Dienstag, 20. März 2012



Schritte durch zwei Diktaturen (2)


Gerd Skibbe




Im Frühsommer 1945, arbeitete ich auf dem jetzigen Gelände der Peenewerft in Wolgast als Dienstverpflichteter der Roten Armee. Einmal schwammen wir immer wieder leichtfertigen Bengel hinüber auf die andere Seite des Stromes, etwa zweihundert Meter weit, zur Insel Usedom. Dort fanden wir die durch einen nur teilweise ausgeführten Stacheldrahtzaun und eine Anzahl Verbotsschilder vor unbefugtem Zugriff nur mangelhaft geschützten Waffen einer der letzten Hauptkampflinien des Krieges. Unverschlossene Kisten mit Munition aller Art standen zu Dutzenden umher. Deshalb war es unter Androhung von Todesstrafe verboten, dieses Fleckchen Erde zu betreten. Minuten später ballerten wir, wie nur hirnrissige Halbwüchsige handeln, mit den in unseren Augen wunderschönen Karabinern in der Gegend herum. Die in Massen vorhandenen Patronen erwiesen sich als Leuchtspurmunition. Sie zeichneten in den blauen Himmel einen rasant vorwärtsjagenden kurzen, weißen Strich, der unseren Standort schnell verriet. Mir war zuerst zumute wie Robinson auf seiner herrenlosen Insel, dem alles, was sich ihm darbot, gehörte. Nur, dass Klein Zinnowitz nicht im Pazifik, sondern nahe bei der altehrwürdigen Herzogstadt Wolgast lag und, dass da die misstrauischen, immer noch schmerzerfüllten Sieger residierten, die mit ihrer Allmacht niemals Spott treiben lassen würden. Plötzlich hörten wir das typische Brummen eines langsam und tieffliegenden Flugzeuges. Ein lichtfarbener Doppeldecker kam schwerfällig und harmlos wie ein Maikäfer näher. Unser Verhängnis schwebte heran, mit einem unübersehbar roten Sowjetstern unter den hellblauen Tragflächen, kaum einhundert Meter über unseren Köpfen. Wir konnten den Kopf des Piloten erkennen. Er sah uns gewiss nicht, denn wir standen unter den Bäumen und zielten seelenruhig auf sein Flugzeug. Wer uns vor der Ausführung dieser Todsünde rettete? Ich war es nicht.

Unser Engel hieß Büna Bergemann, ein ehemaliger Hitlerjunge wie wir. “Seid ihr des Teufels!” schrie er uns in letzter Sekunde an. Er war unversehens zu uns gestoßen. Auch er ein Übertreter militärischer Weisungen.

Beschämt ließen wir sieben Taugenichtse die Karabiner sinken.

Ein Patrouillenboot kam in Sicht, noch weit entfernt. Es kreiste im Brückenbereich, konnte aber jeden Augenblick auf uns zurauschen. Wenn die uns erwischten, dann war es aus mit uns. Wir flohen schwimmend. Wir konnten aber gar nicht entkommen. Viel zu viele Ohren hatten es gehört, zu viele Augen die verräterischen weißen Striche der Leuchtspurmunition gesehen. Sie schnappten uns noch, als wir bereits glaubten, die Gefahr sei vorbei.

Niemand kann sich die Folgen seines Handelns aussuchen, auch wenn sie nicht mit eiserner Notwendigkeit feststehen, sondern von tausend Zufällen variiert werden, die das Leben so unberechenbar machen. Sie umstellten uns auf dem Festland. Eine Anzahl Maschinenpistolen, mit ihren typisch runden Munitionsmagazinen richtete sich gegen uns. Wir standen nun kläglich und scheinbar arglos, in schwarzen, fadenscheinigen und nassen Badehosen da. Alles rings um uns herum erstarrte, sogar die Zeit. Bis ein Jeep herangebraust kam. Er raste aus einer Staubwolke auf uns zu. Ein vierschrötiger Mann in olivefarbener, medaillenbehängter Uniform saß neben einem schmalen, jungen Fahrer. Der Stadtkommandant - oder war es sein Stellvertreter? - Noch ehe das Fahrzeug anhielt, sprang der Koloss behende aus der offenen Kabine. Breitbeinig und aufstampfend lief er gesenkten Hauptes auf uns zu, wütend wie ein gereizter Bulle, ein leibhaftiger Racheengel für alle von der SS und der Wehrmacht ermordeten Russen. Aller Anwesenden Blicke zog er auf sich. Grob wie ein Berserker und Menschenfresser beherrschte er die Szene, Furcht einflößend. Ein bestimmtes Wort, nur ein einziger eindeutiger Wink seiner Hand und wir hätten vielleicht nur noch die Blitze aus den Mündungen der MPs bemerkt, mehr nicht. Er brüllte wie ein wildes Tier. Aber je länger der kolossale Mann umhertobte, umso mehr verzögerte er das erwartete Aufblitzen. Irgendwie kam die vage Hoffnung in mir auf, wir könnten mit dem Schrecken davonkommen. Wir ahnten ja nicht, dass es zwischen Tod und Freiheit noch Sibirien und Karaganda gab. Es sausten und kreisten in meinem Kopf zwar nur wenige Begriffe umher, aber selbst diese konnte ich nicht fassen. Alle meine Sinne richteten sich auf den einen irrsinnigen Wunsch, es möge ein Wunder geschehen. Dass sich in diesen Sekunden unser Aufpasser, ein Mann namens Kell, vordrängte und an den wutschäumenden Mann heranwagte, nahm ich nur aus den Augenwinkeln wahr, während die kühlherzigen, in ihr Soldatenschicksal ergebenen, nur wenig älteren, Burschen immer noch das Kommando zum Feuern erwarteten.

Drei Männer sprachen laut, in abgehackten Intervallen, wild mit ihren langen Armen rudernd, hin und her übersetzend, bis wir allmählich begriffen, aber nicht eigentlich verstanden, dass der Mann mit seiner roten Armbinde, ein ruhiger alter, menschenfreundlicher Deutscher, mit seinem Leben für uns bürgte. Ich weiß immer noch, dass der Mann Kell ein Kommunist war, der seinen Kopf für unseren hinhielt. Das Unglaubliche geschah, weil dieser kommandierende russische Offizier mit seinem derben Gesicht und dieser ungeheuren Nase sich unserer erbarmte. Vielleicht hatte die SS seine Söhne erschossen,... wenn sie denn auch so jüdisch ausgesehen haben mochten wie ihr Vater... Sie ließen uns laufen? Sie ließen uns laufen! Nach diesem Aufwand? Wir stoben auseinander, in alle Himmelsrichtungen. Ich verkroch mich in einem Maschinenraum, hockte da lange wie gelähmt drin. Kein Wort Zuhause davon. Die schlimmsten Ereignisse hören die eigenen Angehörigen oft ohnehin als Letzte.

Was war wirklich geschehen? Hunderte, tausende anderer, die nicht mehr, eher viel weniger als wir verbrochen hatten, landeten in dunklen Todeslöchern und in Fanggruben ehemaliger Hitler-KZ. Oder sie wurden verfrachtet, um in Irkutsker Lagern des Archipels GULAG geworfen zu werden, die meisten, um nie wieder heimzukehren.

- Zwei von uns sollte das große Unglück noch treffen. -

Ich begriff langsam, oder wollte glauben, dass mir von dem mir oft noch unendlich fernen und in seiner wirklichen Existenz noch ungewissen Gott, Gnade geschenkt wurde. Wahrscheinlich geschah mir das im Vertrauen darauf, dass ich nicht wieder gegen meine Überzeugung handeln würde.



Kurze Zeit danach fand ich beim Stöbern auf dem Hausboden meiner Eltern zwischen alten Kartons die antimormonischen Bücher der Pastoren Zimmer und Rößle, die mein Vater sich zwar zugelegt hatte, aber offensichtlich von uns fernhalten wollte. Eigentlich hatte ich ein Versteck gesucht weil ich Vaters Fotoapparat retten wollte. Durch öffentliche Bekanntmachung waren wir von der russischen Besatzungsmacht aufgefordert worden umgehend alle Fahrräder, Radios und Fotogeräte im Rathaus abzuliefern. So stieß ich auf die “verbotene” Literatur. Wahrscheinlich hätte ich sie nicht gelesen, wenn sie, ganz normal, in seinem Bücherschrank gestanden hätte. Das Geheimnisvolle zog mich magisch an. Die beiden “Werke” las ich schnell hintereinander weg. Die Darlegungen der beiden Pastoren fesselten mich mehr als Karl May. Mit jeder Seite, die ich verschlang, wuchs mein Interesse an dieser sonderbaren Kirche der ich zwar angehörte, weil ich 1939 als Neunjähriger, auf Wunsch meines Vaters, getauft worden war; aber der ich mich doch noch nicht so richtig zugehörig fühlte, zumal ich Gemeindeleben nie kennen gelernt hatte. Ich wünschte mehr von ihr zu erfahren. Ich ahnte, dass hier etwas ungemein Wichtiges vorlag. So ähnlich und zugleich anders müssen es die beiden feindseligen Autoren empfunden haben, sonst hätten sie sich nicht dermaßen wortreich eingeschaltet. Wieder und wieder las ich die aufregenden Sätze, die eine mir noch ziemlich fremde Welt beschrieben, die Welt des Mormonentums. Zeit und Raum versanken hinter mir. Vor mir öffnete sich die Vergangenheit: “Noch im Jahre 1870 gab es in Utah kein einziges christliches Kirchengebäude” las ich in Herrn Pastor Zimmer’s Buch “Unter den Mormonen in Utah”.

Eine Mission daselbst zu beginnen, würde dem mutigsten Prediger als ein frevelhaftes Wagnis erschienen sein. Zwar hatte die Unionsregierung schon 1858 einen christlichen Gouverneur eingesetzt, aber Brigham Young war noch der Alleinherrscher, vor dessen Rache jedermann zitterte. Jede auch die geringste Kritik an den Lehren der Häupter der Sekte lieferte ihren Urheber in die bluttriefenden Hände der allezeit auf der Lauer liegenden “Daniten” aus, dieser - Würgeengel des Mormonismus -. Hunderte von eigenen Glaubensgenossen wurden auf Youngs Befehl von ihnen ermordet.”

Sofort wusste ich, dass Herr Pastor Zimmer log und ich fühlte es, er wusste es ebenfalls. Einerseits stellte er die nach Zehntausenden zählende Priesterschaft der Mormonen als gefährliches Machtinstrument einer geradezu verbrecherischen Kirchenführung dar, andererseits konnte er offensichtlich nicht umhin, sich auch, wenigstens passagenweise, anerkennend zu äußern. Pastor Zimmer hasste Brigham Young, den Nachfolger des ermordeten Joseph Smith, wie keinen zweiten Mormonen, zugleich aber sagt er von ihm: “...Young war zwar ein Erzheuchler, aber ein guter Führer und Organisator, sowie ein weitschauender Nationalökonom. Er legte den Grund zu dem großen Bewässerungssystem, das jetzt ganz Utah genügend mit frischem Wasser versorgt und dessen geschickte Verwendung das Salzseetal in einen Garten Gottes verwandelt hat ... Salt Lake City, die heilige Stadt der Mormonen ist ein wichtiger Mittelpunkt des Handels für die Länder westlich des Felsengebirges; seine Lage, der sich immer vermehrende Bodenreichtum eröffnen ihr die Aussicht, eine der größten Städte des amerikanischen Westens zu werden. Aber es ist auch ein Sammelplatz des reisenden Publikums während der heißen Sommertage geworden, dank dem herrlichen, milden Klima ... Was dem Fremden in der Stadt zuerst auffällt, das sind die breit angelegten, schattigen wie Riesenalleen sich hinziehenden Straßen. Jede derselben ist einschließlich der Seitenwege 132 Fuß breit. Young ließ sie, infolge einer angeblichen Inspiration so breit anlegen ... Die ungeheure Breite der Straßen und die große Ausdehnung der Blocks sieht schön aus ... in der ersten Woche des April und des Oktober finden Konferenzen statt. Eine volle Woche dauert diese Konferenz; der letzte Tag ist der herrlichste. Das Tabernakel ist gepfropft voll. Der Prophet, Seher und Offenbarer, Joseph Fielding-Smith hält seine Thronrede als Präsident der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage ... Den Schluss bildet die Ermahnung zur eifrigen Befolgung der “Prinzipien des Evangeliums” ... Dann erhebt sich die vieltausendköpfige Menge. Der Prophet erhebt seine Hände zum Himmel, betet und gibt seinem Volke den Segen. Es ist ein großartiger, unvergesslicher Moment. So still ist es in dem ungeheuren Raum, dass man eine Stecknadel könnte fallen hören. Die Heiligen fühlen wie die Inspiration der Worte ihres Propheten in ihrer Seele nachzittert, auch der anwesende Fremdling steht unter dem Zauberbann dieses Schlussaktes. Doch kaum hat der Prophet geendet, so ertönt hoch oben von der Riesenorgel her eine jubelnde Fanfare, der Massenchor mit 500 Stimmen setzt ein und die 16 000 Heiligen singen in fanatischer Begeisterung die Prophetenhymne, welche den Stifter verherrlicht: Preiset den Mann, der verkehrt mit Jehova, der ein Prophet war, von Christus ernannt! Der, von dem Geiste erfüllt, prophezeite nahes Gericht jedem Volke und Land! All ihr Erwählten gedenkt des Propheten, göttlich im Himmel, auf Erden einst Held! ...”

Vor allem die negativen Aussagen Zimmers bauten in mir zunächst Fragen, dann Voraussetzungen für den Glauben an den Mormonismus auf. Es passte einfach nicht zusammen, was er, sowie sein Amtsbruder Pastor Rößle von sich gaben: “...diese gottlose Priesterschaft, die nach Tausenden zählt, tritt Gottes Wort mit Füßen und zieht das Heilige in den Staub da werden den in Utah nach vielen Tausenden zählenden betörten Deutschen die abgestandenen Treber der schmutzigen Mormonenlehre als Seelenspeise dargeboten ...” Andernteils erklärt zumindest Rößle, dass er den Stifter der Mormonenkirche für einen ehrlichen Mann hält. Wörtlich: ”Der Charakter des Joseph Smith ist viel umstritten worden. Die Mormonen bezeichnen ihn als den größten Märtyrer des Jahrhunderts und als den bedeutendsten Mann seiner Zeit. Viele seiner Gegner nennen ihn aber kurzweg einen Betrüger. Man wird ihm auf diese Weise jedoch nicht gerecht. Es dürfte heute wohl allgemein angenommen werden, dass Joseph Smith selbst an seine phantastischen Offenbarungen glaubte und sich für ein Werkzeug des göttlichen Geistes hielt. Mit dieser Tatsache verband er eine auffallende Fähigkeit der Anpassung und auch der kühlen Berechnung. Hinzu kam seine ausgesprochene Tüchtigkeit in Geschäftssachen. Den ungebildeten Massen gefiel seine gewinnende Freundlichkeit.”

Ich dachte, dieses Hin und Her in diesen Schilderungen müsste eigentlich jedem Leser ins Auge fallen. Diese geschulten Denker konnte man doch nicht mit sprunghaften Teenagern vergleichen. Ich wusste außerdem, was mein Vater mich gelehrt hatte, und wenn ich mich auch in den meisten Versammlungen, die ich als Kind in Wolgast miterlebte, schrecklich gelangweilt hatte, so war doch alles was ich hörte, immer nur Gutes gewesen. Nämlich die Aufforderung: Tue es.

So sah ich trotz meiner Unerfahrenheit und Jugendlichkeit die Schieflage der beiden kirchlichen Autoren deutlich. Ich las tagelang, vergaß für eine Woche meine Lieblingsbeschäftigung, das Angeln. So lernte ich in wenigen Tagen mehr als je zuvor über Mormonismus.

Außerdem sagte mir mein Gefühl etwas Wichtiges, etwas das ich erst später zu beschreiben imstande war, nämlich, dass ich die Lehre der Mormonen als einen sich unendlich weitenden Raum begreifen müsste, weil sie voller menschenfreundlicher Ideen war, denen nach oben hin von Gott keine Grenze vorgeschrieben wurde und, dass ich mit ihr mich selbst erschließen könnte. Mir schien, diese Lehre würde mir ein Königreich des Geistes bieten. Meine eigenen Gedanken wird sie mir lassen, nachdem sie sie veredelt hat. Somit stellte sie etwas völlig anders dar, als alle anderen, ja mir schien, dass der Name Kirche hier schön klang.

Ich konnte das eine mit dem anderen verbinden. Mir war intuitiv klar, dass die Welt diese Kirche zu ihrem Segen brauchte.

Denn da war am ersten Tag der neuen Zeit, an jenem mir so lebhaft gegenwärtigen 30. April 1945, ein noch junger deutscher Fallschirmjäger gewesen. Mit seinem ungewöhnlichen Rundhelm in der Hand stand er neben einem sowjetischen Presseoffizier, der fließend Deutsch sprach. Sie befanden sich beide unter der kleinen Eingangshalle des ausgeraubten Konfektionsgeschäftes Gauger und diskutierten, was nun nach dem Zusammenbruch des hitlerschen dritten Reiches kommen müsste.

Wir brauchen eine völkerverbindende Idee”, hatte der russische Offizier gesagt. Das drang mir tief ins Bewusstsein. Ich sah die goldblitzenden Zähne des Sowjetjournalisten, sein aufmunterndes Lächeln. Ich spürte etwas von der Überzeugungskraft des Russen, der dem Deutschen in wenigen Strichen eine Vision von seiner Zukunft entwarf. Er warb um die Mitarbeit des anderen, seines Gefangenen, der seine Orden bereits abgelegt und nun gewissermaßen nackt dastand. Es fiel mir eben auf, und sie erlaubten mir zuzuhören. Mir war zumute, als sollte gerade ich es hören, wie ein deutscher Germanist aufgefordert wurde, neue Pressearbeit unter den Gefangenen zu leisten. Weil ich irgendwie die Berechtigung der Forderung sah, beschäftigten mich ihre Gedanken. Ich weiß nicht, warum es mir einleuchtete, was der Russe forderte, aber ich begriff, dass nach dem Krieg, da ich ihn ja bis dahin ebenfalls überlebt hatte, eine bessere Idee heraufgebracht werden müsste. Sonst werden sich sowohl die dummen wie die klugen Menschen immer wieder aus ihrer menschlichen Verrücktheit heraus oder aus blankem Übermut einander an die Gurgel gehen.

- Denn offensichtlich hatte das herkömmliche Christentum versagt! - Als ich so, auf dem Hausboden meiner Eltern nachdenklich wurde, kam mir vieles in den Sinn. Es bedarf einer neuen Idee. Mir leuchtete ein, dass Mormonismus diese gesuchte Idee sein könnte, dass er die wahre, ursprüngliche Lehre Christi, -des Friedefürsten- war.

Nur nachdem sie vor vielen Jahrhunderten sehr verfälscht worden war blieb sie sozusagen wirkungslos.

Wenn die verschollene Lehre von der Präexistenz des Menschengeistes wirklich durch Joseph Smith erneut von Gott gesandt worden war, um uns den höheren Sinn unseres Lebens zu lehren, dann erhielt die allgemeine Christenlehre von der Unsterblichkeit des menschlichen Geistes eine neue Bestätigung, dann müsste die Erkenntnis davon, soweit sie wirklich geglaubt wird, die ganze Welt aussöhnen. Anderes kann Gott nicht wollen.


Als ich weiter darüber nachdachte, nahm ich von innen her wieder dieses angenehme Licht wahr und diesen friedvollen geistigen Einfluss.

Ob es so hell gewesen wäre, wenn ich die gestohlenen Lebensmittel nicht zurückgebracht oder wenn ich mir und meinen Neigungen nachgegeben hätte?

Ton und Inhalt der ungerecht angreifenden Geistlichen Zimmer und Rößle brachten mich auf. Denn was sie niedergeschrieben hatten, würden ihnen zehntausende unvoreingenommene Leute unbesehen glauben und vielleicht sogar mit ihnen fordern, dass: ”... dem Treiben (der Mormonen) ein Damm entgegen gesetzt werden muss.”

Ich las in Rößle’s Buch “Aus der Welt des Mormonentums”, dass der Staat und die Kirchen gemeinsam gegen die Mormonen vorgehen sollen. Rößle sagte: “...Diese Forderung kann nicht laut genug erhoben werden. Denn der Mormonismus geht auf nichts Geringeres aus als auf die Bekehrung und schließliche Unterwerfung der ganzen Welt. Darauf ist sein System zugeschnitten. Diesem Zweck dient sein einzigartiger Missionsbetrieb, ... zu beachten ist dabei, dass der Mormonismus im Gegensatz zum Islam, dem er in gewisser Hinsicht gleicht, sich allen möglichen Volkssitten, Gebräuchen und Anschauungen anzupassen, allerlei, selbst entgegengesetzte Glaubensrichtungen in sich aufzusaugen vermag.”

Und er setzte noch eins obenauf: “...diese nominell noch kleine, völlig anders geartete Kirche, wird Weltbedeutung erlangen ... die Mormonen sind eine gefährliche Sekte ... in unheimlicher Weise haben sich bei der Entstehung dieser Sekte amerikanische Oberflächlichkeit, mangelhafte Bibelkenntnis und satanische Kräfte die Hand gereicht, um unter der Flagge des Evangeliums eigene Lehren zu verbreiten. Um ihres satanischen Unterbaues willen wird die Sekte der Mormonen eine bedeutende Macht und große Gefahr bleiben.” Mein Finger lag auf der Seite einundneunzig des Rößlewerkes.

So gingen mir die Augen auf.


Unter der Literatur, die ich auf dem Hausboden gefunden hatte, befanden sich auch einige Traktate. Die verteilte ich, gab sie auch meinen Freunden und händigte sie den Flüchtlingen in unserer Umgebung aus.

Johannes Reese, der wie schon früher oft zu uns kam, auch um mir Unterricht zu geben, fragte die Flüchtlinge, ob sie die Versammlungen besuchen würden, die er einrichten möchte. Einige sagten zu.

Darunter befand sich die Dunkerfamilie, die spätere Schwester Waldmann u.a.

So fanden sich seit Herbst 1945 in unserer Wohnung und an Wochentagabenden ungefähr zwanzig Menschen zusammen. Sie wurden von Herrn Reese mit einem Gemisch aus evangelischen, katholischen, sowie anderen Ansichten mit beträchtlichen Teilen des Mormonismus vertraut gemacht. Da die meisten unserer Gäste froh waren, einmal über etwas anderes als über das fehlende Essen und gutes Trinken zu reden, kamen sie immer wieder.

Das ging so bis in den Spätsommer 1946.

Auch zwei meiner Freunde, Hans Schult (späterer Ratgeber in der Freiberger Tempelpräsidentschaft) sowie Ulrich Chust (späterer Ältestenkollegiumspräsident in Köln) hörten Johannes Reese zu. Eines Tages sprach Herr Reese über das Buch Mormon. Er sagte, dass er es für einen echten Text israelitischen Ursprungs hält. Er sei jetzt gewiss, dass Joseph Smith kein Lügner war.

Die Männer und Frauen sahen ihn mit großen Augen an. “Man muss sich die Frage stellen, warum ein Mann ein solches Buch schreiben sollte. Wenn er die Wahrheiten, als seine eigene Weisheit ausgegeben hätte, wäre er alt und grau geworden. Er hätte sein Leben ungestört genießen können. Mit allen Fähigkeiten ausgestattet, wäre Joseph Smith ein angesehener Prediger und Volksführer geworden. Er hätte immer nur zu sagen brauchen: “Ich denke!” Oder er hätte statt einer Kirche eine Partei gegründet. Er wäre berühmt geworden. Immerhin war er Bürgermeister der Stadt Nauvoo, zu deren Errichtung er selbst die Grundlage gelegt hatte. Das war seinerzeit eine der größten Ortschaften Amerikas. Dass er glasklar und originell denken konnte, zeigen die Strukturen, die er schuf. Allein seine Ideen im Bereich Bildung waren einmalig. Er wollte, dass den Leuten, die in Gefängnissen einsaßen, durch Kurse besseres Wissen vermittelt wird. Seine Vorstellung, dass Industrieeinrichtungen stets außerhalb einer Stadt betrieben werden und dass die Wohnhäuser immer nur Einfamilienhäuser sein sollen und auf reichlich flächigem Gartenland stehen müssten, war zumindest sehr modern gedacht. Gut und gerne hätte er jeden zum Freund haben können. Stattdessen wurde er, seit der Veröffentlichung des Buches Mormon gehetzt und gejagt wie ein Hase von einem Dutzend Hunde und schließlich zur Strecke gebracht. Noch zu guter Letzt hätte er sich retten können. Er hätte nur zu widerrufen brauchen. Dann wäre er ungeschoren davon gekommen. Aber stattdessen sagte er: “Ich bin ruhig wie ein Sommermorgen. Ich bin unschuldig und gehe wie ein Lamm zur Schlachtbank”. Immerhin lieferte er sich auf Anraten seiner Freunde seinen Henkern freiwillig aus, obwohl er sich damals bereits in Sicherheit befand. Die Lynchtruppe hätte ihm nichts anhaben können. So handelt kein Betrüger!”

Nachdem der Nichtmormone Herr Reese das bezeugt hatte, herrschte Nachdenklichkeit. Dass Joseph Smith ein ehrlicher Mann war, sei aber nicht immer seine Meinung gewesen. Ursprünglich habe er, Reeses, sich sehr gegen die Mormonenlehre ausgesprochen, aus Unkenntnis allerdings. Das sei sonderbarerweise oft der Fall. Je weniger jemand von einer Sache versteht, um so mehr redet er darüber. Er lachte, er sei eben auch nicht besser als alle anderen. “Ihr könnt Euch selbst überzeugen, fragt irgendeinen engagierten Christen in der Stadt und ihr werdet finden, er hat zwar überhaupt keine Ahnung, was Mormonismus ist, aber er wird sich ganz entschieden dagegen wenden.”

Hans Schult und ich machten die Probe aufs Exempel. Wir sprachen einen etwa sechzigjährigen Mann auf der Straße an, von dem ich wusste, dass er zu den “Gemeinschaftschristen” in der Badstüberstraße ging. “Was halten Sie von den Mormonen?”

Der Alte schaute mich verdutzt an. Mit allem Ausdruck von Redlichkeit erwiderte er: “Mormonen sind eine furchtbare Sekte!”

Warum sind sie furchtbar?”

Die haben Vielweiberei! Und andere Schriften haben sie auch.”

Kennen sie die Mormonen persönlich? Kennen sie diese anderen Schriften?”

Gott sei Dank, nicht!”


Kurze Zeit später kamen wieder Missionare nach Vorpommern. Im Herbst 1946, kurz nachdem mein Vater erfolgreich aus französischer Gefangenschaft geflüchtet war, wurde Elder Walter Krause zu uns geschickt. Er fand ein reifes Feld vor und konnte innerhalb weniger Wochen und Monate ungefähr 50 Menschen taufen.

So wurde die Gemeinde Wolgast gegründet.

Unter ihnen befand sich die bewundernswerte Schwester Weber, die im letzten Kriegsjahr vier ihrer Liebsten und ihren Ehemann verloren hatte. Wir konnten kaum verstehen, dass sie nicht den Verstand verlor, als sie zusehen musste wie eine ihrer Töchter im Alter von fünfzehn Jahren und zudem todkrank, solange von sowjetischer Soldateska missbraucht wurde bis sie tot war.

(Bis heute sind zwei ihrer Söhne in der Kirche, in Schwerin, aktiv)

Eröffnet wurde diese Periode durch Max Zander. Dessen Sohn Wolfgang ebenfalls ein bekanntes Mitglied der Kirche in Deutschland wurde.

Max wollte etwas Gutes lesen und sein Freund Johannes Reese gab ihm ein Buch Mormon.

Sehr bald nachdem er es gelesen, besuchte Max Zander unsere Zusammenkünfte. Jener bemerkenswerte Novembertag das Jahres 46 an dem Max im offenen Wasser getauft werden sollte, begann um Mitternacht mit minus 17 Grad Celsius. Walter Krause musste mit einer Axt die zwölf Zentimeter dicke Eisschicht aufbrechen, wobei ich ihm half.


Elder Walter Krause erhielt im kommenden Jahr einen Mitarbeiter besonderer Prägung. Er hieß G. und war aus Sachsen gekommen. Der neunzehnjährige Junge wollte unbedingt “auf Mission gehen” und so wurde er dazu berufen, zumal seine Angehörigen gute Leute waren und er selbst Treue und Glauben geschickt vortäuschte. G. wollte aber alles andere, als ein Mormonenmissionar sein. Wer weiß was er wirklich wollte? Sein Doppelspiel konnte nur von ganz kurzer Dauer sein, zumal Walter Krause in seiner Kompromisslosigkeit es ohnehin bald durchschaut und ihn sofort heimgeschickt hätte. Aber das Schicksal kam alledem zuvor. Zuerst bemerkten meine Mutter und ich, dass er nicht echt war.

Ich ertappte G. beim Rauchen und zwar auf dem Holzspeicherboden meines Vaters, wo knochentrockene Sägespäne in Massen herumlagen und ringsherum lauter Fachwerkbauten standen, die einige Jahrhunderte überdauert hatten. Er wischte nervös mit der Hand durch die Luft. Es half alles nichts. Die Qualmwolke und ihr Geruch erfüllten den Raum. Nachdem er sich entlarvt sah trieb es von da an vor mir offen. Anstatt mir zu helfen, Holz zu zersägen und zu bearbeiten, saß er in der Stube am warmen Ofen und studierte, wenn sein Seniorpartner nicht da war, mit Lust und Liebe das “Decamerone” von Boccaccio. Das Versteck für diese, den Mormonenmissionaren untersagte Lektüre, blieb sein Geheimnis. Ein einziges Mal ließ er sich herbei, mir behilflich zu sein. Wir fuhren in den etwa fünfzehn Kilometer entfernten Wald. Dort luden wir schwere, zwei Meter lange Erlenstämme auf einen holzgasgetriebenen und dementsprechend lahmen Lastkraftwagen. Erschöpft nahmen wir anschließend oben auf der Holzfuhre Platz und ließen es uns in der angenehmen Frühlingsluft des warmen Nachmittages wohl sein. Unmittelbar vor dem Dorf Zemitz zog G. plötzlich sein Oberhemd aus. Zu meinem Erstaunen kam eine rotweiß leuchtende Hakenkreuzflagge zum Vorschein. Wir bogen gerade in die aufgrünende alleenartige Dorfstraße hinein, während sich auf seinem Turnhemd das die ganze Brust umfassende schwarz-weiß-rote NAPOLA-Wappen ausdehnte. (NAPOLA=Nationalpolitische Erziehungsanstalt)

Am liebsten wäre ich vom rollenden, holpernden Wagen gesprungen. Fast zwei Jahre nach Kriegsende ließ er offen die Runen des barbarischen Hitlerfaschismus sehen. Das war, auch wenn die meisten Leute der Sowjetzone sich dem Russenregime verweigerten, ein Affront des gesunden Menschenverstandes. Unter diesem Zeichen hatte nicht nur jede deutsche Familie gelitten, sondern halb Europa. Tausende Städte waren durch das Nazisystem zerstört worden. Jetzt war mir alles klar. Deshalb ließ er in manchen Versammlungen, wenn Elder Walter Krause abwesend war, die Anwesenden, von denen die meisten seine Väter und Mütter sein konnten, das Aufstehen und das Niedersitzen üben. Denn damals wurden die Eröffnungslieder noch stehend gesungen und das Erheben geschah auf ein Zeichen dessen, der den Gesang leitete. “Auf! - Nieder!” kommandierte er uns wie seine Untergebenen. Ich wagte nicht, ihn bei seinem Mitarbeiter zu verpetzen. Hätte ich es nur getan. Kurz darauf wurde er in Stralsund verhaftet. Er saß im ehemaligen Wartesaal erster Klasse der Reichsbahn, der nun den Offizieren und Zivilangestellten der Roten Armee vorbehalten war, als die Militärstreife die Ausweise kontrollierte. G. beherrschte die russische Sprache perfekt, ebenso das Wodkatrinken und das nicht gerade sehr feine Repertoire sowjetischer Soldatenwitze. Denn er war an der NAPOLA Marienburg, in Ostpreußen, zu einem Ostagenten des Nationalsozialismus ausgebildet und somit des Evangeliums entwöhnt worden. Walter Krause wurde sofort, nach der Verhaftung G.’s, zum Stralsunder Kommandanten beordert.

Ich weiß nur, dass ihm bedeutet würde, sein Kopf würde beim nächsten “Vorkommnis” auf dem Schreibtisch des Obersten liegen. G. wanderte fast zwanzig Jahre lang durch sibirische Gefängnisse, Bergwerke und ihre wassertriefenden Stollen. Da wird er mehr als einmal seine faschistischen Verzieher verflucht haben, die ihn wie einen Hund abgerichtet hatten. Als ich ihn zwanzig Jahre später wieder traf, (etwa 1968) in einer Mitgliederversammlung in Ostberlin, erkannte er mich zwar, aber ich ihn nicht. Bewegt kam er auf mich zu und stellte sich vor. Jetzt erkannte ich ihn wieder. Da waren gewisse Gesichtszüge. Ich sollte ihn von Herzen als Freund betrachten. Das brachte ich aber nicht fertig.

Da wirkt einer dieser tief in uns verborgenen Mechanismen, der nicht zulässt, dass wir unser Misstrauen wunschgemäß und nach Belieben abschalten können. Ich sagte ein paar leere Worte. Er musste es schmerzlich gespürt haben, dass ich ihn ablehnte. Statt ihn zu umarmen, ließ ich ihn stehen und gehen. Bald darauf verstarb er, wahrscheinlich an Erkrankungen, die er sich in der Verbannung und unter Tage zugezogen hatte. Wie gern hätte ich nun mit ihm gesprochen und ihm aufmunternd gesagt, ‘sieh nach vorne’. Ich hätte mehr für ihn tun können. Diesen Selbstvorwurf konnte und kann ich mir nicht ersparen. Er war schließlich zu uns zurückgekommen. Vielleicht war er seinem Wesen nach viel besser als ich dachte. Zu spät. In mir war die Befürchtung: steckt die Partei hinter ihm? Er könnte umgedreht worden sein. Denn das kannten wir zur Genüge. Noch galten wir “Mormonen” den Regierenden als “möglicherweise” gefährliche amerikanische Sekte. Vorsicht! Vorsicht!

Noch war ja nicht das berühmte Weihungsgebet durch Apostel Monson gesprochen worden, dass uns 1976 – infolge Indiskretion eines der Anwesenden – praktisch die Anerkennung des Staates einbringen sollte.


Es war der Fluch einer rohen Zeit.

Während des ganzen Jahres 1947 war ich im Auftrage Walter Krauses, der als Distriktpräsident amtierte, mit der Verteilung von Lebensmitteln beschäftigt, zwar nicht jeden Tag, aber nahezu jede Woche ein- oder zweimal. Quer durch Mecklenburg-Vorpommern schickte er mich, immer wieder, mit einer unterschiedlichen Anzahl von Paketen voller Fleischkonserven und eingewecktem Mais, Peachesdosen und Weizen auf die Reise. Denn unsere Kirche konnte als Auswirkung des seit 1936 amerikaweit laufenden und gut funktionierenden innerkirchlichen Wohlfahrtsprogramms zehntausende Tonnen Weizen verteilen und somit helfend eingreifen. Etwa seit Mitte 1946 gab es für die damalige Sowjetische Besatzungszone ein Abkommen mit Karlshorst, mit der sowjetischen Militäradministration, unter der Bedingung, gewisse Anteile der Spenden dem Roten Kreuz und karitativen Einrichtungen zuzuwenden, bevor die Mormonen und ihre Sympathisanten Hilfe erhielten. Das war ohnehin so gedacht. Hunderte Weizensäcke sind bis März 1949 durch meine Hände gegangen, tausende Lebensmitteldosen und sehr viel Kleidung und Schuhe. Mir ist nie der Gedanke gekommen, auch nur einen einzigen Spendengegenstand anders als vorgesehen zu verwenden. Sonderbarerweise bin ich auch nie bestohlen worden, jedenfalls habe ich es nicht bemerkt. Fast unglaublich, dass mir fremde Leute auf den Bahnsteigen halfen, meine sechs, sieben, häufig recht schweren, Pakete in den immer überfüllten Zügen unterzubringen. Bis auf eine Ausnahme fand ich stets Platz, obwohl noch immer, vor allem im Sommer, hunderte Reisende auf den Trittbrettern (ab 1947 nur noch selten auf den Dächern) der Waggons saßen. Zweimal wurde ich aufgrund meines einfachen Ausweises, der meine ehrenamtliche karitative Tätigkeit bescheinigte, sogar im Kommandantenzug zwischen Züssow und Stralsund mitgenommen.


Dieser von der Kirche ausgestellte mit vielen Stempeln versehene Reiseberechtigungsschein befindet sich in meinem Buch der Erinnerung.



So sah ich viele Großstädte wie Berlin und ihre schwarzen Trümmer. Es war depremierend Dresden und Prenzlau oder Neubrandenburg zu sehen. Trostlose Ruinenstädte.

Erst später lernte ich, dass uns Deutsche die Hand Gottes getroffen hatte und ich lernte, dass Nephi all das selbstverschuldete Elend vorausgesehen hatte. Es kam auch deshalb über uns, weil im Namen des Deutschen Volkes nicht nur das Judentum, sondern auch ihre Kulturträger ausgerottet werden sollten. Nephi stellt einige Fragen: „Wie danken sie (die Andern, die Nichtjuden) den Juden für die Bibel, die sie von ihnen empfangen? Ja, was meinen die Andern? Gedenken sie der Beschwernisse und der Mühsal und der Leiden der Juden und wie eifrig sie mir gegenüber gewesen sind, um den Andern die Errettung zu bringen? O ihr Andern, habt ihr der Juden gedacht, meines Bundesvolkes, in alter Zeit? Nein! Sondern ihr habt sie verflucht und gehasst und habt nicht danach getrachtet, sie zurückzugewinnen. Aber siehe, das alles werde ich auf euer Haupt vergelten; denn ich der Herr, habe mein Volk nicht vergessen. “ 2. Nephi 29, 4+5

Hat sich das nicht Wort für Wort an uns Deutschen erfüllt? Wurde uns nicht die deutschnationale Überheblichkeit und Judenfeindlichkeit mit buchstäblich grauenvoller Zerstörung aufs Haupt vergolten?



1948 sagte mein Vater mir - er war 1946 aus französischer Gefangenschaft krank heimgekehrt -, dass er in Norwegen und während der Gefangenschaft englisch gelernt hätte, mit der Absicht mit uns nach Amerika auszuwandern. Er hätte gemeint, er könnte uns Kindern damit am meisten dienen. “Denn hier werden die Russen ihren seelenlosen Kommunismus aufbauen, ob wir Deutschen das wollen oder nicht.” Aber nun sehe er ein, wie wichtig es ist, hier im Lande Gemeinden aufzubauen und mit möglichst vielen Menschen über Mormonismus zu sprechen. Ich selbst sollte deshalb nicht danach trachten, weit weg zu gehen. Wie schon früher ging mir, was mein Vater wünschte, zu Herzen, obwohl mir schien, ich könnte mein Glück nur in der weiten Welt finden.



Unglaublicherweise brachten die Kommunisten das Kunststück fertig ihre Idee schrittweise als akzeptabel darzustellen. Uns Mormonen konnte das nicht gelingen. Denn die Ersteren logen rigoros. Sie selber nannten es Propaganda. Da klebten im Frühling 1948 tausende bunte Plakaten an Hauswänden auf denen sie uns exakt das Gegenteil von dem sagten, was wir erlebt hatten. Da hieß es, dass die Sowjetarmee die moralisch höchststehende Truppe aller Zeiten sei. Jahrhundertelang hätten die Kapitalisten die Menschen ausgebeutet und in Kriege gehetzt, doch die Sowjetarmee wäre gekommen um diesem Schrecken ein Ende zu bereiten.

Wir knapp achtzehnjährigen bogen uns vor Lachen. Dennoch hing an der ungeheuren Tatsachenverdrehung ein winziges Stück Wahrheit. Nämlich, dass alle Menschen sich nach dauerhaftem Frieden sehnten. Darauf bauten sie nicht vergeblich. Für sie galten zwei Sätze: Frechheit siegt! Und: Steter Tropfen höhlt den Stein!



Kurioserweise wurde in der Zeit grausamster Familienzerstörung in der Sowjetunion, seitens ostdeutscher Intellektueller die Frage diskutiert, ob es im Kommunismus Stalins je eine Tragödie geben könnte.

Täglich verhafteten sowjetische Geheimdienstleute in allen größeren Orten Russlands unschuldige Menschen von den Straßen weg, die dann als Billigstarbeitskräfte eingesetzt wurden um schließlich in primitivsten Arbeitslagern Sibiriens zu krepieren.

Wie zu Zeiten der spanischen Inquisition ging es zu. Nur umfangreicher. Der Inhaftierte hatte seine Unschuld zu beweisen, nicht umgekehrt. Wir hörten von nun an immer wieder, dass es eine gesetzmäßige Aufwärtsentwicklung der Gesellschaft gibt. Indessen hatte sich die Sowjetunion faktisch eindeutig zu einem rohen Sklavenhaltersystem rückentwickelt.

Die uniformierten Jungen in der Roten Armee wurden wie Tiere dressiert und gehalten und selbst den seit Tolstois Zeiten freien Bauern degradierten sie zum Lohnempfänger auf niedrigstem Niveau.

Niemand in diesem Imperium durfte sich anders als im Sinne der kommunistischen Vordenker äußern. Tat er es doch, galt er sofort als “Klassenfeind” und daraus folgte: Feinde sind wie Feinde zu behandeln. Ich musste daran denken, dass Joseph Smith gesagt hatte, dass Satan ein ähnliches System befürwortete. Er wollte das Gute mit Gewalt durchsetzen und zu diesem Zweck den freien Willen des Menschen brechen.



Im April 1949 ging ich von Wolgast fort, um meine Lehre in einer Prenzlauer Baumschule zu beginnen. Die Walter-Krause-Familie die von Cottbus ebenfalls nach Prenzlau gezogen war nahm mich auf.

Zunächst kam ich mir, was die Arbeit betraf, wie ein Sklave vor.

Ich wünschte diesen Status so schnell wie möglich zu beenden.

Bis Mitte Juli dieses Jahres wohnten wir in den ehemaligen Artilleriekasernen Prenzlaus. Die Örtlichkeiten wurden nun vom Militär benötigt.

Dort hatten auch unsere kirchlichen Zusammenkünfte stattgefunden.

Ein knappes Jahr später hingen unter den Fenstern unserer Versammlungsräume jene roten mehr als zwanzig Meter langen Spruchbänder, die für unser Land, die DDR, längst typisch geworden waren. Ihr Text lautete: “Herzliche Kampfesgrüße unseren koreanischen Klassenbrüdern im Kampf gegen den US-Imperialismus!” Sie suggerierten, dass die fermöstliche Aggression von Südkorea ausgegangen war. Der friedliebende Norden sei das große, unschuldige Opfer.

Wir jungen Laute wurden kurze Zeit später von der SED-Kreisleitung eingeladen, die angeblich von den nordkoreanischen Befreiungskräften erbeuteten amerikanischen Dokumentarfilme anzusehen. Sie sollten uns überzeugen, dass die südkoreanische Marionettenregierung gemeinsam mit den räuberischen Amerikanern diesen Überfall auf Nordkorea von langer Hand geplant hatten. Betroffen saß ich im Kinosaal und fragte mich, wie das zusammenpasst. Der Überfallene dringt am ersten Tag als “Erwiderung” der Kampfhandlungen sechzig Kilometer ins Territorium des Angreifers ein? Aus vielen Gesprächen wussten wir, dass der eroberungssüchtige Hitler uns ähnliches glauben machen wollte. Wir kannten die Geschichte vom Sender Gleiwitz und waren uns darüber im klaren, dass es einer gewaltigen logistischen Vorarbeit bedarf auf breiter Front in ein anderes Land einzudringen.

Obwohl ich damals bereits mit der FDJ sympathisierte, fragte ich mich natürlich, wer der eigentliche Herr dieser Aktionen sein konnte. Es gab nur eine Antwort: Stalin.

Stalin war es, der niemanden freiließ, sobald er ihn gefangen genommen hatte. Erstaunt las ich im Buch Mormon die ganze Charakteristika dessen der nun wiederum hinter Typen wie diesem Stalin stand: “Ist das der Mann, der die Erde erzittern lassen und der die Königreiche erschüttert hat? Der das Haus seiner Gefangenen nie geöffnet hat.” 2. Ne. 24.

Diese meine kritische Grundhaltung sollte sich jedoch bald ändern.

Weil mich ein Agitator dazu einlud, besuchte ich gelegentlich Alltagsabends die FDJ Versammlungen, die mir von der Art her, wie die Siebzehn- bis Zwanzigjährigen miteinander umgingen, sofort zusagten.

Zudem gefielen mir die dort anwesenden hübschen Mädchen.

Schließlich übten sie damals noch Kritik und Selbstkritik. Es ähnelte dem was meine Kirche lehrte: Du musst an Deinem Charakter arbeiten, musst Dich ändern, kannst nie sagen, Du hast es geschafft. Menschen müssen sich zum Guten ändern wollen, sonst bessern sie die Welt nicht.

Zunächst wollte ich lediglich davon überzeugt sein, dass dies das Ziel der Freien Deutschen Jugend sein könnte. Damit fing mein Umdenken an. Stalin sah plötzlich gar nicht mehr so schwarzrot aus.

Sogar sonntags predigte ich allmählich auch davon.

Da erschien in unseren religiösen Zusammenkünften in Prenzlau ein Abschnittsbevollmächtigter der Volkspolizei. Nachdem er mich zweimal sprechen gehört hatte, bemerkte er, er würde nicht wiederkommen, das sei in Ordnung mit den Mormonen. Dabei war, was ich in meiner Ansprache sagte, nur meine sehr persönliche, aber bereits “rötlich” eingefärbte Meinung gewesen.

Mein Gemeindepräsident, Max Zander, der ebenfalls von Wolgast nach hier gezogen war und der zugleich mein Berufsschullehrer war, tolerierte sie. Ich war sein Ratgeber und da seitens der Kirche niemandem vorgeschrieben wird, was er sagt, wird nur dann eingegriffen, wenn jemand unübersehbar den Boden der Lehre des Mormonismus verlässt. Da die Lehre aber sehr weit gespannt ist, tritt dieser Fall praktisch nie ein, solange der Glaube an Gott und das gewissenhafte Einhalten seiner Gebote, so wie sie in der Bibel und im Buch Mormon niedergeschrieben stehen, gelehrt werden.

Ich hatte also in meinen Darlegungen freie Hand, vermied es nur, offen und laut über meine Zweifel nachzudenken, solange ich nicht zu einem festen Punkt gekommen war. Deshalb sprach ich in jenen Wochen, so genau wie es mir möglich war das aus, was ich dachte, nämlich dass die Verantwortung für den Fortschritt und Frieden in der Welt selbstverständlich jedes Menschen Pflichtteil ist. Die Menschheit kann keinen großen, weltumfassenden Frieden haben, wenn ich selbst in meiner kleinen Welt ungerecht und unehrlich bin. Dabei dachte ich auch an mich und die schwangere Tochter des erwähnten Polizisten, die mich reizte, da mein Chef und sein listiger Sohn sie und mich während der Erntezeit zusammen auf den Getreideschober beordert hatten. Wo wir beide allein gelassen jeweils auf die nächste Fuhre Korngarben zu warten hatten.

Sie wollten doch sehen, wie der “Mormonenpriester” sich bei solcher Gelegenheit benimmt. Richtigerweise gingen sie davon aus, dass alles, alles herauskommt.

Ich sagte mir jedoch, dass sie einem anderen Mann angehörte, wenn beiden auch noch das Jawort auf dem Standesamt fehlte.

Mir war nach solchen Situationen immer noch klarer bewusst als vorher, dass wir unter keinen Umständen das Recht haben, die große Gerechtigkeit einzufordern, solange wir das eigene kleine Richtigtun verweigern, nur weil unserer Leidenschaft danach zumute ist.

In meiner Ansprache sagte ich: Immer müssten wir den Vorteil des anderen im Auge haben und damit schließlich den Fortschritt der Gesellschaft, die höhere Gesellschaftsordnung. Was in den Ohren des Polizisten natürlich wie ein Bekenntnis zur DDR klang.



Das war natürlich auch, was alle Menschen, tief in sich selbst verwahrt wissen, mögen sie leben wo sie wollen. Das ist es, was das Buch Mormon lehrt und die Bibel aussagt: der kleine innere und der große äußere Friede sind die Folge einer Kette richtigen Handelns oder wie es im Klartext bei Jesaja heißt: Der Friede ist die Frucht der Gerechtigkeit. (32,17)



Einerseits klangen und schwangen in mir, noch, die süßen Töne des Evangeliums, andererseits lockte mich die Flöte des Rattenfängers lauter und betörender als je zuvor. Heftig ging das Widersprüchliche in mir hin und her.

Gewohnt mit Menschen und Ideen zu arbeiten wurde ich zum Kreisberufsschulaktivleiter gewählt, das heißt, ich wurde politisches Haupt der beruflichen Schule Prenzlaus, obwohl ich nie ein Hehl aus meiner religiösen Gesinnung machte.

So begann ich auf beiden Seiten zu hinken



In diesen Tagen traf ich unerwartet meinen Klassenkameraden Dieter Kavelmann. Er ging in der blauen Offiziersuniform, der kasernierten Volkspolizei, die praktisch eine Berufsarmee war. An seinem Arm hing ein sehr gut anzusehendes Mädchen. Über uns brauste einer der ersten sowjetischen Düsenjäger hinweg. Sie sollten das Kennzeichen der neuen Zeit werden. Ich schaute auf Dieters geflochtene, silbernen Litzen seiner Achselstücke. Trotz seiner erst einundzwanzig Lebensjahre war er schon zum Polizeirat befördert worden. Dieter durchschaute mich. Er sprach mich sofort auf meine Zwangsjacke an, in der ich, als Baumschulistenlehrling steckte. Ich wünschte tatsächlich immer noch nichts sehnlicher als sie mir vom Leib zu reißen. Er war ein anerkannter Mann und ich das Schlusslicht eines Unternehmen, das ich mehr als meine eigenen Schwächen hasste. Er erkannte sofort, dass ich mir nur aus eingebildeter Moral nicht zutraute, die Bindung zu meinem Lehrherrn zu zerreißen. Der kluge Dieter K. lachte. Er sah nicht nur glücklich aus, er war es.

Er wusste um meine religiöse Einstellung, die er allerdings geringschätzig für eine Illusion hielt. “Komm zu uns", sagte er, “Du hast doch, genau wie ich, vormilitärische Ausbildung. Wir suchen neue Kader.” Es klang mir wie Musik in den Ohren: junge, klare Köpfe für eine junge, klare Ideologie. Er malte mir sein Bild in leuchtenden Farben. Jetzt erhielte ich dürftige fünfzig Mark, aber wenn ich zu ihm käme, dann würde ich bald zum Offizier befördert werden und wäre der Willkür meines Ausbeuters entronnen! Dabei schaute er auf die schlanke Blondine herunter. “In sechs Wochen hast Du monatlich achthundert Mark auf der Hand und bist wer. Reden kannst Du, gute Figur machst Du auch.” Sein Mädchen strahlte.

Ich spürte, wie ich rot vor Scham und Verlangen wurde.

Nur ein kleiner Handgriff zum Füllhalter und der irdische Himmel wäre erobert. Es hielt mich jedoch eine Frage zurück: Ob ich nicht wüsste wer dann mein neuer Herr sein würde?

- Nein! -

Was ist los mit Dir, warum zögerst du?” fragte Dieter. Ich schüttelte den Kopf. Etwas Falsches lügt niemand zurecht, auch nicht in bestdenkbarer Absicht. Was uns aus den Irr- und Wirrnissen eines unerträglichen Auf und Ab erretten kann, ist einzig der Wille zur unaufhörlichen Suche nach der Wahrheit.

Ich sah im Geist wieder deutlicher, sah bewusster die dunklen Umrisse Stalins und den kalten Ausdruck seines von so vielen Veröffentlichungen bekannten Gesichtes. Diejenigen die auf diesen Massenmörder hereingefallen waren, wollten mich mit der Farbe des Lebens ködern.

Es waren eben nicht, wie frech behauptet wurde, die werktätigen Massen, die solchen Menschen wie Dieter den Kampf- und Verteidigungsauftrag erteilten. Eines einzigen Mannes Wille zur Weltherrschaft war die Feder dieser Uhr, nach der auch ein Dieter Kavelmann ging und sich ausrichtete, die den Rhythmus seines Alltages bestimmte. Ich wusste, dass es falsch wäre, diese schicke Uniform anzuziehen. Ich wusste, dass ich nicht leben durfte wie er, weil ich zu einer Erkenntnis gelangt war, die es mir untersagte, in irgendeiner Hinsicht leichtfertig zu sein.

Mensch, Gerd! Ich sage Dir, es gibt keinen Gott! Wir müssen unser Leben in die eigenen Hände nehmen. Wovor hast Du Angst? Es ist eben eine neue Zeit. Wirf Deine Bedenken über Bord! Lebe!” Er verzog die Mundwinkel.

Wir sollten uns nie wieder sehen.

Ich blieb in meiner ungeliebten Prenzlauer Baumschule wie ein Knecht auf Zeit, der die Resttage nur lustlos herunterdiente.

Um zu studieren, fehlte mir das Abitur. Es nachzuholen fehlte mir die Zeit, wie ich meinte. Zur Arbeiter-und Bauernfakultät überzusiedeln, mangelte mir die rechte Gesinnung. Ich deutete meine Situation als Selbsttest: Wenn du noch ein Jahr lang durchhältst, dann bestehst du auch alle anderen Prüfungen. Das war der Punkt, auf den es mir ankam. Mein Fernziel war, bestehen zu können. Das war mir wichtiger als der ganze im Grunde für mich unnötige Berufsabschluss. Das war es, was meine Kirche lehrte, das Wichtigste ist die Bildung Deines Charakters. Du musst es lernen, mit seelischen Belastungen zu leben.

Selbst wenn ich auf ehrenhafte Weise alles Belastende abwerfen könnte, von meinen Aufgaben in der Kirche wünschte ich mich auf keinen Fall zu trennen. Diese Bürde war mir wertvoll.

Als ich das dachte, kamen mir plötzlich ganz großartige Gedanken in den Kopf: Du weißt eben etwas, das die meisten Menschen wie Dieter nie kennen gelernt haben. Du weißt um die Realität der Macht des Heiligen Geistes, du weißt, dass ...

Unerwartet überrieselte mich ein Strom aus Liebe und Intelligenz, der mich beglückte und der mir wortlos und zugleich im Wortsinn bestätigte: Joseph Smith ist ein Prophet Gottes! Und du, Gerd, weißt, dass da ein Gott und seine Macht zur Freude ist ... Es erhob mich augenblicklich aus dem Staub in den Himmel.

Das war es, was der Opernchor so hingebungsvoll am Silvesterabend im Schweriner Konzertsaal gesungen hatte: “Brüder, überm Sternenzelt muss ein lieber Vater wohnen. Freude, Freude trinken alle Wesen ... Alle Menschen werden Brüder, wo dein sanfter Flügel weilt. Alle Menschen, alle Menschen.” Für einige Sekunden war der Flügel der Freude über mir gewesen und hatte mich getröstet. Brüder überm Sternenzelt muss ein lieber Vater wohnen.

Ein Vater! Mein Vater!

Ich war danach monatelang ohne Zweifel gewiss, Sohn und Kind eines großen und ewigen Gottes zu sein. Das bedeutete, ich entstamme wirklich, und nicht nur in meiner Einbildung, dem größten und vornehmsten aller Königshäuser, die es je gegeben. Demgemäß hatte ich mich würdig zu benehmen und meinen Blick nicht so sehr depressiv auf die Alltagsschwierigkeiten zu richten, sondern auf meine Zukunftsaufgabe unsere Glaubensposition nach innen und nach außen zu verteidigen. Das stand fest.! Es war meine Pflicht, zum Wachstum meiner Kirche beizutragen, die eine gerechte Gesellschaftsordnung in diese Welt bringen wird.

Nichts könnte mich von nun an noch umwerfen, meinte ich.

Aber das war ein Irrtum. Denn die guten und erhabenen Gedanken und Gefühle bleiben nicht bei uns. Sehr schnell fliehen sie vor dem ersten Anzeichen von leichtfertigem Vorteilsdenken oder Zweifel. Selbst die für richtig erkannten Grundsätze sind schließlich auch nur Gedanken und Geist, die, wenn wir nicht wachsam sind, vom ersten besten Lüftlein aus anderer Richtung für immer beiseite gefegt werden können.

Nur kurze Zeit später wollte mich der Zeitgeist energisch mit sich reißen. Es war der Geist des Jahres der Weltfestspiele der Jugend und Studenten, 1951. Er kam zunächst einlullend wie ein milder Sommerwind.

Die FDJler sangen:“Im August, im August wenn die Rosen blühen!”

Zuerst zögernd, nahm ich schließlich die Einladung an nach Berlin zu fahren. Ich ahnte nicht im Mindesten, dass es die bis dahin weltgrößte Sexparty werden sollte.

Wir reisten in Güterwagen. Sie waren mit Stroh und primitiven Holzbänken ausgestattet worden.

In Berlin angekommen, hatten wir einen langen Fußmarsch vor uns. Immer wieder stoppte unsere Marschkolonne, aus der ich bald ausscherte. Da saß mitten auf dem grauen Bürgersteig ein Dreißiger in einem Blauhemd der FDJ. Ich kannte ihn Das war der Prenzlauer Baptistenprediger! Ihm war, bei der drückenden Schwüle der Witterung, wahrscheinlich vom vielen Umherrennen schlecht geworden. Bleich hockte er auf dem grauen Straßenpflaster und stöhnte. Junge Leute umrundeten ihn, ohne mehr als flüchtige Notiz von ihm zu nehmen. Ich ging auf ihn zu, sprach ihn an. Wir betrachteten einander verwundert. Was suchst du hier, dachte ich. Du passt hier doch nicht her. Bist du übergelaufen zu den Atheisten? Wenn du wüsstest, was du für ein Bild abgibst.

Möglicherweise dachte er dieselben Fragen an meine Adresse. “Ein Mormone bei den Kommunisten?”

Ich will nur studieren und sehen, dann urteile ich! rechtfertigte ich mich vor mir selber. Aber tatsächlich zog mich die “rote” Welt in jenen Stunden stärker denn je zuvor an. Mir schien, dass Mormonismus in diesem Teil der Erde niemals ähnliche Bedeutung erlangen würde.

Die blauen Hemden waren die Farbtupfer in dieser völlig grauen Stadt, in der immer noch die Trümmerflächen dominierten.

Nie zuvor erschien mir die Welt der Kommunisten so leicht und frei. Begeistert hörte ich im Friedrichstadtpalast von Swjatoslaw Richter gespielt, das wunderbare Klavierkonzert Nr. 1 in b-moll von Peter Tschaikowski. Die Tonflut riss uns alle mit sich. Mit den Tausenden in ihren Blauhemden fiel ich begeistert ins rhythmische Klatschen ein. Mit ihnen zog ich von einem Estradenkonzert zum anderen….

In der Nähe einer matt leuchtenden gusseisernen Straßenlaterne, die alle Bombennächte rings um den Alexanderplatz überlebt hatte, blieb ich gegen Mitternacht dieses Sonnabends mit einem Mädchen stehen, das ich kennen gelernt hatte. Dahinter befanden sich die Ruinen des Vorderhauses von Mehnerstraße 9, in dessen mehrstöckigen Seitenbau meine Tante wohnte. Ich sah des Mädchens feines Gesicht mit ihrem schönen goldschimmernden Haar. Kein Maler hatte je solches Bild vor diesem Hintergrund gesehen.

Zwischen den schweren, schwarzen Ziegelfragmenten hing noch der Brandgeruch längst vergangener Nächte des Schreckens. Darüber wölbte sich ein klarer Himmel. Ich sah im Geist die beiden gelähmten alten Damen, die jahrelang bei jedem Luftangriff unter den Esszimmertisch gekrochen waren, und die Gott jedes Mal darum gebeten hatten, beschützt zu werden. Hatten sie es bewirkt, dass dieser Hausteil noch immer dastand? Oder war es lediglich ein glücklicher Zufall gewesen? Keine Szene ist vergessen, nichts, solange Mitmenschen aneinander Interesse finden. In mir belebten sich die alten Bilder von Menschenkindern, die ich nie gesehen, um deren Lebenskampf ich aber wusste.

Nimm mich mit auf Deine Stube!” hörte ich sie flüstern und musste nun büßen, dass ich das Abenteuer vorsätzlich gesucht hatte. Wir waren zwei Stunden lang an zahllosen Liebespärchen vorbei gegangen. Was lag nun ferner als mein Verzicht? Aber ich war doch ein Mormone! Ich trug kein Blauhemd, trug mich eigentlich nicht mit den allgemein üblich gewordenen Gedanken aller anderen…. Entweder gab ich der Versuchung nach oder ich ging am nächsten Tag zur Kirche. Kurz und heftig focht ich es mit mir aus.

Am Morgen saß ich, nach einer Irrfahrt über den Potsdamer Platz, wo mich FDJ Kontrollposten nötigten, den S-Bahnzug zu verlassen weshalb ich einen weiten Umweg nehmen musste, in Westberlin, in Dahlem, in der nagelneuen “Mormonen”kapelle.

Ich hatte das FDJ-Abzeichen das ich seit Monaten auf dem Revers meines Alltagsjacketts trug nicht abgenommen. Ich demonstrierte damit woher ich kam.



Vorn auf dem Podium saß auch ein freundlicher, junger Amerikaner. Er schaute mich an. Ich war sicher, dass er mich meinte. Er lächelte. Es war das schönste, aufmunterndste Lächeln, das ich jemals von einem Mann erhalten sollte. Wahrscheinlich stand mir der Kummer und die noch andauernde Qual innerer Zerrissenheit deutlich ins Gesicht geschrieben, nachdem ich mich am Vorabend vor dem Mädchen bekannt, mich entschuldigt und dann mit Gewalt losgerissen hatte, um allein davon zu gehen, weil ich nicht gegen meine Erkenntnis sündigen wollte.

Und nun saß ich da, in der von freundlichen Menschen gefüllten Kapelle, wie ein Kind, das lange, lange nicht zu Hause gewesen war, dem alles so vertraut und fremd zugleich vorkam.

Während der Klassenzeit habe ich viel gesprochen, viel Unsinn. Es ging um eine Passage aus der Bergpredigt Christi, aber mir ging es in der Tat nur um mich selber, ob es für mich eine Wahrheit gibt, die mich aus meinen widrigen Umständen erlösen könnte.

Nach dem Ende der morgendlichen Sonntagschule an diesem Augustmorgen des Jahres 51, kamen von der Straße zwei ältliche Damen herein. Gut und hell gekleidet gingen sie, begleitet von zwei Missionaren, die ihnen den großen Raum zeigten. Damals hingen in der Dahlemer Kapelle noch die schönen Gemälde Richard Burdes, eines Dresdener Mormonen, die im klassizistischen Stil Szenen aus Jesu Leben zeigten. Sie erinnerten mich ein wenig an den Jesus des Wolgaster Malers Stolp, ein uns stets ausforschendes Gesicht, prüfende Augen, voller Mitgefühl für unsere Beschwerden und Kümmernisse, die wir uns immer wieder selbst bereiten, durch unser Verlangen, alles haben zu wollen, auch das, was nicht gut für unsere Seele ist.

Ich hatte eigentlich nicht zuhören wollen, wurde aber durch die Art, wie die beiden Missionare über die erste Vision Joseph Smiths sprachen, magisch angezogen.

Der 14jährige Joseph sei in den Wald gegangen, hätte sich unter den mächtigen Buchenstämmen niedergebeugt um von Gott eine Antwort auf eine wichtige Frage zu erbitten. (Ohne zu ahnen, dass er nur vergessen hatte, was er in der Präexistenz bereits wusste, nämlich dass er vor Grundlegung der Mutter Erde, vielleicht sogar vor dem Urknall, unter den Händen des intelligentesten Geistwesen, Christus, vorordiniert worden war, die letzte Evangeliumsdispensation zu eröffnen, und zwar damals in einer anders beschaffenen Welt, deren physische Beschaffenheit wir derzeit nicht erkennen, in einem Raum und unter Verhältnissen, in dem Zeit anders läuft und empfunden wird, als wir es jetzt gewohnt sind.)

Es war nicht so sehr das was die jungen Männer sagten, sondern wie sie es von sich gaben. Sie beeindruckten mich tief. Da war auch nicht der leiseste Anflug von Fanatismus, keinerlei Frömmelei. Schlicht und anschaulich stellte der erzählende Missionar die Szene dar, als der kniende Joseph die zerstörende Macht fühlte plötzlich aber über sich, in der Luft stehend, zwei Lichtgestalten sah.

Dies ist mein geliebter Sohn, höre ihn.”

War dies das große von alten Aposteln so oft herbeigesehnte Ereignis der Wiederkunft Christi, um das im Verlaufe der Jahrtausende pervertierte Reich Gottes erneut aufzurichten? Oder war es nur erst das Vorspiel dazu? Denn das hatte Jesus ja verheißen, dass er zurückkehren würde.

Unbeschreiblich groß muss das Erstaunen des Knaben Joseph Smith gewesen sein, denn was er erwartet hatte war, vielleicht eine Stimme zu hören, oder eine Wolke zu sehen, jedenfalls nicht Gestalten wie Menschen, nicht zwei Götter. Was er sah, entsprach keineswegs den Lehren der Kirchen und ihrer Geistlichkeit. Ihre Lehre war immer gewesen: Gott ist Geist, ein einziger Geist, in dem drei sind. (Was man sich darunter vorstellen kann, weiß ich nicht. Aber was will das schon besagen, dass ich es nicht begriff, Goethe konnte es auch nicht. Er schrieb dazu das Hexeneinmalseins.)

Auf Joseph Smiths Frage, die er schließlich irgendwie vorbrachte, welcher der bestehenden Gemeinschaften er sich anschließen solle, wurde dem Knaben Joseph Smith geantwortet: Er möge warten, bis er mehr Licht erhält. Und, sinngemäß: Die Institutionen Kirchen seien allesamt verdorben und ihre Lehren falsch. Ein Urteil, das einem Menschenmund natürlich nicht zusteht! Aber wenn Gott es sagt ...

Mir kam es so vor, als hätte ich die bekannte Geschichte noch nie so vertraut und so glaubhaft nahe empfunden. Mir schien, sie sei nur für mich erzählt worden. Dass der große Gottvater und sein Sohn Jesus Christus Lichtwesen waren und in einer Lichtsäule standen, konnte ich mir bildhaft vorstellen. Dass sie buchstäblich in die Welt- und Menschengeschichte eingriffen war nur wünschenswert. Auch wenn dieser Eingriff wesentlich anders ablief als sich der gesamte Stand kluger Theologen das hätte ausmalen können.

Ich dachte: dass es dem Knaben Joseph Smith nicht anders erging, als den verschiedenen Propheten Israels. Gott berief sie überraschend und fast immer entgegen ihren eigenen Absichten sowie als Gegenpol zu den geistigen Autoritäten ihrer Zeit. Sie wurden immer abgelehnt, sowohl von der religiös engagierten Elite, wie von der Masse. Ich liebte Joseph Smith wegen seines Mutes, den er als Gejagter sein Leben lang unter Beweis gestellt hatte und wegen des Geistes den er erkennen ließ.

Seitdem ich den Bericht davon auf dem Hausboden meines Vaters gelesen, vermochte ich es immer zu glauben, auch wenn ich in letzter Zeit gewisse Bedenken gehegt hatte. Das machte der auf mich einstürmende Marxismus. Ich musste mich mit ihm auseinandersetzen, denn ich musste mit ihm leben.



Sowohl die Atmosphäre welche die beiden jungen Elders verbreiteten als auch diese so oft gehörte Botschaft richteten mich völlig auf. Sie bewirkten, dass ich plötzlich froh war, am Vorabend dem wilden Ansturm meiner Gefühle standgehalten zu haben. Ich war dankbar und bescheiden zugleich, denn es hatte nur wenig gefehlt und mein Leichtsinn hätte mich Seiltänzer zu Boden geworfen. Unweigerlich wäre mir das Rückgrat angebrochen worden. Ich war nun einmal ich und vielleicht zerbrechlicher als viele andere. Oder ich wäre in ein Netzgeflecht neuer Gefühle und Empfinden gestürzt und hätte mich da verwickelt, hätte mich aus Enttäuschung über mich selbst aufgegeben, hätte nicht mehr gekämpft, sondern mich der Lust der Leidenschaft ergeben. Wie nicht wenige vor mir hätte ich mich verstrickt und dabei meine kostbare Freiheit verloren.

Als die Damen davongingen, trat ich an die beiden Missionare heran. Sie waren ebenso alt wie ich. Ob sie mich verstehen würden, wenn ich ihnen erklärte, in welchem Zwiespalt ich mich in letzter Zeit infolge anscheinender Nichtbewältigung marxistischer Ideen befand? Einerseits stand ich nach wie vor auf dem Boden der Grundwahrheiten des Mormonismus, andererseits, bekümmerte mich, dass die Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage zu schwach war, um die dringendlichsten weltweit anstehenden Probleme um Frieden und Gerechtigkeit zu lösen. Deshalb hinkte ich…

Sie würden gern mit mir reden, sagten sie. Wir verabredeten uns für den späten Nachmittag zu einem Gespräch in ihrer Wohnung am Breitenbachplatz.

Es wurde eine wunderbare Zeit.



Drei Monate später gehörte ich zu den vierhundert Lehrgangsteilnehmern eines Einjahreskurses für künftige Berufsschullehrer in der Universitätsstadt Greifswald. Vierhundert eingeschriebene Hörer mehrerer Fachgruppen wollten schnell Lehrer werden. Die SED wünschte ihren eigenen Lehrertyp herauszubringen. Mit einer Eins im Abschluss meiner Berufsausbildung als Baumschulist brachte ich die Minimalvoraussetzungen mit.

Die wenigen Monate bis Weihnachten kamen mir wie Tage vor. Alltags war ich Marxist, sonntags Mormone. Zunächst konnte ich damit ganz gut leben. Endlich hatte ich Zeit, zu lernen. Statt wie in den Jahren zuvor, die Obstbaumquartiere mit Rodehacke oder Wuchtspaten zu lichten und mich bei dem nassen Wetter auf dem Lehmacker zu schinden, um meinen Chef noch reicher zu machen als er ohnehin geworden war, - wie ich damals glaubte - machte ich hier keinen Finger krumm. Mit Vergnügen hörte ich mich in den Lehrstoff hinein. Meine Vorliebe für politische Ökonomie, machte mich vom Kopf her noch mehr geneigt, den Kommunisten wenigstens partiell zu glauben.

Doch dann kam jene sonderbare Kirchenversammlung im Spätherbst. Wir hielten damals, 1951, unsere von sechs, sieben Mitgliedern besuchten sonntäglichen Zusammenkünfte in Greifswald im Vereinszimmer einer Gaststätte ab. Leider war uns dieser kleine, noch einigermaßen geeignete, wenn auch ständig von kaltem Rauch- und Alkoholdunst geschwängerte Raum schon gekündigt worden. Wir hatten ihn, wenn auch zu unterschiedlichen Zeiten, gemeinsam mit den kurze Zeit später verbotenen “Zeugen Jehovas”, genutzt. Wegen der Fülle neuer Studenten wurde seitens der Stadtverwaltung jeder auch nur einigermaßen bewohnbare Schlafraum angemietet.

Wir mussten deshalb vorübergehend mit der eigentlichen Kneipe, die sonntags geschlossen war, vorlieb nehmen. Im Vereinsraum hausten jetzt einige Teilnehmer unseres Lehrganges und konnten, wenn sie wollten, jedes unserer Worte mithören. Es trennte uns nur eine Schiebetür von wenigen Millimeter Stärke. So erfuhren sie, dass ich, ihr Mitstudent, ein “Mormonenpriester” war. Nun saßen wir noch ungemütlicher, noch unbequemer, noch viel unpassender zwischen Theke und Stammtisch in der Abendmahlsversammlung. An jenem Tag sprach Arnold Riemer vor mir. Außer mir war er das einzige erwachsene, männliche, aktive Greifswalder Mitglied. Ein Malergeselle von Beruf. Er sprach über Ammon im Buch Mormon, wie der zu Lamoni sagte: “... ich bin von Gottes heiligem Geist berufen ... damit dieses Volk lernt, zur Erkenntnis der Dinge zu gelangen, die gerecht und wahr sind und ein Teil dieses Geistes wohnt in mir und der gibt mir Kenntnis und Macht, je nach meinen Wünschen und meinem Glauben an Gott. “ Alma 18,34.

Arno sprach perfekt. Wie ein Künstler spielte er auf unseren inneren Saiten eine feine Melodie. Je länger ich ihm zuhörte, um so mehr wünschte ich selbst “gerecht und wahr” zu sein. Es war eine der Ansprachen, in der Redner und Hörer die Zeit vergessen. Der eigentlich ungeübte Sprecher schlug uns in den Bann. Wir hingen an seinem Mund. Wir vergaßen Bierdunst und Kneipenhähne. Denn wir begriffen, wie sehr aus der Umkehrung der beiden Begriffe Recht und Wahrheit ihr eigentlicher Wert hervorging. Denn eine Welt der Ungerechtigkeit und der Lüge wäre nichts anderes als eine höllische Realität.

Zwei oder drei Tage später, im Dezember 1951, kam der weithin bekannte Schweriner Domprediger Karl Kleinschmidt zu uns ins Institut und hielt einen widerspruchsvollen Vortrag. Auch er wollte, wie ich es zuvor versucht hatte, Feuer und Wasser miteinander verbinden. Energisch bemühte er sich, den Eindruck von der Machbarkeit des Unmöglichen zu erwecken. Wir sahen, wie es in seinem mächtigen Kopf arbeitete. Protestant Karl Kleinschmidt erzählte in seiner Rede, dass er bei einem seiner Pastoralbesuche auf einen achtzigjährigen Jubilar stieß, der ihm freimütig bekannte: “Ach Gott, Herr Pastor! Da kommen sie zum falschen Mann! Schon vor mehr als zwanzig Jahren bin ich aus der evangelischen Kirche ausgetreten! Ich bin ein Kommunist.”

Na, dann bin ich zu Dir eben als Genosse gekommen! Gratulation! Du bist nicht der falsche, Du bist der richtige Mann!” Die Grobschlächtigkeit, mit welcher der sonderbare Pastor uns bearbeitete, missfiel nicht nur mir. Nach seinem temperamentvollen Werben für den Geist der neuen Zeit stellte ihm einer der etwa dreihundert Anwesenden eine Frage. Ob er als fortschrittlicher Pastor zulassen könne, dass Säuglinge getauft und somit zwangschristianisiert würden. Ich befand mich auf der Galerie des zum Institut gehörenden Gebäudes Stralsunder Straße 1 und konnte Karl Kleinschmidt gut beobachten. Ich meinte, nun stürzt er ab. Auf diesen Angriff sei er nicht gefasst. Aber in dem großflächigen Gesicht war auch nicht die Spur von Verlegenheit erkennbar. Er zögerte keine Sekunde. Obwohl die Berechtigung des Vorwurfes jedem einleuchtete, wandte sich der etwa fünfzigjährige Geistliche ungerührt und direkt an den Fragesteller: “Genosse! Wenn Du jetzt heiratest, dann werden Deine Kinder selbstverständlich DDR-Bürger sein. Oder etwa nicht? Ist das eine Vergewaltigung ihres freien Willens? Nein? Dann ist es das Hineingeborenwerden in die Kirche auch nicht. Gewisse Vorrechte erhält man eben durch Geburt.” Er erhielt viel Beifall für diese kesse Ausrede. Seine Schlagfertigkeit verblüffte uns. So einfach war die Antwort, die, wie jeder wusste, nicht stimmte. Aber sie war gut genug, den Druck der aus dem Augenblick heraus geboren worden war, gegen Null zu reduzieren. Hundertundeine Nachfrage hätten folgen müssen. Karl Kleinschmidt fuhr in diesem Stil fort. Seine fest wirkenden Züge, seine breite Stirn, sein Anspruch erwiesen seinen Willen, unbedingt sein Geltungsbedürfnis zu befriedigen. Er wünschte zu den ersten Männern des Landes zu gehören. Es reichte ihm nicht aus, nur ein Domprediger zu sein. Es ging ihm, wie mir schien, um Zuwachs an Macht und Sicherheit. Ungewollt hielt er mir einen Spiegel vor, in den wir beide gemeinsam hinein schauten. Mich sah er nicht. Dafür sah ich ihn um so deutlicher. Dieser Mann war kein Pastor. Auf seinen Glauben an Gott fand sich in seiner Rede kein Hinweis. Als Präsidiumsmitglied des Deutschen Kulturbundes war er zu uns gekommen und trat vor uns als Gesinnungsgenosse Walter Ulbrichts und als Freund von Johannes R. Becher auf. Sein einziges Ziel war, uns auf DDR-Linie zu trimmen.

Nachdem Herr Kleinschmidt mir den gottlosen Sozialismus gepredigt hatte, wusste ich, was ich tun würde.

Bei der nächsten Vorlesung, in der Unwahres gesagt und Unzumutbares gefordert wurde, verweigerte ich meinen Beifall. Dozent Kirchberg hatte über Gorkis berühmten Roman “Die Mutter” gesprochen und als Schlussfolgerung seiner Vorlesung gefordert, dass es unsere Pflicht sei, aus Verantwortungsbewusstsein und Liebe zur DDR, die Leute anzuzeigen, die sich auffällig gegen “unseren” Staat stemmten. Ich saß vorn in der ersten Reihe. Als er seinen rhetorisch brillanten Vortrag beendet hatte, gab ich weder mit den Knöcheln meiner Hand, noch mit den abgewetzten Sohlen meiner billigen Halbschuhe Beifall. Der dreißigjährige, gutaussehende Kirchberg sah mich reglos dasitzen. Er sprach mich sofort an, stellte mich mit mehreren Fragen zur Rede. Ich sagte ihm ohne Umschweife, und ohne in diesem Augenblick Rücksicht auf meine berufliche Entwicklung zu nehmen, was ich dachte. Mit seinen einsfünfundachtzig überragte er mich bei weitem, nicht nur körperlich. Vor allem die Mädchen hielten ihn für einen Mann von ungewöhnlicher Intelligenz. Er fühlte sich mir haushoch überlegen. Eigentlich war er nicht der Typ des grimmigen Einpeitschers. Er wirkte eher gewinnend, sah aus wie ein Lord und wusste das. Der eitle Mann wollte wissen, was der wahre Grund meiner Beifallsverweigerung sei.

Weil ich Ihre Auffassung nicht teile. Meiner Überzeugung nach ist es gleich, ob ihn ein Brauner oder ein Roter verübt, Verrat bleibt Verrat.”

Da ich kein Aufsehen erregen wollte, gab ich die Antwort leise. Er aber fuhr hoch: “Das ist eine Grundsatzfrage! Wir sind für unsere Republik selbst verantwortlich. Feinde haben wir mehr als genug. Wollen Sie sich etwa auf die andere Seite schlagen? “

Er hämmerte drauf zu, wahrscheinlich fühlte er sich beobachtet und fürchtete durch mich, möglichen Zuhörern unseres Gespräches eventuell in einem falschen Licht erscheinen zu können: “Das Proletariat stellt jetzt die Frage, wer wen. Zeigen Sie durch Ihr Verhalten, wo Sie hingehören. In unserem Staat muss schließlich jeder Farbe bekennen. Wer gegen Rot ist, kriegt die Faust der Arbeiterklasse zu spüren.” Solche derbgezimmerte Rede passte nicht zu ihm. Sein feines Gesicht war nicht mit den rauen Zügen des Parteisekretärs Stanke zu vergleichen, dem er den Ton abgelauscht haben mochte. Kirchbergs harte Entschiedenheit war offensichtlich von künstlicher Art. Zu gern hätte ich gewusst, was er sechs Jahre zuvor geredet und getan, und wie er die Kurve von den Nazis weg zu den Roten genommen hatte. Ich kannte sie. Einige hatten uns noch drei Tage vor dem Einmarsch der Roten Armee, als sie noch HJ Führer waren, eingebläut, wir müssten Hitler total vertrauen und jeden, jeden Befehl bedingungslos ausführen, selbst wenn es unser Leben kosten sollte. Für Hitler lohne es sich zu sterben. Zum Gerassel beschwörenden Trommelwirbels ließen sie uns, noch im März 45, unter dem Abbrennen riesiger Holzstöße, bei den Göttern Walhallas geloben, unser Leben einzusetzen für den Endsieg Deutschlands. Aber nur wenige Wochen später liebäugelten dieselben leichtfertigen Bengel ebenso entschieden mit den neuen, total entgegengesetzten Möglichkeiten, um Karriere zu machen.

Ich fragte mich, ob auch Dozent Kirchberg schon daran gedacht hatte, sich irgendwann, falls er sich einmal über seine Mitgenossen geärgert haben mochte, klammheimlich in den Westen abzusetzen. Man bestieg einfach den Zug, schlief kurz vor Berlin ein und ging dann vom Ostbahnhof aus ein paar Schritte zu Fuß. So einfach war das, vor 1961, von der einen Welt in die völlig andere, reichere zu gelangen.

Er erwiderte, wenn auch nicht laut: “Sie sind ja gemeingefährlich!” Ich war gefährlich. Ich wusste, dass sie alle, genauso wie ich, ihre Zweifel hegten. Er sagte: “Sie sind doch klug genug, um zu wissen, dass es kein Zurück mehr gibt.”

Das war der Punkt. Die Logik ließ, in der Tat, keinen anderen Schluss zu. Nachdem die Russen mit ihrer Militärmaschinerie auf unserem Territorium standen, hieß es gehorsam zu sein oder zu leiden. Durchdringend schaute er mich an: “Übrigens, wer meint, sich kirchlich engagieren zu müssen, hat an unserem Institut selbstverständlich keine Bleibe.” Hatte er nur auf den Busch geklopft? “Ich bin Mormone!” bekannte ich. Er schaute mich durchdringend an. Er hatte es gewusst. Meine Gedanken fanden keinen Ruhepunkt mehr. Wenn das so war, dass sie von mir verlangten, Farbe zu bekennen, dann musste ich es schnell klären. Definitiv? Vor dieser Konsequenz schrak ich zurück. Ich wollte mir doch nicht meinen Lebensweg verbauen.

Vielleicht sah er mir in etwa an, was ich über Leute wie ihn dachte.

Ich erinnerte mich wieder der roten Spruchbänder, die im Herbst 1950 wochenlang unter den Prenzlauer Kasernenfenstern, in der Alsenstraße, hingen: “Herzliche Kampfesgrüße unseren koreanischen Klassenbrüdern im Kampf gegen den US-Imperialismus!”

Am Tage darauf fasste ich den Entschluss, vom Institut wegzugehen. Das war meine Pflicht.

Als ich Herrn Kirchberg das mitteilte, war er ehrlich erschrocken. Seinem Mienenspiel sah ich an, dass er das nicht gewollt hatte. Meine Wahl schien ihm dermaßen widernatürlich zu sein, dass er mich augenblicklich aufforderte, die vielen für ihn offenen Fragen auszudiskutieren. Solange nehme er meine Reaktion und meine Kündigung nicht zur Kenntnis. Offensichtlich hatte er erwartet, dass ich seine Bemerkungen an jenem Vorlesungstag lediglich als freundschaftliche Ermutigung verstehen würde, den Sprung in die neue Zeit hinein zu wagen, nämlich mich über “religiösen Jux” hinwegzusetzen.

Auf sein Gesprächsangebot ging ich selbstverständlich ein. Auch das überraschte ihn.

Vier oder fünf Abende redeten wir im Stalinzimmer des Instituts miteinander, er, Roderich Schmidt, der Direktor, und ich. Manchmal war auch Stanke, der Parteisekretär, dabei. Sie wollten nicht, dass ich das Institut aus meinen Gründen verließ. Sie versuchten, meinen Glauben an Gott zu erschüttern und argumentierten scharf; doch was mich selbst betraf, waren sie im wesentlichen gutwillig. Sie wollten mich gewinnen. Als stark erwiesen sie sich in der Argumentation gegen die verhängnisvollen Rollenspiele der Großkirchen. Aber ihre Beweisversuche gegen die Existenz Gottes waren mehr als naiv. Sie konnten auch nicht begreifen, dass sie meinen Standpunkt durch ihre Auflistung der kirchlichen Verbrechen nicht im Geringsten erschüttern konnten. Das war natürlich ihr Ziel. Soviel Hintergrundwissen besaßen sie nicht, um verstehen zu können, dass jemand ja gerade deshalb bewusst Mormone war, weil er die gesamte Geschichte und Entwicklung des Christentums - nach dem Beginn des vierten Jahrhundert - für entschieden verfehlt erkannt hatte. Auf dieser Basis stand Mormonismus und aus eben diesem Grund hassten und hassen die meisten Christen die nicht in ihrer Traditionsreihe stehenden Mormonen. Es war und ist die Andersartigkeit, die sie ablehnten, nicht so sehr das Substantielle des Mormonismus, das sie nicht erkannten.

Am vorletzten Abend unserer fast einwöchigen Auseinandersetzung erschien der Parteisekretär Stanke als Pope verkleidet zum Gespräch. Das war dem geistreicheren Kirchberg peinlich. Stanke wünschte, ich solle unbedingt begreifen, dass die Allianz von Thron und Altar Ursache fast aller Kriege im Europa der letzten eintausendfünfhundert Jahre war. Doch noch einmal, wiederum zu ihrem Erstaunen, pflichtete ich dem Mann Stanke bei. Hatte ich ihnen das nicht schon dreimal erklärt? Das Pfaffentum, diese Konzentration von Geist zum Zweck der Machtausübung, war seit eh und je Gottes wirkungsvollster Feind gewesen. Die Bibel ist voll von diesen Geschichten. Nicht erst seit Pashur, dem berufsfrommen Gegenspieler des gottgesandten Propheten Jeremia, standen die “Priester” und “Hirten” (die Pastoren) eher für ihre persönlichen Interessen ein. Das blieb auch so. In den Tagen Jesu von Nazareth betrieb der Hohepriester Kaiphas, dessen Verurteilung. Gottes Feinde kamen aus den eigenen Reihen. Sie haben keine Rücksichten gekannt. Auf Konzilien und Synoden haben sie die alten schlichten Sitten und Wahrheiten verbogen und verdreht und in ihr Gegenteil verkehrt. An die Stelle der Fischer und Teppichweber traten harte Senatoren mit blutbefleckten Roben. Mir war auch ohne Stankes Hinweise längst klar gewesen, dass das vor rund eintausend Jahren nach Russland transportierte Christliche auf allen strukturellen Ebenen nichts anderes darstellte als das erstarrte byzantinische Hofzeremoniell des zehnten Jahrhunderts nach Christus. Das war offensichtlich. Diese Ornate und Prachtgewänder, diese heidnischen, pomphaften Mitren als Kopfbedeckungen. Sie zeigten nicht mehr und nicht weniger, als den absoluten Machtanspruch der “Kirche” über die zwangsweise zu Christen gemachten Menschen ihres Herrschaftsbereiches.

Kirchberg, R.Schmidt und Stanke verachteten das Pfaffentum zwar anders als ich es ablehnte, doch da gab es keinen grundsätzlichen Unterschied in der Beurteilung. Mir war sogar klarer als ihnen, dass sie und ihre kommunistischen Vordenker den Glauben an Gott vor allem wegen der traurigen Christengeschichte ablehnten. “Kirche” hieß für den Parteisekretär Stanke schlichtweg Hexenbrennerei, Kreuzzüge, Mönchskungelei, Inquisition, Judenverfolgung und Heuchelei. Sie kannten die deutsche und entsprechende Auszüge aus der russischen Geschichte. Aber ich kannte sie ebenfalls und zwar partiell recht gründlich. Beide erwiesen sich als mit Blut und Tränen geschriebene Jahrtausendbücher. Da konnte man Seite für Seite aufblättern und sah, dass sowohl der “Glaube” als auch “die Kirche”, solange ihre Möglichkeiten zur Machtausübung ungebrochen waren, den Menschen nur wenig Gutes gebracht hatten. Sowohl von Wladimir von Kiew bis Nikolaus II. als auch von Karl dem Großen, der dreitausend Frankenmännern den Kopf abschneiden ließ, weil sie nicht gewillt waren, sich christlich taufen zu lassen, bis zum hitlertreuen Reichsbischof Müller, führten jeweils gerade Linien. Die zu allen Zeiten von frommen Männern geweihten Waffen passten dazu. Wer je, wie er, Stanke, als Kriegsgefangener und Mitglied eines Antifa-Komitees in Leningrad in der Isaakkathedrale die historisch echten Bilder der von unzähligen Priestern geleiteten Prozessionszüge anlässlich großer russisch-orthodoxer Feiertage gesehen, der wusste, dass solche unheilige und buchstäblich unchristliche Allmacht eines Tages niedergeschmettert werden musste. Ich widersprach ihm durchaus nicht, sondern ergänzte seine scharfen Ausführungen, indem ich sagte: Das von Gott gegebene Gesetz der Entwicklung verlangt eben, dass alles was nicht von ihm ist, früher oder später zu Bruch gehen wird. Sogar ihnen als Nichtchristen sei aufgefallen, dass der Zimmermannssohn Jesus von Nazareth das nicht gewollt hatte, nicht diese Demonstration von Macht, die nichts duldete, was sich ihr nicht unterwarf. Ich konnte diesen Teil ihrer Bemerkungen immer nur unterstützen und sagte wörtlich: “Zweitausend Jahre Christentum waren zweitausend Jahre Gängelei gegen den ausdrücklichen Willen Christi.” Stanke sah mich böse an, kniff die Lippen zusammen, unterstellte mir glatt Opportunismus. Dagegen verwahrte ich mich und konterte scharf. Was er wüsste, hätte ich längst erkannt. Ich erzählte, dass in meiner Heimatstadt Wolgast vor dem Rathaus ein gusseiserner Brunnen steht. In einigen Reliefs zeige er die großen Ereignisse der örtlichen Vergangenheit. Da befinde sich auch die Darstellung von der Zwangschristianisierung der alten Herzogsstadt im Jahre 1128, in der man zuvor an Herovit glaubte. Groß zur Linken stünde der Soldat mit einem riesigen Schwert, neben ihm ein Priestermönch, der die Heiden in einem Zelt tauft. Nackt stehen sie da drinnen in einem großen Holzbottich, bis zu den Knien im Wasser. Diese Menschen haben, genau wie er, Stanke, das sieht, keine Wahl gehabt. Otto von Bamberg, der “bekehrende” Christenbischof segnete sie zwar, hinterher, wie man auf dem Bild sieht, doch das gäbe den so Christianisierten die Mündigkeit nicht zurück. Auch meiner Überzeugung nach sei das eine Vergewaltigung gegen das ausdrückliche Gebot Christi und eine Beleidigung Gottes. Das sei einer der Gründe, warum ich Mormone bin. Außerdem brachte ich zum Ausdruck, dass es trotz aller Entgleisungen aber auch bewundernswert gute und selbstlose Priester und erst recht tadellose Christen in allen Kirchen und zu allen Zeiten gegeben hätte. Da rastete Stanke aus, schlug die Tür hinter sich zu. Meine Gesprächspartner hielten sich nur für konsequent. Sie lehnten alles ab, was im Entferntesten den Glauben an einen ewigen Schöpfer aufkommen lassen könnte, und schnitten beides zugleich ab, die Disteln und das grüne Korn. Nun drängten sie in der Hoffnung, mich doch noch umzustimmen, auf eine letzte Aussprache. Auch sie brauchten zur Wiederherstellung ihrer normalen Seelenlage den Erfolg. Denn mittlerweile hatte sich im Institut mein Fall herumgesprochen.

In den letzten Tagen meines Greifswalder Intermezzos sprach ich eines der freundlichen Mädchen unseres Lehrganges an und fragte sie, ob sie mit mir ins Kino gehen würde. Ich vermutete, dass sie einer christlichen Gemeinde anhing. Sie hatte offensichtlich Probleme damit, dass sie sich an diesem Institut als Hörerin eingeschrieben hatte. Vielleicht litt sie noch mehr als ich unter einem inneren Zwiespalt. Ich wünschte, mich mit ihr auszutauschen. Sie schien verlegen zu sein, war es aber nicht, denn sie fragte mich sofort: “Bist du noch frei? Bitte kein Missverständnis”, sagte sie, aber mit einem Jungen ginge sie nur dann ins Kino, wenn sie das wüsste. Sie ging nicht wirklich auf meine Gedanken ein, schwieg sich im wesentlichen aus. Da musste ich also allein durch. So rückte der Tag für das letzte, das entscheidende Gespräch heran. Dass Kirchberg und der Leiter des berufspädagogischen Institutes Greifswald tatsächlich nicht genügend nachgedacht, sondern ihre Karten, entsprechend dem allgemeinen Trend, einfach auf die atheistische Grundlehre gesetzt hatten, zeigte sich in allen Gesprächen. Das sollte sich auch im letzten erweisen. Sie sagten: Ihr Gott sei die Natur. Etwas anderes gäbe es nicht. Punktum. Die Umgebung, das Sein forme den Menschen, die Umgebung Natur habe uns hervorgebracht, schließlich die Gesetze per Zufall. “Es gibt kein höheres Wesen im Weltall als den Menschen.”

Und woher wisst ihr das ?”

Sie murmelten etwas Unbestimmtes, fanden es unerhört, wie ich diskutierte. Ich dagegen fand, dass ihr Atheismus unbearbeitetes Rohmaterial war, und damit protzten sie auch noch.

Dabei war die Entscheidung, ob ich oder auch sie selbst sich nach links oder rechts wenden sollten, von kaum zu übersehender Bedeutung. Ohne es lange zu bedenken, hatten sie, - nicht ich, wie sie behaupteten, - wie Wasser den Weg des geringsten Widerstandes gesucht. Einfach so hatten sie gesetzt: es gibt keinen Gott.

Sie waren in eine Falle getappt: Indem der Kommunismus die Menschen in der Überzeugung bestärkte, dass sie ausschließlich dem Tierreich entstammten, gewann er an Macht. Seine Philosophie verleitete die Mehrheit zu dem Trugschluss: wenn es keinen Gott gibt, dann ist alles erlaubt.

Das war der wahre Grund.

Ich sagte es ihnen und fügte hinzu: “Wenn es denn Halbgötter wie uns Menschen im Weltall gibt, dann gibt es auch ganze Götter.” Sie horchten tatsächlich auf, als ich bekräftigte, dass Jesus schon den Pharisäern seiner Zeit gesagt hatte, dass der Mensch nur wenig niedriger sei als Gott. (Joh. 10.33-36) Was schließlich nichts anderes aussagte, als dass der Mensch ein Halbgott ist. Noch sei er sterblich und noch moralisch winzig, aber er werde Fortschritte machen.

R. Schmidt hätte wahrscheinlich liebend gern erwidert, ihm sei meine Diskussion zu dumm. Er schüttelte sich und seinen schmalen, langen Kopf. Meine beiden Gesprächspartner waren offensichtlich erstaunt. Bisher hatten sie geglaubt, dass nur sie allein, als Repräsentanten des Kommunismus, die Überzeugung an den ewigen Fortschritt der Menschheit vertreten.

Es verwirrte sie. “Ich denke, ihr wisst genauso gut wie ich, dass niemand das Ende absehen kann, wohin die Menschheit sich im Verlaufe der Zeit entwickeln wird, wenn wir nicht den falschen Kurs einschlagen, wenn wir uns nicht vorher untereinander ausrotten. Ich meine, dass Menschengeist viel mehr kann, als wir heute glauben. Warum, wenn wir die Gebote Gottes als verbindlich anerkennen, sollen wir nicht irgendwann am Ende der Entwicklung wie die Götter werden?”

Es war ihnen sehr leid geworden, mit mir zu reden, weil ich ihre Argumente benutzte.

Während ich mich erhob, um dem möglichen Hinauswurf zuvor zu kommen, packte ich meine Überraschung aus:

Habt ihr nicht gelesen, dass Goethe deutlich zwischen Geist und Körper des Menschen unterscheidet? In seinen Gesprächen mit Eckermann sagt er es sonnenklar, und in einer Szene seines Faust lässt er es den Titelhelden feststellen. Ich zitierte Wort für Wort: ‘Zwei Seelen wohnen, ach, in meiner Brust, die eine hält mit derber Liebeslust sich an die Welt mit klammernden Organen, die andere hebt gewaltsam mich vom Erdendust zu den Gefilden hoher Ahnen.’

Das mache doch den wesentlichen Unterschied zum Tierreich aus, dem wir biologisch sicherlich entstammen, dass der Mensch seinen animalischen Trieben nicht ausgeliefert ist, sondern sein Handeln und Wollen ständig selbstkritisch begleiten kann, eben weil sein Geist aus “Elysium”, vom Himmel, herabgekommen ist, aus den "Gefilden hoher Ahnen”. Meine Hand lag schon auf der Türklinke

Sie zeigten sich erleichtert, dass ich auf eine Weiterführung des Gespräches verzichtete.

Sie waren so ehrlich mir zu bescheinigen, dass ich das Institut auf eigenen Wunsch verlassen hatte.

Sie hatten sich sehr um mich bemüht.

Sie hätten die Macht gehabt, mich einfach hinauszuwerfen. Das haben sie nicht getan. Sie hielten mich für verrückt, aber ich war glücklich. Wenn auch auf geheimnisvolle Weise, wusste ich, dass ich mich richtig entschieden hatte.

In der Institutsleitung gab es allerdings Leute, die schon Tage vorher durchblicken ließen, mit mir sollte man kurzen Prozess machen und an mir die Diktatur des Proletariates ausüben.



Als ich im Dorf K. ankam, eröffnete sich mir eine neue, wenn auch kleine, wie mir schien ungeordnete Welt, in der ich mich erst zurecht finden musste.

Ich half dem Neubauern M., bei dem ich in der winzigen Mansarde des ausgebauten Dachgeschoßes wohnen durfte. Während der Februarwochen ernteten wir das Rohr auf den von ihm gepachteten und nun zugefrorenen Seen. Morgens wenn der Raureif noch schwer und glitzernd weiß auf den braunen Wispen der langen Halme lag, zogen wir los. Zumeist sah der Himmel blau aus, und es surrte, wenn wir die breiten Schnitteisen über die rohrbestandenen Eisflächen schoben. Raschelnd fielen uns die weißköpfigen Spitzen des langen Rohres ins Gesicht, puderten uns eisig ein.

Als Gegenleistung plante des Neubauern Ehefrau mich als ständigen Tischgast ein.

Ende Februar begann es eines Tages überraschend stark zu tauen. Auf dem T.see lagen noch vierhundert Bund Rohr. M. musste einen Zahnarzttermin wahrnehmen und stellte mir anheim, die Rohrbunde zu retten.

Beim Bergen des Schilfes brach ich immer wieder ein, was allerdings nicht lebensgefährlich, sondern nur unangenehm war, denn wo das lose, noch nicht zusammengebundene Rohr lag, war es flach. Nur bis zu den Waden reichte das Wasser, und die waren einigermaßen durch die Stiefel geschützt. Doch auf diese Weise kam ich nur sehr langsam voran. Gegen fünf Uhr am Abend fing es zu dunkeln an. Noch lagen einige Bunde auf dem immer brüchiger werdenden Eis. Es kam Finsternis auf, ehe ich fertig wurde. Anschließend wagte ich nicht, den See zu überqueren, obwohl in seiner Mitte sicheres Eis lag und dies eine beträchtliche Abkürzung des langen Fußmarsches bedeutet hätte. Gut gelaunt trat ich den kilometerlangen Umweg an. Die Sterne leuchteten hell und machten mir wieder bewusst, woher ich eigentlich kam, und wohin ich in Wahrheit ging. Mich störte nicht, dass ich sehr durchnässt war. Mich beglückte der Gedanke, frei zu sein. Die Neubäuerin sah mich erschrocken an, als ich über die Schwelle trat. Sie erstarrte mitten in einer Bewegung. Sie wurde blas. Sie konnte ein Aufschlucken nicht unterdrücken: “Und ich dachte, Sie wären ertrunken!” Mir gefiel es, zu sehen, dass ich ihr etwas bedeutete. Aber was sollte das? Sie war für mich tabu. So sehr sollte sie sich eigentlich nicht aufgeregt haben. Ich sollte ihr eigentlich gleichgültig sein, wie sie mir.

Der Nachtfrost zog in jener Woche noch einmal stark an und wir konnten auch den Rest der Rohrbestände abernten.

Ich dachte einige Male an die abendliche Szene in der Küche der Neubäuerin zurück, schob aber alles beiseite was mich in die falsche Richtung drängen wollte. Meine Gedanken richteten sich auf den Vorsatz, meine Baumschule aufzubauen, wofür mir M. ausreichend Land zur Verfügung gestellt hatte.

Es war noch im März, als ich eines Tages beabsichtigte, mit dem Zug in den Nachbarort zu fahren, um Material einzukaufen, das ich für meine gärtnerischen Zwecke benötigte. So kam ich an jenem Spätnachmittag zwangsläufig in die Nähe des winzigen Wartesaales des ebenso kleinen Bahnhofes. Lärm drang heraus. Diese Kneipe war die einzige Gaststätte des Ortes und erfreute sich eines beachtlichen und regelmäßigen Zuspruches der Männer. Vielleicht mochte ich aus Neugierde einen Blick in den überfüllten Raum geworfen haben. Ich kann mich daran jedoch nicht genau erinnern.

Zwei Tage später hörte ich, dass sie den Bürgermeister verhaftet hatten. Eine Woche später, der Bürgermeister war nicht wiedergekommen, raunte mir die Neubäuerin zu: “Gerd, die Bauern verdächtigen Sie.”

Wessen?” fragte ich. Ich konnte mir bei bestem Willen nicht erklären, was sie meinte. “Dessen!” erwiderte sie und hob die Stirn in Falten. “Einer muss ihn ja angezeigt haben.”

Ach so!” Ich hatte mich schon gewundert, dass sie so ernst und bekümmert aussah, und ich lachte. Dachte sie etwa allen Ernstes, dass ich in die gefährliche Angelegenheit verwickelt sei?

Mir war längst noch nicht klar, dass es stets darum ging, vor allem den Anschein von Sauberkeit zu wahren, und wandte mich deshalb weiterhin unbekümmert meinen täglichen Arbeiten zu.

In derselben Woche, ich kam aus dem Dorfkino, stießen aus der Finsternis des Parks hinter dem Schloss ein paar dunkle Gestalten auf mich zu. Zuerst war ich verunsichert und ängstlich. Als ich jedoch ihre Stimmen hörte und die Gesichter erkannte, weil meine Augen sich ans Dunkel gewöhnt hatten, wurde ich trotz der Beschimpfungen wieder ruhig. Sie würden nur reden. Aber wie sie dann auf mich einredeten: “Du bist es gewesen!”

Ein anderer bellte: “Du Lump!”

Mit anderer Leute Frauen poussieren.”

Wir schlagen Dich tot!”

Unseren Bürgermeister zahlen wir dir heim!”

Ich setzte mein Vertrauen in das Gerechtigkeitsempfinden der empörten Männer. Denn an der Verhaftung und was das Poussieren betraf war ich wirklich unschuldig. All das würde sich ja bald herausstellen.

Sie schnürten den Ring enger, machten sich gegenseitig scharf, hetzten noch einmal, aber lauter:

Wegen ein Lied!”

Hast Geld gebraucht, nich?”

Dat bringt sechzig Mark, nich? Judaslohn, nich?”

Gespenstisch wogten ihre Schatten um mich herum. Wie zum Schwur vereint, hielten sie mir ein paar Sekunden lang die Fäuste unter die Nase.

Plötzlich ließen sie ab von mir , zogen los.

Dass ich arm wie eine Kirchenmaus war stimmte. Sicher, woher sollte ich Geld haben? Wahrscheinlich hielten sie mich für besonders suspekt, weil ich nie in ihre Wartesaalkneipe ging. Neumann, das hatte mir die Neubäuerin gesagt, war schon längere Zeit hinter ihr her und immer hätte sie ihn abblitzen lassen. Er hasste mich.

Wenn er abends an den See kam, mit einer schlittenähnlichen Schleppe auf der ein großes Fass stand, um Wasser für sein Vieh zu schöpfen, ließ er mich jedes Mal spüren, wie sehr er sich mir gegenüber als überlegen betrachtete. Blicke und Gesten waren es, selten Worte. Aber warum eigentlich?

Er hatte mir am lautesten gedroht: “Das Loch im Eis für Dich ist schon gehackt.”

Die drei Löcher, die man vom Land aus sah, hatte ich selbst als Angellöcher geschlagen.

Hau ab von hier!”

Ziemlich erregt, obwohl fürs erste die Gefahr gebannt war, rannte ich heim. Als ich um unseren Zaun herumbog, sah ich die Neubäuerin, jedenfalls ihren Schatten, in der Türfüllung. Sie stand vor dem dunklen Eingang der Veranda. Sie zitterte: “Und ich hatte Dich so sehr gebeten, heute nicht ins Kino zu gehen.”

Du hast es gewusst?”

Sie nickte: “Ich habe es befürchtet.”

Vier lange Wochen dauerte es, bis ich alles aus dem Mund des aus der Untersuchungshaft entlassenen Bürgermeisters H.Schindler erfuhr. Er gab sich konziliant, bot mir Platz an in seinem kleinen Büro und steckte sich mit unruhigen Händen eine Zigarette an. Er redete frei vor mir, wusste alles. Etwas gekünstelt, als hätten sie ihn bei der Entlassung darauf verpflichtet, dass er es auch in seinem Dorf selbstkritisch offen bekennen sollte, sagte er, er als erster Mann des Ortes hätte sich solche Torheit nicht herausnehmen dürfen im Wartesaal das Soldatenlied der Deutschen Kriegsmarine zu singen: “Denn wir fahren gegen Engelland ...”

Bomben auf Engelland, das sei mehr als eine Dummheit gewesen, das war ein böses Vergehen. Verherrlichung des Faschismus und des Krieges. Dafür konnte jeder Bürger mit Gefängnis bis zu fünf Jahren bestraft werden, so das Gesetz zum Schutze des Friedens.

Da ich an jenem Nachmittag zufällig aufgekreuzt war, konnte ich es also durchaus gehört haben. Ob ich das, was er sang bemerkt hätte oder nicht, ich sei in meiner arroganten Art, ohne sie zu grüßen, an den Bauern im Wartesaal vorbei gegangen. Das sei der Punkt gewesen. H.Schindler umschrieb es nicht. Er sagte es mir ins Gesicht. Männliche Dörfler - das “männliche” betonte er - würden mich ohnehin nicht leiden können, hielten mich für eine verkrachte Existenz, jedenfalls war alles, was sie von mir gehört hatten, nichts Gutes.

Außerdem wussten alle, dass ich kein Geld besaß. Sie hielten das für höchst verdächtig. Am selben Abend, knapp zwei Stunden später, wäre er verhaftet worden. Für die Neubauern lag nun der Schluss nahe: ich hätte mir einen gewissen Betrag verdienen wollen und sei deshalb in der Stadt, als erstes zur Stasi gerannt, dienstbeflissen und scharf auf die Prämie. “Und was wäre gewesen, wenn Du so schnell nicht wiedergekommen wärst und wenn Du ihnen nicht den Mann hättest nennen können, der Dich anzeigte?” H.Schindler zuckte die Achseln, lächelte auf seine immer verbindliche Weise. Er kenne seine Pappenheimer. Das hätten sie nicht gewagt, meinte er.

Bist Du sicher?”

Na ja, unter uns gesagt, ein Vielweibereimormone ist nicht gerade nach ihrem Geschmack. Sei vorsichtig.”



Im Sommer dieses Jahres 1952 erfuhren wir, dass der Präsident der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage, David O. McKay, nach Berlin kommen würde. Ich fuhr natürlich hin, sah einen hochgewachsenen Mann mit gewelltem weißem Haar, ein Achtziger mit einem sympathischen Gesicht. Ich empfand seine Ausstrahlung als sehr angenehm. Es war reine Herzlichkeit. Ich stand gerade auf dem Hof des Titaniapalastes, als er aus dem Auto stieg. Seine Gesichtszüge verrieten mir, dass da ein Mann ohne Dünkel, und ohne überzogenes Sendungsbewusstsein auftrat. Minutenlang stand ich betroffen über meine eigene frühere Torheit, die ich vor gerade einem Jahr, wenn auch nur für kurze Zeit gehegt hatte, (als ich in der Gärtnerklasse das Stalinbild aufhängte) und fragte mich, wie ich jemals denken konnte, dass Männer wie Molotow, Kaganowitsch, Berija, Stalin wahrscheinlich doch große und tadellose Persönlichkeiten seien.



Das Gebäude in Westberlin, wo die Konferenz mit Präsident McKay stattfinden sollte, wurde von einer kleinen Heerschar Zeugen Jehovas belagert. Sie bemühten sich, nahe an ihn heranzukommen. Doch sie wurden durch einen Kordon von Mormonen die dem Präsidenten die Hand reichen wollten daran gehindert. Die “Zeugen Jehovas” begehrten dem ruhigen freundlichen Gentleman zu sagen, was sie mir ziemlich wütend ins Gesicht schmetterten: er sei der Gesandte Satans. Mit ihren Wachtturmtraktaten fuchtelnd, bezeugten sie ihre Eifersucht.

Das war etwas, was mich stets verwunderte, diese Selbstsicherheit im Vorurteil nahezu aller frommen Christen. Sie glauben, es sei der Weisheit letzter Schluss: Wenn jemand anders dastand als sie, müsste er schief liegen.

Präsident David O. Mc Kay sprach in der großen Versammlung über die Pflichten der Mitglieder, sich ihrer eigenen Erkenntnis gemäß zu verhalten: “Leistet eine gute Arbeit. Seid vorbildliche Nachbarn und gute Bürger Eurer Städte und Dörfer. Tut Eure Pflicht gegenüber Gott, indem Ihr seine Gebote haltet, dann wird die Indoktrination durch den so genannten wissenschaftlichen Atheismus Eure Familien nicht in feindliche Lager spalten und somit nicht Euer Lebensglück zerstören. Vorausgesetzt, dass Ihr, liebe Mütter und Väter, Euren Kindern mit gutem Beispiel vorangeht. Und handelt nie anders als zum Vorteil der Beständigkeit Eurer Ehe und Familie. Wer noch nicht verheiratet ist, trachte ebenfalls danach ... Seid rein ...Bleibt wo ihr wohnt, helft, wo Ihr lebt die Kirche – das Reich Gottes - aufzubauen.” Im Klartext hieß das, bleibt in der DDR.

Das betraf mich natürlich persönlich.



Präsident Mc Kay ging ebenso bescheiden davon, wie er gekommen war.

Er öffnete seiner Frau die Wagentür und ließ sie Platz nehmen, dann wandte er sich uns zu, winkte, ehe er selber ins Auto einstieg.

Eine Weile konnte ich es noch aushalten, mich tadellos zu verhalten. Dann kam der Herbst, die letzten guten Vorsätze flogen mit den Wandervögeln auf und davon. Wieder einmal sah alles anders aus, als ich es geplant hatte.

Es ist wahr, lebendig Ding will wachsen. Wachsen oder sterben, das ist das Gesetz des Lebens. Wenn wir uns nicht in die eine Richtung bewegen, dann in die andere.

Mein Verhältnis zu meiner Wirtin hatte eine Entwicklung durchgemacht. M. hielt mich für einen guten Arbeiter, aber irrtümlicherweise nicht für einen potentiellen Nebenbuhler. Richtig wird er es nie erwogen haben. Sonst hätte er mich mit seiner noch jungen Frau nicht so oft, tagelang, nächtelang, allein gelassen. Aber er tat es wieder und wieder.

Äußerlich war meine Welt einigermaßen in Ordnung gekommen, aber tief in mir waren die rebellischen Gedanken gewachsen. Sie drängten ans Tageslicht und zur Tat. Sie wollten nicht mehr nur Gedanken und nur Träume bleiben. Ich kam zu dem erregenden Entschluss, die Frau des Neubauern zu erobern. Sie war um einige Jahre älter als ich. Das sollte mir nichts ausmachen. Wie ich glaubte, war sie mit dem Mann ihrer Wahl nie glücklich gewesen. Sie litt viel. Nach der Totgeburt ihres zweiten Sohnes, Jahre vor meiner Ankunft, kämpfte sie immer wieder gegen ihre Depressionen an, die ihr Ehemann nicht einmal bemerkte. In der Dunkelheit zog sie dann stets der nahe, finstere Wald an.

Eines Tages sprach mich einer der Männer an, die mich damals im dunklen Park umstellt hatten, ob ich mir ein paar Mark verdienen möchte, indem ich seinen Acker eggte. Das hatte ich noch nie versucht. Mich reizte es, eine Arbeit zu tun, die neu war. Ich traute mir zu, sie auszuführen. Er dachte vielleicht, dass er etwas an mir gut zu machen hätte. Deshalb war er heruntergekommen an den See, wo ich zwischen den weit gesteckten Pfählen die ausgefischten Stellnetze zum Trocknen aufhängte. Jedenfalls nahm ich an, dass es eine Ersatzhandlung für die überfällige Entschuldigung sein sollte. Er wies mich noch darauf hin, welches seiner vier Pferde ich anspannen sollte, denn er selbst hätte Wichtiges zu erledigen. Was wusste ich, wodurch sich Rappen und Braune unterschieden? Im Dorf war jedermann bekannt, dass er sich von den Sinti einen Schlägerhengst hatte andrehen lassen. Es war ein schönes stolzes Pferd, aber sehr gefährlich.

Den Hengst sollte ich ja gar nicht nehmen. Das war mein Fehler. Bis gegen vier Uhr nachmittags ging alles gut. Es war vielleicht eine Fläche von einem halben Morgen übrig geblieben, die wollte ich noch schaffen. Mich freute, zu beweisen, dass ich auch das konnte.

Da die Frau, an die ich seit Tagen viel mehr dachte als an irgend etwas anderes in der Welt, am nächsten Tag ihren Geburtstag feiern würde, erwog ich einen Plan. Während des Eggens überlegte ich, wie ich das, was ich wünschte, bekommen könnte. Ich malte es mir aus.

Dass es gewiss ein langes, sehr langes, reuevolles “Danach” geben könnte, kam als Warnung zwar noch einmal zu mir, doch ich leugnete alles. Zum ersten Mal in meinem Leben wollte ich vorsätzlich böse sein.

Mit solchen Gedanken lief ich hinter dem kraftstrotzenden stattlichen Hengst her, der mit Leichtigkeit die aus drei Ein-Meter-Teilen bestehende Egge über die raue Scholle zog. In dem Augenblick in dem ich ein Ausrufungszeichen hinter meinen Beschluss setzte, rutschte mir die viel zu lange, von mir falsch gewählte Leine, die ich recht knapp und damit sehr unhandlich zusammengefasst in der Rechten hielt, aus den Händen. Spontan bückte ich mich. Das Pferd erschrak und keilte aus. Sein Huf traf mich am Jochbein. Ich wurde durch die Luft geschleudert.

Trotz der Gewalt des Hufschlages verlor ich die Besinnung nicht, sondern fand mich auf Knie und Hände gestützt auf dem weichen braunen Acker liegend wieder, sah wie mir das Blut aus der Nase und aus dem Mund lief.

Das ist dafür, wusste ich.

Dafür.

Du hast es als Siebzehnjähriger erbeten, von Gott: Bitte verhüte es, wenn ich jemals Böses plane.

Schädelbasisbruch, Bruch der Brille, Zertrümmerung des rechten Jochbeines. Noch wusste ich um dieses Ausmaß nicht. Noch spürte ich nur einen dumpfen Druck, der, wie es schien, weitab von mir vorhanden war. Ich konnte glasklar denken. Noch peinigte mich der wahnsinnige Schmerz nicht, der jedoch unmittelbar auf dem Sprung zu mir stand..

Am meisten wunderte mich, dass der große Gott eines so kleinen Menschen Wunsch nicht in Vergessenheit geraten ließ, dass er ihn erfüllte. Die empfindungsleitenden Nerven blieben zum Glück für fast zwei Stunden betäubt.

In der Nähe hielt sich ein gänsehütender Junge auf. Er hatte alles beobachtet und stand da, mit offenem Mund. Ich erhob mich ohne Mühe, worüber ich mich ebenfalls wunderte, winkte ihn heran, bat ihn, er möge das Pferd am Kopf nehmen und zu Schulz heimbringen, ich hätte mit mir zu tun. Er erkannte auch ohne meine Ratschläge, was zu tun war. Ich ging los, tapfer zunächst. Nach ein zweihundert Metern Weg, noch fast einen Kilometer von daheim entfernt, kam mir ein altgedienter, und wie ich glaubte, recht hartgesottener Traktorist entgegen, ich sprach ihn bei seinem Vornamen an, zog das zufällig saubere Taschentuch von meinem rechten Auge weg, um ihn richtig ansehen zu können, wollte ihn fragen, ob das schlimm aussieht. Ich kam nicht dazu. Der Mann stürzte wie von einer Axt getroffen zu Boden. Daraus schloss ich, dass er meine klaffende Wunde gesehen hatte, was ihm die Besinnung raubte.



Als sie mich sah, schrie die Neubäuerin auf, allerdings nicht laut, nicht hysterisch. “Schnell, schnell hinlegen” drängte sie. Und schon wieder gefasst, sagte sie: “ich rufe Erika an.” Damit meinte sie, sie würde mit dem Krankenhaus telefonieren, um ihre Freundin zu benachrichtigen, die dort als Stationsschwester tätig war. Sie lief los zum Büro des Bürgermeisters, denn nur er verfügte über ein Fernsprechgerät. Als sie zurückkam, völlig außer Atem, sagte sie mir viel Gutes, um mich zu trösten. Aber ich bedurfte ihres Trostes nicht. Sie wusch mich, strich mir über den Kopf und sagte dann leise: “Ich hab's geträumt, ich hab' es abgeträumt.” Das hielt ich für Unsinn, sagte aber nichts, da es mir ohnehin immer schwerer fiel, irgendein Wort zu sagen.

Innerhalb einer Stunde langte Erika mit dem Krankenwagenfahrer in G. an, einem kleinen Dorf in unserer Nähe. Von da aus telefonierte sie mit dem Bürgermeister, der Weg sei unpassierbar, der Fahrer weigere sich, das Risiko auf sich zu nehmen, im Morast stecken zu bleiben. Sie müssten mich mit einem Pferdefuhrwerk hinbringen. Bald darauf lag ich im Stroh eines kleinen rumpelnden Ackerwagens. Über mir wogten die im Herbstwind rauschenden Baumkronen riesiger Lindenbäume. Ich nahm alles wahr, vielleicht noch mehr als vorher. Ich sehnte mich nach ärztlicher Hilfe und Schutz, ahnte, dass jeden Augenblick in mir die Hölle ausbrechen würde. Zu meinem Glück traf nach einigen Minuten der Krankentransporter ein. Schwester Erika hatte den Mann am Steuer so lange und so eindringlich beschworen, es doch zu wagen, bis er schließlich nachgab. Erika saß weiß und still neben mir, hielt meine Hand, fühlte besorgt den Puls, gab mir eine Spritze.

Ich kannte sie seit vielen Jahren, die große, sehr hoch gewachsene schöne Mormonin, die ich immer gemocht hatte, die mich aber leider um zehn Zentimeter Länge überragte.

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