Dienstag, 20. März 2012



Schritte durch zwei Diktaturen (2)


Gerd Skibbe




Im Frühsommer 1945, arbeitete ich auf dem jetzigen Gelände der Peenewerft in Wolgast als Dienstverpflichteter der Roten Armee. Einmal schwammen wir immer wieder leichtfertigen Bengel hinüber auf die andere Seite des Stromes, etwa zweihundert Meter weit, zur Insel Usedom. Dort fanden wir die durch einen nur teilweise ausgeführten Stacheldrahtzaun und eine Anzahl Verbotsschilder vor unbefugtem Zugriff nur mangelhaft geschützten Waffen einer der letzten Hauptkampflinien des Krieges. Unverschlossene Kisten mit Munition aller Art standen zu Dutzenden umher. Deshalb war es unter Androhung von Todesstrafe verboten, dieses Fleckchen Erde zu betreten. Minuten später ballerten wir, wie nur hirnrissige Halbwüchsige handeln, mit den in unseren Augen wunderschönen Karabinern in der Gegend herum. Die in Massen vorhandenen Patronen erwiesen sich als Leuchtspurmunition. Sie zeichneten in den blauen Himmel einen rasant vorwärtsjagenden kurzen, weißen Strich, der unseren Standort schnell verriet. Mir war zuerst zumute wie Robinson auf seiner herrenlosen Insel, dem alles, was sich ihm darbot, gehörte. Nur, dass Klein Zinnowitz nicht im Pazifik, sondern nahe bei der altehrwürdigen Herzogstadt Wolgast lag und, dass da die misstrauischen, immer noch schmerzerfüllten Sieger residierten, die mit ihrer Allmacht niemals Spott treiben lassen würden. Plötzlich hörten wir das typische Brummen eines langsam und tieffliegenden Flugzeuges. Ein lichtfarbener Doppeldecker kam schwerfällig und harmlos wie ein Maikäfer näher. Unser Verhängnis schwebte heran, mit einem unübersehbar roten Sowjetstern unter den hellblauen Tragflächen, kaum einhundert Meter über unseren Köpfen. Wir konnten den Kopf des Piloten erkennen. Er sah uns gewiss nicht, denn wir standen unter den Bäumen und zielten seelenruhig auf sein Flugzeug. Wer uns vor der Ausführung dieser Todsünde rettete? Ich war es nicht.

Unser Engel hieß Büna Bergemann, ein ehemaliger Hitlerjunge wie wir. “Seid ihr des Teufels!” schrie er uns in letzter Sekunde an. Er war unversehens zu uns gestoßen. Auch er ein Übertreter militärischer Weisungen.

Beschämt ließen wir sieben Taugenichtse die Karabiner sinken.

Ein Patrouillenboot kam in Sicht, noch weit entfernt. Es kreiste im Brückenbereich, konnte aber jeden Augenblick auf uns zurauschen. Wenn die uns erwischten, dann war es aus mit uns. Wir flohen schwimmend. Wir konnten aber gar nicht entkommen. Viel zu viele Ohren hatten es gehört, zu viele Augen die verräterischen weißen Striche der Leuchtspurmunition gesehen. Sie schnappten uns noch, als wir bereits glaubten, die Gefahr sei vorbei.

Niemand kann sich die Folgen seines Handelns aussuchen, auch wenn sie nicht mit eiserner Notwendigkeit feststehen, sondern von tausend Zufällen variiert werden, die das Leben so unberechenbar machen. Sie umstellten uns auf dem Festland. Eine Anzahl Maschinenpistolen, mit ihren typisch runden Munitionsmagazinen richtete sich gegen uns. Wir standen nun kläglich und scheinbar arglos, in schwarzen, fadenscheinigen und nassen Badehosen da. Alles rings um uns herum erstarrte, sogar die Zeit. Bis ein Jeep herangebraust kam. Er raste aus einer Staubwolke auf uns zu. Ein vierschrötiger Mann in olivefarbener, medaillenbehängter Uniform saß neben einem schmalen, jungen Fahrer. Der Stadtkommandant - oder war es sein Stellvertreter? - Noch ehe das Fahrzeug anhielt, sprang der Koloss behende aus der offenen Kabine. Breitbeinig und aufstampfend lief er gesenkten Hauptes auf uns zu, wütend wie ein gereizter Bulle, ein leibhaftiger Racheengel für alle von der SS und der Wehrmacht ermordeten Russen. Aller Anwesenden Blicke zog er auf sich. Grob wie ein Berserker und Menschenfresser beherrschte er die Szene, Furcht einflößend. Ein bestimmtes Wort, nur ein einziger eindeutiger Wink seiner Hand und wir hätten vielleicht nur noch die Blitze aus den Mündungen der MPs bemerkt, mehr nicht. Er brüllte wie ein wildes Tier. Aber je länger der kolossale Mann umhertobte, umso mehr verzögerte er das erwartete Aufblitzen. Irgendwie kam die vage Hoffnung in mir auf, wir könnten mit dem Schrecken davonkommen. Wir ahnten ja nicht, dass es zwischen Tod und Freiheit noch Sibirien und Karaganda gab. Es sausten und kreisten in meinem Kopf zwar nur wenige Begriffe umher, aber selbst diese konnte ich nicht fassen. Alle meine Sinne richteten sich auf den einen irrsinnigen Wunsch, es möge ein Wunder geschehen. Dass sich in diesen Sekunden unser Aufpasser, ein Mann namens Kell, vordrängte und an den wutschäumenden Mann heranwagte, nahm ich nur aus den Augenwinkeln wahr, während die kühlherzigen, in ihr Soldatenschicksal ergebenen, nur wenig älteren, Burschen immer noch das Kommando zum Feuern erwarteten.

Drei Männer sprachen laut, in abgehackten Intervallen, wild mit ihren langen Armen rudernd, hin und her übersetzend, bis wir allmählich begriffen, aber nicht eigentlich verstanden, dass der Mann mit seiner roten Armbinde, ein ruhiger alter, menschenfreundlicher Deutscher, mit seinem Leben für uns bürgte. Ich weiß immer noch, dass der Mann Kell ein Kommunist war, der seinen Kopf für unseren hinhielt. Das Unglaubliche geschah, weil dieser kommandierende russische Offizier mit seinem derben Gesicht und dieser ungeheuren Nase sich unserer erbarmte. Vielleicht hatte die SS seine Söhne erschossen,... wenn sie denn auch so jüdisch ausgesehen haben mochten wie ihr Vater... Sie ließen uns laufen? Sie ließen uns laufen! Nach diesem Aufwand? Wir stoben auseinander, in alle Himmelsrichtungen. Ich verkroch mich in einem Maschinenraum, hockte da lange wie gelähmt drin. Kein Wort Zuhause davon. Die schlimmsten Ereignisse hören die eigenen Angehörigen oft ohnehin als Letzte.

Was war wirklich geschehen? Hunderte, tausende anderer, die nicht mehr, eher viel weniger als wir verbrochen hatten, landeten in dunklen Todeslöchern und in Fanggruben ehemaliger Hitler-KZ. Oder sie wurden verfrachtet, um in Irkutsker Lagern des Archipels GULAG geworfen zu werden, die meisten, um nie wieder heimzukehren.

- Zwei von uns sollte das große Unglück noch treffen. -

Ich begriff langsam, oder wollte glauben, dass mir von dem mir oft noch unendlich fernen und in seiner wirklichen Existenz noch ungewissen Gott, Gnade geschenkt wurde. Wahrscheinlich geschah mir das im Vertrauen darauf, dass ich nicht wieder gegen meine Überzeugung handeln würde.



Kurze Zeit danach fand ich beim Stöbern auf dem Hausboden meiner Eltern zwischen alten Kartons die antimormonischen Bücher der Pastoren Zimmer und Rößle, die mein Vater sich zwar zugelegt hatte, aber offensichtlich von uns fernhalten wollte. Eigentlich hatte ich ein Versteck gesucht weil ich Vaters Fotoapparat retten wollte. Durch öffentliche Bekanntmachung waren wir von der russischen Besatzungsmacht aufgefordert worden umgehend alle Fahrräder, Radios und Fotogeräte im Rathaus abzuliefern. So stieß ich auf die “verbotene” Literatur. Wahrscheinlich hätte ich sie nicht gelesen, wenn sie, ganz normal, in seinem Bücherschrank gestanden hätte. Das Geheimnisvolle zog mich magisch an. Die beiden “Werke” las ich schnell hintereinander weg. Die Darlegungen der beiden Pastoren fesselten mich mehr als Karl May. Mit jeder Seite, die ich verschlang, wuchs mein Interesse an dieser sonderbaren Kirche der ich zwar angehörte, weil ich 1939 als Neunjähriger, auf Wunsch meines Vaters, getauft worden war; aber der ich mich doch noch nicht so richtig zugehörig fühlte, zumal ich Gemeindeleben nie kennen gelernt hatte. Ich wünschte mehr von ihr zu erfahren. Ich ahnte, dass hier etwas ungemein Wichtiges vorlag. So ähnlich und zugleich anders müssen es die beiden feindseligen Autoren empfunden haben, sonst hätten sie sich nicht dermaßen wortreich eingeschaltet. Wieder und wieder las ich die aufregenden Sätze, die eine mir noch ziemlich fremde Welt beschrieben, die Welt des Mormonentums. Zeit und Raum versanken hinter mir. Vor mir öffnete sich die Vergangenheit: “Noch im Jahre 1870 gab es in Utah kein einziges christliches Kirchengebäude” las ich in Herrn Pastor Zimmer’s Buch “Unter den Mormonen in Utah”.

Eine Mission daselbst zu beginnen, würde dem mutigsten Prediger als ein frevelhaftes Wagnis erschienen sein. Zwar hatte die Unionsregierung schon 1858 einen christlichen Gouverneur eingesetzt, aber Brigham Young war noch der Alleinherrscher, vor dessen Rache jedermann zitterte. Jede auch die geringste Kritik an den Lehren der Häupter der Sekte lieferte ihren Urheber in die bluttriefenden Hände der allezeit auf der Lauer liegenden “Daniten” aus, dieser - Würgeengel des Mormonismus -. Hunderte von eigenen Glaubensgenossen wurden auf Youngs Befehl von ihnen ermordet.”

Sofort wusste ich, dass Herr Pastor Zimmer log und ich fühlte es, er wusste es ebenfalls. Einerseits stellte er die nach Zehntausenden zählende Priesterschaft der Mormonen als gefährliches Machtinstrument einer geradezu verbrecherischen Kirchenführung dar, andererseits konnte er offensichtlich nicht umhin, sich auch, wenigstens passagenweise, anerkennend zu äußern. Pastor Zimmer hasste Brigham Young, den Nachfolger des ermordeten Joseph Smith, wie keinen zweiten Mormonen, zugleich aber sagt er von ihm: “...Young war zwar ein Erzheuchler, aber ein guter Führer und Organisator, sowie ein weitschauender Nationalökonom. Er legte den Grund zu dem großen Bewässerungssystem, das jetzt ganz Utah genügend mit frischem Wasser versorgt und dessen geschickte Verwendung das Salzseetal in einen Garten Gottes verwandelt hat ... Salt Lake City, die heilige Stadt der Mormonen ist ein wichtiger Mittelpunkt des Handels für die Länder westlich des Felsengebirges; seine Lage, der sich immer vermehrende Bodenreichtum eröffnen ihr die Aussicht, eine der größten Städte des amerikanischen Westens zu werden. Aber es ist auch ein Sammelplatz des reisenden Publikums während der heißen Sommertage geworden, dank dem herrlichen, milden Klima ... Was dem Fremden in der Stadt zuerst auffällt, das sind die breit angelegten, schattigen wie Riesenalleen sich hinziehenden Straßen. Jede derselben ist einschließlich der Seitenwege 132 Fuß breit. Young ließ sie, infolge einer angeblichen Inspiration so breit anlegen ... Die ungeheure Breite der Straßen und die große Ausdehnung der Blocks sieht schön aus ... in der ersten Woche des April und des Oktober finden Konferenzen statt. Eine volle Woche dauert diese Konferenz; der letzte Tag ist der herrlichste. Das Tabernakel ist gepfropft voll. Der Prophet, Seher und Offenbarer, Joseph Fielding-Smith hält seine Thronrede als Präsident der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage ... Den Schluss bildet die Ermahnung zur eifrigen Befolgung der “Prinzipien des Evangeliums” ... Dann erhebt sich die vieltausendköpfige Menge. Der Prophet erhebt seine Hände zum Himmel, betet und gibt seinem Volke den Segen. Es ist ein großartiger, unvergesslicher Moment. So still ist es in dem ungeheuren Raum, dass man eine Stecknadel könnte fallen hören. Die Heiligen fühlen wie die Inspiration der Worte ihres Propheten in ihrer Seele nachzittert, auch der anwesende Fremdling steht unter dem Zauberbann dieses Schlussaktes. Doch kaum hat der Prophet geendet, so ertönt hoch oben von der Riesenorgel her eine jubelnde Fanfare, der Massenchor mit 500 Stimmen setzt ein und die 16 000 Heiligen singen in fanatischer Begeisterung die Prophetenhymne, welche den Stifter verherrlicht: Preiset den Mann, der verkehrt mit Jehova, der ein Prophet war, von Christus ernannt! Der, von dem Geiste erfüllt, prophezeite nahes Gericht jedem Volke und Land! All ihr Erwählten gedenkt des Propheten, göttlich im Himmel, auf Erden einst Held! ...”

Vor allem die negativen Aussagen Zimmers bauten in mir zunächst Fragen, dann Voraussetzungen für den Glauben an den Mormonismus auf. Es passte einfach nicht zusammen, was er, sowie sein Amtsbruder Pastor Rößle von sich gaben: “...diese gottlose Priesterschaft, die nach Tausenden zählt, tritt Gottes Wort mit Füßen und zieht das Heilige in den Staub da werden den in Utah nach vielen Tausenden zählenden betörten Deutschen die abgestandenen Treber der schmutzigen Mormonenlehre als Seelenspeise dargeboten ...” Andernteils erklärt zumindest Rößle, dass er den Stifter der Mormonenkirche für einen ehrlichen Mann hält. Wörtlich: ”Der Charakter des Joseph Smith ist viel umstritten worden. Die Mormonen bezeichnen ihn als den größten Märtyrer des Jahrhunderts und als den bedeutendsten Mann seiner Zeit. Viele seiner Gegner nennen ihn aber kurzweg einen Betrüger. Man wird ihm auf diese Weise jedoch nicht gerecht. Es dürfte heute wohl allgemein angenommen werden, dass Joseph Smith selbst an seine phantastischen Offenbarungen glaubte und sich für ein Werkzeug des göttlichen Geistes hielt. Mit dieser Tatsache verband er eine auffallende Fähigkeit der Anpassung und auch der kühlen Berechnung. Hinzu kam seine ausgesprochene Tüchtigkeit in Geschäftssachen. Den ungebildeten Massen gefiel seine gewinnende Freundlichkeit.”

Ich dachte, dieses Hin und Her in diesen Schilderungen müsste eigentlich jedem Leser ins Auge fallen. Diese geschulten Denker konnte man doch nicht mit sprunghaften Teenagern vergleichen. Ich wusste außerdem, was mein Vater mich gelehrt hatte, und wenn ich mich auch in den meisten Versammlungen, die ich als Kind in Wolgast miterlebte, schrecklich gelangweilt hatte, so war doch alles was ich hörte, immer nur Gutes gewesen. Nämlich die Aufforderung: Tue es.

So sah ich trotz meiner Unerfahrenheit und Jugendlichkeit die Schieflage der beiden kirchlichen Autoren deutlich. Ich las tagelang, vergaß für eine Woche meine Lieblingsbeschäftigung, das Angeln. So lernte ich in wenigen Tagen mehr als je zuvor über Mormonismus.

Außerdem sagte mir mein Gefühl etwas Wichtiges, etwas das ich erst später zu beschreiben imstande war, nämlich, dass ich die Lehre der Mormonen als einen sich unendlich weitenden Raum begreifen müsste, weil sie voller menschenfreundlicher Ideen war, denen nach oben hin von Gott keine Grenze vorgeschrieben wurde und, dass ich mit ihr mich selbst erschließen könnte. Mir schien, diese Lehre würde mir ein Königreich des Geistes bieten. Meine eigenen Gedanken wird sie mir lassen, nachdem sie sie veredelt hat. Somit stellte sie etwas völlig anders dar, als alle anderen, ja mir schien, dass der Name Kirche hier schön klang.

Ich konnte das eine mit dem anderen verbinden. Mir war intuitiv klar, dass die Welt diese Kirche zu ihrem Segen brauchte.

Denn da war am ersten Tag der neuen Zeit, an jenem mir so lebhaft gegenwärtigen 30. April 1945, ein noch junger deutscher Fallschirmjäger gewesen. Mit seinem ungewöhnlichen Rundhelm in der Hand stand er neben einem sowjetischen Presseoffizier, der fließend Deutsch sprach. Sie befanden sich beide unter der kleinen Eingangshalle des ausgeraubten Konfektionsgeschäftes Gauger und diskutierten, was nun nach dem Zusammenbruch des hitlerschen dritten Reiches kommen müsste.

Wir brauchen eine völkerverbindende Idee”, hatte der russische Offizier gesagt. Das drang mir tief ins Bewusstsein. Ich sah die goldblitzenden Zähne des Sowjetjournalisten, sein aufmunterndes Lächeln. Ich spürte etwas von der Überzeugungskraft des Russen, der dem Deutschen in wenigen Strichen eine Vision von seiner Zukunft entwarf. Er warb um die Mitarbeit des anderen, seines Gefangenen, der seine Orden bereits abgelegt und nun gewissermaßen nackt dastand. Es fiel mir eben auf, und sie erlaubten mir zuzuhören. Mir war zumute, als sollte gerade ich es hören, wie ein deutscher Germanist aufgefordert wurde, neue Pressearbeit unter den Gefangenen zu leisten. Weil ich irgendwie die Berechtigung der Forderung sah, beschäftigten mich ihre Gedanken. Ich weiß nicht, warum es mir einleuchtete, was der Russe forderte, aber ich begriff, dass nach dem Krieg, da ich ihn ja bis dahin ebenfalls überlebt hatte, eine bessere Idee heraufgebracht werden müsste. Sonst werden sich sowohl die dummen wie die klugen Menschen immer wieder aus ihrer menschlichen Verrücktheit heraus oder aus blankem Übermut einander an die Gurgel gehen.

- Denn offensichtlich hatte das herkömmliche Christentum versagt! - Als ich so, auf dem Hausboden meiner Eltern nachdenklich wurde, kam mir vieles in den Sinn. Es bedarf einer neuen Idee. Mir leuchtete ein, dass Mormonismus diese gesuchte Idee sein könnte, dass er die wahre, ursprüngliche Lehre Christi, -des Friedefürsten- war.

Nur nachdem sie vor vielen Jahrhunderten sehr verfälscht worden war blieb sie sozusagen wirkungslos.

Wenn die verschollene Lehre von der Präexistenz des Menschengeistes wirklich durch Joseph Smith erneut von Gott gesandt worden war, um uns den höheren Sinn unseres Lebens zu lehren, dann erhielt die allgemeine Christenlehre von der Unsterblichkeit des menschlichen Geistes eine neue Bestätigung, dann müsste die Erkenntnis davon, soweit sie wirklich geglaubt wird, die ganze Welt aussöhnen. Anderes kann Gott nicht wollen.


Als ich weiter darüber nachdachte, nahm ich von innen her wieder dieses angenehme Licht wahr und diesen friedvollen geistigen Einfluss.

Ob es so hell gewesen wäre, wenn ich die gestohlenen Lebensmittel nicht zurückgebracht oder wenn ich mir und meinen Neigungen nachgegeben hätte?

Ton und Inhalt der ungerecht angreifenden Geistlichen Zimmer und Rößle brachten mich auf. Denn was sie niedergeschrieben hatten, würden ihnen zehntausende unvoreingenommene Leute unbesehen glauben und vielleicht sogar mit ihnen fordern, dass: ”... dem Treiben (der Mormonen) ein Damm entgegen gesetzt werden muss.”

Ich las in Rößle’s Buch “Aus der Welt des Mormonentums”, dass der Staat und die Kirchen gemeinsam gegen die Mormonen vorgehen sollen. Rößle sagte: “...Diese Forderung kann nicht laut genug erhoben werden. Denn der Mormonismus geht auf nichts Geringeres aus als auf die Bekehrung und schließliche Unterwerfung der ganzen Welt. Darauf ist sein System zugeschnitten. Diesem Zweck dient sein einzigartiger Missionsbetrieb, ... zu beachten ist dabei, dass der Mormonismus im Gegensatz zum Islam, dem er in gewisser Hinsicht gleicht, sich allen möglichen Volkssitten, Gebräuchen und Anschauungen anzupassen, allerlei, selbst entgegengesetzte Glaubensrichtungen in sich aufzusaugen vermag.”

Und er setzte noch eins obenauf: “...diese nominell noch kleine, völlig anders geartete Kirche, wird Weltbedeutung erlangen ... die Mormonen sind eine gefährliche Sekte ... in unheimlicher Weise haben sich bei der Entstehung dieser Sekte amerikanische Oberflächlichkeit, mangelhafte Bibelkenntnis und satanische Kräfte die Hand gereicht, um unter der Flagge des Evangeliums eigene Lehren zu verbreiten. Um ihres satanischen Unterbaues willen wird die Sekte der Mormonen eine bedeutende Macht und große Gefahr bleiben.” Mein Finger lag auf der Seite einundneunzig des Rößlewerkes.

So gingen mir die Augen auf.


Unter der Literatur, die ich auf dem Hausboden gefunden hatte, befanden sich auch einige Traktate. Die verteilte ich, gab sie auch meinen Freunden und händigte sie den Flüchtlingen in unserer Umgebung aus.

Johannes Reese, der wie schon früher oft zu uns kam, auch um mir Unterricht zu geben, fragte die Flüchtlinge, ob sie die Versammlungen besuchen würden, die er einrichten möchte. Einige sagten zu.

Darunter befand sich die Dunkerfamilie, die spätere Schwester Waldmann u.a.

So fanden sich seit Herbst 1945 in unserer Wohnung und an Wochentagabenden ungefähr zwanzig Menschen zusammen. Sie wurden von Herrn Reese mit einem Gemisch aus evangelischen, katholischen, sowie anderen Ansichten mit beträchtlichen Teilen des Mormonismus vertraut gemacht. Da die meisten unserer Gäste froh waren, einmal über etwas anderes als über das fehlende Essen und gutes Trinken zu reden, kamen sie immer wieder.

Das ging so bis in den Spätsommer 1946.

Auch zwei meiner Freunde, Hans Schult (späterer Ratgeber in der Freiberger Tempelpräsidentschaft) sowie Ulrich Chust (späterer Ältestenkollegiumspräsident in Köln) hörten Johannes Reese zu. Eines Tages sprach Herr Reese über das Buch Mormon. Er sagte, dass er es für einen echten Text israelitischen Ursprungs hält. Er sei jetzt gewiss, dass Joseph Smith kein Lügner war.

Die Männer und Frauen sahen ihn mit großen Augen an. “Man muss sich die Frage stellen, warum ein Mann ein solches Buch schreiben sollte. Wenn er die Wahrheiten, als seine eigene Weisheit ausgegeben hätte, wäre er alt und grau geworden. Er hätte sein Leben ungestört genießen können. Mit allen Fähigkeiten ausgestattet, wäre Joseph Smith ein angesehener Prediger und Volksführer geworden. Er hätte immer nur zu sagen brauchen: “Ich denke!” Oder er hätte statt einer Kirche eine Partei gegründet. Er wäre berühmt geworden. Immerhin war er Bürgermeister der Stadt Nauvoo, zu deren Errichtung er selbst die Grundlage gelegt hatte. Das war seinerzeit eine der größten Ortschaften Amerikas. Dass er glasklar und originell denken konnte, zeigen die Strukturen, die er schuf. Allein seine Ideen im Bereich Bildung waren einmalig. Er wollte, dass den Leuten, die in Gefängnissen einsaßen, durch Kurse besseres Wissen vermittelt wird. Seine Vorstellung, dass Industrieeinrichtungen stets außerhalb einer Stadt betrieben werden und dass die Wohnhäuser immer nur Einfamilienhäuser sein sollen und auf reichlich flächigem Gartenland stehen müssten, war zumindest sehr modern gedacht. Gut und gerne hätte er jeden zum Freund haben können. Stattdessen wurde er, seit der Veröffentlichung des Buches Mormon gehetzt und gejagt wie ein Hase von einem Dutzend Hunde und schließlich zur Strecke gebracht. Noch zu guter Letzt hätte er sich retten können. Er hätte nur zu widerrufen brauchen. Dann wäre er ungeschoren davon gekommen. Aber stattdessen sagte er: “Ich bin ruhig wie ein Sommermorgen. Ich bin unschuldig und gehe wie ein Lamm zur Schlachtbank”. Immerhin lieferte er sich auf Anraten seiner Freunde seinen Henkern freiwillig aus, obwohl er sich damals bereits in Sicherheit befand. Die Lynchtruppe hätte ihm nichts anhaben können. So handelt kein Betrüger!”

Nachdem der Nichtmormone Herr Reese das bezeugt hatte, herrschte Nachdenklichkeit. Dass Joseph Smith ein ehrlicher Mann war, sei aber nicht immer seine Meinung gewesen. Ursprünglich habe er, Reeses, sich sehr gegen die Mormonenlehre ausgesprochen, aus Unkenntnis allerdings. Das sei sonderbarerweise oft der Fall. Je weniger jemand von einer Sache versteht, um so mehr redet er darüber. Er lachte, er sei eben auch nicht besser als alle anderen. “Ihr könnt Euch selbst überzeugen, fragt irgendeinen engagierten Christen in der Stadt und ihr werdet finden, er hat zwar überhaupt keine Ahnung, was Mormonismus ist, aber er wird sich ganz entschieden dagegen wenden.”

Hans Schult und ich machten die Probe aufs Exempel. Wir sprachen einen etwa sechzigjährigen Mann auf der Straße an, von dem ich wusste, dass er zu den “Gemeinschaftschristen” in der Badstüberstraße ging. “Was halten Sie von den Mormonen?”

Der Alte schaute mich verdutzt an. Mit allem Ausdruck von Redlichkeit erwiderte er: “Mormonen sind eine furchtbare Sekte!”

Warum sind sie furchtbar?”

Die haben Vielweiberei! Und andere Schriften haben sie auch.”

Kennen sie die Mormonen persönlich? Kennen sie diese anderen Schriften?”

Gott sei Dank, nicht!”


Kurze Zeit später kamen wieder Missionare nach Vorpommern. Im Herbst 1946, kurz nachdem mein Vater erfolgreich aus französischer Gefangenschaft geflüchtet war, wurde Elder Walter Krause zu uns geschickt. Er fand ein reifes Feld vor und konnte innerhalb weniger Wochen und Monate ungefähr 50 Menschen taufen.

So wurde die Gemeinde Wolgast gegründet.

Unter ihnen befand sich die bewundernswerte Schwester Weber, die im letzten Kriegsjahr vier ihrer Liebsten und ihren Ehemann verloren hatte. Wir konnten kaum verstehen, dass sie nicht den Verstand verlor, als sie zusehen musste wie eine ihrer Töchter im Alter von fünfzehn Jahren und zudem todkrank, solange von sowjetischer Soldateska missbraucht wurde bis sie tot war.

(Bis heute sind zwei ihrer Söhne in der Kirche, in Schwerin, aktiv)

Eröffnet wurde diese Periode durch Max Zander. Dessen Sohn Wolfgang ebenfalls ein bekanntes Mitglied der Kirche in Deutschland wurde.

Max wollte etwas Gutes lesen und sein Freund Johannes Reese gab ihm ein Buch Mormon.

Sehr bald nachdem er es gelesen, besuchte Max Zander unsere Zusammenkünfte. Jener bemerkenswerte Novembertag das Jahres 46 an dem Max im offenen Wasser getauft werden sollte, begann um Mitternacht mit minus 17 Grad Celsius. Walter Krause musste mit einer Axt die zwölf Zentimeter dicke Eisschicht aufbrechen, wobei ich ihm half.


Elder Walter Krause erhielt im kommenden Jahr einen Mitarbeiter besonderer Prägung. Er hieß G. und war aus Sachsen gekommen. Der neunzehnjährige Junge wollte unbedingt “auf Mission gehen” und so wurde er dazu berufen, zumal seine Angehörigen gute Leute waren und er selbst Treue und Glauben geschickt vortäuschte. G. wollte aber alles andere, als ein Mormonenmissionar sein. Wer weiß was er wirklich wollte? Sein Doppelspiel konnte nur von ganz kurzer Dauer sein, zumal Walter Krause in seiner Kompromisslosigkeit es ohnehin bald durchschaut und ihn sofort heimgeschickt hätte. Aber das Schicksal kam alledem zuvor. Zuerst bemerkten meine Mutter und ich, dass er nicht echt war.

Ich ertappte G. beim Rauchen und zwar auf dem Holzspeicherboden meines Vaters, wo knochentrockene Sägespäne in Massen herumlagen und ringsherum lauter Fachwerkbauten standen, die einige Jahrhunderte überdauert hatten. Er wischte nervös mit der Hand durch die Luft. Es half alles nichts. Die Qualmwolke und ihr Geruch erfüllten den Raum. Nachdem er sich entlarvt sah trieb es von da an vor mir offen. Anstatt mir zu helfen, Holz zu zersägen und zu bearbeiten, saß er in der Stube am warmen Ofen und studierte, wenn sein Seniorpartner nicht da war, mit Lust und Liebe das “Decamerone” von Boccaccio. Das Versteck für diese, den Mormonenmissionaren untersagte Lektüre, blieb sein Geheimnis. Ein einziges Mal ließ er sich herbei, mir behilflich zu sein. Wir fuhren in den etwa fünfzehn Kilometer entfernten Wald. Dort luden wir schwere, zwei Meter lange Erlenstämme auf einen holzgasgetriebenen und dementsprechend lahmen Lastkraftwagen. Erschöpft nahmen wir anschließend oben auf der Holzfuhre Platz und ließen es uns in der angenehmen Frühlingsluft des warmen Nachmittages wohl sein. Unmittelbar vor dem Dorf Zemitz zog G. plötzlich sein Oberhemd aus. Zu meinem Erstaunen kam eine rotweiß leuchtende Hakenkreuzflagge zum Vorschein. Wir bogen gerade in die aufgrünende alleenartige Dorfstraße hinein, während sich auf seinem Turnhemd das die ganze Brust umfassende schwarz-weiß-rote NAPOLA-Wappen ausdehnte. (NAPOLA=Nationalpolitische Erziehungsanstalt)

Am liebsten wäre ich vom rollenden, holpernden Wagen gesprungen. Fast zwei Jahre nach Kriegsende ließ er offen die Runen des barbarischen Hitlerfaschismus sehen. Das war, auch wenn die meisten Leute der Sowjetzone sich dem Russenregime verweigerten, ein Affront des gesunden Menschenverstandes. Unter diesem Zeichen hatte nicht nur jede deutsche Familie gelitten, sondern halb Europa. Tausende Städte waren durch das Nazisystem zerstört worden. Jetzt war mir alles klar. Deshalb ließ er in manchen Versammlungen, wenn Elder Walter Krause abwesend war, die Anwesenden, von denen die meisten seine Väter und Mütter sein konnten, das Aufstehen und das Niedersitzen üben. Denn damals wurden die Eröffnungslieder noch stehend gesungen und das Erheben geschah auf ein Zeichen dessen, der den Gesang leitete. “Auf! - Nieder!” kommandierte er uns wie seine Untergebenen. Ich wagte nicht, ihn bei seinem Mitarbeiter zu verpetzen. Hätte ich es nur getan. Kurz darauf wurde er in Stralsund verhaftet. Er saß im ehemaligen Wartesaal erster Klasse der Reichsbahn, der nun den Offizieren und Zivilangestellten der Roten Armee vorbehalten war, als die Militärstreife die Ausweise kontrollierte. G. beherrschte die russische Sprache perfekt, ebenso das Wodkatrinken und das nicht gerade sehr feine Repertoire sowjetischer Soldatenwitze. Denn er war an der NAPOLA Marienburg, in Ostpreußen, zu einem Ostagenten des Nationalsozialismus ausgebildet und somit des Evangeliums entwöhnt worden. Walter Krause wurde sofort, nach der Verhaftung G.’s, zum Stralsunder Kommandanten beordert.

Ich weiß nur, dass ihm bedeutet würde, sein Kopf würde beim nächsten “Vorkommnis” auf dem Schreibtisch des Obersten liegen. G. wanderte fast zwanzig Jahre lang durch sibirische Gefängnisse, Bergwerke und ihre wassertriefenden Stollen. Da wird er mehr als einmal seine faschistischen Verzieher verflucht haben, die ihn wie einen Hund abgerichtet hatten. Als ich ihn zwanzig Jahre später wieder traf, (etwa 1968) in einer Mitgliederversammlung in Ostberlin, erkannte er mich zwar, aber ich ihn nicht. Bewegt kam er auf mich zu und stellte sich vor. Jetzt erkannte ich ihn wieder. Da waren gewisse Gesichtszüge. Ich sollte ihn von Herzen als Freund betrachten. Das brachte ich aber nicht fertig.

Da wirkt einer dieser tief in uns verborgenen Mechanismen, der nicht zulässt, dass wir unser Misstrauen wunschgemäß und nach Belieben abschalten können. Ich sagte ein paar leere Worte. Er musste es schmerzlich gespürt haben, dass ich ihn ablehnte. Statt ihn zu umarmen, ließ ich ihn stehen und gehen. Bald darauf verstarb er, wahrscheinlich an Erkrankungen, die er sich in der Verbannung und unter Tage zugezogen hatte. Wie gern hätte ich nun mit ihm gesprochen und ihm aufmunternd gesagt, ‘sieh nach vorne’. Ich hätte mehr für ihn tun können. Diesen Selbstvorwurf konnte und kann ich mir nicht ersparen. Er war schließlich zu uns zurückgekommen. Vielleicht war er seinem Wesen nach viel besser als ich dachte. Zu spät. In mir war die Befürchtung: steckt die Partei hinter ihm? Er könnte umgedreht worden sein. Denn das kannten wir zur Genüge. Noch galten wir “Mormonen” den Regierenden als “möglicherweise” gefährliche amerikanische Sekte. Vorsicht! Vorsicht!

Noch war ja nicht das berühmte Weihungsgebet durch Apostel Monson gesprochen worden, dass uns 1976 – infolge Indiskretion eines der Anwesenden – praktisch die Anerkennung des Staates einbringen sollte.


Es war der Fluch einer rohen Zeit.

Während des ganzen Jahres 1947 war ich im Auftrage Walter Krauses, der als Distriktpräsident amtierte, mit der Verteilung von Lebensmitteln beschäftigt, zwar nicht jeden Tag, aber nahezu jede Woche ein- oder zweimal. Quer durch Mecklenburg-Vorpommern schickte er mich, immer wieder, mit einer unterschiedlichen Anzahl von Paketen voller Fleischkonserven und eingewecktem Mais, Peachesdosen und Weizen auf die Reise. Denn unsere Kirche konnte als Auswirkung des seit 1936 amerikaweit laufenden und gut funktionierenden innerkirchlichen Wohlfahrtsprogramms zehntausende Tonnen Weizen verteilen und somit helfend eingreifen. Etwa seit Mitte 1946 gab es für die damalige Sowjetische Besatzungszone ein Abkommen mit Karlshorst, mit der sowjetischen Militäradministration, unter der Bedingung, gewisse Anteile der Spenden dem Roten Kreuz und karitativen Einrichtungen zuzuwenden, bevor die Mormonen und ihre Sympathisanten Hilfe erhielten. Das war ohnehin so gedacht. Hunderte Weizensäcke sind bis März 1949 durch meine Hände gegangen, tausende Lebensmitteldosen und sehr viel Kleidung und Schuhe. Mir ist nie der Gedanke gekommen, auch nur einen einzigen Spendengegenstand anders als vorgesehen zu verwenden. Sonderbarerweise bin ich auch nie bestohlen worden, jedenfalls habe ich es nicht bemerkt. Fast unglaublich, dass mir fremde Leute auf den Bahnsteigen halfen, meine sechs, sieben, häufig recht schweren, Pakete in den immer überfüllten Zügen unterzubringen. Bis auf eine Ausnahme fand ich stets Platz, obwohl noch immer, vor allem im Sommer, hunderte Reisende auf den Trittbrettern (ab 1947 nur noch selten auf den Dächern) der Waggons saßen. Zweimal wurde ich aufgrund meines einfachen Ausweises, der meine ehrenamtliche karitative Tätigkeit bescheinigte, sogar im Kommandantenzug zwischen Züssow und Stralsund mitgenommen.


Dieser von der Kirche ausgestellte mit vielen Stempeln versehene Reiseberechtigungsschein befindet sich in meinem Buch der Erinnerung.



So sah ich viele Großstädte wie Berlin und ihre schwarzen Trümmer. Es war depremierend Dresden und Prenzlau oder Neubrandenburg zu sehen. Trostlose Ruinenstädte.

Erst später lernte ich, dass uns Deutsche die Hand Gottes getroffen hatte und ich lernte, dass Nephi all das selbstverschuldete Elend vorausgesehen hatte. Es kam auch deshalb über uns, weil im Namen des Deutschen Volkes nicht nur das Judentum, sondern auch ihre Kulturträger ausgerottet werden sollten. Nephi stellt einige Fragen: „Wie danken sie (die Andern, die Nichtjuden) den Juden für die Bibel, die sie von ihnen empfangen? Ja, was meinen die Andern? Gedenken sie der Beschwernisse und der Mühsal und der Leiden der Juden und wie eifrig sie mir gegenüber gewesen sind, um den Andern die Errettung zu bringen? O ihr Andern, habt ihr der Juden gedacht, meines Bundesvolkes, in alter Zeit? Nein! Sondern ihr habt sie verflucht und gehasst und habt nicht danach getrachtet, sie zurückzugewinnen. Aber siehe, das alles werde ich auf euer Haupt vergelten; denn ich der Herr, habe mein Volk nicht vergessen. “ 2. Nephi 29, 4+5

Hat sich das nicht Wort für Wort an uns Deutschen erfüllt? Wurde uns nicht die deutschnationale Überheblichkeit und Judenfeindlichkeit mit buchstäblich grauenvoller Zerstörung aufs Haupt vergolten?



1948 sagte mein Vater mir - er war 1946 aus französischer Gefangenschaft krank heimgekehrt -, dass er in Norwegen und während der Gefangenschaft englisch gelernt hätte, mit der Absicht mit uns nach Amerika auszuwandern. Er hätte gemeint, er könnte uns Kindern damit am meisten dienen. “Denn hier werden die Russen ihren seelenlosen Kommunismus aufbauen, ob wir Deutschen das wollen oder nicht.” Aber nun sehe er ein, wie wichtig es ist, hier im Lande Gemeinden aufzubauen und mit möglichst vielen Menschen über Mormonismus zu sprechen. Ich selbst sollte deshalb nicht danach trachten, weit weg zu gehen. Wie schon früher ging mir, was mein Vater wünschte, zu Herzen, obwohl mir schien, ich könnte mein Glück nur in der weiten Welt finden.



Unglaublicherweise brachten die Kommunisten das Kunststück fertig ihre Idee schrittweise als akzeptabel darzustellen. Uns Mormonen konnte das nicht gelingen. Denn die Ersteren logen rigoros. Sie selber nannten es Propaganda. Da klebten im Frühling 1948 tausende bunte Plakaten an Hauswänden auf denen sie uns exakt das Gegenteil von dem sagten, was wir erlebt hatten. Da hieß es, dass die Sowjetarmee die moralisch höchststehende Truppe aller Zeiten sei. Jahrhundertelang hätten die Kapitalisten die Menschen ausgebeutet und in Kriege gehetzt, doch die Sowjetarmee wäre gekommen um diesem Schrecken ein Ende zu bereiten.

Wir knapp achtzehnjährigen bogen uns vor Lachen. Dennoch hing an der ungeheuren Tatsachenverdrehung ein winziges Stück Wahrheit. Nämlich, dass alle Menschen sich nach dauerhaftem Frieden sehnten. Darauf bauten sie nicht vergeblich. Für sie galten zwei Sätze: Frechheit siegt! Und: Steter Tropfen höhlt den Stein!



Kurioserweise wurde in der Zeit grausamster Familienzerstörung in der Sowjetunion, seitens ostdeutscher Intellektueller die Frage diskutiert, ob es im Kommunismus Stalins je eine Tragödie geben könnte.

Täglich verhafteten sowjetische Geheimdienstleute in allen größeren Orten Russlands unschuldige Menschen von den Straßen weg, die dann als Billigstarbeitskräfte eingesetzt wurden um schließlich in primitivsten Arbeitslagern Sibiriens zu krepieren.

Wie zu Zeiten der spanischen Inquisition ging es zu. Nur umfangreicher. Der Inhaftierte hatte seine Unschuld zu beweisen, nicht umgekehrt. Wir hörten von nun an immer wieder, dass es eine gesetzmäßige Aufwärtsentwicklung der Gesellschaft gibt. Indessen hatte sich die Sowjetunion faktisch eindeutig zu einem rohen Sklavenhaltersystem rückentwickelt.

Die uniformierten Jungen in der Roten Armee wurden wie Tiere dressiert und gehalten und selbst den seit Tolstois Zeiten freien Bauern degradierten sie zum Lohnempfänger auf niedrigstem Niveau.

Niemand in diesem Imperium durfte sich anders als im Sinne der kommunistischen Vordenker äußern. Tat er es doch, galt er sofort als “Klassenfeind” und daraus folgte: Feinde sind wie Feinde zu behandeln. Ich musste daran denken, dass Joseph Smith gesagt hatte, dass Satan ein ähnliches System befürwortete. Er wollte das Gute mit Gewalt durchsetzen und zu diesem Zweck den freien Willen des Menschen brechen.



Im April 1949 ging ich von Wolgast fort, um meine Lehre in einer Prenzlauer Baumschule zu beginnen. Die Walter-Krause-Familie die von Cottbus ebenfalls nach Prenzlau gezogen war nahm mich auf.

Zunächst kam ich mir, was die Arbeit betraf, wie ein Sklave vor.

Ich wünschte diesen Status so schnell wie möglich zu beenden.

Bis Mitte Juli dieses Jahres wohnten wir in den ehemaligen Artilleriekasernen Prenzlaus. Die Örtlichkeiten wurden nun vom Militär benötigt.

Dort hatten auch unsere kirchlichen Zusammenkünfte stattgefunden.

Ein knappes Jahr später hingen unter den Fenstern unserer Versammlungsräume jene roten mehr als zwanzig Meter langen Spruchbänder, die für unser Land, die DDR, längst typisch geworden waren. Ihr Text lautete: “Herzliche Kampfesgrüße unseren koreanischen Klassenbrüdern im Kampf gegen den US-Imperialismus!” Sie suggerierten, dass die fermöstliche Aggression von Südkorea ausgegangen war. Der friedliebende Norden sei das große, unschuldige Opfer.

Wir jungen Laute wurden kurze Zeit später von der SED-Kreisleitung eingeladen, die angeblich von den nordkoreanischen Befreiungskräften erbeuteten amerikanischen Dokumentarfilme anzusehen. Sie sollten uns überzeugen, dass die südkoreanische Marionettenregierung gemeinsam mit den räuberischen Amerikanern diesen Überfall auf Nordkorea von langer Hand geplant hatten. Betroffen saß ich im Kinosaal und fragte mich, wie das zusammenpasst. Der Überfallene dringt am ersten Tag als “Erwiderung” der Kampfhandlungen sechzig Kilometer ins Territorium des Angreifers ein? Aus vielen Gesprächen wussten wir, dass der eroberungssüchtige Hitler uns ähnliches glauben machen wollte. Wir kannten die Geschichte vom Sender Gleiwitz und waren uns darüber im klaren, dass es einer gewaltigen logistischen Vorarbeit bedarf auf breiter Front in ein anderes Land einzudringen.

Obwohl ich damals bereits mit der FDJ sympathisierte, fragte ich mich natürlich, wer der eigentliche Herr dieser Aktionen sein konnte. Es gab nur eine Antwort: Stalin.

Stalin war es, der niemanden freiließ, sobald er ihn gefangen genommen hatte. Erstaunt las ich im Buch Mormon die ganze Charakteristika dessen der nun wiederum hinter Typen wie diesem Stalin stand: “Ist das der Mann, der die Erde erzittern lassen und der die Königreiche erschüttert hat? Der das Haus seiner Gefangenen nie geöffnet hat.” 2. Ne. 24.

Diese meine kritische Grundhaltung sollte sich jedoch bald ändern.

Weil mich ein Agitator dazu einlud, besuchte ich gelegentlich Alltagsabends die FDJ Versammlungen, die mir von der Art her, wie die Siebzehn- bis Zwanzigjährigen miteinander umgingen, sofort zusagten.

Zudem gefielen mir die dort anwesenden hübschen Mädchen.

Schließlich übten sie damals noch Kritik und Selbstkritik. Es ähnelte dem was meine Kirche lehrte: Du musst an Deinem Charakter arbeiten, musst Dich ändern, kannst nie sagen, Du hast es geschafft. Menschen müssen sich zum Guten ändern wollen, sonst bessern sie die Welt nicht.

Zunächst wollte ich lediglich davon überzeugt sein, dass dies das Ziel der Freien Deutschen Jugend sein könnte. Damit fing mein Umdenken an. Stalin sah plötzlich gar nicht mehr so schwarzrot aus.

Sogar sonntags predigte ich allmählich auch davon.

Da erschien in unseren religiösen Zusammenkünften in Prenzlau ein Abschnittsbevollmächtigter der Volkspolizei. Nachdem er mich zweimal sprechen gehört hatte, bemerkte er, er würde nicht wiederkommen, das sei in Ordnung mit den Mormonen. Dabei war, was ich in meiner Ansprache sagte, nur meine sehr persönliche, aber bereits “rötlich” eingefärbte Meinung gewesen.

Mein Gemeindepräsident, Max Zander, der ebenfalls von Wolgast nach hier gezogen war und der zugleich mein Berufsschullehrer war, tolerierte sie. Ich war sein Ratgeber und da seitens der Kirche niemandem vorgeschrieben wird, was er sagt, wird nur dann eingegriffen, wenn jemand unübersehbar den Boden der Lehre des Mormonismus verlässt. Da die Lehre aber sehr weit gespannt ist, tritt dieser Fall praktisch nie ein, solange der Glaube an Gott und das gewissenhafte Einhalten seiner Gebote, so wie sie in der Bibel und im Buch Mormon niedergeschrieben stehen, gelehrt werden.

Ich hatte also in meinen Darlegungen freie Hand, vermied es nur, offen und laut über meine Zweifel nachzudenken, solange ich nicht zu einem festen Punkt gekommen war. Deshalb sprach ich in jenen Wochen, so genau wie es mir möglich war das aus, was ich dachte, nämlich dass die Verantwortung für den Fortschritt und Frieden in der Welt selbstverständlich jedes Menschen Pflichtteil ist. Die Menschheit kann keinen großen, weltumfassenden Frieden haben, wenn ich selbst in meiner kleinen Welt ungerecht und unehrlich bin. Dabei dachte ich auch an mich und die schwangere Tochter des erwähnten Polizisten, die mich reizte, da mein Chef und sein listiger Sohn sie und mich während der Erntezeit zusammen auf den Getreideschober beordert hatten. Wo wir beide allein gelassen jeweils auf die nächste Fuhre Korngarben zu warten hatten.

Sie wollten doch sehen, wie der “Mormonenpriester” sich bei solcher Gelegenheit benimmt. Richtigerweise gingen sie davon aus, dass alles, alles herauskommt.

Ich sagte mir jedoch, dass sie einem anderen Mann angehörte, wenn beiden auch noch das Jawort auf dem Standesamt fehlte.

Mir war nach solchen Situationen immer noch klarer bewusst als vorher, dass wir unter keinen Umständen das Recht haben, die große Gerechtigkeit einzufordern, solange wir das eigene kleine Richtigtun verweigern, nur weil unserer Leidenschaft danach zumute ist.

In meiner Ansprache sagte ich: Immer müssten wir den Vorteil des anderen im Auge haben und damit schließlich den Fortschritt der Gesellschaft, die höhere Gesellschaftsordnung. Was in den Ohren des Polizisten natürlich wie ein Bekenntnis zur DDR klang.



Das war natürlich auch, was alle Menschen, tief in sich selbst verwahrt wissen, mögen sie leben wo sie wollen. Das ist es, was das Buch Mormon lehrt und die Bibel aussagt: der kleine innere und der große äußere Friede sind die Folge einer Kette richtigen Handelns oder wie es im Klartext bei Jesaja heißt: Der Friede ist die Frucht der Gerechtigkeit. (32,17)



Einerseits klangen und schwangen in mir, noch, die süßen Töne des Evangeliums, andererseits lockte mich die Flöte des Rattenfängers lauter und betörender als je zuvor. Heftig ging das Widersprüchliche in mir hin und her.

Gewohnt mit Menschen und Ideen zu arbeiten wurde ich zum Kreisberufsschulaktivleiter gewählt, das heißt, ich wurde politisches Haupt der beruflichen Schule Prenzlaus, obwohl ich nie ein Hehl aus meiner religiösen Gesinnung machte.

So begann ich auf beiden Seiten zu hinken



In diesen Tagen traf ich unerwartet meinen Klassenkameraden Dieter Kavelmann. Er ging in der blauen Offiziersuniform, der kasernierten Volkspolizei, die praktisch eine Berufsarmee war. An seinem Arm hing ein sehr gut anzusehendes Mädchen. Über uns brauste einer der ersten sowjetischen Düsenjäger hinweg. Sie sollten das Kennzeichen der neuen Zeit werden. Ich schaute auf Dieters geflochtene, silbernen Litzen seiner Achselstücke. Trotz seiner erst einundzwanzig Lebensjahre war er schon zum Polizeirat befördert worden. Dieter durchschaute mich. Er sprach mich sofort auf meine Zwangsjacke an, in der ich, als Baumschulistenlehrling steckte. Ich wünschte tatsächlich immer noch nichts sehnlicher als sie mir vom Leib zu reißen. Er war ein anerkannter Mann und ich das Schlusslicht eines Unternehmen, das ich mehr als meine eigenen Schwächen hasste. Er erkannte sofort, dass ich mir nur aus eingebildeter Moral nicht zutraute, die Bindung zu meinem Lehrherrn zu zerreißen. Der kluge Dieter K. lachte. Er sah nicht nur glücklich aus, er war es.

Er wusste um meine religiöse Einstellung, die er allerdings geringschätzig für eine Illusion hielt. “Komm zu uns", sagte er, “Du hast doch, genau wie ich, vormilitärische Ausbildung. Wir suchen neue Kader.” Es klang mir wie Musik in den Ohren: junge, klare Köpfe für eine junge, klare Ideologie. Er malte mir sein Bild in leuchtenden Farben. Jetzt erhielte ich dürftige fünfzig Mark, aber wenn ich zu ihm käme, dann würde ich bald zum Offizier befördert werden und wäre der Willkür meines Ausbeuters entronnen! Dabei schaute er auf die schlanke Blondine herunter. “In sechs Wochen hast Du monatlich achthundert Mark auf der Hand und bist wer. Reden kannst Du, gute Figur machst Du auch.” Sein Mädchen strahlte.

Ich spürte, wie ich rot vor Scham und Verlangen wurde.

Nur ein kleiner Handgriff zum Füllhalter und der irdische Himmel wäre erobert. Es hielt mich jedoch eine Frage zurück: Ob ich nicht wüsste wer dann mein neuer Herr sein würde?

- Nein! -

Was ist los mit Dir, warum zögerst du?” fragte Dieter. Ich schüttelte den Kopf. Etwas Falsches lügt niemand zurecht, auch nicht in bestdenkbarer Absicht. Was uns aus den Irr- und Wirrnissen eines unerträglichen Auf und Ab erretten kann, ist einzig der Wille zur unaufhörlichen Suche nach der Wahrheit.

Ich sah im Geist wieder deutlicher, sah bewusster die dunklen Umrisse Stalins und den kalten Ausdruck seines von so vielen Veröffentlichungen bekannten Gesichtes. Diejenigen die auf diesen Massenmörder hereingefallen waren, wollten mich mit der Farbe des Lebens ködern.

Es waren eben nicht, wie frech behauptet wurde, die werktätigen Massen, die solchen Menschen wie Dieter den Kampf- und Verteidigungsauftrag erteilten. Eines einzigen Mannes Wille zur Weltherrschaft war die Feder dieser Uhr, nach der auch ein Dieter Kavelmann ging und sich ausrichtete, die den Rhythmus seines Alltages bestimmte. Ich wusste, dass es falsch wäre, diese schicke Uniform anzuziehen. Ich wusste, dass ich nicht leben durfte wie er, weil ich zu einer Erkenntnis gelangt war, die es mir untersagte, in irgendeiner Hinsicht leichtfertig zu sein.

Mensch, Gerd! Ich sage Dir, es gibt keinen Gott! Wir müssen unser Leben in die eigenen Hände nehmen. Wovor hast Du Angst? Es ist eben eine neue Zeit. Wirf Deine Bedenken über Bord! Lebe!” Er verzog die Mundwinkel.

Wir sollten uns nie wieder sehen.

Ich blieb in meiner ungeliebten Prenzlauer Baumschule wie ein Knecht auf Zeit, der die Resttage nur lustlos herunterdiente.

Um zu studieren, fehlte mir das Abitur. Es nachzuholen fehlte mir die Zeit, wie ich meinte. Zur Arbeiter-und Bauernfakultät überzusiedeln, mangelte mir die rechte Gesinnung. Ich deutete meine Situation als Selbsttest: Wenn du noch ein Jahr lang durchhältst, dann bestehst du auch alle anderen Prüfungen. Das war der Punkt, auf den es mir ankam. Mein Fernziel war, bestehen zu können. Das war mir wichtiger als der ganze im Grunde für mich unnötige Berufsabschluss. Das war es, was meine Kirche lehrte, das Wichtigste ist die Bildung Deines Charakters. Du musst es lernen, mit seelischen Belastungen zu leben.

Selbst wenn ich auf ehrenhafte Weise alles Belastende abwerfen könnte, von meinen Aufgaben in der Kirche wünschte ich mich auf keinen Fall zu trennen. Diese Bürde war mir wertvoll.

Als ich das dachte, kamen mir plötzlich ganz großartige Gedanken in den Kopf: Du weißt eben etwas, das die meisten Menschen wie Dieter nie kennen gelernt haben. Du weißt um die Realität der Macht des Heiligen Geistes, du weißt, dass ...

Unerwartet überrieselte mich ein Strom aus Liebe und Intelligenz, der mich beglückte und der mir wortlos und zugleich im Wortsinn bestätigte: Joseph Smith ist ein Prophet Gottes! Und du, Gerd, weißt, dass da ein Gott und seine Macht zur Freude ist ... Es erhob mich augenblicklich aus dem Staub in den Himmel.

Das war es, was der Opernchor so hingebungsvoll am Silvesterabend im Schweriner Konzertsaal gesungen hatte: “Brüder, überm Sternenzelt muss ein lieber Vater wohnen. Freude, Freude trinken alle Wesen ... Alle Menschen werden Brüder, wo dein sanfter Flügel weilt. Alle Menschen, alle Menschen.” Für einige Sekunden war der Flügel der Freude über mir gewesen und hatte mich getröstet. Brüder überm Sternenzelt muss ein lieber Vater wohnen.

Ein Vater! Mein Vater!

Ich war danach monatelang ohne Zweifel gewiss, Sohn und Kind eines großen und ewigen Gottes zu sein. Das bedeutete, ich entstamme wirklich, und nicht nur in meiner Einbildung, dem größten und vornehmsten aller Königshäuser, die es je gegeben. Demgemäß hatte ich mich würdig zu benehmen und meinen Blick nicht so sehr depressiv auf die Alltagsschwierigkeiten zu richten, sondern auf meine Zukunftsaufgabe unsere Glaubensposition nach innen und nach außen zu verteidigen. Das stand fest.! Es war meine Pflicht, zum Wachstum meiner Kirche beizutragen, die eine gerechte Gesellschaftsordnung in diese Welt bringen wird.

Nichts könnte mich von nun an noch umwerfen, meinte ich.

Aber das war ein Irrtum. Denn die guten und erhabenen Gedanken und Gefühle bleiben nicht bei uns. Sehr schnell fliehen sie vor dem ersten Anzeichen von leichtfertigem Vorteilsdenken oder Zweifel. Selbst die für richtig erkannten Grundsätze sind schließlich auch nur Gedanken und Geist, die, wenn wir nicht wachsam sind, vom ersten besten Lüftlein aus anderer Richtung für immer beiseite gefegt werden können.

Nur kurze Zeit später wollte mich der Zeitgeist energisch mit sich reißen. Es war der Geist des Jahres der Weltfestspiele der Jugend und Studenten, 1951. Er kam zunächst einlullend wie ein milder Sommerwind.

Die FDJler sangen:“Im August, im August wenn die Rosen blühen!”

Zuerst zögernd, nahm ich schließlich die Einladung an nach Berlin zu fahren. Ich ahnte nicht im Mindesten, dass es die bis dahin weltgrößte Sexparty werden sollte.

Wir reisten in Güterwagen. Sie waren mit Stroh und primitiven Holzbänken ausgestattet worden.

In Berlin angekommen, hatten wir einen langen Fußmarsch vor uns. Immer wieder stoppte unsere Marschkolonne, aus der ich bald ausscherte. Da saß mitten auf dem grauen Bürgersteig ein Dreißiger in einem Blauhemd der FDJ. Ich kannte ihn Das war der Prenzlauer Baptistenprediger! Ihm war, bei der drückenden Schwüle der Witterung, wahrscheinlich vom vielen Umherrennen schlecht geworden. Bleich hockte er auf dem grauen Straßenpflaster und stöhnte. Junge Leute umrundeten ihn, ohne mehr als flüchtige Notiz von ihm zu nehmen. Ich ging auf ihn zu, sprach ihn an. Wir betrachteten einander verwundert. Was suchst du hier, dachte ich. Du passt hier doch nicht her. Bist du übergelaufen zu den Atheisten? Wenn du wüsstest, was du für ein Bild abgibst.

Möglicherweise dachte er dieselben Fragen an meine Adresse. “Ein Mormone bei den Kommunisten?”

Ich will nur studieren und sehen, dann urteile ich! rechtfertigte ich mich vor mir selber. Aber tatsächlich zog mich die “rote” Welt in jenen Stunden stärker denn je zuvor an. Mir schien, dass Mormonismus in diesem Teil der Erde niemals ähnliche Bedeutung erlangen würde.

Die blauen Hemden waren die Farbtupfer in dieser völlig grauen Stadt, in der immer noch die Trümmerflächen dominierten.

Nie zuvor erschien mir die Welt der Kommunisten so leicht und frei. Begeistert hörte ich im Friedrichstadtpalast von Swjatoslaw Richter gespielt, das wunderbare Klavierkonzert Nr. 1 in b-moll von Peter Tschaikowski. Die Tonflut riss uns alle mit sich. Mit den Tausenden in ihren Blauhemden fiel ich begeistert ins rhythmische Klatschen ein. Mit ihnen zog ich von einem Estradenkonzert zum anderen….

In der Nähe einer matt leuchtenden gusseisernen Straßenlaterne, die alle Bombennächte rings um den Alexanderplatz überlebt hatte, blieb ich gegen Mitternacht dieses Sonnabends mit einem Mädchen stehen, das ich kennen gelernt hatte. Dahinter befanden sich die Ruinen des Vorderhauses von Mehnerstraße 9, in dessen mehrstöckigen Seitenbau meine Tante wohnte. Ich sah des Mädchens feines Gesicht mit ihrem schönen goldschimmernden Haar. Kein Maler hatte je solches Bild vor diesem Hintergrund gesehen.

Zwischen den schweren, schwarzen Ziegelfragmenten hing noch der Brandgeruch längst vergangener Nächte des Schreckens. Darüber wölbte sich ein klarer Himmel. Ich sah im Geist die beiden gelähmten alten Damen, die jahrelang bei jedem Luftangriff unter den Esszimmertisch gekrochen waren, und die Gott jedes Mal darum gebeten hatten, beschützt zu werden. Hatten sie es bewirkt, dass dieser Hausteil noch immer dastand? Oder war es lediglich ein glücklicher Zufall gewesen? Keine Szene ist vergessen, nichts, solange Mitmenschen aneinander Interesse finden. In mir belebten sich die alten Bilder von Menschenkindern, die ich nie gesehen, um deren Lebenskampf ich aber wusste.

Nimm mich mit auf Deine Stube!” hörte ich sie flüstern und musste nun büßen, dass ich das Abenteuer vorsätzlich gesucht hatte. Wir waren zwei Stunden lang an zahllosen Liebespärchen vorbei gegangen. Was lag nun ferner als mein Verzicht? Aber ich war doch ein Mormone! Ich trug kein Blauhemd, trug mich eigentlich nicht mit den allgemein üblich gewordenen Gedanken aller anderen…. Entweder gab ich der Versuchung nach oder ich ging am nächsten Tag zur Kirche. Kurz und heftig focht ich es mit mir aus.

Am Morgen saß ich, nach einer Irrfahrt über den Potsdamer Platz, wo mich FDJ Kontrollposten nötigten, den S-Bahnzug zu verlassen weshalb ich einen weiten Umweg nehmen musste, in Westberlin, in Dahlem, in der nagelneuen “Mormonen”kapelle.

Ich hatte das FDJ-Abzeichen das ich seit Monaten auf dem Revers meines Alltagsjacketts trug nicht abgenommen. Ich demonstrierte damit woher ich kam.



Vorn auf dem Podium saß auch ein freundlicher, junger Amerikaner. Er schaute mich an. Ich war sicher, dass er mich meinte. Er lächelte. Es war das schönste, aufmunterndste Lächeln, das ich jemals von einem Mann erhalten sollte. Wahrscheinlich stand mir der Kummer und die noch andauernde Qual innerer Zerrissenheit deutlich ins Gesicht geschrieben, nachdem ich mich am Vorabend vor dem Mädchen bekannt, mich entschuldigt und dann mit Gewalt losgerissen hatte, um allein davon zu gehen, weil ich nicht gegen meine Erkenntnis sündigen wollte.

Und nun saß ich da, in der von freundlichen Menschen gefüllten Kapelle, wie ein Kind, das lange, lange nicht zu Hause gewesen war, dem alles so vertraut und fremd zugleich vorkam.

Während der Klassenzeit habe ich viel gesprochen, viel Unsinn. Es ging um eine Passage aus der Bergpredigt Christi, aber mir ging es in der Tat nur um mich selber, ob es für mich eine Wahrheit gibt, die mich aus meinen widrigen Umständen erlösen könnte.

Nach dem Ende der morgendlichen Sonntagschule an diesem Augustmorgen des Jahres 51, kamen von der Straße zwei ältliche Damen herein. Gut und hell gekleidet gingen sie, begleitet von zwei Missionaren, die ihnen den großen Raum zeigten. Damals hingen in der Dahlemer Kapelle noch die schönen Gemälde Richard Burdes, eines Dresdener Mormonen, die im klassizistischen Stil Szenen aus Jesu Leben zeigten. Sie erinnerten mich ein wenig an den Jesus des Wolgaster Malers Stolp, ein uns stets ausforschendes Gesicht, prüfende Augen, voller Mitgefühl für unsere Beschwerden und Kümmernisse, die wir uns immer wieder selbst bereiten, durch unser Verlangen, alles haben zu wollen, auch das, was nicht gut für unsere Seele ist.

Ich hatte eigentlich nicht zuhören wollen, wurde aber durch die Art, wie die beiden Missionare über die erste Vision Joseph Smiths sprachen, magisch angezogen.

Der 14jährige Joseph sei in den Wald gegangen, hätte sich unter den mächtigen Buchenstämmen niedergebeugt um von Gott eine Antwort auf eine wichtige Frage zu erbitten. (Ohne zu ahnen, dass er nur vergessen hatte, was er in der Präexistenz bereits wusste, nämlich dass er vor Grundlegung der Mutter Erde, vielleicht sogar vor dem Urknall, unter den Händen des intelligentesten Geistwesen, Christus, vorordiniert worden war, die letzte Evangeliumsdispensation zu eröffnen, und zwar damals in einer anders beschaffenen Welt, deren physische Beschaffenheit wir derzeit nicht erkennen, in einem Raum und unter Verhältnissen, in dem Zeit anders läuft und empfunden wird, als wir es jetzt gewohnt sind.)

Es war nicht so sehr das was die jungen Männer sagten, sondern wie sie es von sich gaben. Sie beeindruckten mich tief. Da war auch nicht der leiseste Anflug von Fanatismus, keinerlei Frömmelei. Schlicht und anschaulich stellte der erzählende Missionar die Szene dar, als der kniende Joseph die zerstörende Macht fühlte plötzlich aber über sich, in der Luft stehend, zwei Lichtgestalten sah.

Dies ist mein geliebter Sohn, höre ihn.”

War dies das große von alten Aposteln so oft herbeigesehnte Ereignis der Wiederkunft Christi, um das im Verlaufe der Jahrtausende pervertierte Reich Gottes erneut aufzurichten? Oder war es nur erst das Vorspiel dazu? Denn das hatte Jesus ja verheißen, dass er zurückkehren würde.

Unbeschreiblich groß muss das Erstaunen des Knaben Joseph Smith gewesen sein, denn was er erwartet hatte war, vielleicht eine Stimme zu hören, oder eine Wolke zu sehen, jedenfalls nicht Gestalten wie Menschen, nicht zwei Götter. Was er sah, entsprach keineswegs den Lehren der Kirchen und ihrer Geistlichkeit. Ihre Lehre war immer gewesen: Gott ist Geist, ein einziger Geist, in dem drei sind. (Was man sich darunter vorstellen kann, weiß ich nicht. Aber was will das schon besagen, dass ich es nicht begriff, Goethe konnte es auch nicht. Er schrieb dazu das Hexeneinmalseins.)

Auf Joseph Smiths Frage, die er schließlich irgendwie vorbrachte, welcher der bestehenden Gemeinschaften er sich anschließen solle, wurde dem Knaben Joseph Smith geantwortet: Er möge warten, bis er mehr Licht erhält. Und, sinngemäß: Die Institutionen Kirchen seien allesamt verdorben und ihre Lehren falsch. Ein Urteil, das einem Menschenmund natürlich nicht zusteht! Aber wenn Gott es sagt ...

Mir kam es so vor, als hätte ich die bekannte Geschichte noch nie so vertraut und so glaubhaft nahe empfunden. Mir schien, sie sei nur für mich erzählt worden. Dass der große Gottvater und sein Sohn Jesus Christus Lichtwesen waren und in einer Lichtsäule standen, konnte ich mir bildhaft vorstellen. Dass sie buchstäblich in die Welt- und Menschengeschichte eingriffen war nur wünschenswert. Auch wenn dieser Eingriff wesentlich anders ablief als sich der gesamte Stand kluger Theologen das hätte ausmalen können.

Ich dachte: dass es dem Knaben Joseph Smith nicht anders erging, als den verschiedenen Propheten Israels. Gott berief sie überraschend und fast immer entgegen ihren eigenen Absichten sowie als Gegenpol zu den geistigen Autoritäten ihrer Zeit. Sie wurden immer abgelehnt, sowohl von der religiös engagierten Elite, wie von der Masse. Ich liebte Joseph Smith wegen seines Mutes, den er als Gejagter sein Leben lang unter Beweis gestellt hatte und wegen des Geistes den er erkennen ließ.

Seitdem ich den Bericht davon auf dem Hausboden meines Vaters gelesen, vermochte ich es immer zu glauben, auch wenn ich in letzter Zeit gewisse Bedenken gehegt hatte. Das machte der auf mich einstürmende Marxismus. Ich musste mich mit ihm auseinandersetzen, denn ich musste mit ihm leben.



Sowohl die Atmosphäre welche die beiden jungen Elders verbreiteten als auch diese so oft gehörte Botschaft richteten mich völlig auf. Sie bewirkten, dass ich plötzlich froh war, am Vorabend dem wilden Ansturm meiner Gefühle standgehalten zu haben. Ich war dankbar und bescheiden zugleich, denn es hatte nur wenig gefehlt und mein Leichtsinn hätte mich Seiltänzer zu Boden geworfen. Unweigerlich wäre mir das Rückgrat angebrochen worden. Ich war nun einmal ich und vielleicht zerbrechlicher als viele andere. Oder ich wäre in ein Netzgeflecht neuer Gefühle und Empfinden gestürzt und hätte mich da verwickelt, hätte mich aus Enttäuschung über mich selbst aufgegeben, hätte nicht mehr gekämpft, sondern mich der Lust der Leidenschaft ergeben. Wie nicht wenige vor mir hätte ich mich verstrickt und dabei meine kostbare Freiheit verloren.

Als die Damen davongingen, trat ich an die beiden Missionare heran. Sie waren ebenso alt wie ich. Ob sie mich verstehen würden, wenn ich ihnen erklärte, in welchem Zwiespalt ich mich in letzter Zeit infolge anscheinender Nichtbewältigung marxistischer Ideen befand? Einerseits stand ich nach wie vor auf dem Boden der Grundwahrheiten des Mormonismus, andererseits, bekümmerte mich, dass die Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage zu schwach war, um die dringendlichsten weltweit anstehenden Probleme um Frieden und Gerechtigkeit zu lösen. Deshalb hinkte ich…

Sie würden gern mit mir reden, sagten sie. Wir verabredeten uns für den späten Nachmittag zu einem Gespräch in ihrer Wohnung am Breitenbachplatz.

Es wurde eine wunderbare Zeit.



Drei Monate später gehörte ich zu den vierhundert Lehrgangsteilnehmern eines Einjahreskurses für künftige Berufsschullehrer in der Universitätsstadt Greifswald. Vierhundert eingeschriebene Hörer mehrerer Fachgruppen wollten schnell Lehrer werden. Die SED wünschte ihren eigenen Lehrertyp herauszubringen. Mit einer Eins im Abschluss meiner Berufsausbildung als Baumschulist brachte ich die Minimalvoraussetzungen mit.

Die wenigen Monate bis Weihnachten kamen mir wie Tage vor. Alltags war ich Marxist, sonntags Mormone. Zunächst konnte ich damit ganz gut leben. Endlich hatte ich Zeit, zu lernen. Statt wie in den Jahren zuvor, die Obstbaumquartiere mit Rodehacke oder Wuchtspaten zu lichten und mich bei dem nassen Wetter auf dem Lehmacker zu schinden, um meinen Chef noch reicher zu machen als er ohnehin geworden war, - wie ich damals glaubte - machte ich hier keinen Finger krumm. Mit Vergnügen hörte ich mich in den Lehrstoff hinein. Meine Vorliebe für politische Ökonomie, machte mich vom Kopf her noch mehr geneigt, den Kommunisten wenigstens partiell zu glauben.

Doch dann kam jene sonderbare Kirchenversammlung im Spätherbst. Wir hielten damals, 1951, unsere von sechs, sieben Mitgliedern besuchten sonntäglichen Zusammenkünfte in Greifswald im Vereinszimmer einer Gaststätte ab. Leider war uns dieser kleine, noch einigermaßen geeignete, wenn auch ständig von kaltem Rauch- und Alkoholdunst geschwängerte Raum schon gekündigt worden. Wir hatten ihn, wenn auch zu unterschiedlichen Zeiten, gemeinsam mit den kurze Zeit später verbotenen “Zeugen Jehovas”, genutzt. Wegen der Fülle neuer Studenten wurde seitens der Stadtverwaltung jeder auch nur einigermaßen bewohnbare Schlafraum angemietet.

Wir mussten deshalb vorübergehend mit der eigentlichen Kneipe, die sonntags geschlossen war, vorlieb nehmen. Im Vereinsraum hausten jetzt einige Teilnehmer unseres Lehrganges und konnten, wenn sie wollten, jedes unserer Worte mithören. Es trennte uns nur eine Schiebetür von wenigen Millimeter Stärke. So erfuhren sie, dass ich, ihr Mitstudent, ein “Mormonenpriester” war. Nun saßen wir noch ungemütlicher, noch unbequemer, noch viel unpassender zwischen Theke und Stammtisch in der Abendmahlsversammlung. An jenem Tag sprach Arnold Riemer vor mir. Außer mir war er das einzige erwachsene, männliche, aktive Greifswalder Mitglied. Ein Malergeselle von Beruf. Er sprach über Ammon im Buch Mormon, wie der zu Lamoni sagte: “... ich bin von Gottes heiligem Geist berufen ... damit dieses Volk lernt, zur Erkenntnis der Dinge zu gelangen, die gerecht und wahr sind und ein Teil dieses Geistes wohnt in mir und der gibt mir Kenntnis und Macht, je nach meinen Wünschen und meinem Glauben an Gott. “ Alma 18,34.

Arno sprach perfekt. Wie ein Künstler spielte er auf unseren inneren Saiten eine feine Melodie. Je länger ich ihm zuhörte, um so mehr wünschte ich selbst “gerecht und wahr” zu sein. Es war eine der Ansprachen, in der Redner und Hörer die Zeit vergessen. Der eigentlich ungeübte Sprecher schlug uns in den Bann. Wir hingen an seinem Mund. Wir vergaßen Bierdunst und Kneipenhähne. Denn wir begriffen, wie sehr aus der Umkehrung der beiden Begriffe Recht und Wahrheit ihr eigentlicher Wert hervorging. Denn eine Welt der Ungerechtigkeit und der Lüge wäre nichts anderes als eine höllische Realität.

Zwei oder drei Tage später, im Dezember 1951, kam der weithin bekannte Schweriner Domprediger Karl Kleinschmidt zu uns ins Institut und hielt einen widerspruchsvollen Vortrag. Auch er wollte, wie ich es zuvor versucht hatte, Feuer und Wasser miteinander verbinden. Energisch bemühte er sich, den Eindruck von der Machbarkeit des Unmöglichen zu erwecken. Wir sahen, wie es in seinem mächtigen Kopf arbeitete. Protestant Karl Kleinschmidt erzählte in seiner Rede, dass er bei einem seiner Pastoralbesuche auf einen achtzigjährigen Jubilar stieß, der ihm freimütig bekannte: “Ach Gott, Herr Pastor! Da kommen sie zum falschen Mann! Schon vor mehr als zwanzig Jahren bin ich aus der evangelischen Kirche ausgetreten! Ich bin ein Kommunist.”

Na, dann bin ich zu Dir eben als Genosse gekommen! Gratulation! Du bist nicht der falsche, Du bist der richtige Mann!” Die Grobschlächtigkeit, mit welcher der sonderbare Pastor uns bearbeitete, missfiel nicht nur mir. Nach seinem temperamentvollen Werben für den Geist der neuen Zeit stellte ihm einer der etwa dreihundert Anwesenden eine Frage. Ob er als fortschrittlicher Pastor zulassen könne, dass Säuglinge getauft und somit zwangschristianisiert würden. Ich befand mich auf der Galerie des zum Institut gehörenden Gebäudes Stralsunder Straße 1 und konnte Karl Kleinschmidt gut beobachten. Ich meinte, nun stürzt er ab. Auf diesen Angriff sei er nicht gefasst. Aber in dem großflächigen Gesicht war auch nicht die Spur von Verlegenheit erkennbar. Er zögerte keine Sekunde. Obwohl die Berechtigung des Vorwurfes jedem einleuchtete, wandte sich der etwa fünfzigjährige Geistliche ungerührt und direkt an den Fragesteller: “Genosse! Wenn Du jetzt heiratest, dann werden Deine Kinder selbstverständlich DDR-Bürger sein. Oder etwa nicht? Ist das eine Vergewaltigung ihres freien Willens? Nein? Dann ist es das Hineingeborenwerden in die Kirche auch nicht. Gewisse Vorrechte erhält man eben durch Geburt.” Er erhielt viel Beifall für diese kesse Ausrede. Seine Schlagfertigkeit verblüffte uns. So einfach war die Antwort, die, wie jeder wusste, nicht stimmte. Aber sie war gut genug, den Druck der aus dem Augenblick heraus geboren worden war, gegen Null zu reduzieren. Hundertundeine Nachfrage hätten folgen müssen. Karl Kleinschmidt fuhr in diesem Stil fort. Seine fest wirkenden Züge, seine breite Stirn, sein Anspruch erwiesen seinen Willen, unbedingt sein Geltungsbedürfnis zu befriedigen. Er wünschte zu den ersten Männern des Landes zu gehören. Es reichte ihm nicht aus, nur ein Domprediger zu sein. Es ging ihm, wie mir schien, um Zuwachs an Macht und Sicherheit. Ungewollt hielt er mir einen Spiegel vor, in den wir beide gemeinsam hinein schauten. Mich sah er nicht. Dafür sah ich ihn um so deutlicher. Dieser Mann war kein Pastor. Auf seinen Glauben an Gott fand sich in seiner Rede kein Hinweis. Als Präsidiumsmitglied des Deutschen Kulturbundes war er zu uns gekommen und trat vor uns als Gesinnungsgenosse Walter Ulbrichts und als Freund von Johannes R. Becher auf. Sein einziges Ziel war, uns auf DDR-Linie zu trimmen.

Nachdem Herr Kleinschmidt mir den gottlosen Sozialismus gepredigt hatte, wusste ich, was ich tun würde.

Bei der nächsten Vorlesung, in der Unwahres gesagt und Unzumutbares gefordert wurde, verweigerte ich meinen Beifall. Dozent Kirchberg hatte über Gorkis berühmten Roman “Die Mutter” gesprochen und als Schlussfolgerung seiner Vorlesung gefordert, dass es unsere Pflicht sei, aus Verantwortungsbewusstsein und Liebe zur DDR, die Leute anzuzeigen, die sich auffällig gegen “unseren” Staat stemmten. Ich saß vorn in der ersten Reihe. Als er seinen rhetorisch brillanten Vortrag beendet hatte, gab ich weder mit den Knöcheln meiner Hand, noch mit den abgewetzten Sohlen meiner billigen Halbschuhe Beifall. Der dreißigjährige, gutaussehende Kirchberg sah mich reglos dasitzen. Er sprach mich sofort an, stellte mich mit mehreren Fragen zur Rede. Ich sagte ihm ohne Umschweife, und ohne in diesem Augenblick Rücksicht auf meine berufliche Entwicklung zu nehmen, was ich dachte. Mit seinen einsfünfundachtzig überragte er mich bei weitem, nicht nur körperlich. Vor allem die Mädchen hielten ihn für einen Mann von ungewöhnlicher Intelligenz. Er fühlte sich mir haushoch überlegen. Eigentlich war er nicht der Typ des grimmigen Einpeitschers. Er wirkte eher gewinnend, sah aus wie ein Lord und wusste das. Der eitle Mann wollte wissen, was der wahre Grund meiner Beifallsverweigerung sei.

Weil ich Ihre Auffassung nicht teile. Meiner Überzeugung nach ist es gleich, ob ihn ein Brauner oder ein Roter verübt, Verrat bleibt Verrat.”

Da ich kein Aufsehen erregen wollte, gab ich die Antwort leise. Er aber fuhr hoch: “Das ist eine Grundsatzfrage! Wir sind für unsere Republik selbst verantwortlich. Feinde haben wir mehr als genug. Wollen Sie sich etwa auf die andere Seite schlagen? “

Er hämmerte drauf zu, wahrscheinlich fühlte er sich beobachtet und fürchtete durch mich, möglichen Zuhörern unseres Gespräches eventuell in einem falschen Licht erscheinen zu können: “Das Proletariat stellt jetzt die Frage, wer wen. Zeigen Sie durch Ihr Verhalten, wo Sie hingehören. In unserem Staat muss schließlich jeder Farbe bekennen. Wer gegen Rot ist, kriegt die Faust der Arbeiterklasse zu spüren.” Solche derbgezimmerte Rede passte nicht zu ihm. Sein feines Gesicht war nicht mit den rauen Zügen des Parteisekretärs Stanke zu vergleichen, dem er den Ton abgelauscht haben mochte. Kirchbergs harte Entschiedenheit war offensichtlich von künstlicher Art. Zu gern hätte ich gewusst, was er sechs Jahre zuvor geredet und getan, und wie er die Kurve von den Nazis weg zu den Roten genommen hatte. Ich kannte sie. Einige hatten uns noch drei Tage vor dem Einmarsch der Roten Armee, als sie noch HJ Führer waren, eingebläut, wir müssten Hitler total vertrauen und jeden, jeden Befehl bedingungslos ausführen, selbst wenn es unser Leben kosten sollte. Für Hitler lohne es sich zu sterben. Zum Gerassel beschwörenden Trommelwirbels ließen sie uns, noch im März 45, unter dem Abbrennen riesiger Holzstöße, bei den Göttern Walhallas geloben, unser Leben einzusetzen für den Endsieg Deutschlands. Aber nur wenige Wochen später liebäugelten dieselben leichtfertigen Bengel ebenso entschieden mit den neuen, total entgegengesetzten Möglichkeiten, um Karriere zu machen.

Ich fragte mich, ob auch Dozent Kirchberg schon daran gedacht hatte, sich irgendwann, falls er sich einmal über seine Mitgenossen geärgert haben mochte, klammheimlich in den Westen abzusetzen. Man bestieg einfach den Zug, schlief kurz vor Berlin ein und ging dann vom Ostbahnhof aus ein paar Schritte zu Fuß. So einfach war das, vor 1961, von der einen Welt in die völlig andere, reichere zu gelangen.

Er erwiderte, wenn auch nicht laut: “Sie sind ja gemeingefährlich!” Ich war gefährlich. Ich wusste, dass sie alle, genauso wie ich, ihre Zweifel hegten. Er sagte: “Sie sind doch klug genug, um zu wissen, dass es kein Zurück mehr gibt.”

Das war der Punkt. Die Logik ließ, in der Tat, keinen anderen Schluss zu. Nachdem die Russen mit ihrer Militärmaschinerie auf unserem Territorium standen, hieß es gehorsam zu sein oder zu leiden. Durchdringend schaute er mich an: “Übrigens, wer meint, sich kirchlich engagieren zu müssen, hat an unserem Institut selbstverständlich keine Bleibe.” Hatte er nur auf den Busch geklopft? “Ich bin Mormone!” bekannte ich. Er schaute mich durchdringend an. Er hatte es gewusst. Meine Gedanken fanden keinen Ruhepunkt mehr. Wenn das so war, dass sie von mir verlangten, Farbe zu bekennen, dann musste ich es schnell klären. Definitiv? Vor dieser Konsequenz schrak ich zurück. Ich wollte mir doch nicht meinen Lebensweg verbauen.

Vielleicht sah er mir in etwa an, was ich über Leute wie ihn dachte.

Ich erinnerte mich wieder der roten Spruchbänder, die im Herbst 1950 wochenlang unter den Prenzlauer Kasernenfenstern, in der Alsenstraße, hingen: “Herzliche Kampfesgrüße unseren koreanischen Klassenbrüdern im Kampf gegen den US-Imperialismus!”

Am Tage darauf fasste ich den Entschluss, vom Institut wegzugehen. Das war meine Pflicht.

Als ich Herrn Kirchberg das mitteilte, war er ehrlich erschrocken. Seinem Mienenspiel sah ich an, dass er das nicht gewollt hatte. Meine Wahl schien ihm dermaßen widernatürlich zu sein, dass er mich augenblicklich aufforderte, die vielen für ihn offenen Fragen auszudiskutieren. Solange nehme er meine Reaktion und meine Kündigung nicht zur Kenntnis. Offensichtlich hatte er erwartet, dass ich seine Bemerkungen an jenem Vorlesungstag lediglich als freundschaftliche Ermutigung verstehen würde, den Sprung in die neue Zeit hinein zu wagen, nämlich mich über “religiösen Jux” hinwegzusetzen.

Auf sein Gesprächsangebot ging ich selbstverständlich ein. Auch das überraschte ihn.

Vier oder fünf Abende redeten wir im Stalinzimmer des Instituts miteinander, er, Roderich Schmidt, der Direktor, und ich. Manchmal war auch Stanke, der Parteisekretär, dabei. Sie wollten nicht, dass ich das Institut aus meinen Gründen verließ. Sie versuchten, meinen Glauben an Gott zu erschüttern und argumentierten scharf; doch was mich selbst betraf, waren sie im wesentlichen gutwillig. Sie wollten mich gewinnen. Als stark erwiesen sie sich in der Argumentation gegen die verhängnisvollen Rollenspiele der Großkirchen. Aber ihre Beweisversuche gegen die Existenz Gottes waren mehr als naiv. Sie konnten auch nicht begreifen, dass sie meinen Standpunkt durch ihre Auflistung der kirchlichen Verbrechen nicht im Geringsten erschüttern konnten. Das war natürlich ihr Ziel. Soviel Hintergrundwissen besaßen sie nicht, um verstehen zu können, dass jemand ja gerade deshalb bewusst Mormone war, weil er die gesamte Geschichte und Entwicklung des Christentums - nach dem Beginn des vierten Jahrhundert - für entschieden verfehlt erkannt hatte. Auf dieser Basis stand Mormonismus und aus eben diesem Grund hassten und hassen die meisten Christen die nicht in ihrer Traditionsreihe stehenden Mormonen. Es war und ist die Andersartigkeit, die sie ablehnten, nicht so sehr das Substantielle des Mormonismus, das sie nicht erkannten.

Am vorletzten Abend unserer fast einwöchigen Auseinandersetzung erschien der Parteisekretär Stanke als Pope verkleidet zum Gespräch. Das war dem geistreicheren Kirchberg peinlich. Stanke wünschte, ich solle unbedingt begreifen, dass die Allianz von Thron und Altar Ursache fast aller Kriege im Europa der letzten eintausendfünfhundert Jahre war. Doch noch einmal, wiederum zu ihrem Erstaunen, pflichtete ich dem Mann Stanke bei. Hatte ich ihnen das nicht schon dreimal erklärt? Das Pfaffentum, diese Konzentration von Geist zum Zweck der Machtausübung, war seit eh und je Gottes wirkungsvollster Feind gewesen. Die Bibel ist voll von diesen Geschichten. Nicht erst seit Pashur, dem berufsfrommen Gegenspieler des gottgesandten Propheten Jeremia, standen die “Priester” und “Hirten” (die Pastoren) eher für ihre persönlichen Interessen ein. Das blieb auch so. In den Tagen Jesu von Nazareth betrieb der Hohepriester Kaiphas, dessen Verurteilung. Gottes Feinde kamen aus den eigenen Reihen. Sie haben keine Rücksichten gekannt. Auf Konzilien und Synoden haben sie die alten schlichten Sitten und Wahrheiten verbogen und verdreht und in ihr Gegenteil verkehrt. An die Stelle der Fischer und Teppichweber traten harte Senatoren mit blutbefleckten Roben. Mir war auch ohne Stankes Hinweise längst klar gewesen, dass das vor rund eintausend Jahren nach Russland transportierte Christliche auf allen strukturellen Ebenen nichts anderes darstellte als das erstarrte byzantinische Hofzeremoniell des zehnten Jahrhunderts nach Christus. Das war offensichtlich. Diese Ornate und Prachtgewänder, diese heidnischen, pomphaften Mitren als Kopfbedeckungen. Sie zeigten nicht mehr und nicht weniger, als den absoluten Machtanspruch der “Kirche” über die zwangsweise zu Christen gemachten Menschen ihres Herrschaftsbereiches.

Kirchberg, R.Schmidt und Stanke verachteten das Pfaffentum zwar anders als ich es ablehnte, doch da gab es keinen grundsätzlichen Unterschied in der Beurteilung. Mir war sogar klarer als ihnen, dass sie und ihre kommunistischen Vordenker den Glauben an Gott vor allem wegen der traurigen Christengeschichte ablehnten. “Kirche” hieß für den Parteisekretär Stanke schlichtweg Hexenbrennerei, Kreuzzüge, Mönchskungelei, Inquisition, Judenverfolgung und Heuchelei. Sie kannten die deutsche und entsprechende Auszüge aus der russischen Geschichte. Aber ich kannte sie ebenfalls und zwar partiell recht gründlich. Beide erwiesen sich als mit Blut und Tränen geschriebene Jahrtausendbücher. Da konnte man Seite für Seite aufblättern und sah, dass sowohl der “Glaube” als auch “die Kirche”, solange ihre Möglichkeiten zur Machtausübung ungebrochen waren, den Menschen nur wenig Gutes gebracht hatten. Sowohl von Wladimir von Kiew bis Nikolaus II. als auch von Karl dem Großen, der dreitausend Frankenmännern den Kopf abschneiden ließ, weil sie nicht gewillt waren, sich christlich taufen zu lassen, bis zum hitlertreuen Reichsbischof Müller, führten jeweils gerade Linien. Die zu allen Zeiten von frommen Männern geweihten Waffen passten dazu. Wer je, wie er, Stanke, als Kriegsgefangener und Mitglied eines Antifa-Komitees in Leningrad in der Isaakkathedrale die historisch echten Bilder der von unzähligen Priestern geleiteten Prozessionszüge anlässlich großer russisch-orthodoxer Feiertage gesehen, der wusste, dass solche unheilige und buchstäblich unchristliche Allmacht eines Tages niedergeschmettert werden musste. Ich widersprach ihm durchaus nicht, sondern ergänzte seine scharfen Ausführungen, indem ich sagte: Das von Gott gegebene Gesetz der Entwicklung verlangt eben, dass alles was nicht von ihm ist, früher oder später zu Bruch gehen wird. Sogar ihnen als Nichtchristen sei aufgefallen, dass der Zimmermannssohn Jesus von Nazareth das nicht gewollt hatte, nicht diese Demonstration von Macht, die nichts duldete, was sich ihr nicht unterwarf. Ich konnte diesen Teil ihrer Bemerkungen immer nur unterstützen und sagte wörtlich: “Zweitausend Jahre Christentum waren zweitausend Jahre Gängelei gegen den ausdrücklichen Willen Christi.” Stanke sah mich böse an, kniff die Lippen zusammen, unterstellte mir glatt Opportunismus. Dagegen verwahrte ich mich und konterte scharf. Was er wüsste, hätte ich längst erkannt. Ich erzählte, dass in meiner Heimatstadt Wolgast vor dem Rathaus ein gusseiserner Brunnen steht. In einigen Reliefs zeige er die großen Ereignisse der örtlichen Vergangenheit. Da befinde sich auch die Darstellung von der Zwangschristianisierung der alten Herzogsstadt im Jahre 1128, in der man zuvor an Herovit glaubte. Groß zur Linken stünde der Soldat mit einem riesigen Schwert, neben ihm ein Priestermönch, der die Heiden in einem Zelt tauft. Nackt stehen sie da drinnen in einem großen Holzbottich, bis zu den Knien im Wasser. Diese Menschen haben, genau wie er, Stanke, das sieht, keine Wahl gehabt. Otto von Bamberg, der “bekehrende” Christenbischof segnete sie zwar, hinterher, wie man auf dem Bild sieht, doch das gäbe den so Christianisierten die Mündigkeit nicht zurück. Auch meiner Überzeugung nach sei das eine Vergewaltigung gegen das ausdrückliche Gebot Christi und eine Beleidigung Gottes. Das sei einer der Gründe, warum ich Mormone bin. Außerdem brachte ich zum Ausdruck, dass es trotz aller Entgleisungen aber auch bewundernswert gute und selbstlose Priester und erst recht tadellose Christen in allen Kirchen und zu allen Zeiten gegeben hätte. Da rastete Stanke aus, schlug die Tür hinter sich zu. Meine Gesprächspartner hielten sich nur für konsequent. Sie lehnten alles ab, was im Entferntesten den Glauben an einen ewigen Schöpfer aufkommen lassen könnte, und schnitten beides zugleich ab, die Disteln und das grüne Korn. Nun drängten sie in der Hoffnung, mich doch noch umzustimmen, auf eine letzte Aussprache. Auch sie brauchten zur Wiederherstellung ihrer normalen Seelenlage den Erfolg. Denn mittlerweile hatte sich im Institut mein Fall herumgesprochen.

In den letzten Tagen meines Greifswalder Intermezzos sprach ich eines der freundlichen Mädchen unseres Lehrganges an und fragte sie, ob sie mit mir ins Kino gehen würde. Ich vermutete, dass sie einer christlichen Gemeinde anhing. Sie hatte offensichtlich Probleme damit, dass sie sich an diesem Institut als Hörerin eingeschrieben hatte. Vielleicht litt sie noch mehr als ich unter einem inneren Zwiespalt. Ich wünschte, mich mit ihr auszutauschen. Sie schien verlegen zu sein, war es aber nicht, denn sie fragte mich sofort: “Bist du noch frei? Bitte kein Missverständnis”, sagte sie, aber mit einem Jungen ginge sie nur dann ins Kino, wenn sie das wüsste. Sie ging nicht wirklich auf meine Gedanken ein, schwieg sich im wesentlichen aus. Da musste ich also allein durch. So rückte der Tag für das letzte, das entscheidende Gespräch heran. Dass Kirchberg und der Leiter des berufspädagogischen Institutes Greifswald tatsächlich nicht genügend nachgedacht, sondern ihre Karten, entsprechend dem allgemeinen Trend, einfach auf die atheistische Grundlehre gesetzt hatten, zeigte sich in allen Gesprächen. Das sollte sich auch im letzten erweisen. Sie sagten: Ihr Gott sei die Natur. Etwas anderes gäbe es nicht. Punktum. Die Umgebung, das Sein forme den Menschen, die Umgebung Natur habe uns hervorgebracht, schließlich die Gesetze per Zufall. “Es gibt kein höheres Wesen im Weltall als den Menschen.”

Und woher wisst ihr das ?”

Sie murmelten etwas Unbestimmtes, fanden es unerhört, wie ich diskutierte. Ich dagegen fand, dass ihr Atheismus unbearbeitetes Rohmaterial war, und damit protzten sie auch noch.

Dabei war die Entscheidung, ob ich oder auch sie selbst sich nach links oder rechts wenden sollten, von kaum zu übersehender Bedeutung. Ohne es lange zu bedenken, hatten sie, - nicht ich, wie sie behaupteten, - wie Wasser den Weg des geringsten Widerstandes gesucht. Einfach so hatten sie gesetzt: es gibt keinen Gott.

Sie waren in eine Falle getappt: Indem der Kommunismus die Menschen in der Überzeugung bestärkte, dass sie ausschließlich dem Tierreich entstammten, gewann er an Macht. Seine Philosophie verleitete die Mehrheit zu dem Trugschluss: wenn es keinen Gott gibt, dann ist alles erlaubt.

Das war der wahre Grund.

Ich sagte es ihnen und fügte hinzu: “Wenn es denn Halbgötter wie uns Menschen im Weltall gibt, dann gibt es auch ganze Götter.” Sie horchten tatsächlich auf, als ich bekräftigte, dass Jesus schon den Pharisäern seiner Zeit gesagt hatte, dass der Mensch nur wenig niedriger sei als Gott. (Joh. 10.33-36) Was schließlich nichts anderes aussagte, als dass der Mensch ein Halbgott ist. Noch sei er sterblich und noch moralisch winzig, aber er werde Fortschritte machen.

R. Schmidt hätte wahrscheinlich liebend gern erwidert, ihm sei meine Diskussion zu dumm. Er schüttelte sich und seinen schmalen, langen Kopf. Meine beiden Gesprächspartner waren offensichtlich erstaunt. Bisher hatten sie geglaubt, dass nur sie allein, als Repräsentanten des Kommunismus, die Überzeugung an den ewigen Fortschritt der Menschheit vertreten.

Es verwirrte sie. “Ich denke, ihr wisst genauso gut wie ich, dass niemand das Ende absehen kann, wohin die Menschheit sich im Verlaufe der Zeit entwickeln wird, wenn wir nicht den falschen Kurs einschlagen, wenn wir uns nicht vorher untereinander ausrotten. Ich meine, dass Menschengeist viel mehr kann, als wir heute glauben. Warum, wenn wir die Gebote Gottes als verbindlich anerkennen, sollen wir nicht irgendwann am Ende der Entwicklung wie die Götter werden?”

Es war ihnen sehr leid geworden, mit mir zu reden, weil ich ihre Argumente benutzte.

Während ich mich erhob, um dem möglichen Hinauswurf zuvor zu kommen, packte ich meine Überraschung aus:

Habt ihr nicht gelesen, dass Goethe deutlich zwischen Geist und Körper des Menschen unterscheidet? In seinen Gesprächen mit Eckermann sagt er es sonnenklar, und in einer Szene seines Faust lässt er es den Titelhelden feststellen. Ich zitierte Wort für Wort: ‘Zwei Seelen wohnen, ach, in meiner Brust, die eine hält mit derber Liebeslust sich an die Welt mit klammernden Organen, die andere hebt gewaltsam mich vom Erdendust zu den Gefilden hoher Ahnen.’

Das mache doch den wesentlichen Unterschied zum Tierreich aus, dem wir biologisch sicherlich entstammen, dass der Mensch seinen animalischen Trieben nicht ausgeliefert ist, sondern sein Handeln und Wollen ständig selbstkritisch begleiten kann, eben weil sein Geist aus “Elysium”, vom Himmel, herabgekommen ist, aus den "Gefilden hoher Ahnen”. Meine Hand lag schon auf der Türklinke

Sie zeigten sich erleichtert, dass ich auf eine Weiterführung des Gespräches verzichtete.

Sie waren so ehrlich mir zu bescheinigen, dass ich das Institut auf eigenen Wunsch verlassen hatte.

Sie hatten sich sehr um mich bemüht.

Sie hätten die Macht gehabt, mich einfach hinauszuwerfen. Das haben sie nicht getan. Sie hielten mich für verrückt, aber ich war glücklich. Wenn auch auf geheimnisvolle Weise, wusste ich, dass ich mich richtig entschieden hatte.

In der Institutsleitung gab es allerdings Leute, die schon Tage vorher durchblicken ließen, mit mir sollte man kurzen Prozess machen und an mir die Diktatur des Proletariates ausüben.



Als ich im Dorf K. ankam, eröffnete sich mir eine neue, wenn auch kleine, wie mir schien ungeordnete Welt, in der ich mich erst zurecht finden musste.

Ich half dem Neubauern M., bei dem ich in der winzigen Mansarde des ausgebauten Dachgeschoßes wohnen durfte. Während der Februarwochen ernteten wir das Rohr auf den von ihm gepachteten und nun zugefrorenen Seen. Morgens wenn der Raureif noch schwer und glitzernd weiß auf den braunen Wispen der langen Halme lag, zogen wir los. Zumeist sah der Himmel blau aus, und es surrte, wenn wir die breiten Schnitteisen über die rohrbestandenen Eisflächen schoben. Raschelnd fielen uns die weißköpfigen Spitzen des langen Rohres ins Gesicht, puderten uns eisig ein.

Als Gegenleistung plante des Neubauern Ehefrau mich als ständigen Tischgast ein.

Ende Februar begann es eines Tages überraschend stark zu tauen. Auf dem T.see lagen noch vierhundert Bund Rohr. M. musste einen Zahnarzttermin wahrnehmen und stellte mir anheim, die Rohrbunde zu retten.

Beim Bergen des Schilfes brach ich immer wieder ein, was allerdings nicht lebensgefährlich, sondern nur unangenehm war, denn wo das lose, noch nicht zusammengebundene Rohr lag, war es flach. Nur bis zu den Waden reichte das Wasser, und die waren einigermaßen durch die Stiefel geschützt. Doch auf diese Weise kam ich nur sehr langsam voran. Gegen fünf Uhr am Abend fing es zu dunkeln an. Noch lagen einige Bunde auf dem immer brüchiger werdenden Eis. Es kam Finsternis auf, ehe ich fertig wurde. Anschließend wagte ich nicht, den See zu überqueren, obwohl in seiner Mitte sicheres Eis lag und dies eine beträchtliche Abkürzung des langen Fußmarsches bedeutet hätte. Gut gelaunt trat ich den kilometerlangen Umweg an. Die Sterne leuchteten hell und machten mir wieder bewusst, woher ich eigentlich kam, und wohin ich in Wahrheit ging. Mich störte nicht, dass ich sehr durchnässt war. Mich beglückte der Gedanke, frei zu sein. Die Neubäuerin sah mich erschrocken an, als ich über die Schwelle trat. Sie erstarrte mitten in einer Bewegung. Sie wurde blas. Sie konnte ein Aufschlucken nicht unterdrücken: “Und ich dachte, Sie wären ertrunken!” Mir gefiel es, zu sehen, dass ich ihr etwas bedeutete. Aber was sollte das? Sie war für mich tabu. So sehr sollte sie sich eigentlich nicht aufgeregt haben. Ich sollte ihr eigentlich gleichgültig sein, wie sie mir.

Der Nachtfrost zog in jener Woche noch einmal stark an und wir konnten auch den Rest der Rohrbestände abernten.

Ich dachte einige Male an die abendliche Szene in der Küche der Neubäuerin zurück, schob aber alles beiseite was mich in die falsche Richtung drängen wollte. Meine Gedanken richteten sich auf den Vorsatz, meine Baumschule aufzubauen, wofür mir M. ausreichend Land zur Verfügung gestellt hatte.

Es war noch im März, als ich eines Tages beabsichtigte, mit dem Zug in den Nachbarort zu fahren, um Material einzukaufen, das ich für meine gärtnerischen Zwecke benötigte. So kam ich an jenem Spätnachmittag zwangsläufig in die Nähe des winzigen Wartesaales des ebenso kleinen Bahnhofes. Lärm drang heraus. Diese Kneipe war die einzige Gaststätte des Ortes und erfreute sich eines beachtlichen und regelmäßigen Zuspruches der Männer. Vielleicht mochte ich aus Neugierde einen Blick in den überfüllten Raum geworfen haben. Ich kann mich daran jedoch nicht genau erinnern.

Zwei Tage später hörte ich, dass sie den Bürgermeister verhaftet hatten. Eine Woche später, der Bürgermeister war nicht wiedergekommen, raunte mir die Neubäuerin zu: “Gerd, die Bauern verdächtigen Sie.”

Wessen?” fragte ich. Ich konnte mir bei bestem Willen nicht erklären, was sie meinte. “Dessen!” erwiderte sie und hob die Stirn in Falten. “Einer muss ihn ja angezeigt haben.”

Ach so!” Ich hatte mich schon gewundert, dass sie so ernst und bekümmert aussah, und ich lachte. Dachte sie etwa allen Ernstes, dass ich in die gefährliche Angelegenheit verwickelt sei?

Mir war längst noch nicht klar, dass es stets darum ging, vor allem den Anschein von Sauberkeit zu wahren, und wandte mich deshalb weiterhin unbekümmert meinen täglichen Arbeiten zu.

In derselben Woche, ich kam aus dem Dorfkino, stießen aus der Finsternis des Parks hinter dem Schloss ein paar dunkle Gestalten auf mich zu. Zuerst war ich verunsichert und ängstlich. Als ich jedoch ihre Stimmen hörte und die Gesichter erkannte, weil meine Augen sich ans Dunkel gewöhnt hatten, wurde ich trotz der Beschimpfungen wieder ruhig. Sie würden nur reden. Aber wie sie dann auf mich einredeten: “Du bist es gewesen!”

Ein anderer bellte: “Du Lump!”

Mit anderer Leute Frauen poussieren.”

Wir schlagen Dich tot!”

Unseren Bürgermeister zahlen wir dir heim!”

Ich setzte mein Vertrauen in das Gerechtigkeitsempfinden der empörten Männer. Denn an der Verhaftung und was das Poussieren betraf war ich wirklich unschuldig. All das würde sich ja bald herausstellen.

Sie schnürten den Ring enger, machten sich gegenseitig scharf, hetzten noch einmal, aber lauter:

Wegen ein Lied!”

Hast Geld gebraucht, nich?”

Dat bringt sechzig Mark, nich? Judaslohn, nich?”

Gespenstisch wogten ihre Schatten um mich herum. Wie zum Schwur vereint, hielten sie mir ein paar Sekunden lang die Fäuste unter die Nase.

Plötzlich ließen sie ab von mir , zogen los.

Dass ich arm wie eine Kirchenmaus war stimmte. Sicher, woher sollte ich Geld haben? Wahrscheinlich hielten sie mich für besonders suspekt, weil ich nie in ihre Wartesaalkneipe ging. Neumann, das hatte mir die Neubäuerin gesagt, war schon längere Zeit hinter ihr her und immer hätte sie ihn abblitzen lassen. Er hasste mich.

Wenn er abends an den See kam, mit einer schlittenähnlichen Schleppe auf der ein großes Fass stand, um Wasser für sein Vieh zu schöpfen, ließ er mich jedes Mal spüren, wie sehr er sich mir gegenüber als überlegen betrachtete. Blicke und Gesten waren es, selten Worte. Aber warum eigentlich?

Er hatte mir am lautesten gedroht: “Das Loch im Eis für Dich ist schon gehackt.”

Die drei Löcher, die man vom Land aus sah, hatte ich selbst als Angellöcher geschlagen.

Hau ab von hier!”

Ziemlich erregt, obwohl fürs erste die Gefahr gebannt war, rannte ich heim. Als ich um unseren Zaun herumbog, sah ich die Neubäuerin, jedenfalls ihren Schatten, in der Türfüllung. Sie stand vor dem dunklen Eingang der Veranda. Sie zitterte: “Und ich hatte Dich so sehr gebeten, heute nicht ins Kino zu gehen.”

Du hast es gewusst?”

Sie nickte: “Ich habe es befürchtet.”

Vier lange Wochen dauerte es, bis ich alles aus dem Mund des aus der Untersuchungshaft entlassenen Bürgermeisters H.Schindler erfuhr. Er gab sich konziliant, bot mir Platz an in seinem kleinen Büro und steckte sich mit unruhigen Händen eine Zigarette an. Er redete frei vor mir, wusste alles. Etwas gekünstelt, als hätten sie ihn bei der Entlassung darauf verpflichtet, dass er es auch in seinem Dorf selbstkritisch offen bekennen sollte, sagte er, er als erster Mann des Ortes hätte sich solche Torheit nicht herausnehmen dürfen im Wartesaal das Soldatenlied der Deutschen Kriegsmarine zu singen: “Denn wir fahren gegen Engelland ...”

Bomben auf Engelland, das sei mehr als eine Dummheit gewesen, das war ein böses Vergehen. Verherrlichung des Faschismus und des Krieges. Dafür konnte jeder Bürger mit Gefängnis bis zu fünf Jahren bestraft werden, so das Gesetz zum Schutze des Friedens.

Da ich an jenem Nachmittag zufällig aufgekreuzt war, konnte ich es also durchaus gehört haben. Ob ich das, was er sang bemerkt hätte oder nicht, ich sei in meiner arroganten Art, ohne sie zu grüßen, an den Bauern im Wartesaal vorbei gegangen. Das sei der Punkt gewesen. H.Schindler umschrieb es nicht. Er sagte es mir ins Gesicht. Männliche Dörfler - das “männliche” betonte er - würden mich ohnehin nicht leiden können, hielten mich für eine verkrachte Existenz, jedenfalls war alles, was sie von mir gehört hatten, nichts Gutes.

Außerdem wussten alle, dass ich kein Geld besaß. Sie hielten das für höchst verdächtig. Am selben Abend, knapp zwei Stunden später, wäre er verhaftet worden. Für die Neubauern lag nun der Schluss nahe: ich hätte mir einen gewissen Betrag verdienen wollen und sei deshalb in der Stadt, als erstes zur Stasi gerannt, dienstbeflissen und scharf auf die Prämie. “Und was wäre gewesen, wenn Du so schnell nicht wiedergekommen wärst und wenn Du ihnen nicht den Mann hättest nennen können, der Dich anzeigte?” H.Schindler zuckte die Achseln, lächelte auf seine immer verbindliche Weise. Er kenne seine Pappenheimer. Das hätten sie nicht gewagt, meinte er.

Bist Du sicher?”

Na ja, unter uns gesagt, ein Vielweibereimormone ist nicht gerade nach ihrem Geschmack. Sei vorsichtig.”



Im Sommer dieses Jahres 1952 erfuhren wir, dass der Präsident der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage, David O. McKay, nach Berlin kommen würde. Ich fuhr natürlich hin, sah einen hochgewachsenen Mann mit gewelltem weißem Haar, ein Achtziger mit einem sympathischen Gesicht. Ich empfand seine Ausstrahlung als sehr angenehm. Es war reine Herzlichkeit. Ich stand gerade auf dem Hof des Titaniapalastes, als er aus dem Auto stieg. Seine Gesichtszüge verrieten mir, dass da ein Mann ohne Dünkel, und ohne überzogenes Sendungsbewusstsein auftrat. Minutenlang stand ich betroffen über meine eigene frühere Torheit, die ich vor gerade einem Jahr, wenn auch nur für kurze Zeit gehegt hatte, (als ich in der Gärtnerklasse das Stalinbild aufhängte) und fragte mich, wie ich jemals denken konnte, dass Männer wie Molotow, Kaganowitsch, Berija, Stalin wahrscheinlich doch große und tadellose Persönlichkeiten seien.



Das Gebäude in Westberlin, wo die Konferenz mit Präsident McKay stattfinden sollte, wurde von einer kleinen Heerschar Zeugen Jehovas belagert. Sie bemühten sich, nahe an ihn heranzukommen. Doch sie wurden durch einen Kordon von Mormonen die dem Präsidenten die Hand reichen wollten daran gehindert. Die “Zeugen Jehovas” begehrten dem ruhigen freundlichen Gentleman zu sagen, was sie mir ziemlich wütend ins Gesicht schmetterten: er sei der Gesandte Satans. Mit ihren Wachtturmtraktaten fuchtelnd, bezeugten sie ihre Eifersucht.

Das war etwas, was mich stets verwunderte, diese Selbstsicherheit im Vorurteil nahezu aller frommen Christen. Sie glauben, es sei der Weisheit letzter Schluss: Wenn jemand anders dastand als sie, müsste er schief liegen.

Präsident David O. Mc Kay sprach in der großen Versammlung über die Pflichten der Mitglieder, sich ihrer eigenen Erkenntnis gemäß zu verhalten: “Leistet eine gute Arbeit. Seid vorbildliche Nachbarn und gute Bürger Eurer Städte und Dörfer. Tut Eure Pflicht gegenüber Gott, indem Ihr seine Gebote haltet, dann wird die Indoktrination durch den so genannten wissenschaftlichen Atheismus Eure Familien nicht in feindliche Lager spalten und somit nicht Euer Lebensglück zerstören. Vorausgesetzt, dass Ihr, liebe Mütter und Väter, Euren Kindern mit gutem Beispiel vorangeht. Und handelt nie anders als zum Vorteil der Beständigkeit Eurer Ehe und Familie. Wer noch nicht verheiratet ist, trachte ebenfalls danach ... Seid rein ...Bleibt wo ihr wohnt, helft, wo Ihr lebt die Kirche – das Reich Gottes - aufzubauen.” Im Klartext hieß das, bleibt in der DDR.

Das betraf mich natürlich persönlich.



Präsident Mc Kay ging ebenso bescheiden davon, wie er gekommen war.

Er öffnete seiner Frau die Wagentür und ließ sie Platz nehmen, dann wandte er sich uns zu, winkte, ehe er selber ins Auto einstieg.

Eine Weile konnte ich es noch aushalten, mich tadellos zu verhalten. Dann kam der Herbst, die letzten guten Vorsätze flogen mit den Wandervögeln auf und davon. Wieder einmal sah alles anders aus, als ich es geplant hatte.

Es ist wahr, lebendig Ding will wachsen. Wachsen oder sterben, das ist das Gesetz des Lebens. Wenn wir uns nicht in die eine Richtung bewegen, dann in die andere.

Mein Verhältnis zu meiner Wirtin hatte eine Entwicklung durchgemacht. M. hielt mich für einen guten Arbeiter, aber irrtümlicherweise nicht für einen potentiellen Nebenbuhler. Richtig wird er es nie erwogen haben. Sonst hätte er mich mit seiner noch jungen Frau nicht so oft, tagelang, nächtelang, allein gelassen. Aber er tat es wieder und wieder.

Äußerlich war meine Welt einigermaßen in Ordnung gekommen, aber tief in mir waren die rebellischen Gedanken gewachsen. Sie drängten ans Tageslicht und zur Tat. Sie wollten nicht mehr nur Gedanken und nur Träume bleiben. Ich kam zu dem erregenden Entschluss, die Frau des Neubauern zu erobern. Sie war um einige Jahre älter als ich. Das sollte mir nichts ausmachen. Wie ich glaubte, war sie mit dem Mann ihrer Wahl nie glücklich gewesen. Sie litt viel. Nach der Totgeburt ihres zweiten Sohnes, Jahre vor meiner Ankunft, kämpfte sie immer wieder gegen ihre Depressionen an, die ihr Ehemann nicht einmal bemerkte. In der Dunkelheit zog sie dann stets der nahe, finstere Wald an.

Eines Tages sprach mich einer der Männer an, die mich damals im dunklen Park umstellt hatten, ob ich mir ein paar Mark verdienen möchte, indem ich seinen Acker eggte. Das hatte ich noch nie versucht. Mich reizte es, eine Arbeit zu tun, die neu war. Ich traute mir zu, sie auszuführen. Er dachte vielleicht, dass er etwas an mir gut zu machen hätte. Deshalb war er heruntergekommen an den See, wo ich zwischen den weit gesteckten Pfählen die ausgefischten Stellnetze zum Trocknen aufhängte. Jedenfalls nahm ich an, dass es eine Ersatzhandlung für die überfällige Entschuldigung sein sollte. Er wies mich noch darauf hin, welches seiner vier Pferde ich anspannen sollte, denn er selbst hätte Wichtiges zu erledigen. Was wusste ich, wodurch sich Rappen und Braune unterschieden? Im Dorf war jedermann bekannt, dass er sich von den Sinti einen Schlägerhengst hatte andrehen lassen. Es war ein schönes stolzes Pferd, aber sehr gefährlich.

Den Hengst sollte ich ja gar nicht nehmen. Das war mein Fehler. Bis gegen vier Uhr nachmittags ging alles gut. Es war vielleicht eine Fläche von einem halben Morgen übrig geblieben, die wollte ich noch schaffen. Mich freute, zu beweisen, dass ich auch das konnte.

Da die Frau, an die ich seit Tagen viel mehr dachte als an irgend etwas anderes in der Welt, am nächsten Tag ihren Geburtstag feiern würde, erwog ich einen Plan. Während des Eggens überlegte ich, wie ich das, was ich wünschte, bekommen könnte. Ich malte es mir aus.

Dass es gewiss ein langes, sehr langes, reuevolles “Danach” geben könnte, kam als Warnung zwar noch einmal zu mir, doch ich leugnete alles. Zum ersten Mal in meinem Leben wollte ich vorsätzlich böse sein.

Mit solchen Gedanken lief ich hinter dem kraftstrotzenden stattlichen Hengst her, der mit Leichtigkeit die aus drei Ein-Meter-Teilen bestehende Egge über die raue Scholle zog. In dem Augenblick in dem ich ein Ausrufungszeichen hinter meinen Beschluss setzte, rutschte mir die viel zu lange, von mir falsch gewählte Leine, die ich recht knapp und damit sehr unhandlich zusammengefasst in der Rechten hielt, aus den Händen. Spontan bückte ich mich. Das Pferd erschrak und keilte aus. Sein Huf traf mich am Jochbein. Ich wurde durch die Luft geschleudert.

Trotz der Gewalt des Hufschlages verlor ich die Besinnung nicht, sondern fand mich auf Knie und Hände gestützt auf dem weichen braunen Acker liegend wieder, sah wie mir das Blut aus der Nase und aus dem Mund lief.

Das ist dafür, wusste ich.

Dafür.

Du hast es als Siebzehnjähriger erbeten, von Gott: Bitte verhüte es, wenn ich jemals Böses plane.

Schädelbasisbruch, Bruch der Brille, Zertrümmerung des rechten Jochbeines. Noch wusste ich um dieses Ausmaß nicht. Noch spürte ich nur einen dumpfen Druck, der, wie es schien, weitab von mir vorhanden war. Ich konnte glasklar denken. Noch peinigte mich der wahnsinnige Schmerz nicht, der jedoch unmittelbar auf dem Sprung zu mir stand..

Am meisten wunderte mich, dass der große Gott eines so kleinen Menschen Wunsch nicht in Vergessenheit geraten ließ, dass er ihn erfüllte. Die empfindungsleitenden Nerven blieben zum Glück für fast zwei Stunden betäubt.

In der Nähe hielt sich ein gänsehütender Junge auf. Er hatte alles beobachtet und stand da, mit offenem Mund. Ich erhob mich ohne Mühe, worüber ich mich ebenfalls wunderte, winkte ihn heran, bat ihn, er möge das Pferd am Kopf nehmen und zu Schulz heimbringen, ich hätte mit mir zu tun. Er erkannte auch ohne meine Ratschläge, was zu tun war. Ich ging los, tapfer zunächst. Nach ein zweihundert Metern Weg, noch fast einen Kilometer von daheim entfernt, kam mir ein altgedienter, und wie ich glaubte, recht hartgesottener Traktorist entgegen, ich sprach ihn bei seinem Vornamen an, zog das zufällig saubere Taschentuch von meinem rechten Auge weg, um ihn richtig ansehen zu können, wollte ihn fragen, ob das schlimm aussieht. Ich kam nicht dazu. Der Mann stürzte wie von einer Axt getroffen zu Boden. Daraus schloss ich, dass er meine klaffende Wunde gesehen hatte, was ihm die Besinnung raubte.



Als sie mich sah, schrie die Neubäuerin auf, allerdings nicht laut, nicht hysterisch. “Schnell, schnell hinlegen” drängte sie. Und schon wieder gefasst, sagte sie: “ich rufe Erika an.” Damit meinte sie, sie würde mit dem Krankenhaus telefonieren, um ihre Freundin zu benachrichtigen, die dort als Stationsschwester tätig war. Sie lief los zum Büro des Bürgermeisters, denn nur er verfügte über ein Fernsprechgerät. Als sie zurückkam, völlig außer Atem, sagte sie mir viel Gutes, um mich zu trösten. Aber ich bedurfte ihres Trostes nicht. Sie wusch mich, strich mir über den Kopf und sagte dann leise: “Ich hab's geträumt, ich hab' es abgeträumt.” Das hielt ich für Unsinn, sagte aber nichts, da es mir ohnehin immer schwerer fiel, irgendein Wort zu sagen.

Innerhalb einer Stunde langte Erika mit dem Krankenwagenfahrer in G. an, einem kleinen Dorf in unserer Nähe. Von da aus telefonierte sie mit dem Bürgermeister, der Weg sei unpassierbar, der Fahrer weigere sich, das Risiko auf sich zu nehmen, im Morast stecken zu bleiben. Sie müssten mich mit einem Pferdefuhrwerk hinbringen. Bald darauf lag ich im Stroh eines kleinen rumpelnden Ackerwagens. Über mir wogten die im Herbstwind rauschenden Baumkronen riesiger Lindenbäume. Ich nahm alles wahr, vielleicht noch mehr als vorher. Ich sehnte mich nach ärztlicher Hilfe und Schutz, ahnte, dass jeden Augenblick in mir die Hölle ausbrechen würde. Zu meinem Glück traf nach einigen Minuten der Krankentransporter ein. Schwester Erika hatte den Mann am Steuer so lange und so eindringlich beschworen, es doch zu wagen, bis er schließlich nachgab. Erika saß weiß und still neben mir, hielt meine Hand, fühlte besorgt den Puls, gab mir eine Spritze.

Ich kannte sie seit vielen Jahren, die große, sehr hoch gewachsene schöne Mormonin, die ich immer gemocht hatte, die mich aber leider um zehn Zentimeter Länge überragte.


Schritte durch zwei Diktaturen (1)



Gerd Skibbe



nach meinem 1995 im Neustrelitzer Lenover-Verlag veröffentlichten Buch "Konfession: Mormone" (hier in geänderter Fassung)


1932 zogen meine Eltern mit mir zweijährigem Knirps nach Wolgast in Vorpommern. Nach langer Zeit des Prüfens ließ mein Vater Wilhelm Skibbe sich noch im selben Jahr taufen. Er hatte ernsthaft nach mehr Wahrheit getrachtet und bei den “Mormonen” gefunden was er suchte, auch wenn ihn die ersten Vorträge, die er in der Gemeinde Wobesde, Hinterpommern hörte, langweilten.

Rechts auf Vaters Schoß

 

Das Bild, das sich ihm in den ausgehenden 20ern bot, hatte ihn zu der Erkenntnis geführt, dass die Parteien niemals halten konnten was sie versprachen und dass das herkömmliche Christentum nichts weiter war, als höchstens ein Zerrbild der ursprünglichen Kirche. – Und das Schlimmste, ihre Repräsentanten waren außerstande das zu ändern!


Ihn störte sehr, dass die feindlichen Armeen des 1. Weltkrieges sich nahezu hundertprozentig aus Christen rekrutiert hatten. Das hielt er für den Ausdruck von unheilbarer Entartung zumindest der großkirchlichen Systeme. Christen mussten die anstehenden Probleme besser lösen können, statt mordend aufeinander einzuschlagen.
Der protestantische Verfasser des Jugendlexikons Religion, rororo, Rowohlt 1988, Pastor Hartwig Weber beschreibt Jahrzehnte später die Situation wie sie damals wirklich war: „Jubelnd begrüßten protestantische und katholische Theologen den Ausbruch des Ersten Weltkrieges: ‘Hei wie es saust aus der Scheide! Wie es funkelt im Maienmorgensonnenschein! Das gute deutsche Schwert, nie entweiht, siegbewährt, segensmächtig. Gott hat dich uns in die Hand gedrückt, wir halten dich umfangen wie eine Braut….komm Schwert, du bist mir Offenbarung des Geistes... im Namen des Herrn darfst du sie zerhauen.’ Die Soldaten sollten an der Front ‘im Vertrauen auf den heiligen, gerechten Gott’ bis zum Letzten kämpfen. ‘Wir kämpfen mit Gott und für seine Sache.’ Denn ‘es ist von oben wie heiliger Geist über das deutsche Land gekommen ... nie hat unser alter deutscher Gott seine Deutschen so gut und groß gesehen... Nationalismus, Militarismus und Religion verbanden sich miteinander. Die Kriegsbegeisterung überwältigte vor allem die Protestanten... Ist Gott für uns, wer mag wider uns sein?“
Dieses arroganten Geistes wegen mochte mein Vater es nicht, wenn Pastoren von der Kanzel herab zum Volk da unten sprachen. Außerdem verbreiteten sie Gefühlskälte und ihre Grundaussagen bissen sich. Allzu oft ließen sie die braun und schwarz uniformierten Männer mit ihren wehenden Fahnen hinein in die Gotteshäuser, während wenige andere sich solchen Zauber verbaten.


Mit den Reden und Zielen der Kommunisten hatte Vater sich schon gar nicht anfreunden können. Sie agierten in ähnlich rauem Geist. Sie schrieen zuviel und zu laut.


Mutter gehörte noch der römisch-katholischen Kirche an. Deshalb tauchte auch bald ein Pfarrer der örtlichen Gemeinde bei uns daheim auf.


Der Geistliche äußerte gegenüber meiner damals sehr kranken Mutter, es mache ihn nicht gerade glücklich zu sehen, dass sie in Mischehe lebte, zudem mit einem Mormonen. Wenn der Schäferhund, den der Herr Pfarrer vor der Haustür angebunden zurückgelassen hatte, sich nicht laut eingemischt hätte, wäre es vielleicht nicht zur Verschärfung der Situation gekommen. Das unschuldige Tier bellte und knurrte, was Vater nicht leiden konnte. Da sei die Tür, hatte er dem Mann im seinem schwarzen Gewand recht barsch geantwortet, obwohl er kein Mann für das Grobe war.


Der Pfarrer lief polternd die Treppen hinunter. Das muss sich 1934 ereignet haben, ein Jahr nach der Machtergreifung durch Adolf Hitler.


Diese Szene gehört zu meinen ältesten Erinnerungen.


Damals gab es im 100-Kilometerumkreis lediglich die Gemeinden Stettin, Demmin und Neubrandenburg. Sie zu erreichen war schwierig.


Spätestens 1936 kamen die ersten Mormonenmissionare in meiner Heimatstadt an.


Johannes Reese, ein Freund meines Vaters, mochte die jungen Männer. Dennoch protestierte er zunächst: “Wenn Sie missionieren wollen, dann begeben Sie sich doch bitte nach Afrika! Europa ist seit rund tausend Jahren bekehrt!”


Elder Beatty, oder Holt, stellten ihm die Frage, ob er glaube, dass alle Christen Christen sind. Das ließ ihn aufhorchen.



Ich erinnere mich daran, wie ich in diesem Jahr als sechsjähriger mit einem Hakenkreuzpapierfähnchen zu meinem Vater gelaufen kam. Auf der Wilhelmstraße war ich hinter den schneidigen, schwarzen SSlern mit ihrem klingenden Spielmannszug her gerannt. Gejauchzt hatte ich, weil der Tambourmajor seinen silberbeschlagenen, kordelbesetzten Stab zum Überschlag so wunderbar hoch in die Luft geworfen hatte. Mir kam es vor, als wäre die ganze Stadt darüber ebenso entzückt wie ich gewesen Als ich heimkam, noch erfüllt von dem rauschenden Erlebnis, sah ich Vater ungerührt wie ein Denkmal in der Ecke des Sofas sitzen, vertieft in seine große Bibel. Er schaute mich eine Weile an, schüttelte dann über mich und meine schöne bunte Fahne den großen, kahlen Kopf. Er winkte mich heran und nahm mir das gute Stück einfach weg. Das stimmte mich sehr traurig.


Wenig später schlug er mich zum ersten und zum einzigen Mal; weil ich die Ladentür unseres Hauswirtes, des Juden Eckdisch, aufgerissen und ihn als “Saujuden” beschimpft hatte. Der dicke, sonst so joviale Mann und Vater zweier erwachsener Kinder muss augenblicklich zu meinem Vater gerannt sein: “Ihr Bengel hat mich beleidigt.” Vater legte mich über sein Knie. Er zog seinen Filzpantoffel aus und schlug zu. Es klatschte, tat aber nicht weh. Ein für allemal skandierte er die wenigen Worte in mein Bewusstsein: “Alle Menschen sind Kinder Gottes!”


Später erfuhr ich durch meine Mutter, dass in jenen Wochen zwischen beiden Männern ein sonderbares Gespräch stattgefunden hatte. Mein Vater hätte ihn gewarnt: “Herr Eckdisch, verkaufen Sie ihre Häuser, nehmen Sie ihr Geld und versuchen Sie nach Palästina zu gehen. Kaufen Sie sich ein! Gehen Sie ins Land ihrer Väter. Sie müssen ja doch dorthin auswandern. Lesen Sie, was der Prophet Hesekiel vor zweieinhalbtausend Jahren vorausgesagt hat.” Er hielt seinem Hauswirt die Bibel vor die Nase. “Da steht es geschrieben! ... Siehe, ich will die Kinder Israel holen aus den Heiden, dahin sie gezogen sind, und will sie allenthalben sammeln und will sie wieder in ihr Land bringen...” (Hes.37,21). Er zeigte ihm andere Schriftstellen, alle mit demselben Tenor. Doch all das beeindruckte den gutmütig dreinschauenden, ältlichen Kaufmann wenig. Er winkte ab.


Als mein Vater sagte, der Mormonenprophet Joseph Smith hätte schon vor einhundert Jahren gelehrt, der Zeitpunkt der Sammlung Israels stünde unmittelbar bevor und er habe einen bedeutenden Juden, der Mormone geworden war, Orson Hyde, 1838 nach Palästina geschickt, um das Land zum Zwecke der Heimkehr der Juden zu segnen, da lächelte der rundliche Mann nachsichtig: “Wissen Sie”, sagte er, “wir Juden haben es doch gut hier in Deutschland!" Da verwies Vater ihn auf Hitler und sein Programm. " Nein!" sträubte sich der Jude, "wir haben bisher sämtliche Pogrome überstanden, wir überleben auch Herrn Hitler.” Außerdem genieße er als deutschsprechender Jude polnischer Nationalität Schutzstatus. Die Welt sei so zivilisiert heutzutage.


Wahre Prophetie und falsche Prognose standen scharf gegeneinander.


Einige Monate später drang die schwarze SS ins Haus Wilhelmstraße 53 ein. Binnen Sekunden brach der Damm. Es gab keinen Schutzstatus mehr, sondern nur eine Anzahl Leute, die sich viel darauf zugute hielten gehorsame Gefolgsleute ihres Führers zu sein. An ein Gesicht kann ich mich erinnern und wie ich meine, sogar an seinen Namen. Der Mann mit seiner schwarzen Schirmmütze und dem silbern blinkenden Totenkopfsymbol schaute mich nur kurz und kalt an.


Die Wolgaster SSler schoben die vier verängstigten Mitglieder der Familie Eckdisch vor sich her. Der Lastkraftwagen stand wartend da.


Herr Eckdisch sah noch einmal auf sein schönes, großes Haus.


Irgendwann im Verlaufe der nächsten drei Jahre müssen die polnischen Juden in einem Stadtteil Warschaus angekommen sein.


Denn aus diesem Ghetto gelangte im Kriegswinter 1944/45 eine Postkarte vom Sohn unseres ehemaligen Hauswirtes zu uns. Der Text lautete: “Vater tot, Mutter tot, Lotte tot. Jakob.” Wie oft werden sie an die gut gemeinten Worte des Mormonen Wilhelm Skibbe zurückgedacht haben.


Als Mutter neunundzwanzig wurde, 1937, wurde sie von der Universitäts-Frauenklinik Greifwald in eine Lungenheilstätte eingewiesen.


Sie litt an einer offenen Lungentuberkulose und die Röntgenaufnahmen zeigten sieben bohnengroße Löcher im linken Lungenflügel. Als einzig machbare Sofortlösung bot sich die Stilllegung der erkrankten Organhälfte an.


Mein Vater fürchtete das Schlimmste und so schickte er eine Karte nach Demmin wo sich die nächsten Missionare befanden: Gebt meiner Frau bitte einen Krankensegen.


Bruder Latschkowski betrat das Zimmer in dem meine Mutter lag. Sie winkte ihm zu. Er zuckte die Achseln. “Ich weiß nicht wer sie sind.”


Mutter klärte ihn auf. “Ich habe sie im Traum gesehen.”


Als Vater hinzukam bedankte er sich bei dem Elder. Aber der erwiderte, von einer Postkarte wüsste er nichts. Er sei hergekommen, weil er das dringende Gefühl gehabt hätte in dieses Haus gehen zu sollen und nach Julianne Skibbe zu fragen.


Da war allen Beteiligten klar, dass Gott ein Wunder geschehen lassen würde. Nach der Segnung wurde Mutter abermals durchleuchtet. Als dann die Fachärzte beieinander saßen um sie und sich auf den Eingriff vorzubereiten, sah Mutter wie die klugen Männer ihre Köpfe schüttelten. Sie verglichen die beiden Röntgenaufnahmen miteinander.


Ein medizinisches Wunder! Wo sind die Entzündungsherde, wo die Löcher?”


Sie und wir Kinder wurden noch jahrelang danach regelmäßig untersucht. Mutter hatte in den folgenden 50 Lebensjahren nie wieder Probleme mit ihrer Gesundheit.


Was aus uns Kindern geworden wäre, wenn sie uns so früh verlassen hätte, wage ich nicht auszudenken



Wenige Jahre nach der Verhaftung der Familie Eckdisch erwogen meine Eltern umzuziehen. Vater wählte wegen der besseren Geschäftslage die Langestraße. Als er die Räume besichtigte, lernte er die Mitbegründerin des Spartakusbundes Frau Martha Stolp kennen, die dann für einige Jahre unsere Flurnachbarin wurde.


Schon bald geriet er mit der Kommunistin in Streit.


Sie warf ihm Unverantwortlichkeit vor, da Mutter, trotz ihrer gerade überwundenen Tuberkuloseerkrankung, zum fünften Mal schwanger geworden war. Frau Stolp, die Witwe eines Kunstmalers, ehemalige Lyzeumslehrerin und präzise denkende Politikerin lebte mit ihrem dreißigjährigen Sohn Fritz in äußerster Armut. Ihre Gesinnung war stadtbekannt. Wahrscheinlich ließen die Nazis sie nur in Ruhe, weil sie zu alt geworden war. An ihrem Sohn allerdings wollten und sollten sie sich noch rächen. Beide waren furchtlose Leute, die jeden Andersdenkenden, wenn sich dazu eine Gelegenheit bot, augenblicklich attackierten. Sie sahen in Vater einen Opportunisten, sonst stünde er längst auf ihrer Seite. Ein Kleinhandwerker wie er müsste mit den Ausgebeuteten der Welt fühlen und müsste eigentlich wissen, wo er hingehört. Sie lachten ihn aus, als er den Spieß umkehrte und sagte, sie würden wie er Mormonen, wenn sie wüssten, was er weiß. Da er niemals auch nur eine Stunde Griechischunterricht genossen hatte und den Homer nicht kannte, weder Plato gelesen, noch jemals andere Klassiker wie Marx und Hegel, hielten sie ihn für nicht berechtigt, sich philosophisch zu äußern.


Erst als Vater sagte, dass der Mensch ein Doppelwesen ist, Körper und unsterblicher Geist, nahm Frau Stolp ihn ernst. Denn die Lehrerin glaubte mit den alten Griechen an die Unsterblichkeit. Ihr Sohn wies dies weit von sich. Er war überzeugt, weiter als seine Mutter entwickelt zu sein. Er vertrat einen strikten Atheismus.


Die Wortgefechte fanden häufig auf dem nahezu finsteren Flur des uralten Wohnhauses statt.


Rosa Luxemburg war die Frau, die Mutter und Sohn Stolp liebten. Mitunter bekamen wir mit, wie sie mitten in der Nacht stritten. Sie zankten sich ohne Rücksicht darauf, ob jemand sie hören konnte oder nicht. Es ging meines Wissens um marxistische Glaubensfragen. Zumeist waren beide Stolpes in der Argumentation sehr spitz. Mich konnten sie meiner Frechheit wegen nicht leiden, ich sie auch nicht. Noch war ich zu jung, um ein Nazi zu sein, aber ich befand mich auf dem Weg dahin. In den Lesebüchern zeigte man mir, dass ein guter deutscher Junge die Hakenkreuzfahne liebte. Das war für mich sowieso selbstverständlich. Meine Eltern bemerkten zu spät, dass mich der Zeitgeist langsam aber sicher für sich einnahm.


Häufig kamen die Mormonenmissionare zu uns. Ich mochte sie, aber ihre Reden interessierten mich nicht. Nicht selten schüttelten sie die Köpfe über mich, vor allem wenn sie mich während der Versammlung, die sie bei uns daheim abhielten, beobachteten. Ich wackelte nämlich mit den Stühlen oder zappelte zumindest mit meinen unruhigen Beinen. Obwohl die nobel gekleideten Amerikaner so gesittet dasitzen konnten, wusste ich, dass sie selbst auch nicht “ohne” waren. Sie hatten meinen Bruder Helmut, ein Würmchen von vielleicht fünfzehn Kilogramm Nettogewicht, bei Abwesenheit meiner Mutter quer durch die gute Stube geworfen. Geborene Basketballspieler fangen sicher. Aber wer konnte das schon wissen?


Ich höre immer noch Mutters Entsetzen: “Was macht Ihr da?” Was so ähnlich klang, als würde sie gerufen haben: Seid ihr denn total verrückt geworden?


So etwas sagt man nicht zu Missionaren, selbst dann nicht wenn sie erst zwanzigeinhalb und trotz gewisser zeitweiser Ernsthaftigkeit noch wie die Kinder waren. (1)


In ihrer kleinen Mietwohnung bei der Eisenwarenhändlerin Frau Spalding in der Wolgaster Langenstraße, fotografierten sie sich gegenseitig. Einer lag mit dem Rücken auf dem Federbett, mit verzerrtem Gesicht, bewaffnet mit einem großen, spitzen Küchenmesser, weil sich über ihm, in einem überdimensionalen Spinnennetz ein Pfannkuchen befand, dem sie mit geknickten Hölzchen eine Anzahl Beine verpasst hatten. “Deutsche Spinnen” schrieben sie auf die Rückseite des Bildes, das ich selbst gesehen habe, und schickten es in die ferne Heimat in den Felsengebirgen.



Es gibt ein Foto auf dem die Missionare Rudolf Wächtler und Arno Dzierzon zu sehen sind, die letzten die Hitler damals, 1941, seinem Heer noch nicht einverleibt hatte. Es zeigt auch meinen Vater und mich. Bis zum Hals hatten sie mich eingegraben und während sie den sonnenerwärmten Strandsand über mich häuften, hörte ich ihnen unwillkürlich zu. Mir prägten sich die Worte ein: “Wir hatten es in unserem Vorherdasein satt, die Herrlichkeit Gottes zu sehen. Wir konnten uns darüber nicht freuen.”


Einer der beiden Elders musste es geäußert haben.


Ich ahnte mehr als ich verarbeiten konnte. Die großartige Mormonenlehre vom intelligenten Vorherdasein des Menschen vor Erschaffung des Planeten Erde sollte mich später noch sehr beschäftigen.



Jahrzehnte später –etwa 1985 – saß ich im Lesesaal der Berliner Bücherei, gebeugt über einen Band des Handwörterbuches für Theologie und Religionswissenschaft.


Ich war ungemein überrascht, als ich unter dem Stichwort Origenes las: “Im Urzustand waren alle Logika - alle Engel, Menschen, Dämonen - körperlose Geister und als solche Götter, die dem Logos (- dem Wort - dem Christus -) anhingen. Sie waren mit ihm durch den Heiligen Geist verbunden und gaben sich mit ihm der unmittelbaren Schau des Vaters hin. Erlahmung der geistigen Schwungkraft und Überdruss an der Gottesschau führten zum Sündenfall… deshalb schuf Gott das Weltall….”


Ich saß überrascht und erfreut da und fand weitere 28 Punkte die nur von Origenes und von den Mormonen geglaubt werden... Welche Bestätigung meines Zeugnisses, welche Bekräftigung der Worte des Herrn an Joseph Smith : "Suchet Weisheit aus den besten Büchern..." Vor 1800 Jahren war das, was ich dort in einem evangelischen Lenrbuch entdeckte, allgemeine Christenlehre gewesen!


Exakt das waren des Missionars Worte! Ich fühlte mich wie elektrisiert.


Der Satz: “An dem Tag, da Du Adam, davon isst, wirst Du sicherlich sterben” bekam Sinn. Das Aus-der-Gegenwart-Gottes-getrieben- werden, bedeutete “zu sterben”. Jakobs Lehren verdeutlichten mir das: “Und weil der Mensch in den gefallenen Zustand geraten ist, ist er aus der Gegenwart des Herrn ausgetilgt worden.” 2. Ne 9. 6


Das war ja die Lösung für alle meine Probleme mit der Evolutionslehre! Ich schlug mir die Hand vor den Kopf und las LuB 93, Vers 33. Da stand es Schwarz auf Weiß: Der Mensch ist Geist! Deshalb wird im Buch Mormon zweimal der Hinweis gegeben, dass das Gericht und die Erlösung sich nur auf die Nachkommen der Familie Adams ( nicht der Steinheimmenschen oder den Neandertaler) erstreckt…2. Ne. 9,21 + Mormon 3,20


Aber um diese Zusammenhänge zu sehen mussten erst einige Jahrzehnte der Wahrheitssuche vergehen. Stets wenn ich dann darüber nachdachte, nahm ich von innen her ein angenehmes Licht wahr und ich war vernünftig genug, mich immer wieder daran zu erinnern.


Soweit war ich aber 1941, als elfjähriger, längst noch nicht


Zunächst entwickelte ich, durch den Drill in der sogenannten Deutschen Jugend (DJ) ein nationalsozialistisches Bewusstsein. In Abwesenheit meines Vaters, der es hasste in der Deutschen Wehrmacht dienen zu müssen, wuchs ich zu einem dummgläubig überzeugten Hitlerjungen heran, der sich über jede Sondermeldung freute. Mit den Nachrichtensprechern jubelte ich häufig: Schon wieder hatte Großdeutschland eine Schlacht gewonnen, schon wieder waren soundsoviele Bruttoregistertonnen Schiffsmaterial versenkt worden! Von allen Seiten leuchtete mir das blanke Heldentum entgegen. Aber, dass da in jeder Sekunde hoffnungsvolle Menschen zu Krüppeln geschossen wurden, dass Kinder wie ich verbrannten, Familienväter zu Tausenden ertranken und junge, unschuldige Russen zu Zehntausenden verhungerten, weil sie aus Gründen der Menschenverachtung nicht verpflegt wurden, während ich mich begeisterte, kam mir damals nicht in den Sinn. Deutschland, Deutschland über alles in der Welt!



Hartwig WEBER sagt in seinem soeben erwähnten Lexikon unverblümt, wie sehr seine Kirche in dieser Zeit, in der die Menschen dringender denn je der Führung durch Gott bedurften, geirrt und gefehlt hat: "Der Vertrauensrat der Deutschen Evangelischen Kirche gab gegenüber Hitler der Hoffnung Ausdruck, „dass in ganz Europa unter Ihrer Führung eine neue Ordnung erstehe und aller inneren Zersetzung, aller Beschmutzung des Heiligsten, aller Schändung der Gewissensfreiheit ein Ende gemacht werde ... Verschwörer gegen Hitler wie Dietrich Bonhoefer und Jesuitenpater Alfred Delp blieben Außenseiter, die man bewusst isolierte.“, S. 330



Mit dreizehn verliebte ich mich zum ersten Mal. Sie stammte aus Hamburg und hieß Evchen.


Meine Gemütsverfassung musste meinem Vater, der gerade aus Russland auf Urlaub heimgekommen war, irgendwie aufgefallen sein. Er sah auch, dass ich im Begriff war, einen Entwicklungssprung zu machen. Jedenfalls nahm er mich beiseite und ging mit mir eine Stunde lang in den Wolgaster “Anlagen” spazieren. Er sprach sehr viel und Einiges war mir, der Herzlichkeit wegen, die er mir so ungezwungen entgegenbrachte, angenehm. Dann wechselten Ton und Inhalt seiner Sätze. Er drang in mich: “Rühre nie eine Frau an, es sei denn, sie ist Deine eigene. Merke es Dir gut! Entweder lebt man seine Leidenschaften aus oder man wird glücklich.” Ich verstand kein Wort. Er legte den Arm um meine Schulter und suchte meinen verwirrten Blick. “Lasse die anderen Leute reden, was sie wollen. Was Dir nicht gehört, darfst Du nicht anrühren. Es entzieht Dir die Kraft zu sittlichem Handeln. Unrecht Gut gedeiht nicht! Es ist eines Mormonen erste Pflicht, ehrlich zu sein. Sei vor allem zu Dir selbst ehrlich. Vom Heucheln wird die Seele krank. Bitte Gott um Verstand und Weisheit, um die Kraft zum Gutsein. Tue es. Vor allem tu es, nachdem Du weißt, dass es richtig ist und kümmere Dich nicht darum, was andere dazu sagen.”


Mit seiner Aufforderung im Buch Mormon zu lesen, hatte ich am meisten Probleme. Meine früheren Versuche, mehr als ein paar Zeilen zu lesen, scheiterten. Ein langweiligeres Buch konnte ich mir bei bestem Willen nicht vorstellen. Meine Welt lag zwar ebenfalls in Amerika, doch die Helden meiner Wahl hießen Winnetou und Old Shatterhand und nicht Nephi oder Ammon.


Zudem hielt ich nichts von seiner Verinnerlichung, die mir insbesondere dann lästig erschien, wenn ich von ihm genötigt wurde, an jedem Morgen solange er auf Urlaub weilte, niederzuknien und seine nach meinem Geschmack trockenen und zudem langen Gebete anzuhören. Er bat Gott jedes Mal um Führung und Schutz durch seinen guten Geist in diesen schweren Zeiten. Was sollten das für schwere Zeiten sein? Uns, - jedenfalls uns von Bomben verschonten Wolgastern, - ging es doch gut. Außer, dass es keine Schokolade gab. Die Deutschen hatten, wie es für mich aussah, Russland zerschmettert und standen in Frankreich auf sicherem Posten. Ein kurzer Ruck noch und dann lag uns die ganze Welt, wie ein geprügelter Hund, zu Füßen. Vor uns, der deutschen Jugend, breitete sich ein Paradies mit bunten Fahnen und Hakenkreuzen aus. Mich ärgerte, dass er den Krieg ablehnte und mich sogar belehrte, dass Deutschland den Krieg verlieren wird, weil es böse Ziele verfolgte. Nach solchen Worten kam stiller Zorn in mir hoch, der sich gegen ihn und meine unschuldige Mutter richtete. Dennoch band mich, nachdem er wieder an die ihm verhasste Front abgereist war, eine geheimnisvolle Macht an ihn. Als er wieder weit fort von mir war, konnte ich es gelassener betrachten, dass er gesagt hatte, er würde immer bewusst daneben schießen. Vielleicht wäre ich sonst zu meinem Fähnleinführer gelaufen und hätte ihn als Wehrkraftzersetzer verpetzt.



Während eines großen Bombenangriffes der Alliierten kam Evchen, wenige Tage nach den Ferien, ums Leben. Das hörte ich mit Entsetzen. Da lernte ich durch traurige Erfahrung wie ernst die Zeiten waren.


Ebenso bitter empfand ich die Schreckensnacht vom 17. zum 18. August 1943. Die Sirenen heulten uns aus dem Schlaf. Das Signal bedeutete: “Sucht den Luftschutzkeller auf!”


Ich drehte mich zur Seite und schlief schnell wieder ein. Wie oft schon hatte uns der Alarm beunruhigt und danach war gar nichts passiert. Wie immer flogen die feindlichen Bomber nur über unsere Köpfe hinweg… Plötzlich dröhnten die Detonationen … Anschläge auf mein Leben! Wir hasteten, Hemd und Hose fassend in den Keller.


Am Morgen hörten wir, dass nicht Wolgast sondern Peenemünde von mehreren hundert Flugzeugen der Typen Lancaster und Halifax bombardiert worden war. Die Engländer hatten, wie wir viel später erfuhren, entdeckt, dass Hitler hier Langstreckenraketen bauen ließ.


Mir schien ich könnte über die Entfernung von sechs, sieben Kilometer Luftlinie das Schreien der Kriegsgefangenen hören die von Phosphor übergossen als lodernde Fackeln in den Maschen der Sperrzäune hingen…


Beide Ereignisse prägten mich. Sie machten mich ernsthaft und somit über die Jahre reif.



Versammlungen fanden in Wolgast in den Jahren zwischen 1943 und 1945 nur an einem Wochentagabend statt. Unsere Missionare hatten niemanden gefunden, der sich taufen lassen wollte. Es schien, als wäre ihre Arbeit erfolglos gewesen. Anwesend waren in dieser FHV- Zusammenkunft die spätere Schwester Schult, meine Mutter und ich, wobei ich eher als Unruhestifter auffiel. Mitten in einer solchen Versammlung ertrotzte ich ihre Unterschrift, damit ich Segelflieger werden dürfte.



In den ersten Wochen des Jahres 1945, als wir nur noch schlechte Nachrichten hörten, wünschte ich mich durch nichts und niemanden mehr aufhalten zu lassen, auch nicht durch die Lehren meiner Eltern. Denn Vater befand sich in der Ferne, nun in Narvik, Norwegen. Ich träumte davon, von allen Geboten frei zu sein, um bald mein junges Leben genießen zu können. Während er, wie er immer wieder schrieb, für uns betete.


Allerdings sahen meine Vorstellungen von Übertretung noch ziemlich harmlos aus. Denn schließlich war ich noch ein Kind. Dennoch begann ich romantisch von schönen Mädchen zu träumen.


Da wurden wir eines Nachmittags von unseren Hitler-Jugend-Führern zum Einsatz und zur Unterstützung der Rote-Kreuz-Schwestern zum Bahnhof Wolgaster Fähre beordert. Es wurde ein Verwundetenzug aus Swinemünde erwartet. Ich sah in meiner Erinnerung immer noch die Bilder aus einer der Deutschen Wochenschauen die elegante Verwundetenzüge zeigten. Aber schon als sich die dunkle Silhouette der funkenstiebenden Lok über der Mahlzower Anhöhe abzeichnete, beschlich mich ein Gefühl des Jammers. Wir rannten den Waggons entgegen. Es war noch nicht völlig dunkel geworden, sondern für mich gerade hell genug, um schreckerfüllt die zerfetzten Viehwagen zu sehen. Ich hörte trotz des Fauchens der Lok die Hilfeschreie der Jungen. Plötzlich wurde mir das ganze Ausmaß des Elends des Krieges bewusst. Meine Beine schlotterten. Ein Mann schrie: “Sie haben den Zug beschossen. Ja! gerade jetzt kurz vor Zinnowitz.” Entweder sei es eine Rotte Ratta, russische Jäger gewesen, die noch einmal voll dazwischen gehalten hatten oder englische Spitfire. Und das, obwohl von den Dächern das Rote Kreuz herauf geleuchtet haben musste. Als die Tür, die sich unmittelbar vor mir befand, von einem hünenhaften Waffen-SSler geöffnet wurde, schlug mir Gestank entgegen. Der erste Mann, der vor mir lag, war wahrscheinlich tot. Ein zweiter tastete sich mir entgegen, fiel mir um den Hals. Ein anderer rief: “Kamerad, Kamerad!” Sein Kopf war bis auf den Mund umwickelt. Der Verband sah schwarz aus. Ich konnte ihn auffangen. Mich durchströmte ein Gefühl aus brennender Liebe und ohnmächtiger Wut. Wir legten ihn und die anderen so schnell und so behutsam wie möglich auf einen der bereitstehenden Karren.


Die Stadt füllte sich Tag für Tag mehr mit Soldaten aller Waffengattungen. Mir schien, ich hätte noch nie so viele Uniformierte gesehen.


Mein Gestellungsbefehl zum Volkssturm kam am Morgen des 22. April. Die Russen hatten gerade bei Stettin die Oderlinie durchbrochen. In meinem Wahn, den deutschen Sieg mittels der Wunderwaffe, für möglich zu halten, wäre ich nur einen Monat zuvor noch töricht und sorglos losgezogen. Die Goebbelspropaganda zeigte Wirkung. Aber nachdem ich die blutjungen, verstümmelten Landser in meinen Armen gehalten, ihren Jammer wie meinen eigenen empfunden hatte, war ich froh zu sehen, dass meine kleine, energische Mutter die Faust auf den Küchentisch schmetterte und beeindruckend laut ihr kategorisches: “Nein!” herausdröhnte. Sie drückte ihr Kreuz durch und konnte doch nicht das Angstflackern in ihren schönen grauen Augen verbergen. Vor all diesen furchtbaren Erlebnissen hätte ich ihren Befehl nicht respektiert. Nun aber war mir bange geworden. Die Furcht, ich könnte wirklich vernichtet werden, hatte ein schreckliches Gesicht bekommen.


In einer der letzten Nächte unter deutscher Herrschaft, nachdem wir weitere Schwer-und Schwerstverwundete ins Behelfslazarett Wolgast gebracht hatten, erwischte ich meine Mutter dabei, wie sie Radio London hörte. Sie stand gebeugt vor dem Volksempfänger. Sie hatte sich eine grüne Wolldecke über den Kopf und das Radio gezogen. Ich hörte das verräterisch dumpfe Bum-bum-bum-bum, auf welches uns die Schulungsoffiziere und HJ Führer als untrügliches Kennzeichen eines gefährlichen Lügensenders hingewiesen hatten. Darauf müssten wir reagieren, indem wir entweder die Polizei oder sofort den NSDAP-Ortsgruppenführer zu unterrichten hätten, egal wer es sei, Vater oder Mutter.


In meinem ersten Zorn fuhr ich sie hart an. Sie kam hoch und zischte zurück. Sie wünsche nicht gestört zu werden. Die Decke lag noch immer auf ihren schmalen Schultern, ihre weichen Haare waren zerzaust, die helle Stirn drückte die ganze Kraft ihrer Persönlichkeit aus. Ich war empört, wünschte sie anzuzeigen, wollte hinlaufen um meine Pflicht als guter Deutscher zu tun. Lautes Tosen war in mir, Strafe muss sein. Zu meinem ewigen Glück zögerte mein besseres Ich. “Tue es nicht!”, kam mir in den Sinn. Ich stutzte, da ich mich selbst so widersprüchlich wahrnahm. In meiner Hilflosigkeit und Wut über den verlorenen Krieg warf ich die Türen hinter mir ins Schloss. Ich konnte und wollte das schwarze Loch, in das wir alle miteinander stürzten, nicht mehr sehen.



Wenige Tage bevor die Russen einmarschierten sagte mir mein Klavierlehrer Herr Reese nicht ganz unvermittelt: “Ich spüre, dass die Mormonenkirche viel mehr hat als alle anderen.” Ich schaute auf seine langen weichen Finger die auf den Tasten lagen, mit denen er den letzten Akkord angeschlagen hatte.


Solche Sätze bewirkten Nachdenklichkeit. Gleich bunten Steinchen belegten sie in meinem sich täglich ändernden Mosaik einen Platz. Aber auch wenn dieser Platz sich irgendwo an einer scheinbar weit entfernten Stelle befand, der Stein blieb dort für immer liegen.


Später erinnerte Mutter mich daran, dass ich noch am 29. April auf dem Rathausturm zu Wolgast gesessen hätte um zu beobachten ob die Russen schon in Sichtweite sind.
Wolgaster Rathaus



Ich sah diese Tatsache nicht als dramatisch an, schon eher, dass dies eine Strafe für mich war, weil ich eine Stunde vorher einen der Polizisten geärgert hatte.


Als Mutter hörte, dass ich Nachtwache halte, stürzte sie zum Rathaus wo die ratlosen Polizeibeamten in ihrem Revierbüro rauchend umhersaßen und überlegten was sie tun sollten.


Gingen sie zu früh weg um unterzutauchen, könnte die Feldgendarmerie sie finden und standrechtlich erschießen… zögerten sie den Zeitpunkt der Aufgabe zu weit hinaus werden die Russen sie gefangen nehmen und nach Sibirien schicken.


Wo ist meine Sohn, Gerd?” Im dichten Tabaksqualm und bei spärlichstem Licht erkannte sie Herrn Wallis, den Baptisten und Polizisten.


Der Beamte den ich geärgert hatte und vor dem ich unrühmlich weggelaufen war – und der hinter mir her geschossen hatte, wollte sich rechtfertigen.


Sie ließ sich auf gar nichts ein. Tapfer hat sie mich da herausgehauen.


Am 30. April 1945, um elf Uhr vormittags, explodierte, wie uns schien in unmittelbaren Nähe, eine Luftmine ungeheuren Ausmaßes. Denn sie warf uns, meinen Freund Richard und seine Schwester Gisela, - die mich gerade zu einem Abenteuer eingeladen, - und mich selber zu Boden. Angstzitternd presste ich mich völlig flach. Doch die erwartete zweite Explosion blieb aus. “Mutter!” Die Angst, sie könnte umgekommen sein, stachelte mich hoch. Wie ein Irrer warf ich mich aus verzweifelter Sorge um sie und meine Geschwister gegen die infolge des Luftdrucks verklemmte Eichentür. “Ich komme!” Ich sah im Geiste unser nahe liegendes Wohnhaus, sah mich in den schwelenden Trümmern wühlen, um sie und Helga und Helmut herauszuholen. Infolge gemeinsamer Anstrengung sprang die Tür endlich auf. Aufgeregt kam ich, nachdem ich mit fliegenden Beinen durch die Kurze Gasse gerannt war, in der Langenstraße an. Unser Haus Nummer 17 stand, wie die anderen Gebäude unversehrt.


Gott sei Dank! Aber, was war es gewesen, wenn nicht eine Bombe? Jemand lehnte aus dem Fenster und klärte uns auf: “Sie haben die große Zugbrücke gesprengt!”


Ich lebte, - meine Geschwister und meine Mutter lebten! Die beiden letzten deutschen Wehrmachtssoldaten denen wir noch vor wenigen Minuten nachgeschaut hatten, mussten um das militärische Geheimnis der vorgesehenen Stunde und Minute für die Sprengung gewusst haben. Das hatten sie uns natürlich nicht mitgeteilt. Militärische Einheiten hatten die Hauptteile der großen Peenebrücke mit einer Überportion Dynamik in die Luft gejagt. Weil die kommandierenden Militärs hofften auf der Insel Usedom eine letzte stabile Hauptkampflinie gegen die anstürmenden Russen aufbauen zu können,


Jeden Augenblick mussten sie mit ihren Panzern und Kanonen angerollt kommen.


Doch meine Angstgefühle hielten nicht an. Ich konnte es außerdem nicht ertragen, einfach nur zu warten. Ringsherum waren die großen Schaufensterscheiben der Verkaufsläden zu Bruch gegangen. Neugierde und plötzliche Lust, die letzte Stunde meiner Ungebundenheit auszutoben, regte sich. Wolgast war plötzlich, wenn auch nur für ein paar Minuten oder Stunden zur gesetzlosen Zone geworden. Niemandsland. Es gab weder die Polizei noch die Wehrmacht mehr. Die glassplittrigen Öffnungen der Lebensmittelläden und des Konfektionsgeschäftes Gauger am Marktplatz luden mich zur Selbstbedienung ein. Ich widersprach mir nicht und betrat den Bereich für Herrenkleidung zur rechten Seite des Doppelgeschäftes ungehemmt. Ich sah die magere Ausstattung des Ladens, aber auch andere Leute die hier bereits eingedrungen waren. Im Begriff schamlos loszulegen und zu klauen was nicht niet- und nagelfest war, beeinflusste mich plötzlich ein schon früher erlebtes Gefühl, das mir im Klartext sagte: Tue es nicht!


Das lähmte und erstaunte mich - zunächst.


Es strömten immer mehr Leute ins mittlerweile sperrangelweit geöffnete Geschäft hinein. Sie kamen nicht nur durch die Fensterfront, sondern auch durch die inzwischen aufgebrochenen Eingangstüren. Als ich mich in diesen Menschen wieder sah, schien mir eine Weile ich sei handlungsunfähig, weil ich wahrnahm, was ich für unmöglich gehalten hätte. Frauen, vor allem die richtig erwachsenen, hatte ich stets für Engel gehalten. Hatten die sich verirrt? In mir ruckten die Gefühle hin und her.


Mir kamen die Umherwirbelnden ein paar Sekunden wie tanzende Wahnsinnige vor. Sie zankten sich. Wegen dieser wenigen grauen und dunklen Anzüge, die da vereinzelt auf einer einzigen Stange hingen? Alles raste, das Blut, die Gedanken, die Menschen. Mein Lebensgefühl war unklar. Ich dachte vielerlei und widersprüchliches. All das ging schnell vorbei, auch meine an sich vernünftigen Gedanken. Ich sagte mir plötzlich, Jetzt ist Jetzt. Andererseits war ich sehr darauf erpicht zu überleben.


Während ich so wenigstens die Illusion eines neuen Hoffens für mich behauptete, begaben sich andere Wolgaster, die ihren Pessimismus nicht überwinden konnten, zum Peenestrom hinunter. Getrieben von Verzweiflung und Aussichtslosigkeit, banden Mütter ihre Kinder an sich und sprangen, mit Steinen beschwert, vom Kai ins Wasser.


Zwischenzeitlich von einer Art frecher Furchtlosigkeit erfüllt nahm ich eine grünlich schimmernde Hose, die vor mir lag und brachte sie wider besseres Wissen eilig nach Hause. Dabei fühlte ich mich nicht ganz wohl. Mir war ähnlich zumute wie damals, als ich über einen Zaun geklettert war, um mir aus einem fremden Garten eine handvoll Äpfel zu holen und dabei erwischt wurde. Diesmal hatte ich mich selbst ertappt. Deshalb hängte ich mein Beutestück auf die Kellerluke, statt sie nach oben in mein Zimmer zu bringen. Zugleich dachte ich: Bonbons wären nicht schlecht! Seit zwei Jahren hatte ich keine Süßigkeiten mehr gehabt. Ich rannte los, um mich einzureihen in die Menge junger Frauen und meiner Altersgenossen, die im Kaufmann - Andersonladen auf ein Kaffee- oder Schokoladenwunder hofften. Ich wusste noch nicht, dass ein verletztes Gewissen mit Verkleinerung seines Potentials reagiert. Ich benahm mich brutal, indem ich mich rücksichtslos zu den Margarinewürfeln durchkämpfte, um die sich Frauen und Jungen stritten. Direkt über meinem erhitzten Kopf jubelte plötzlich jemand auf. Er hatte einen Pappeimer gefunden. Sie rissen ihm das Gefäß aus der Hand. Kaffeebohnen prasselten zu Boden.


Einer fing an, mit Gläsern zu werfen. Vielleicht aus Wut, weil sie nicht Früchte, sondern Rote Beete enthielten. Die Fläche färbte sich blutrot. Ein paar Bengel warfen das Zeug durch das offene Fenster auf die Straße, machten ein höllisches Spektakel. Kaufmann Anderson kam dazu. Ein kleiner Fünfziger mit Kahlkopf: “Meine Damen! Meine Damen!” rief er händeringend, als er die Bescherung vor und in seinem Geschäft sah. Eine der Frauen fuhr ihn an, sie sei nicht seine Dame und schmetterte ihm eins der Weckgläser vor die Füße. Der Besitzer, vom intensiv färbenden Saft blutrot bespritzt, rang nach Luft. Aus dem Durcheinander brachte ich unbeschadet sechzehn Stück Margarine heim und betrat daraufhin sofort wieder die Straße und wandte mich, jetzt bereits bedenkenlos nochmals zur Linken. Da sah ich meinen neunjährigen Bruder Helmut einen großen runden Käse hangabwärts rollen. Beide kamen schnell auf mich zu. Bei dem in unserer unmittelbaren Nachbarschaft ansässigen Grossisten Kriwitz fündig geworden, waren die Plünderer mit sich selbst und ihrer Beute beschäftigt. Mit Leichtigkeit hätten sie dem Bengel das wagenradgroße Stück wegnehmen können. Das Bild prägte sich mir für alle Zeiten ein. Der kleine blonde Wuschelkopf strahlte mich an. Hier stimmte etwas nicht! Noch deutlicher als vor einer halben Stunde, unmittelbar bevor ich zum ersten Mal die Hand ausreckte um Verbotenes zu tun, sah ich deutlich, dass wir falsch handelten und kommandierte im selben Atemzug, er solle das zurückbringen. “Das ist Diebstahl!” schrie ich meinen erstaunt und froh zu mir aufblickenden Bruder an. Für ihn war, was er tat, unbedeutender Jux. In mir jedoch begann erstaunlicherweise die andere Gedankenkette abzulaufen, so gewiss war ich, was ich von jetzt ab tun würde. Er gehorchte mir unbekümmert. Ich half ihm und fasste den Entschluss alles zurückzubringen, was ich schließlich tat.


Nur Minuten später bog der erste Russe in die Langestraße ein. Er schritt direkt auf mich zu. Die Pistole im Anschlag.


Jahrelang hatte die Nazipropaganda uns Hitlerjungen das Bild von den russischen Untermenschen vor Augen gestellt. Zudem hatte ich immer wieder die Kolonnen dieser halbverhungerten in Lumpen umherlaufenden Russen gesehen…


Wie überrascht war ich nun, als der erste Kämpfer der Roten Armee auf mich zugeschritten kam. Er hatte unerwarteterweise einen angenehmen Gesichtsausdruck. Er hatte etwas von den Zügen meines Vaters an sich. Ob ich es wollte oder nicht, es dachte in mir: ‘Da kommt ein Held!” Er trug eine hochaufragende schwarze Lammfellmütze und einen wehenden ebenfalls schwarzen Umhang. Obwohl die Pistole auf mich gerichtet war, empfand ich nicht einen Augenblick lang Furcht. Ich wunderte mich sehr. Auch er hätte Ursache zur Furcht gehabt. Denn aus jedem Hauswinkel und Fenster meiner Heimatstadt konnte ein Heckenschütze auf ihn zielen. Er ging ohne Hast, sich weder zur Rechten noch zur Linken wendend, an mir vorbei und zog meine Blicke und meine Verwirrung hinter sich her. Seinen Auftritt werde ich nie vergessen. Noch wusste ich ja nicht, dass nicht die Uniform die Guten und die Schlechten machte.


So lernte ich binnen weniger Augenblicke die wichtigste Lektion meines zweiten Lebens. Zu diesem sonderbaren Feind hatte ich mich erstaunlicherweise hingezogen gefühlt. Ich hatte mich außerstande gesehen, mich ihm gegenüber als überlegen zu betrachten. Im Gegenteil! Ich sah, wie sehr ich mich geirrt hatte. Er war schon längst aus meinem Blickfeld gewichen, als ich ihm immer noch nachstarrte. So waren sie?


So waren sie mehrheitlich leider nicht! Innerhalb der nächsten Stunden strömten Hunderte völlig anders geartete Russen in die Stadt. Ganze Heerscharen zügelloser Soldaten füllten die Straßen.


Weil ich ihn aus dem Keller herausgelockt hatte, kam unser Altgeselle Gottschalk, denn wir seit je “Leller” nannten, näher. Auch er war zunächst erstaunt, dass ihn niemand belästigte. Doch er irrte sich, wie so viele andere, die mit der fechtenden Truppe gute Erfahrungen gemacht hatten. Ein Bursche in seiner olivgrünen dünnen Militärbluse, kaum älter als ich, nestelte dem hilflosen, rheumakrummen Mann mit größter Selbstverständlichkeit die goldene Uhrkette ab. Dem Alten kullerten zwei dicke Tränentropfen herunter. Hinkend und in sich hineinjammernd kehrte er auf seinen Stock gestützt um. Was er verloren hatte, war so gut wie sein einziger Besitz gewesen. Laut schreiende Frauen stürzten an uns vorbei. Männer hetzten hinter ihnen her. Ein Offizier schoss in die Luft. Vor der Menge entfesselter Marodeure und Vergewaltiger musste er zurückweichen. Meine Verwirrung über alles was ich sah war so groß, dass ich plötzlich bei der Begegnung mit einem älteren Offizier, der in einer unerwartet anders aussehenden, grünen Uniform daherkam, als Reflexbewegung den rechten Arm hochriss und laut und gewohnheitsgemäß “Heil Hitler” sagte. Er bemerkte meinen Schrecken, hätte sofort die Pistole ziehen und mich erschießen können. Noch tobte der Krieg. Er hätte es als Provokation auffassen können. Er schaute mich kopfschüttelnd an, geradezu väterlich nachsichtig, lächelte, tippte gegen seine Stirn. Andere haben mir später mit den Stiefelspitzen energisch in den Hintern getreten, nur weil ich sie anblickte.


Als der Beschuss von deutscher Seite einsetzte, flüchteten wir wieder in den Keller. Da saßen wir zwei Tage und Nächte hintereinander im Dunkeln auf Brettern und lauschten den Detonationen und gelegentlichen Einschlägen, während die Frauen zugleich mit der ihnen eigenen Angst nach oben horchten, ob die wilden Sieger in den Hausflur stürzen und die Kellertreppe heruntergepoltert kämen, um sich wütend über sie zu werfen. Neben mir nahm am dritten Tag eine große junge Frau Platz, die, wie sie klagte, vor den ständigen Vergewaltigungen geflohen war. In ihrer Verzweiflung hatte sie sich erinnert, dass es in der Langenstraße 17 die Kommunistin Frau Stolp gab. Sie hatte gehofft, von ihr beschützt zu werden. Aber diese alte, gebildete Dame war wenige Tage zuvor schwer verunfallt und verstorben.


Die gejagte Frau wagte es nicht zurückzugehen. So saßen wir viele Stunden abwartend in der Finsternis nebeneinander. Ich empfand es als sehr angenehm, dass sie ihren hübschen Kopf auf meinen Schoß legte und vor Erschöpfung einschlief. Als ich bemerkte, wie sie hochschreckte streichelte ich ihre Wangen behutsam und sie ließ es zu.


Mir schien, dass in der dritten oder vierten Nacht der Beschuss abnahm und beschloss nach oben in mein Bett zu gehen. Vaters Altgeselle “Leller” hielt es genau so. Wir hörten zwar die Einschläge der deutschen Artilleriegranaten, aber die kamen von weit her. So schliefen wir schnell ein. Sobald das Schießen aufhörte, - wahrscheinlich am achten Mai- betrat ich wieder die Straße. Überall sah ich singende, betrunkene Soldaten. An einem der zahllosen, kreuz und quer durch die Straßen der Stadt rollenden Panjewagen, mit ihren typisch kleinen Kastenaufsätzen, hing eine Kuh die zur Erde gestürzt war. Die beiden Russen bemerkten nicht, dass der Strick am Hals des Tieres erbarmungslos ins Fleisch schnitt. Sie trieben ihre stampfenden Pferde an und sangen ihren Jubel in die Welt. Das Rind wurde gnadenlos geschleift. Ich sah die Blutspur der verstummten Kreatur.


Sie war das Symbol für die Grausamkeit des Krieges.


So also sah er aus.


Viele unter diesen Menschenmassen, die ich gesehen, trugen ihr rohes, vom endlosen Leid und Morden verbildetes Gesicht. Aber aus dieser Menge ragten einige hervor, Männer, die dem ersten ähnelten.


Einmal hielt eine LKW-Kolonne mit aufmontierten Raketenwerfern -Stalinorgeln - vor unserer Haustür. Mitten unter den Soldaten saß mein kleiner Bruder, dem sie auf sein strohblondes Haar einen großen dunklen Stahlhelm gesetzt hatten. Lachend wurde er herumgereicht und mit Zwieback verwöhnt. Mit allerlei, anscheinend heiteren Ausdrücken wiesen sie einander darauf hin, dass mein Bruder ein blaues und ein braunes Auge hatte. Mir schien, dass sie sehr diszipliniert waren, niemand sprang während der langen Wartezeit von der Pritsche herunter, um in unserem Haus auf Raubzug zu gehen. Viele verfluchten die Russen unterschiedslos. Das war ungerecht. Es gab einige Soldaten, die sich in unserer Wohnstube ans Klavier setzten und darauf zu spielen versuchten, doch sie benahmen sich gut. Ich konnte nicht wissen, warum jemand so handelt oder anders. Ich selbst musste erst noch lernen, mir ein Urteil über mich selbst zu bilden.


Ich hatte den NS-Männern geglaubt, den Nachrichtensprechern, einem Joseph Goebbels, meinem Führer Adolf Hitler und ich weiß nicht, wem noch, bis zuletzt und über dieses Zuletzt hinaus. Es hatte sich alles als mörderische Lüge und Hirngespinste erwiesen.








Für eine Welt ohne Pfaffen

Ein Priester gäbe sein Leben für seine Überzeugung, ein Pfaffe verkauft sie für Geld.

Der deutsche Golfer Marcel Siem brachte es in einem Interview mit Welt-online, am 19.März 2012, auf den Punkt.
In Indien hatte er den Ball vor dem Schlag berührt, und da dieser sich leicht bewegte, zeigte Siem sich selbst an und kassierte einen Strafschlag.
Die Welt: Das hätte wohl nicht jeder gemacht, oder, Herr Siem?
Marcel Siem: Ich hoffe schon. Der Ball hatte sich offensichtlich bewegt. So etwas nicht zu melden, könnte ich mit meinem Gewissen nicht vereinbaren. Golf ist hart, die Regeln müssen eingehalten werden. Ich verstehe nicht, wie Leute beim Golf schummeln können, dafür ist die Sportart viel zu schön. Wer schummeln will, hat auf dem Golfplatz nichts zu suchen. Der soll Karten spielen oder irgendetwas anderes.
Wer schummeln will hat auf einer Kanzel nichts zu suchen, dafür ist die Religion Christi viel zu schön. Das zu sagen, schulden wir dem den wir lieben:

“Philippus traf Natanael” und sagte zu ihm: “Wir haben den Messias gefunden, er kommt aus Nazaret,” Natanael kontert sofort: “kann von Nazaret was Gutes kommen?”
Philippus erwidert: “Komm und sieh!”
Jesus sieht Natanael wie er auf ihn zugeht, wendet sich an einen seiner Begleiter und sagt, was er fühlt: “Da kommt ein echter Israelit, ein Mann ohne Falschheit!” Das berichtet das 1. Kapitel des Schreibers Johannes.
Ehe ich irgendetwas von Belang sage, wenn ich als Politiker oder Lehrer vor Mitmenschen trete, muss ich mich zuvor prüfen, ob ich das vor mir selbst und vor Gott verantworten kann. Ich darf nur sagen und verkünden, wovon ich selbst überzeugt bin, nachdem ich alles und mich selbst in Frage gestellt habe.
Ich frage mich und dich, lieber Theologiestudent, wie soll ich dir später glauben, wenn du mir nicht mit deinem Vorleben bewiesen hast, dass du zur Lehre, die du einmal verbreiten willst, notfalls mit deinem Leben einstehst?
Es ist gut zu wissen, dass es Vorbilder wie Marcel Siem gibt, die tolerant und ehrlich sind, auch wenn ihnen das schadet.
Die Nationen, und zwar nicht nur die sogenannten christlichen, auch die islamischen sind krank am Mangel an Gewissenhaftigkeit, Menschenliebe und Toleranz.

Nieder mit dem Pfaffentum!

Montag, 19. März 2012

Die Unfreiheit die Mormonismus bringt.

Unwidersprochen, wenn sich ein Paar das Wort gibt, vor Gott oder dem Standesbeamten endet die Freiheit sich nach einem anderen Partner umzusehen. Aber dieses kleine Opfer, wenn es denn eins ist, und jeden Tag neu gebracht wird, bringt dann den Kindern und dem Partner jene Geborgenheit ohne die sie leiden könnten.
Ich kann, im Straßenverkehr nicht fahren wie ich will, aber wohin ich möchte.
Respekt vor den Normen verschafft uns die bestmachbare Sicherheit. So ist es bei uns. Ein Mensch der sich der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage anschließt, gibt ein paar frühere Vergnügen auf, aber er gewinnt an Selbstvertrauen.
Ich habe es seit meinem 16. Lebensjahr ausprobiert. Es ist immer hoch interessant ein "Mormone" zu sein, vorausgesetzt, man hält sich an die Regeln.
Niemals war eine Gesprächspartnerin verärgert, den meisten sagte meine Einstellung zur Treue zu. Sie sagten manchmal: deine Religion gefällt mir.
Ja, meine Religion ist großartig, sie hat es 65 lange Jahre hindurch vermocht, mich bei der Stange zu halten  und meinen Horizont zu weiten.
Nachhaltiger als alle anderen Lehren, auch innerhalb des Christentums, sind die meiner Kirche, weil sie, nach erstem Erstaunen oder Bezweifeln jeder Kritik stand halten. Sie sind warm, tolerant und vernünftig.
Wir glauben nicht nur an Christus sondern glauben, dass wir mit Hilfe seiner Lehren in und mit unserer Kirche einen wertvollen Beitrag dazu leisten, die Welt zu einem besseren Platz zu machen.
Ohne Disziplin und ohne Einsicht in die Notwendigkeit funktioniert das nicht.
Meine Kirche, oder unser Gott,  kann Dir die Weisung geben, die Dich heraushält aus dem größten Dilemma.
Es scheint ein ewiges Gesetz zu sein, dass wir uns nie treiben lassen dürfen, wenn wir wirklich frei und glücklicher werden wollen.
Keiner hat das so schön und zutreffend ausgedrück wie Goethe:

"Vergebens werden ungebundne Geister
Nach der Vollendung reiner Höhe streben.

Wer Großes will , muß sich zusammenraffen:
In der Beschränkung zeigt sich erst der Meister,
Und das Gesetz nur kann uns Freiheit geben."