sich in und nach Nicäa, 325, weg, überall wo sie den Cäsaropapisten hätte widersprechen müssen. Das betrifft zunächst den Vater der Cäsaropapisten Konstantin und dann den heimlichen „Cäsar“, den angeblichen Kaiserberater der sehr verunsicherten jungen Imperatoren Roms, Ambrosius. Zum schlimmsten Unhold dieser Reihe wurde dann Kaiser Justinian. Er war der Totalist unter den Nicänern. Die Todesstrafe solle den treffen, der sich antinicänisch verhält und dieser Kirche den Rücken zukehrt.  (3) Codex Justinianus  I,11,10. Er war charakterlich der Lenin seiner Zeit das sollten insbesondere die Ostgoten zu spüren bekommen,  wie in Russland die Ernährer des Landes, die Kulaken. Wenn man genauer hinschaut, steht einigen Herren von Leningrad, Moskau und Byzanz das teuflisch diktatorische Trachten ins Gesicht geschrieben. Während Jesus eben dieses wölfische Element überwinden wollte.

Mosaic of Justinianus I - Basilica San Vitale (Ravenna).jpg
Justinian I. (482.-565) San Vitale, Mosaik (Wikipedia) zu seinen Lebzeiten angefertigt, nachdem seine Truppen die für ihre Toleranz bekannten, antinicänischen Ostgoten vernichtet hatten


 Er wusste alles besser. Er war der Allergrößte, unendlich größer als Petrus. Konstantin der sich an die Stelle Christi setzte, hatte ihm das vorgemacht. (3)
A. Heisenberg „Grabeskirche und Apostelkirche, zwei Basiliken“ „An der Spitze der Apostel wollte er ruhen, der divus imperator, der den christlichen Staat gegründet, wollte begraben und nach seinem Tode verehrt sein nicht anders als der Sohn Gottes, der die christliche Religion gegründet hatte."  
Erhebliche Veränderungen brachten auch die Verkomplizierung der Dogmen und die jahrhundertelange Ausblendung des Individualrechtes mit sich. All das hat die konstantinisch-nicänische Kirche sowie deren Rechtsnachfolger zu verantworten. 
Im Licht neuer Erkenntisse zeigt sich deutlich, dass keine andere Kirchenlehre dem unbeschnittenen Vorbild ähnlicher ist als die „mormonische“.  Weniger gut informierte Geistliche, bestreiten das heftig, doch zu Unrecht, wie eben die Forschungsresutate unwiderleglich beweisen. 
An der Sprache der arianischen Mosaike - von denen noch die Rede sein wird - kommt niemand einfach so vorbei, wenn er erst weiß um was es geht
Diese vielen als keck erscheinende Behauptung wird in diesem Buch besprochen. Basis sind zahlreiche Dissertationen und Facharbeiten der letzten sechzig Jahre. Vom hohen Ross heruntersteigen werden irgendwann diejenigen müssen die geradezu wütend noch mit Gregor VII. (1020-1085) verkünden: „Die römische Kirche hat nie geirrt und wird nach dem Zeugnis der heiligen Schrift auch in Ewigkeit nicht irren.“ Nicht einmal alle maßgeblichen Kirchenmänner seiner Zeit stimmten mit ihm überein. Petrus Damiani nennt ihn keineswegs anerkennend "heiliger Satan".

Die römische Kirche ist die Nutznießerin der Vernichtung der Arianer. Niemand dürfte deshalb zukünftig weltweit Theologie mit der Aussicht auf ein Pfarramt studieren, es sei denn er anerkennt was die Christen der ersten Generation glaubten. Erst wenn er einen Vorkurs in alter (an neuer Sichtung der Dokumente orientierter) Kirchengeschichte bestand, dürfte er eine Zukunft als Pfarrer planen. Wer den Menschen Licht bringen will, muss es erst erlangen.
Keiner dürfte großkirchlicher Geistlicher werden ehe er nicht Leas "Geschichte der Inquisition im Mittelalter" vom Ersten bis zum letzten Wort gelesen hat und das eidesstattlich erklärt.

-       Zweitens das katholisch determinierte Gottes- und Geschichtsbild ist entschieden in Frage zu stellen!.

Verwunderlich ist, warum heute noch, im Zeitalter der Offenlegung aller ehemaligen Geheimnisse, nur wenige, sehr wenige Christen wahrnehmen, dass das nicänische Bekenntnis unter hundert Wahrheiten eine faustdicke Lüge enthält, eine Unwahrheit die alles verdarb.
      Vergleichsweise gesagt: Es sah aus wie Mehl, war aber Gips, was der anmaßende Sohn des Constantin Chlorus da in Christi Sauerteig hineingeschüttet. Seine Hauptzutat machte das angebliche Lebensbrot, um das wir Gott täglich bitten sollen, ungenießbar. Die Betonhärte des Nicänums besteht in seiner Spitzenbehauptung darin, dass da nicht länger drei Herren oder Götter sein dürfen, sondern nur ein Gott. Seit 325 sollten - mussten - Christen unbedingt glauben, dass nicht länger die ihnen vertraute Vorstellung von der biblischen Gottheit gelten darf, die aus drei „Hypostasen“ (Origenes) bestand, sondern das da eine Verschmelzung gedacht werden soll.
      Konstantin kommandierte in Nicäa an was fortan unter „Trinität“ im Unterschied zum Tritheismus zu verstehen ist. Seine ureigenste Neuerung erhob er in den Rang eines Staatsgesetzes. (4) Bibliothek der Kirchenväter“
     Damit galt es auch für die Heiden. Das führte zu schweren Fehlentscheidungen und Misshandlungen Unbeteiligter. Die ersten Heidentempel wurden noch von NIchtchristen geplündert Nur sechzig Jahre nach Nicäa begann sich heftigst auszuwirken was dort als Gesetz in die Welt trat: Pronicänische Mönchshorden  erschlugen paganische Priester. Sie stürmten gegen deren Tempel, rissen sie ein und nahmen das Gold und Silber. Das war die Konsequenz aus der in Nicäa gestarteten systematischen Fortsetzung der Verfremdung des Evangeliums Christi. Nicht nur in Alexandria trieben böse Christenpriester, vom Schlage des "heiligen" Athanasius ihr finsteres Spiel. Das wurde benannt. Wahrheitsgemäß. Nur vernehmliche Konsequenzen, seitens aller Großkirchen, blieben bislang aus!. Insbesondere seitens der röm.-katholische Kirche muss dieser Schritt erwartet werden. Doch dort zählt Athanasius weiter zu den Heiligen. Indessen weiß die Forschung wer dieser kleine Hetzer in Wahrheit war. 


    „Von den 34 melitianischen Bischöfen in Ägypten... hatte sich ein erheblicher Teil nach Nicäa nicht unterworfen... die Melitianer ... erhoben Klage gegen die Gewalttätigkeiten Athanasius... in der Fastenzeit 332 brachte Athansius den Presbyter Ischyras (einen seiner Kritiker G.Sk.) durch eine politische Denuziation (er hätte Steine gegen eine Kaiserstatue geworden) beim Präfekten Hyginus ins Gefängnis. Ischyras kaufte sich durch ein ‚Geständnis’ frei... alle Anklagen gegen Athanasius seien erlogen... er widerrief es später...“ Die Gewalttätigkeiten gegenüber Melitianern hielten an „...334 ließ Athanasius eine Zusammenkunft melitianischer Bischöfe und Kleriker mit brutaler Gewalt sprengen... Straßenkrawalle der christlichen Jungfrauen toben... Der Brief (Kaiser) Konstantius (nach dem Athanasius eine Vorladung der tyrischen Bischöfe erwirken soll) ist mit O. Seek als eine Fälschung des Athanasius anzusehen, welche das (ariusfreundliche G.Sk.) Urteil jedes Ansehens berauben soll.“ (4) K. D. Schmidt, E. Wolf und R. Lorenz „Die Kirche in der Geschichte“ ein Handbuch Vandenhoeck & Ruprecht

  „Ein wahres Spießrutenlaufen erlebte Lucius, einer der Gegenspieler des Athanasius, als er 367 die Stadt verlassen mußte. Damit ihn nicht das Schicksal seines Vorgängers ereilte, den die athanasianische Menge gelyncht hatte, wurde er unter militärischer Bewachung aus Alexandria geleitet: "Alle schrien mit einer Stimme und eines Sinnes im Chor von dem Haus, aus dem er [Lucius] abgeholt wurde, durch die Stadt hindurch bis zur Wohnung des Militärbefehlshabers; sie stießen Beleidigungen und Anklagen aus und riefen: ´Werft ihn aus der Stadt“. (5) Manfred Clauss „Alexandria, Schicksale einer antiken Weltstadt“ 2. Aufl. 2004 zitiert Athanasius, Historia Arianorum, 5,13
   Der bekannte Theologe Schleiermacher konnte jedenfalls nicht umhin festzustellen, dass

   „Athanasius... das Signal zu den Verfolgungen gegeben hat. Schon auf dem Nicänischen Konzil mag er die Hauptursache des strengen konstantinischen Dekrets gewesen sein... Er fängt überall mit Schimpfen und Heftigkeit an und ist unfähig und unbeholfen im Disputieren.“ (6) Joachim Boekels, Dissertation: Schleiermacher als Kirchengeschichtler – 1993

   Athanasius Anklagen verstummten nie wieder:
    „Unter Rückgrif auf typische Formen der Polemik greift Athanasius seine Gegner an und diskriminiert ihre Handlungsweise grundsätzlich.... dass die Arianer sich wie dauernd umherschwirrende Stechmücken verhalten, ist eine Metapher. Die Athanasius immer wieder verwendet.“ (7) Annette von Stockhausen „Athanasius von Alexandria Epistula ad afros.“ Walter de Gruyter Uni Erlangen 2001 S. 186-187

      Auch Adolf von Harnack urteilt,  „die Sprache das Hasses erfüllte die Kirchen.“ 

Athanasius hetzte gegen den Geist Christi und die konstantinisch ausgerichteten Kirchen feiern ihn  Auf dem nun jedem zugänglichen Tisch liegen diese schwarzen Tatsachen die seitens der Großkirchen, durch ihr inkonsequentes Schweigen zu dieser damals in Nicäa verursachten Beschleunigung des Werteverfalls, insofern geleugnet werden, als sie sich nicht vom nicänischen Staatsgott lossagen. Hass war die Folge von Nicäa. In Nicäa diktierte die Angst und sie, die heutigen Herren des Wortes, bleiben diesbezüglich überwiegend sprachlos.Die historische Wahrheit kam dennoch an Licht:

 Seitens des Kaisers Konstantin wurde mit Drohungen und Ankündigung von Repressalien gearbeitet. Jeder Bischof wird einzeln vorgenommen. Ihm wird das Bekenntnis (das Nicänum) vorgelegt und er wird zugleich vor die Alternative gestellt, entweder zu unterschreiben oder in die Verbannung zu gehen... in Nicäa wird auch die Kirchenorganisation in die Organisation des Reiches eingepasst. Folgerichtig wurden alle in Nicäa gefassten Beschlüsse zum Reichsgesetz erklärt.“ (8)  
Rudolf Leeb „Konstantin und Christus“ – die Verchristlichung der imperialen Repräsentation

Noch mehr als dreißig Jahre später lehnen die Homöusianer das nicänische „homousious“ unter anderem abweil Konstantin in Nicäa der Unterschriften der Bischöfe mit Gewalt erzwungen hatte
...“  (9) H. Chr. Brennecke „Ecclesia in republica“ Theologiegeschichte

      Niemand solle - durfte - mehr seinen Gott suchen, sondern jeder Bürger des Reiches hatte hier zu parieren und den von einem Sol-Verehrer bestimmten Neugott anzunehmen, der dem Hirn eines größenwahnsinnigen Kaisers entsprungen war. Das wurde manifest im römischen Staatsrecht und wehe dem der das ungeheure Ansinnen abwies..Auf das Lesen arianischer (nichtnicänischer) Bücher setzte der neue Oberbischof die Todesstrafe,
     
Die mit solcher Gesetzgebung verbundene Intoleranz lastet immer noch auf dem Gewissen der Schweiger.  Auch diejenigen das auf die „leichte Schulter“ nehmen wissen es. Jedermann im römischen Herrschaftsbereich - der zuerst ein rein weltlicher war, dann von der Kirche übernommen wurde - spürte den eisigen Hauch des MUSS dort wo die um ihre Existenz ringenden Menschen Wärme suchten. Inhalt, Geist und das Verfahren der Durchpeitschung des „Nicänums“ selbst widersprechen bis heute sowohl der Vernunft wie der Bibel. Sie sagt, das ewige Leben bestünde darin  „den allein wahren Gott zu erkennen.“ Es heißt da ganz und gar nicht: Du hast nicht nachzudenken, sondern zu akzeptieren, andernfalls stellst du dich gegen den Kaiser.

Prof. Hans Küng stellt es ebenfalls fest:
 „Konstantin selber läßt das nachher so sehr umstrittene unbiblische Wort wesensgleich griech. Homousios lat. ‚consubstatialis einfügen... Die Unterordnung des Sohnes unter den einen Gott und Vater (der Gott) , wie von Origenes und den Theologen der Vorzeit allgemein gelehrt, wird jetzt ersetzt durch eine wesenhafte, substantielle Gleichheit des Sohnes mit dem Vater (10) „Kleine Geschichte der katholischen Kirche“

Adolf von Harnack unterstreicht es:

Die große Neuerung, (nämlich das Athanasium G.Sk.) die Erhebung zweier unbiblischer Ausdrücke“ (Vater, Sohn und Heiliger Geist sind „unius substantiae“ G.Sk.zu Stichworten des Katholischen Glaubens sicherte die Eigenart dieses Glaubens... Im Grunde war nicht nur Arius abgewiesen, sondern auch Origenes... fortan musste die Kirche die Last einer ihr fremden Glaubensformel tragen.“ (11) „Lehrbuch der Dogmengeschichte“

      Diese Neuheit („Neuerung“) entsprang dem auf Arroganz und Machtwillen getrimmten Kaiserhirn des Regenten Konstantin.  Sie entsprach seiner persönlichen, heidnischen Gottesvorstellung. Mit List und Tücke wurde sein Gottesbild ins Zentrum des Christlichen hineingepresst.
      So war es. Die Forschung hat es bewiesen, aber die christlich-ökumenischen Christengemeinschaft hat sich dermaßen an das Gipsbrot gewöhnt, sie mag ihre Gewohnheit nicht aufgeben. Aus ihrer Reihen kommen die Verleumder des Mormonismus, die nachweislich unverschämt Quellen fälschen!
   Sie sind die Spitzenverteidiger eines zum Glück abgelebten Systems. Sie finden sonderbare Formulierungen pro Nicäa, obwohl niemand je mit dieser Kaiseridee harmonisch leben konnte, inclusive sie selbst.
      Einer der Teilnehmer des 1. Ökumenischen Konzils, Bischof Basilius berichtet wie er es wahrnahm, was dort damals auf dem Sitz des Imperators geschah und wie es danach weiterging. Er verglich die nachkonziliare Situation sogar mit einer

      „Seeschlacht in der Nacht, in der sich alle gegen alle schlagen, und … und infolge der konziliaren Dispute herrsche in der Kirche eine „entsetzliche Unordnung
und Verwirrung“ und ein unaufhörliches Geschwätz!" (12)  Pfarrblätter, Bischof Koch Okt. 2008

      Es war ein Verwirrspiel. Niemand konnte jemals das Nicänum verstehen. Als Athanasium ist es obendrein recht tückisch. Was es mit der nicänischen Trinität wirklich auf sich hat, begriffen selbst einige der in Nicäa damals anwesenden Unterzeichner erst hinterher! Bis heute fand ich keinen Geistlichen der mir oder sich selber plausibel machen konnte was er unter dem Begriff „der trinitarische Gott“ versteht.
     
Prof. Dr. Bernd Oberdorfer, Augsburg, Fachmann für systematische Theologie, bekennt diese Tatsache ehrlich:
Muss, wer an Jesus Christus glaubt, sich auch das paradoxe „Hexeneinmaleins“ (Goethes) zu Eigen machen, dass Gott einer und drei zugleich ist? Verlegenheit ist noch das harmloseste, was viele Christen (darunter nicht wenige Theologen) befällt, wenn die Sprache auf die (nicänische) Trinitätslehre kommt.“ (13) „Zeitzeichen“, evangelische Kommentare, August 2004

Prosper Alfaric, ein Expriester der Katholischen Kirche, legte schon früher den Finger auf diesen wunden Punkt:
„Man kann einem Christen keinen größeren Streich spielen, als ihm die Frage zu stellen, was ist Gott?“ (14) „Die sozialen Ursprünge des Christentums“
Im Herbst 1968 begegnete ich in Storkow/Hubertushöhe einem Jesuitenpater, der die „Armen Schulschwestern“ seelsorgerisch betreute. Der auf mich angenehm wirkende Herr ließ sich herbei meine Fragen nach Gott nach seinem besten Wissen und Gewissen zu erläutern. Wir spazierten auf dem freien Gelände zwischen meiner Fischereischule und dem Zaun des Klostergeländes den Weg zum See hinunter.
Er strengte sich wirklich an, nahm einen Stock und zeichnete ein Dreieck in den Storkower Sandboden, aber was er ausführte kam mir vor wie ein Stochern nach Wasser in einer Wüste.
Mir schien damals, dass ein Trickspiel kaum komplizierter sein könnte. Andererseits gibt es mehrere Berichte ernstzunehmender Leute die im Verlaufe der letzten 6 000 Jahre so gut wie geschworen haben, sie hätten Gott gesehen und sie vermochten es ihn den „mitthronenden“ Jesus zu beschreiben.
Einer von ihnen ist Johannes, der Offenbarer. In seinem Buch, dem niemand Worte hinzusetzen oder von ihm etwas fortnehmen durfte  schreibt er:
„... unter den Leuchtern sah ich einen, der wie ein Mensch aussah; er war bekleidet mit  einem  Gewand,  das  bis auf  die Füße reichte, und um die Brust trug er einen Gürtel aus Gold. Sein Haupt und seine Haare waren weiß wie weiße  Wolle, leuchtend weiß wie Schnee... als ich ihn sah, fiel ich wie tot vor seinen Füßen nieder. Er aber legte seine rechte Hand auf mich und sagte: Fürchte dich nicht! Ich bin der Erste und der Letzte und der Lebendige. Ich war tot, doch nun lebe ich in alle Ewigkeit, und ich habe die Schlüssel zum Tod und zur Unterwelt.“ (15) 1. Kapitel
Paulus beteuert in seinem 1. Brief an die Korinther, der von den Toten auferstandene Jesus Christus sei „mehr als 500 Männern auf einmal erschienen...“ (16) Kap 15: 6 Nein. Er ist nicht gestaltlos in einem „Astralleib“ erschienen, davon spricht niemand, außer den Athanasianern. Nirgendwo gibt es einen tragfähigen Hinweis der Auferstandene hätte sich aufgelöst. In den theologischen Spekulationen ist Gott ein Nebel der letztlich alles ist und doch nicht mehr erkennbar. Der Theologenstreit hat ihn verschluckt.
Sie flüchten in ihrer Hilflosigkeit, der sie entsprechend ihrer Amtsverpflichtung nachzukommen haben, gerne in die Johannesaussage:

Gott ist Geist und die ihn anbeten, müssen ihn im Geist und in der Wahrheit anbeten.” (17) 4: 24

 Lehre und Bündnisse, eine Zusatzschrift der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage (Mormonen) belehrt uns, dass der Mensch ebenfalls Geist ist.

          "Der Mensch ist Geist!" (18) Abschnitt 93: 33  

Nämlich das innerste Wesen Gottes, wie des Menschen, ist Geist und die Kombination aus Geist und Körper bildet die Seele.

Den meisten der 220 Konzilsteilnehmern die sich, als Zeichnungsberechtigte in Nicäa zusammengefunden hatten, stand nach wie vor die „christliche Wahrheit“ näher als der durch Kaiser Konstantin kreierte “neue” Glaube, auch wenn sie aus Angst das Gegenteil unterschrieben hatten. Später bestätigte sich die Wirklichkeit dieses Verbrechens:
      Mit großem Unbehagen gingen die Bischöfe von Nicäa heim. Nicht wenige bereuten, dass sie auf den goldenen Haken gebissen hatten. Im Reisegepäck einiger Verärgerter befand sich unter den Utensilien wahrscheinlich ein Taschentuch mit einem Knoten. Der bedeutete sich fortan daran zu erinnern, dass ihr kirchlicher Vorgesetzter jetzt ein Mann mit einem Generalsgesicht war. So hatten sie sich den Kaiser nicht vorgestellt, so martialisch und ehrfurchtgebietend. In Wahrheit hatten sie einen Erinnerungsknoten geschnürt als Verpflichtung die „fremde Glaubensformel“ niemals zu lehren. Wie sollten sie jemals vergessen, wie sie in seiner Gegenwart dastanden, als Schulbuben vor dem großen Zuchtmeister. Und all das weil es unter ihnen zwei Dutzend gab,  die ihre Niederlage herbeigesehnt, nun aber stolz nach Hause fuhren, weil ihnen die Siegerkrone zufiel. Die Männer um Bischof Ossius wie Alexander von Alexandria und sein Ideenreiter Athanasius, der gelehrte und ehrgeizige Knabe. In die Knie gezwungen wurden sie, die Mehrheit der anwesenden Bischöfe, zu bekennen, was sie nicht wollten.
      Ihr neuer Oberherr beanspruchte den Platz der Petrus zustand, der niemals ähnlichen Unfug gelehrt hatte. Mehr, ihr neuer OBERBISCHOF; wie er sich selbst bezeichnete (Bischof der Bischöfe) wollte zuletzt ihr eigentlicher Gott werden und war doch zugleich ein Baal-verehrer. Dieser "Bischof" war zudem ein Ungetaufter, wie konnte er dann beanspruchen ihr Haupt auf Erden zu sein?
      Hinterher erfuhren einige Bischöfe, dass ihr Verdacht, Konstantin stehe in der Tradition des Baal, zutraf. Niemals hätte der römische Senat, 313, nach der blutigen Schlacht an der  milvischen Brücke, ohne Konstantins Zustimmung den Triumphbogen (Konstantinbogen) zu Ehren Sol Invictus errichten dürfen, also bestätigte er auf diese Weise wem er sich wirklich verbunden fühlte.  
        
"Ursprünglich vereint Sol Invictus mehr oder weniger die orientalischen Religionen wie den persischen Mithras und den syrischen Baal. Die Wurzel dieses nach Rom exportierten Baal lässt sich zurückverfolgen nach Emesa, mit dem Stadtgott Sol Elagabal. Sol Invictus ist bereits unter Vespasian geläufig. Er stellte ihm zu Ehren schon im Jahre 75 eine Kolossalstatue auf, seit Commodus trägt jeder Kaiser den Titel Invictus." (19) www.uni-Protokolle 


 "Auf dem Konstantinbogen tragen die Soldaten Statuetten der Victoria und des Sonnengottes, also der Gottheiten seiner Vision von 310. Konstantin führte weiterhin den altrömischen Titel «Pontifex Maximus», oblag nichtchristlichen Opferriten und ließ Symbole des Sonnenkults und paganer Götter auf seine Münzen prägen. Er ließ seinen Vater als «Divus Constantius» heiligen und bis wenige Jahre vor seinem Tod Tempel bauen und darin Kulte für seine Familie einrichten. In seiner Neugründung Konstantinopel ließ er eine Statue seiner selbst als Sonnengott mit Strahlenkrone, Globus und Lanze auf einer riesigen Porphyrsäule aufstellen.
Seine Konsekrationsmünze zeigt ihn, wie er im Gespann des Sonnengottes zum Himmel auffährt, aus dem sich ihm eine Hand entgegenstreckt, genauso, wie es ein Festredner 307 in Trier bereits für den Divus Constantius beschrieben hat." (20) Dr. Heinz Hofmann emeritierter Professor für lateinische Philologie an der Universität Tubingen

Der evangelische Autor Heinz Kraft fügt hinzu:

„Am 21. Juli 315 hielt Konstantin seinen feierlichen Einzug nach Rom zur Feier der Dezennalien. Das Fest wurde mit der üblichen Pracht begangen, das Volk beschenkt und große Spiele abgehalten. Zu dieser Feier war der die Schlacht am Ponte molle (milvische Brücke) verherrlichende Triumphbogen vom Senat errichtet worden. Sein Bilderschmuck nimmt vom Christentum Konstantins keine Notiz. Konstantin feiert den Sonnengott als seinen Beschützer..."

L‘Orange (ein Historiker) hat bewiesen, dass es der Sonnengott Sol Invictus ist, der hier als Gott des Kaisers gezeigt wird.“ (21) Habilitationsschrift „Konstantins religiöse Entwicklung“

Sol Apollo bzw. Mithra oder Sol Invictus sind mit Baal verwandt und zwar eben mit jenem Baal der in der Bibel als großer Gegenspieler Jehovas auftritt:

"Von deinen Nachkommen darfst du keinen für Moloch (Baal) darbringen. Du darfst den Namen deines Gottes nicht entweihen. Ich bin der Herr." (22) Lev. 18: 21

Wenn man bedenkt, wie viele Opfer die Nichtnicäner, - all diejenigen die sich gegen die Konstantinisierung stemmten - vor allem die Arianer, bringen mussten, dann erhebt sich wie von selbst die Forderung nach der Dringlichkeit  einer  Rehabilitierung. Fest steht jedenfalls, dass die Geschichtsbücher umgeschrieben werden müssen. Es gab keine arianische Häresie, sondern eine athanasianische.
Das einzugestehen wäre keine Schande. Im Gegenteil es würde Christus erheben - und ist es nicht das was Christen wollen?
Ein weiterer Anlass die Rehabilitierung einzufordern ist eine Randnotiz, erschienen in dem Buch "Kirchen und Ketzer" von Thomas Hägg
Darin steht nun nur dieser simple Satz: 

 "der Erzketzer Arius ist Traditionalist. Er steht fest auf dem Boden der kirchlichen Lehrtradition." (23)
zwischen 2004 und 2006, mit Unterstützung des norwegischen Forschungsbeirates für Klassische Philologie und Religionswissenschaft der Universität Bergen geschrieben
Für Insider entspricht diese schlichte, korrekte Feststellung, in ihrer Dimension, der ungeheuren Behauptung:

nicht Adolf Hitler, sondern Lord Chamberlain und Dalladier brachen den 2. Weltkrieg vom Zaun“

falls eine anerkannte Autorität in Sachen neue Geschichte solche Lüge schreiben und beschreiben würde. Bislang galt nämlich, allen Erkenntnissen zum Trotz ein Lehrsatz den der berühmte Ludwig Hertling mit Imprimatur, so formulierte:

... der Arianismus war die erste der drei großen Häresien, die im Altertum die Kirche erschütterten.“ (24) „Geschichte der katholischen Kirche bis 1740“

Obwohl seit langem bekannt ist, dass der Hetzer und Gegenspieler des Presbyters Arius (250-336), nämlich der Diakon Athanasius (298-373) der Verursacher der folgenschwersten Häresie war, geht seit 1 700 Jahren, diese bösartige Verleumdung um.
Arius hat Schuld!“ In Wahrheit sind es Kirchenpolitiker gewesen, angesteckt vom Ungeist Konstantins, des rücksichtslosesten Imperialisten seiner Zeit. Sie, die Ambrosius, Damasus von Rom, Cyrill von Alexandria sind die Zerstörer der antiken Welt.
Unerhört, was sich gewisse Theologen damit leisteten, Arianern dafür die Schuld in die Schuhe zu schieben. 
Ein Glück das alles herauskommt, irgendwann. Unser aller Sinn für Gerechtigkeit verlangt es danach. Hunderttausende „Wahrheitsverkünder“, die Pfarrer und Prediger werden wollten, mussten, bevor sie ihre Universitäten verließen, geradezu einen Eid auf diese Unwahrheit leisten. Vor allem in den USA wird immer noch, seitens der Evangelikalen, jede Wette auf das falsche Pferd gesetzt. Reuelos geht das so weiter.
"Wer nicht athanasianisch glaubt, ist des Teufels." (25) Mormons  Romney Presidency “Dangerous” According to Evangelical Author     (ReligionDispatches) (May 28, 2011) Warren Smith, Journal „Religion Dispatches“, Mai 2011, Autor Keller verschärfte den Ton noch: “A vote for Romney is a vote for Satan.”

All das im 21. Jahrhundert!
Ein doppelter Blick ins Internet legt offen, das auch im deutschsprachigen Raum bis zur Stunde und wider besseres Wissen von der „arianischen Häresie“ geredet wird. Binnen einer viertel Sekunde findet Google - search: 26 000 Einträge unter: "Die arianische Häresie", aber nicht eine von der „athanasianischen Häresie“. Das wird sich ändern.

Natürlich weiß kaum jemand, von Insidern und Experten abgesehen, worum es überhaupt ging und geht.
Noch einmal kurz gesagt und für einige zur Erinnerung:gemäß Athanasius Meinung! ist es falsch zu glauben, dass Elohim, der Vater Jesu Christi, größer als sein Sohn ist (und ebenso inkorrekt sei es, dass demzufolge Jesus erst Gott - im vorirdischen Dasein - wurde, da das Jesus verkleinern würde).

      Der buchstäblich unchristliche Anteil im „Nicänum“ hat weitaus mehr Tote gekostet als der Holokaust der Nationalsozialisten. Der Vernichtungszug der Befürworter des Nicänums verursachte Massenverfolgungen aller Andersbekennenden zwischen 374 und mindestens bis 1848.

Wer hier protestiert bedenke, dass alleine die auch wegen nicänischer Intoleranz geführten und von Päpsten initiierten großen Kreuzzüge  etwa 20 Millionen Tote kosteten (26) „Die Kreuzzüge in Augenzeugenberichten“, dtv-Taschenbuch, 1971  Bei der Eroberung Jerusalems (1099) wurden etwa 70 000 Juden und Muslime im Blutrausch umgebracht - die gesamte Einwohnerschaft der Stadt. Die noch vor Blut triefenden Ritter gingen anschließend »vor Freude weinend ... hin, um das Grab unseres Erlösers zu verehren, und entledigten sich ihm gegenüber ihrer Dankesschuld« - so ein Augenzeuge

Historiker werfen immer mehr Licht auf die tatsächliche Geschichte. Unlautere Berichterstattung wird irgendwann korrigiert und manchmal blamiert oder sogar gnadenlos verurteilt.
So war das im Fall der polnischen Offiziere in Katyn, die 1940 von sowjetischen Militär- oder „Sicherheits“ - Einheiten erschossen wurden, und nicht, wie kommunistischerseits behauptet, von den Nazis, obwohl nicht wenigen Deutschen leider auch das zuzutrauen gewesen wäre.
Gewissheit allerdings, konnte im Osten Europas kein Historiker erlangen, wer die insgesamt 24 000 Männer hinrichtete, sehr wahrscheinlich, weil sie sich ihrer Bolschewisierung widersetzten, bis Michail Gorbatschow am 13. April 1990

"die sowjetische Verantwortung für diese Massenmorde einräumte und sein tiefes Beileid ausdrückte. Die Ministerpräsidenten Russlands und Polens, Wladimir Putin und Donald Tusk gedachten 2010 in Katyn erstmals gemeinsam der Verbrechen. Noch lebende Täter wurden jedoch strafrechtlich nicht verfolgt." (27) Wikipedia Ein US-Untersuchungsausschuss bewies allerdings bereits 1952 die NKWD-Täterschaft.

So ähnlich verhält es sich mit den Henkern die sich stolz Christen nannten, die aus unglaublicher Arroganz Verleumder, Hetzer und Mörder wurden, die jedoch im Gegensatz zu den Katynverbrechern noch nicht öffentlich blossgestellt und angeklagt sind, wie im Fall des Damasus von Rom, der als extremer Befürworter des nicänischen Bekenntnisses blutig operierte. (28)Martin Rade lic. Theol. „Damasus, Bischof von Rom“,.

"Eine Anzahl Arianer Roms gingen am frühen Morgen des 26. Oktober des Jahres 366 in ihre kleine Julii-Kapelle (heute: St. Maria in Trastevere). ...Deshalb rückte „(um) acht Uhr morgens, Damasus mit seinem gottlosen Anhang heran. ... mit (dem) gesamten Klerus, alle mit Beilen, Schwertern und Knitteln bewaffnet... während kein einziger Damasianer fällt erliegen 160 Ursinaner dem Angriff." Bischof Ursinus entkommt mit einigen Freunden) 

Die Opfer der  frommen Fanatiker hatten sich nur geweigert ein Bekenntnis zu akzeptieren, das dem Rat ihres Gewissens widersprach.
Nach der Meinung des Athanasius,  dieses kleinen dunkelhäutigen Wortgewaltigen und in Übereinstimmung mit der paganen, zum Monotheisnus neigenden Lehrauffassung Kaiser Konstantins, sind da nicht mehrere Götter sondern nur einer, - ein Kollektivgott -.
Diese Neigung zur Eingottlehre entsprach dem Mode-Trend des heidnischen Rom – und für einige Christen, so wie für Athanasius, war es dem 1. der 10 Gebote Mose geschuldet:

„ICH BIN der Herr dein Gott, … du sollst nicht andere Götter haben neben mir.“ (29) Exodus 20: 2

Arius (250-336) - ein hoch gewachsener Mann, der leicht gebückt ging, gekleidet in Toga und Mantel, immer mit gedämpfter Stimme und bemerkenswert tolerant, - widersprach nicht der Aussage der Bibel. Er betonte, wenn auch vergeblich, dass er ebenfalls, wie sein Feind Athanasius, den Wortlaut des 1. Gebotes verteidigte: mit dem Unterschied, dass er die Formulierung:
                                          „Ich Bin der Herr dein Gott“
auf Christus bezog. Denn das war ja der Vorwurf auf Gotteslästerung den die Juden damals erhoben und weshalb er letztlich gekreuzigt wurde. Jesus habe schon zuvor in einer anderen Szene den Pharisäern, auf die Frage wer er sei, geantwortet:
„... Jesus antwortete ihnen: ICH BIN von keinem Dämon besessen, sondern ehre meinen Vater... ICH BIN nicht auf meine Ehre bedacht... Amen, amen ich sage euch: noch ehe Abraham wurde BIN ICH. Da hoben sie Steine auf um sie auf ihn zu werfen“ (30) Joh. Kap 8: 48-59, so Joh. 18: „Auch Judas, der Verräter stand bei ihnen. Als Jesus wiederholte: Ich bin es! wichen sie zurück und stürzten zu Boden und er fragte sie  abermals: Wen sucht ihr? Sie sagten: Jesus von Nazareth. Jesus antwortete: Ich habe euch gesagt, dass ICH es BIN.“ 

Mormonen glauben dasselbe:
„Jehova, der Gott des Alten Testaments, ist Jesus Christus, der große ICH BIN.“ (31) Lehre und Bündnisse 29:1
Mormonen glauben darüber hinaus, dass das eigentliche Christentum die Lehre von der Liebe ist, die von der Toleranz, aber nicht der Gleichgültigkeit. Kaum eine andere Kirche beschwört dies in ihren Artikeln unmissverständlich, wie die Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage:

"Wir beanspruchen das Recht, den Allmächtigen Gott zu verehren, wie es uns das eigene  Gewissen gebietet, und gestehen allen Menschen das gleiche Recht zu, mögen sie verehren, wie oder wo oder was sie wollen." (32) 11. Glaubensartikel