Dienstag, 18. April 2017

Mein veröffentlichtes Buch (2) Fischerleben

Neue Zeiten, neue Gesichter - 1949

Einen neuen Anfang musste auch der spätere Tollense-Fischer 
Hermann Witte machen. Der zweiunddreißigjährige Woldegker hatte glücklich den Krieg überlebt, kam in dieser Herbstnacht, des Gründungsjahres der DDR, vom Nachtfischen, war erschöpft, müde 
und hungrig. Der Fang war mager gewesen, die Klaulust seiner 
Helfer beträchtlich. Aber Hermann genoss es wieder ein freier 
Mann zu sein. Niemand jagte ihn mehr ins Feuer dieser sinnlosen Schlachten auf Russlands Weiten. 

Gekrümmt wie er jahrelang in den Schützengräben gestanden hatte, blies er in die dürftigen Flammen des alten Küchenherdes die sein ohnehin rotes Gesicht gespenstisch aufleuchten ließen. Barfuß und bartstoppelig ging er. Sein rundliches Gesicht war faltenlos. Er trug ein verschlissenes 
Unterhemd sowie eine löchrige Hose und hauste ebenso erbärmlich.
 Ein paar Pellkartoffeln und ein wenig Speck brutzelten in seiner steinalten Pfanne. Es mochte zwei Uhr morgens sein, als in dem 
alten Wohnhaus die Dielen zu knarren begannen und plötzlich ein gigantisch wirkender Fremder eintrat. Im Schein der 25-Watt-Lampe, die lose von der grauen Decke herunterbaumelte, betrachteten sie 
einander.  “Wecker büst du denn?” 113, fragte Hermann den riesigen Eindringling, der breitbeinig auf ihn zukam. Der Hüne trug ein 
Körbchen mit schön gewölbten  Hühnereiern. Er stellte es auf  die Bank, zog die Mundwinkel nach oben und fragte: „Is dat de grötzte Pann? Ilses Fründ bün ick! Möt mi ierst stärken!“ 114 Hermann grinste: „Na, 
denn man tau!“115 und meinte spöttisch, dass die Pfanne die da am Küchenbord hing, wohl ausreichen würde.
Der sonderbare Fremde entnahm Ilses Schrank, den er also bereits
 kannte, eine beachtliche Speckseite und mit einem Seitenblick auf den Nachtfischer säbelte er ein Stück von der Größe eines Lutherischen Gesangbuches ab, schnitt alles sehr gekonnt in Streifen und legte sie in die Großfamilienpfanne.
Seelenruhig schlug er sämtliche Eier auf. Hermann gingen die Augen über. 17 Stück! „De reken vör uns beid! Ick bün Karl“, sagte der Koloss, „de Söhn vun den ollen Degelow, den Schlachter!“ 116    
Nun erst reichte er Hermann die Hand, wobei dessen Bewunderung vor dem Eindringling permanent wuchs. Der Fischer bemerkte nur: „Dorher weicht de Wünd.”117 Daher also der Überfluss an Nahrungsmitteln.
An Stelle eines Tisches standen in Hermanns Stube zwei Fischkisten hochkant und obendrauf lag eine kippelnde Holzplatte, Platz genug für beide Pfannen, die schließlich zugleich die Teller ersetzten. Karl hockte sich in Ermangelung eines Stuhles, ebenfalls auf eine der Kisten.
„Wo wierst du?“
„Bi Woronesh  un Kursk!“
„Kiek mol an. Dor wier ick uk!“ Sie erzählten einander nicht, was sie an Grauenvollem mitgemacht hatten.


Millionen hatten wie er das Elend gesehen. Das namenlose Leid. 

 Hermann hing wohl seinen Gedanken nach. Soldat und Infanterist wider Willen, wurde er im Raum Woronesh zu einem Spähunternehmen ausgeschickt. Bis dahin hatte er in den vielen Monaten des Männermordens immer wieder Glück gehabt. Stets flogen die Projektile vorbei an ihm, krachten die Granaten der feindlichen Artillerie weit genug von ihm entfernt in den russischen Ackerboden hinein, und selbst wenn seine Einheit unter eigenen Beschuss geriet, traf es stets die anderen. In jener Nacht jedoch wollte das Glück endgültig von seiner Seite weichen. Sein Spähtruppführer befahl ihm, in ein verdächtiges Gebäude einzudringen und zu erkunden wie die Lage ist. Es handelte sich um eins der wenigen, größeren steinernen Häuser, das scheinbar verlassen in der weiten Ebene lag, gedeckt nur durch zwei Bäume. Hermann, die Maschinenpistole schussbereit, betrat mutterseelenallein das Gehöft, dann vorsichtig das Haus. Leise wie eine Katze schlich er vorwärts. Unversehens befand er sich in einem Raum, inmitten von vielleicht zwei Dutzend schnarchenden Russen. Er wagte kaum zu atmen. Nur raus hier. Nur einer brauchte hochzuschrecken und dann war es aus. Beim Verlassen des Raumes zwei Handgranaten zu schärfen und sie verteilt hinlegen? Niemals! Als Gefreiter Hermann Witte sich leise über die letzte Tür zurückzog, bewegte ihn zum ersten Mal unabweislich die Erkenntnis, dass er zwar ungewollt in unentschuldbare Verbrechen verwickelt worden war, aber dass er sehr wohl noch immer selbst entschied, ob er zum Mörder würde oder nicht.
„Ne”, erwiderte Karl auf Hermanns Frage, ob er wie sein Vater Kommunist sei. Das beabsichtige er auch nicht zu werden. Er murmelte ein unschönes Wort respektlos.
Der Alte sei durch Wilhelm Pieck dazu gekommen, in den zwanziger Jahre, in denen sie zusammen ‚auf der Walze’ gewesen wären.

Anderntags sah Karl Degelow seinen neuen Freund Hermann Witte das Fahrrad schieben. Das war auf halbem Wege zwischen Woldegk und dem uckermärkischen Strasburg.
Als Fleischergesellen hatten sie in Carlslust zu tun. Neben Hermann ging eine etwa gleichalte Frau mit einem langen grünen Rock und in einer ein wenig ausgeblichenen rötlich schimmernden Strickjacke. Er lenkte das Rad. Sie hatte offensichtlich die Aufgabe, die beachtliche Fuhre im Gleichgewicht zu halten. Denn auf dem ungewöhnlich breiten Gepäckträger wankten zwei graue, hohe Holzkästen, in denen sich die Aalschnüre befinden mussten. An den Seiten des Fahrrades befestigt hingen ein Paar stabile Ruder, Kescher und Setzbunge. Darin lagen eine Kahnschaufel, ihre Gummistiefel und die metallnen Ruderdollen. Sie benutzten den linken Straßenrand, schritten schnell aus und sahen nur ihre  Ladung sowie den staubigen Weg unmittelbar vor sich. Fischer Hermann schimpfte hörbar mit seiner anscheinend neuen Freundin, sie möge gefälligst aufpassen. Wenn ihnen die Kisten durcheinander stürzten, verhedderten sich die Schnüre. Unvorstellbar für sie, wie wütend er dann werden könnte. Das noch eine gute Wegstunde entfernte Strasburg konnte nicht ihr Zielort sein, denn dort wirtschaftete ein anderer Binnenfischer. Karl Degelow wusste das. Beide mussten zum noch zwölf Kilometer entfernten, nicht gerade großen, aber hochproduktiven Schönhausener See marschieren um Aalschnüre zu legen. Da würden sie anschließend in einer Strohmiete kampieren, dann noch vor Sonnenaufgang die Schnur heben, die gefangenen Fische einsacken und sich auf dieselbe Weise auf den langen Rückweg machen, zusätzlich beladen und bereichert um hoffentlich weitere zwanzig Kilogramm Fischlast. Verkaufen durfte Witte die Menge vor Ort allerdings nicht, weil die wertvollen Fische an Fahrer der Fischauslieferungslager gegen Bescheinigung abzuliefern waren. Nur so konnte er den Nachweis führen, dass er ernsthaft bemüht war, sein ihm vom Staat zugeteiltes Auflagesoll zu erfüllen. Obwohl Hermann raubeinig mit ihr umging, muss seine Freundin Gefallen an ihm gefunden haben. Sie teilte bald alles, was sie besaß mit ihm, auch die Hoffnung auf bessere Tage.
Er trug glatte, fest nach hinten gekämmte strohblonde Haare. Ob er getrunken hatte oder nicht, stets wankte er im Wiegeschritt. Damals lief er in mehrfach geflickten, wadenhohen Gummistiefeln. Die Stiefel schwarz, die Gummiflickstücke rot. Seine Bluse war von Art und Farbe der Schlosserjacken. Fast nie überlegte er, was er sagte. Hermann Witte mochte in seiner Kleinstadtschule nur wenig gelernt haben, für dumm verkaufen ließ er sich nicht. Einem Werber, der ihm die Parteimitgliedschaft und damit einen leichteren Weg für seinen Ausstieg aus dem Elend anbot, sagte er es auf den Kopf zu: „Ji SEDisten spannen uns alltohop för jugen Plog.”118
So sei das auch mit der Blockpolitik. Ob sie in der CDU waren oder sich Liberale nannten, Bauernparteiler oder Nationaldemokraten, nur was die SED ihnen gestattete, durften sie propagieren und tun. Durch ihren Trick, die Bürger des Landes “offen” wählen zu lassen, verhinderte die SED seit der Herbst–‚wahl’ 1949 jede Form von Opposition. „Wer für den Frieden ist, der darf das offen bekennen!”
Diese Wahl war die erste, an der auch ich teilnahm. Damals lebte ich noch in Prenzlau. Noch trug ich mich nicht mit der Absicht Fischer werden zu wollen. Aber für einen Jüngling von meinem Naturell, sollte sich dieser Beruf bald als der bestgeeignete erweisen.  „Unser“ Wahllokal befand sich in einem Haus an der Schnelle. Vor mir standen ungefähr dreißig Jungoffiziere der kasernierten Volkspolizei mit ihren Mädchen. Hinter mir setzten etwa noch einmal so viele Uniformierte mit ihren hübschen Begleiterinnen die Menschenkette fort. Für sie war es selbstverständlich, sich für diesen Staat auszusprechen, denn er bezahlte sie gut.
Ich verdiente als Baumschulisten-Lehrling fünfzig Mark monatlich, meine Altersgenossen erhielten für blankes Nichtstun, das Zehnfache.
In den ehemaligen Prenzlauer Artilleriekasernen in der Alsenstraße wohnten sie umsonst. Sie waren satt, aber ich hungerte nach der Freiheit.
Vielleicht hätte ich gewollt, was ich tun sollte, nämlich die unter SED-Führung agierende Nationale Front wählen. Doch da ich diese Freiheit nicht genoss, mich auch anders zu entscheiden, fühlte ich diesen Mangel als großen, schmerzhaften Verlust und wünschte deshalb gegen diese politische Clique zu stimmen. 
Mir schien, dass tausende Augen mich böse betrachteten: Würdest du Zwerg es wagen, den Krieg zu wählen? Mit bitterem Empfinden nahm ich die mit den mir unbekannten Namen bedruckten Papierblätter entgegen und kniffte sie unter den Blicken der Öffentlichkeit. Ärgerlich steckte ich sie gegen meine Überzeugung durch die Schlitze von zwei Kästen auf denen das Wort ‚Wahlurne’ geschrieben stand.
Einige Monate später machte mich die damalige stellvertretende Bezirksärztin Frau Dr. Edith Ackermann aufmerksam: “Wenn sie wissen wollen, wie es in unserem Lande politisch weitergehen wird, dann lesen sie Stalins Buch. Geschichte der KPdSU (B), Kleiner Lehrgang.“
Es ist ein Irrtum, anzunehmen, irgendjemand, außer dem höchsten Kremlherrn, hätte ändernden Einfluss auf den Verlauf der Ereignisse in diesem Lande nehmen können. Nicht einmal ein Mann wie der hart gesottene Generalsekretär der Partei, Ulbricht, hätte etwas zwingend Erforderliches bewirken können, wie etwa die Gewährleistung der Unantastbarkeit der Menschenwürde. Und wenn er es noch sehr gewollt hätte. Wer sich gegen den Kopf des Unternehmens Kommunismus aussprach, wurde, wenn er Glück hatte ermahnt oder bedroht, vielleicht sogar eingesperrt, wer dagegen kämpfte, riskierte sein Leben. Echte Privatinitiativen und divergierende Meinungen wurden nicht geduldet. Wie Eisen durch eine Biegemaschine wurden wir geformt und beschnitten. So hast du zu sein und nicht anders, so zu denken und so zu reden und zu  handeln ist deine eiserne Pflicht.
Weil das Sein angeblich das Bewusstsein bestimmt, sollte ein radikal geändertes gesellschaftliches Sein das Bewusstsein entscheidend umprägen. Menschen müssen erzogen werden. Niemand darf üppig auf Kosten anderer wuchern. An diesen beiden Grundsätzen wollte ich ja gar nicht rütteln.
Aber, wenn Menschenlenkung durch Zwang erfolgt, dann muss gefragt werden, was das für Wesen sind, die andere an eine Kette legen.

Hunderttausende‚ von der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen ‚befreite’ Männer und Frauen, selbst bodenständige Bauern, verließen  ihre trostlos grau gewordene Heimat, um in den ‚goldenen’ Westen zu fliehen.
Am liebsten wäre auch ich davon gegangen, aber meine Eltern wären traurig gewesen…, doch auch das Wasser und die kaum vergleichliche Schönheit des Tollensesees zogen  mich magisch an, fast zum Ausgleich für die Lockungen die von der aufblühenden Bundesrepublik Deutschland ausgingen. Jeden Tag breitete sich beides, der blaue, tiefe  See und  seine Hügellandschaft zu meinen Füßen aus, denn ich verdiente damals mein bisschen Geld in der Obstplantage Tollenseheim und diese lag an einem der großen Hänge im Südosten des Gewässers, die mir das gelobte Panorama darboten.
Sehnsüchtig schaute ich stets den Fischern hinterher, wenn ihr Kutter sie bis an die Grenze meines Arbeitsgebietes brachte und neidete ihnen das Glück erfolgreiche Fänger zu sein.

Ich hoffte, eines Tages Fischer werden zu dürfen. Zumal ich schon als Kind vom Wasser angezogen wurde.
Deutlich erinnere ich mich dieses Augusttages 1943. Zumindest wurde damals meine Illusion geboren, ein Leben zwischen Himmel und Erde, auf dem Wasser, sei das Schönste. Ich saß auf der Ducht des Segelbootes unseres Nachbarn, des Wolgaster Sattlermeisters Janzen. Geräuschlos und leicht wie Wasserläufer glitten wir über die leicht aufgeraute Haut des Peenestromes. Korngelb bauschte sich das Großsegel über mir. Darüber wölbte sich der friedliche blaue Himmel. 
Fünf Stunden später - in dieser Nacht vom 17. zum 18. August 1943 - heulten die Sirenen. Ich schrak hoch. Der durch Mark und Bein schneidende Ton forderte von uns herrisch, sofort aufzustehen und den Luftschutzkeller aufzusuchen. Aber wie oft schon riss uns dieses himmelschreiende Tosen aus dem Schlaf und dann war nichts passiert. Wie immer flogen die feindlichen Bomber nur über unsere Köpfe hinweg. Wir wussten schon, die Flugzeugverbände zogen in Richtung Stettin.
Nichts wussten wir. Aber ich sollte lernen, auch die Stille zu lieben.
Mitten in meine Träume hinein dröhnten die Detonationen. Anschläge auf mein Leben. Bis zu dieser Schrecksekunde ahnte ich nicht, wie kostbar mir mein Leben war. Andere starben. Das war natürlich. Aber, doch ich nicht. Wir hasteten, Hemd, Hose, Kleider fassend, in den Keller. Direkt neben uns explodierten die Luftminen.
600 Flugzeuge der Typen Lancaster und Halifax hatten Peenemünde bombardiert. Der größte Luftangriff in der Weltgeschichte bis dahin. Die Engländer hatten entdeckt, dass Hitler hier Langstreckenraketen bauen ließ. Eine einfache britische Schneiderin, beschäftigt als Soldatin der Air Force, deutete die Linien auf dem Aufklärungsfoto richtig. “Das sind Abschussrampen!” Entschlossen, einen noch nicht ganz ausgewachsenen Feuer speienden Drachen in zahllose Stücke zu zerfetzen, flogen die Briten diesen Einsatz. Wir beklommenen und neugierigen Herumstromer fanden im Tannenkamp zertrümmerte Flugzeugteile und schaudernd hörten wir von verbrannten, auf Minimaß geschrumpften Piloten.
Nach all diesen Hässlichkeiten und Grausamkeiten sehnten wir uns umso mehr nach einem glücklicheren Leben und das verband ich stets mit Wasser und Waldlandschaften.
Obwohl sich noch keine Tür in diesen Lebensbereich öffnen ließ, sollte ich dennoch bald innigste Bekanntschaft mit dem Wasser des Tollensesees machen.
Damals, in den Jahren ’54 bis ’55, musste ich leider noch auf dem festen Land bleiben.

Da trat an einem Dezemberabend des Jahres 1955 etwas Unvorhersehbares ein.
Überraschenderweise war eine große Ladung Sport- und Ruderboote auf ‚Tollenseheim’ angekommen. Mir schien, dass da ein Irrtum vorliegen musste. Hausmeister Paul schob mich beiseite. Der Fahrer nickte nur. Nein, die Papiere besagten eindeutig: Auslieferung an die Bezirks-LPG Schule, Tollenseheim, bei Neubrandenburg.
Wir kratzten uns die Köpfe und zuckten die Achseln.
Paul Schmidt und ich waren Menschen, die unterschiedlicher kaum sein konnten. Er, einsachtundachtzig, extrovertiert und athletisch gebaut, ich, einsfünfundsechzig, introvertiert, war schmal wie ein indischer Hungerkünstler. Ich liebte es zu meditieren, Paul war lebensprühender Akteur. Ich liebte meinen kleinen Sohn, er seinen Hund. Aber über den Wellenbinder, den wir als erstes auf dem großen LKW entdeckten, wunderten wir uns gemeinsam.
Paul begab sich ins Haus um Herrn Maque, den Chef, zu informieren. Ich fragte mich in der Zwischenzeit, ob unsere noch kleine LPG-Schule sich ein Boot leisten konnte, das schätzungsweise dreißigtausend Mark kostete, sowie weiterhin Wassersportgeräte mit einem Wert von zusammen vielleicht zwanzigtausend Mark.
Beide kamen eiligst an. Herbert Maque, ungefähr fünfzigjährig, schritt auf seinen langen dünnen Beinen schnell und federnd, trug das kantige Gesicht eines Mannes, der auch als Schauspieler hätte auftreten können.
Von dem Augenblick an, als er den großen Ferntransporter sah, hatte der schneidige Genosse Maque vorübergehend keine Augen mehr für die vorbei flanierenden, jungen Lehrgangsteilnehmerinnen, sondern nur noch für den als Vorderkajütboot ausgestatteten Flitzer. Wie ein Wiesel rannte er um den LKW herum, schwang sich auf die Pritsche und mahnte nun auch die anderen zur Hilfe herbeigerufenen Männer: „Vorsicht, Vorsicht. Seid bloß vorsichtig mit dem Motorboot.”
Tatsächlich kümmerte sich Herbert Maque, der ehemalige Kreissekretär der SED, Neustrelitz, lediglich um das teure Luxusboot persönlich. Kaum hatte es Platz gefunden in seinem wintersicheren Unterstand, wandte er sich wieder höheren Aufgaben zu.
Von Anfang an stand fest, das kostspielige Schmuckstück würde quasi nur ihm gehören.
Der Rest der Fuhre war ihm gleichgültig.
Die Paddelboote, darunter eine Vierergig, wurden einfach unter einem der uralten Apfelbäume hingestapelt, so wie man rohes Schnittholz lagert.
Niemand, der ihm auch nur eine Stunde lang zugehört hatte, hätte dem Genossen Herbert Maque, dem derzeitigen Leiter der Schulungsstätte Tollenseheim, zugetraut, dass er, keck die für Vermessungsarbeiten bereitgestellten staatlichen Mittel in seinen persönlichen Interessenbereich umlenken würde. Die ihm seitens der staatlichen Organe übertragene Aufgabe bestand darin, den Bau der späteren Agraringenieurschule vorzubereiten.
Aber er war ein leidenschaftlicher Bootsfahrer und Angler. Und damit bestätigte sich abermals, dass die Vernunft der Leidenschaft regelmäßig unterlegen ist.
Es macht gar nichts aus, wie klug jemand ist. Der Wunsch sich auszuleben ist regelmäßig durchsetzungsfähiger, als der Verstand. Ausnahmen bestätigen die Regel. Paul und mir musste er nicht den Bären aufbinden, er brauche den Flitzer für die Besorgungsfahrten nach Neubrandenburg.
Mit dem „Framo“ war er allemal schneller. Selbst wenn Herr Maque mit dem Rennboot bis vor die Tür eines Lebensmittelgeschäftes hätte fahren können, der Benzinverbrauch jedes Wasserfahrzeuges ist pro Kilometer Fahrstrecke mindestens doppelt, wenn nicht dreimal so hoch, wie der eines Lieferwagens. Eindeutig war es sein Vergnügungsfahrzeug. Der gnadenlose Kritiker des Kapitalismus nahm sich damit reichlich viel heraus. Er beutete den Staat aus. Genau das war es, was ich immer wieder als zutreffend registrierte: Proportional mit dem vermeintlichen Machtzuwachs des gewöhnlichen Mannes, minimiert sich die Lautstärke seines Gewissens. Wie lange kann das gut gehen? fragte ich mich ungeniert. Das nachfragend zu denken war leicht, denn ich, als das letzte Glied in der Kette dieser neuen Gesellschaft höchst entwickelter Primaten, war nämlich im Wortsinn ohnmächtig.
Das würde auch so bleiben.
Denn ich glaubte daran, dass Evolution nicht alles sein kann, dass es da eine alles überragende, planende und handelnde Intelligenz geben muss und gibt…die übrigens weiß, wie miserabel wir mit unserem allerhöchsten Gut umgehen.
Solche Leute durften in der DDR nicht hoch kommen.

Die acht oder zehn Paddelboote und die Vierergig lagen noch tagelang draußen.
Der sie überragende Apfelbaum bot aber keinen Schutz; vor allem nicht gegen fliegende Pfeile und rotweiße Messstäbe. Techniker hatten sie in die Garage gestellt und möglichweise längst vergessen. Respektlos wog ich, an einem der Arbeitstage zwischen Weihnachten und Silvester ’55, eine der speerähnlichen Stangen. Verwegen schleuderte ich sie, aus der offenen Garage, in der, zwischen zerkrümmelten Briketts, auch der Lieferwagen “Framo” stand, ins Freie. Der rotweiße Markierungsstab flog vielleicht zwanzig Meter weit. Paul, mit seinen strammen Muskeln, ein ehemaliger Waffen SSler, wider Willen übrigens und sehr selbstbewusst, war überzeugt, er würde gewiss doppelt so weit, wie ich Knirps werfen. Aber schlecht gepackt, noch mieser geworfen. Krachend bohrte sich die stählerne Stabspitze in den millimeterdünnen Rumpf der aus Mahagoniholz gefertigten Vierergig. Sie hatte genau soviel Geld gekostet, wie Paul und ich zusammen in einem dreiviertel Jahr verdienten.
Der schwere Messstab vibrierte noch, als wir aufgeschreckt hinliefen um dem entsetzlichen Bersten und Brechen des dünnen Bootsrumpfes ein Ende zu bereiten. Viel zu spät. Wir schauten als erstes zum schräg rechts oben liegenden Fenster des alten Stammhauses, das wie eine Villa aussah, aber ursprünglich wahrscheinlich als Hotel gedacht gewesen war. Weder Herbert Maque noch seine Wirtschaftleiterin Inge ließen sich blicken. Sie hatten es also, zum Glück, nicht gehört.
Paul verzog keine Miene seines ohnehin ruhigen, großflächigen Gesichtes. „Schnell!”, sagte er.
Ich half ihm.
Gemeinsam schuldbewusst, aber gerissen genug, trugen wir die irreparabel zerstörte Gig gemessenen Schrittes ins nahe liegende ehemalige Hühnerhaus. Diese Behausung war eine aus morschen Brettern bestehende ziemlich große Baracke. Schlau gedacht bauten wir sämtliche Paddelboote davor auf. Wenn es gut ging, kam es nicht heraus, bevor der große Neubau stand und das konnte noch zwei Jahre dauern.
Sollten wir uns irren?
Aber zunächst war da der Gedanke: Nach uns die Sintflut.

In den Märztagen 1956 glaubte ich, es sei gut, das Gras auf der so genannten Liegewiese abzubrennen. Ohne zu bedenken, dass Feuer im Freien, wenn es trockene Nahrung findet sich auch seitlich und somit gegen die Windrichtung ausbreiten kann, entzündete ich die Grasfläche mindestens zweihundert Meter weit von der Hühnerstallbaracke entfernt, in der die demolierte Vierergig, die Ruderbote, und die Kanus sorgfältig übereinandergestapelt lagen.
Vorsichtshalber entzündete ich die Wiese am untern Teil des Hanges.
Allerdings kam vom Flächenbrand angesaugt, im Handumdrehen mehr Wind auf. In zwei Richtungen breitete sich das Feuer aus. Außerdem schlug der Hauptwind um und ehe ich mich versah, züngelten die Flammen in jene fünf herrlichen Omorikafichten hinein, die vor der für mich so wichtigen Baracke, hünenhaft wie zuverlässige Wächter standen. Wütend auf mich, das knochentrockene Gras, und mein Schicksal, riss ich die wie Zunder brennenden Clematisranken herunter und entdeckte zu spät, dass die Flammen unmittelbar an den dürren Brettern des flachen Hauses leckten. Immer wieder warf ich mich mit meinen blauen Latzhosen mitten hinein ins knisternde Feuer, bis mir die Luft ausging. Ich wälzte mich in den Flammen, von der Vorstellung getrieben, dass da drinnen für mindestens zwanzigtausend Mark Wassersportgeräte lagerten,
In sechs Jahren verdiente ich zwanzigtausend, und damit gehörte ich schon zu den Privilegierten. Alles andere war in diesen Minuten bedeutungslos.
Ich hörte Gespenster lachen.
Ich sah sie erst, die beiden Spötterinnen, als der Spuk so schnell wie er aufgekommen war, glücklicherweise mangels weiterer Nahrung in sich zusammenbrach, ohne die für mich so kostbare Baracke zu vernichten. Zwar perlte noch Teer vom Pappdach, doch er entzündete sich nicht mehr. Mein Kopf sank auf die Brust, ich atmete tief.
Herbert Maque sah eine halbe Stunde nach dem letzten Aufbäumen des gefährlichen Feuers die schwarze Wiese und die teilweise angesengten Omorika. Er strich, seine langen Beine behutsam setzend, um den Hühnerstall herum und hielt den markanten Kopf wie ein witternder Fuchs. Bemüht, die ärgsten Spuren zu verwischen, arbeite ich auf dem Gelände eifrig, buddelte da ein Loch um die halbverbrannten Ranken einzugraben und dachte, jetzt zeigt er dir seine Zähne. Doch als Herr Maque näher kam, schaute er mich eine ganze Weile nur vielsagend an, als wollte er ausdrücken: Jetzt sind wir quitt! Du hast wie ich, nur eine Dummheit, ohne Folgen, gemacht.
Es war ihm also nicht einerlei gewesen, dass ich ihn eine Woche zuvor mit einer Dame gesehen hatte. Eilends trennte sie sich von seinem Schoß, als ich in sein Büro hereingestürmt kam, weil ich meinte, er hätte mich hereingerufen.

Vielleicht wären wir wirklich quitt gewesen, gäbe es da nicht die noch nicht entdeckte Gig, und hätte ich keine weiteren Fehler begangen.
Denn, mich manchmal nur auf mein Gefühl verlassend, redete ich bei Gelegenheit mit mir unbekannten Leuten offen über meine nicht staatskonformen Ansichten.
Ich selber hatte in den ersten Nachkriegsmonaten zu viel gesehen. Verschiedene Exbaltendeutsche und andere Augenzeugen, vor allem ostpreußische Frauen, hatten mir zudem entsetzliche Geschichten erzählt. Bei mir waren all diese Berichte gut aufgehoben. Sie bestätigten mich in meiner Ablehnung und Gesinnung: diese neue Gesellschaftsordnung hatte sich unmenschlich eingeführt.
Mitunter war ich unvorsichtig und sprach darüber. Aber wie gingen unbekannte Fremde mit meinen Äußerungen um?
Was hätte ich antworten sollen, wenn mir die Männer des DDR-Staatssicherheitsdienstes jemals die Frage nach der Authentizität der gelegentlich von mir verbreiteten Antisowjetgeschichten gestellt hätten?
In jenen Tagen des Frühjahres 1956, behandelte das „Neue Deutschland”, den für uns allesamt aufregenden Verriss Stalins auf dem XX. Parteitag.
Noch vor wenigen Wochen stand in weißer, riesiger Schrift auf revolutionsroten Holztafeln, die sie am Friedländer Tor angebracht hatten, der uns alle bedrohende Satz geschrieben: Stalins Geist lebt!
Noch war es nicht die volle Verurteilung des verstorbenen Machthabers. Man sprach vom Personenkult um Stalin. Das wäre nicht in Ordnung gewesen.
Noch wurde nicht klar ausgesprochen, dass er ein Verbrecher war, der Millionen Familien zerstört hatte, indem er maßlose Strafen für geringste Vergehen verhängen ließ, die Hunderttausende nicht überlebten.
Uns gingen dennoch die Augen über. Zwar stand mehr zwischen den Zeilen geschrieben als im Klartext, doch es erregte uns bereits.
Denn Stalin war der Gott der ausgehenden vierziger und der nachfolgenden Jahre gewesen. Nun entgöttlichten sie ihn, obwohl seine einst so strammen Anbeter ihm ewige Treue geschworen hatten. Einige seiner Verehrer fielen nach der Lektüre ihres ND ins andere Extrem. Sie traten dem Genossen Josef Wissarionowitsch postum kräftig in den Hintern. Unverfroren wie sie bisher das Gegenteil behaupteten, erklärten sie auch uns: Er sei nur ein Götze gewesen. 
Ich weiß noch, wie an einem warmen Oktoberabend des Jahres 1949 im Sportstadion zu Prenzlau, Stalins Profil von leuchtenden Feuerwerkskörpern gezeichnet wurde. 


Wenige Wochen später erwog auch ich, ob Stalin ein neuer Heiland sei, bis es mir wie Schuppen von den Augen fiel
    
Dröhnender Applaus schwoll auf. Er kam von Seiten der vielen anwesenden KVP Offiziere. Ansteckend wirkte diese Begeisterung, wie damals der Hitlerwahn, dem ich ja auch einige Jahre meines jungen Lebens verfallen war.
Nur, ich hatte meine Lektion gelernt, und die da nicht. Deshalb rührte mich diese Woge damals nicht sonderlich.

Dieselben Presseleute, die noch wenige Wochen zuvor Millionen ihrer Leser leidenschaftlich versicherten, dass J.W. Stalin der „Vater der Gerechtigkeit” und der „Genius der Menschheit” sei, schrieben jetzt gegen ihn.
Auf der Straße, in den Bussen, in den Eisenbahnabteilen wurde Nikita Sergejewitsch Chrustschow zitiert. Man hielt einander die Zeitungen unter die Nasen. Wir DDRler waren endgültig ein Volk von Politikern geworden. In einem Punkt waren sich alle, mit denen ich sprach, einig: Die Partei hatte sich jahrzehntelang keineswegs nur geirrt. Ihre Köpfe wussten mehr.
Zu keiner Zeit der Stalinverbrechen ging es um die Wahrheit. Es ging ihnen um die Teilhabe an Macht. Um den Willen aufzubringen, einen einzigen Mann zu entmachten, hätte sie zuvor verzichten müssen.

Für das Vorderkajütboot musste ein Anlegesteg gebaut werden. Paul machte sich an die Arbeit. Gegen die Grundregel verzichtete er darauf, Leinen zu spannen, an denen entlang die Pfähle zu rammen sind.
Danach muss er versucht haben, ebenfalls ohne Schnur, die ungleichen Bretter auf die Verbinder zu nageln.
Sein Machwerk sah dementsprechend aus. Eher einem zufällig entstandenen Schrotthaufen ähnlich, als einem Werk von Menschenhirn und -hand, stand das Unding krumm und windschief da, sogar gefährlich wacklig. Eine Schande! Als ich auf dem Laufsteg entlang ging, wurde mir schlecht. Meine Mitarbeiterpflicht war, ihm zu sagen, dass er vielleicht ein guter Hausmeister und bestimmt ein hervorragender Hundeliebhaber sei, aber vom Stegebau keine Ahnung hat.
Herbert Maque, an meiner Stelle, wäre gewiss verrückt geworden.
Während ich nun versuchte, meine Bemerkungen zu relativieren (wie man heute zu sagen pflegt, wenn man aus Gründen der Höflichkeit die Wahrheit zu verbiegen beabsichtigt) kam ein sonderbarer Lehrgangsteilnehmer anspaziert, ein großer, steckendürrer Mann. Von Gesicht und Gestik wirkte er wie ein Sektenprediger des vergangenen Jahrhunderts. Er kam uns vor wie einer, der gerade in einen sauren Apfel gebissen hatte.
Für einen Meisterlandwirt hätte ihn wohl niemand gehalten. Der Mann setzte die großen  Schritte ganz bedächtig. Als er die Bescherung sah, wurde sein langes Gesicht noch länger. Er schlug buchstäblich die Hände über dem Kopf zusammen und blieb nachdenklich stehen. Soviel Mist auf einem Haufen hätte er noch nie gesehen. „Abreißen!”
Dieser Mann war ein Brigadier! Kommandieren konnte er schon.
„Abreißen?”, fragte Paul, gleich wutentbrannt. „Rüchtig!”, erwiderte der große Dünne und machte eine weitere abfällige Bemerkung.
Paul zog mich beiseite, zu den Pfählen hin, die ungeordnet im Gras herumlagen: „Den Kierl schmiet ick int Woter!”119, flüsterte er. Ich kannte ihn. Dieses Zucken seiner Augenlider verriet das Ausmaß seines mit Erregung gepaarten Leichtsinns. Wahrscheinlich sah Paul selber ein, dass er keine Glanzleistung vollbracht hatte. Nur er wusste nicht, wohin mit dem Ärger.
Hinterhältig fragte er den Bauernbrigadier, ob der für ihn noch einen guten Rat parat habe.
Arglos, die hohe Stirn gefurcht, erwiderte der etwas schrullige Fremde: Am seeseitigen Ende des Anlegesteges müsste ja sowieso noch der Kopf des Laufsteges gerammt werden. Er, an Pauls Stelle, würde restlos alles ‚abräumen’ und dann da, in dreißig Meter Entfernung einen starken Pfahl hinstellen und von ihm ein kräftiges Seil zum Land spannen und dann... Lebhaft machte der uns so großmäulig erscheinende Mensch die dazugehörigen Arm- und Handbewegungen. Sogar mich reizte sein Befehlston.
Paul nickte mir vielsagend zu und fragte den Mann, ob er sich denn auch zutraue, mit ihm und uns aufs Wasser zu fahren, um ihn vor Ort zu beraten. Schließlich käme es ja auf den Eckpfosten an und den könnte man gleich hinstellen. Kurioserweise akzeptierte der Fremde. Warum nicht?
Echt treuherzig schaute Paul jetzt drein.
Das Mienenspiel unseres künftigen Opfers war eindeutig.
Und so machte der Ahnungslose mit seinen Halbschuhen einen eleganten, akkuraten Satz vom Land ins Boot, das sich immerhin in fast anderthalb Meter Entfernung von ihm befand. Er wankte nur kurz, setzte sich dann bedächtig auf die kleine Heckbank, zupfte seine Hosennaht zurecht, zog eine Shagpfeife aus der Hosentasche, stopfte sie aufreizend langsam mit Tabak, entzündete sie seelenruhig, sog den Qualm in sich, blies ihn selbstzufrieden in die blaue Frühlingsluft und schaute sich um. Offensichtlich genoss der Ackerbauer die Aussicht auf die Schönheit der Landschaft, während er paffte und geduldig der Dinge harrte, die kommen sollten.
Paul hatte indessen den kräftigsten unter den herumliegenden Pfählen ausgesucht. Er richtete ihn auf. Das war fast ein Mast, dazu knochentrocken und deshalb nicht zu schwer. Scheinbar fachsimpelnd weihte Paul mich in Details seines schändlichen Planes ein. Als hielte er seinen ärgsten Kritiker schon am Genick, schüttelte Stegebauer Paul den Pfahl, wie man im Herbst einen Pflaumenbaum rüttelt. „De is rüchtig!”, ahmte er den anderen nach.
Jawohl, diesen sollten wir einladen ins Boot, meinte der von uns heuchlerisch um sein Urteil befragte Brigadier. Der setzte hinzu: „Naja, ein lütt bisken zu lang ist er noch”, aber sonst sei der Pfosten ganz prima, wenn es da oben denn weichen Seegrund gäbe.
Wir nickten. „Na klar, da oben ist es bannig weich.” Zufrieden kopfnickend äußerte der Landwirt, kürzer schneiden könne man das Holz ja immer noch.
Wir meinten bei uns, über dem zwei Meter tiefen Wasser, wenn wir da denn angelangt wären, würden wir den Starkpfahl mit Schwung über einen Meter tief in den weichen Grund hineindrücken.
Paul zog sein flächiges Gesicht schief und kniff sein linkes Auge zu. „Ick pett denn up de Siet, un du uk.” 120
Ich war längst einverstanden und lachte vergnügt, denn ich sah ja voraus, was sich ereignen musste. Dieses Bild!
„Naja”, dachte ich, „ein Bad im Freien hat noch niemandem geschadet!”
Uns beiden war natürlich klar, dass das Oberflächenwasser des Tollensesees Anfang April sich trotz tagelanger Sonneneinstrahlung kaum erwärmt haben konnte. Dafür war der See zu tief und die Zone des nur nullgradkalten Wassers zu mächtig. Sobald man bloß die Hand in seinen Rachen steckte, biss das Wasser noch kräftig zu.
Mit unseren Gummistiefeln durch Wasser und Morast patschend, trugen wir das Langholz zum kleinen Ruderboot, schoben es so behutsam, wie es uns nur möglich war, zwischen die Schuhe und Beine unseres gemütlich rauchenden Gastes.
Sobald wir uns von Land abgestoßen hatten, schaukelte der Kahn in den Wellen, die durch das Gelege hindurch wogten. Aber das war ungefährlich, obwohl der Nordostwind auffrischte. Wir freuten uns. Das Schaukeln des Kahns kam uns wie gerufen. Wir überaus erfahrenen und eitlen Bootsmänner grinsten einander an.
Vor Ort angekommen nahmen wir den Pfosten, steckten mit ziemlicher Anstrengung seine spitze Nase ins bewegte Wasser und richteten ihn einigermaßen aus.
Wir hatten noch soviel Zeit uns an unseren Berater zu wenden.
„Rüchtig so!”, bestätigte der kühne Bauer. Das untere Ende unseres Pfahles war vom Eigengewicht bereits drei, vier Dezimeter tief in den weichen, tonigen  Grund eingedrungen. Entschlossen spannten wir unsere Muskeln. Paul griff weit nach oben. Er wollte die Schwere seiner gut neunzig Kilogramm  zur vollen Geltung bringen.
Gleichzeitig sprangen wir auf den schmalen Bord, des grünrot getünchten Ruderbootes. Jetzt gab es keine Rettung mehr. Jetzt sauste der lange, aufreizende Kerl samt seiner Pfeife über Bord.
Jedenfalls war dies die bunte, von mir verinnerlichte Illusion.
Aber, wieso denn ich?
Es machte nur Patsch! „Äh und Bäh!”, schrie ich. Mehr nicht, und ruderte schon gewaltig und peitschte das Eiswasser atemringend, das mich in den Hintern biss und in den Hals, den ich schwanengleich so hoch wie möglich reckte.
Dabei genoss ich eben noch das Plinkern dieser himmelblauen Hausmeisteraugen und die Vorstellung, wie der andere das erfrischende Bad nimmt. Urplötzlich hatten meine flatternden Hände äußerst heftig und dennoch sehr vergeblich in die kühlen Frühlingslüfte hineingegriffen.
Gewaltig trieben mich die Urinstinkte an. Schnell, schnell! An Land, an Land! Ins Trockene!
Mit einem einzigen Blick, während ich noch eisern kraulte, sah ich Paul. Der klebte  noch am Pfahl.
Entschieden zu weit entfernt vom rettenden Boot waren wir, das mit seinem trockenen, immer noch qualmenden Feldbaubrigadier sachte in Richtung Land trieb, weil wir es ungewollt zwar, aber kräftig von uns abgestoßen hatten.
Vom Gürtel abwärts kam ich mir vor wie ein Eisklotz. Dicht unter meinem Bewusstsein dagegen klapperten die Zähne bereits wie spanische Kastagnetten.
Land unter Füßen, wandte ich mich sogleich wieder um.
Da!
Immer noch, wie ein verstörtes Affenbaby mit enorm verkürzten Armen und Beinen klammerte Exelitesoldat Paul sich verzweifelt an den kräftigen und doch unverlässlichen Pfahl. Die Wellenspritzer nässten schon seinen Hosenboden, denn sein Halt neigte und neigte sich, wenn auch ganz langsam.
Ich war fasziniert. Noch zwei Sekunden vielleicht. Länger hielt ihn das Holz nicht über Wasser.
Da tat er einen urigen Schrei.
Heftig, wie ein startender Schwan, mit seinen Schwingen auf das Wasser einschlagend, krächzte er markerschütternd: „Himmelarsch und Wolkenbruch!”
Weiter kam er nicht.
Es verschlug ihm die Luft.
Ein paar hastige Bewegungen noch, dann hatte auch er den Schilfstreifen erreicht. Mit wilder Kraft richtete sich der bibbernde Gardesoldat auf. Statt dankbar zu sein, dass sein Herz noch schlug, schrie er, je weiter er in Sicherheit kam, Unanständiges.
Der unschuldige Brigadier, dem das galt, nahm erst jetzt die Pfeife aus dem Mund. Er machte eine salbungsvoll anmutende Geste, ehe er uns unterwies. Man müsse auf dem Wasser immer danach trachten, sicher zu stehen, oder sich im Boot gut festhalten. So wie er. Er klemmte den Pfeifenstiel zwischen die roten Lippen, dann griff er nach beiden Bordseiten und demonstrierte, wie er sich verhalten hätte. Da erst bemerkten wir, wie groß und kräftig des Brigadiers Hände waren, Pranken die zufassen konnten. Er hob die Mundwinkel und lächelte nachsichtig.


Irene K.


Schulleiter Maque lud häufig Gastdozenten in sein Haus. Darunter befand sich eine freundliche, fünfundzwanzigjährige rotblonde Dame, die Vorlesungen im Fach Philosophie hielt. Sie hieß Irene K., sah gut aus, war ein wenig korpulent und von ganz und gar offenem Wesen. Sie lachte gerne, aber sie hatte etwas an sich, das Männer nicht unbedingt mögen. Sie konnte herausfordernd frech blicken.
Maque stellte sie kurze Zeit später als feste Lehrkraft ein.
Am letzten Apriltag 1956 grub ich, gut dreihundert Meter vom Haus Tollenseeheim entfernt, mit einem Spaten eine Ackerfläche um, die mit Tomatenstauden besetzt werden sollte. Da sah ich die Philosophiedozentin unerwartet auf mich zukommen. Selbst wenn ich sie nie gemocht hätte, allein die berechtigte Vermutung, dass sie ihr graues, gutsitzendes Kostüm für mich angezogen hatte, war aufregend. Denn alle Lehrer und Schüler befanden sich im Kurzurlaub. Nur sie und mich gab es noch.
Ringsum standen im Geviert riesige Birnenbäume, die selten oder nie Früchte trugen. Das Gelände lag unmittelbar am friedlich blinkenden See. Sie lächelte schon von weitem, als sie den Weg zwischen den gerade grünenden Apfelbäumen herunterkam.
„Ich muss doch mal gucken, was unser Gärtner den ganzen lieben, langen Tag so treibt.”  Ihre helle Stimme vibrierte reizend.
„Ob er überhaupt was zuwege bringt!”, lachte ich.
Sie schaute mich freundlich an. Das Haus stünde ja, wie ich wüsste leer. Einen Tag vor dem ersten Mai, am Nachmittag, müsste man es ja nicht übertreiben. Sie lade mich zu einer Tasse Kaffee ein.
Sie möchte mit mir über die biblischen Paulusbriefe reden. „Es hat mich fasziniert, dass du sie kennst!”
Einmal hatten wir darüber gesprochen und ich hatte geäußert, die zweitausend Jahre alten Briefe enthielten noch so manche, für uns interessante Botschaft.
„Und welche?”, wollte sie daraufhin wissen.
„Dass wir tun müssen und in die Tat umsetzen, wovon wir überzeugt sind, dass es richtig ist.”
„Das liest du da heraus?”
„Der Kern der Paulusaussagen ist keineswegs, was die Protestanten daraus ziehen, sondern eher umgekehrt: dass der Mensch ernten wird, was er sät.” Ihre Erwiderung lautete: „Das klingt ja nicht unvernünftig!” Natürlich war ihr völlig gleichgültig, was ich mit kritischem Blick auf die Lehre beider Großkirchen meinte.
Die Sonne wärmte uns, während wir plauderten.
In einer ihrer nächsten Vorlesungen käme das Thema Glaube und Wissen vor. „Mach’ Schluss für heute, lass uns oben gemütlich Platz nehmen und darüber reden.”
Ich wollte nicht nein sagen.
Sie war so höflich gewesen nicht zu formulieren: Was du denkst, ist trotz alledem kurios.
In ihrem Zimmer umfing mich augenblicklich ein Gemisch aus Nelkenduft und dem Geruch von ‚Großer Freiheit’.
Aus der Diskussion über Paulus, Luther, Bauernkrieg und evangelischer Rechtfertigungslehre wurde natürlich nichts.
Schade! Denn ich verdammte die Ansichten jener schwachsinnigen Protestanten, die meinten der liebe Gott würde schon alles richten, wenn sie nur an seinem Namen und ihrem vagen Glauben an ihn festhielten.
So jedenfalls, mit derartigem Selbstbetrug, kann die Welt kein besserer Wohnplatz werden! Aber eben darum geht es, wird es immer gehen, solange wir uns nicht zum Affentum zurückentwickelt haben.
Auch aus dem Kaffeetrinken wurde nichts, denn ich nahm Selterswasser zu mir. Sie saß, die Beine übereinander geschlagen auf dem Sofa, und ich hatte zu tun, mein Gleichgewicht zu behalten. Ich glaube, dass ich stocksteif an ihrem Zimmertisch saß und halb verlegen, halb verwirrt, mit den Fransen ihrer gehäkelten Decke spielte. Sie sprach über Homers Nymphe Kalypso und in spöttischlockendem Ton über Männer wie Odysseus, Kalypsos Verehrer.
Sie sei jedenfalls keine ‚schön dumme’ Penelope, die artig daheim sitze und unentwegt wartend bloß Strümpfe für ihren Mann strickte, während der eine andere bezirze.
Sie nickte, als ich sie anschaute.
„Meiner sitzt jetzt irgendwo in Rostock bei einem Weibsbild herum und spielt den Seelentröster!”
Warum war ich so dämlich gewesen, mich wissentlich in diese Situation zu begeben?
Hatte ich nicht schon einmal Lehrgeld bezahlt?
Ich sollte, wenn ich meinen Vorsätzen treu bleiben wollte, nicht einen Augenblick länger hier oben in ihrem Zimmer herumhocken, sondern lieber zu meiner kleinen Familie zurückradeln.
Aber das war bloß die Sprache der Vernunft.
Meine Basisinstinkte bestanden darauf, sofort ihren Forderungen nachzukommen. Mein Geist funkte nochmals dazwischen: Du bist nicht der Mann, der das um jeden Preis haben muss. Es ist besser inkonsequent zu sein, als verräterisch. Ich lenkte das Gespräch auf meine Ansichten zum Kommunismus. Mir war der Gedanke gekommen: Wie ich selbst mitunter bin, ist der ganze Kommunismus aufgebaut, gespalten von oben bis unten! Lauter Widersprüche zwischen Theorie und Praxis.
Außerdem: Von menschlicher Läuterung ist ernsthaft keine Rede. Wenn es andererseits auch immer wortreich herausgestellt wurde, dass Menschen für den Sozialismus reif werden müssten. Nicht wenige, die das forderten, täuschten sich selbst ungeniert, weil es ja unsagbar schwer ist sich unter allen Umständen selbst zu zügeln. Man kann es leicht von andern verlangen, sich korrekt zu verhalten.
Die Dozentin lächelte, aber nur aus Höflichkeit.
Sie schätze Leute, die denken können.
Nicht gerade versteckt war meine Attacke auf die marxistischen Weltverbesserer, die alles verändern und verbessern wollten, außer sich selbst.
Herbert Maque und diese Frau da vor mir, würden alles tun um mir zu beweisen, wie gut und beschützenswürdig die DDR und ihr Sozialismus seien und im selben Atemzug zeigten sie nicht die geringsten Beschützerinteressen, soweit es seine und meine Frau betraf. Würde ich zugreifen und das Lockende auch nur flüchtig berühren, würde ich mein Recht preisgeben, den Kommunismus vehement wegen innerer Unwahrhaftigkeit abzulehnen. Das war der Punkt, den ich verteidigen oder meine Position aufgeben musste.
„Die ganze Philosophie ist keinen Pfifferling wert, wenn wir uns bei ihr nur bedienen, wie es uns gerade in den Kram passt!” Obwohl ich es mit diesen Worten ein bisschen verkorkst ausdrückte, verstand sie, glaube ich, was ich meinte.
Irene K. schaute mich an wie jemand, der über den Brillenrand blickt. Sie stimmte mir, jedenfalls teilweise zu.
Doch ihr hübsches Gesicht verriet mir, dass ich sie beleidigt hatte. Dann schüttelte sie den Kopf und lachte ein wenig unnatürlich. Es war ja auch komisch. In der Natur fragt man nicht. Die Blüte lädt den Schmetterling ein und der nektarsüchtige Sammler kostet aus, was sich ihm darbietet. Ihre Augen sprühten plötzlich Zorn. Wenige Tage später saß ich wieder an dieser im Tollenseheim nach Nordwesten gerichteten, großen Fensterwand und schaute sehnsüchtig auf den weit unten im Tal liegenden langgestreckten, wunderschönen See. Seinen geschwungenen Buchten folgte der Blick zu gerne. Das herrliche Gewässer lockte mich stärker denn je zuvor. Seine ihn umgebenden Mischwaldhänge umrahmten ein Gemälde wie von Monets Hand.
Es kam ein fremder, stattlicher und auffallend gut gekleideter Mann in die geräumige Veranda herein, ein Buchhalter, wie ich richtig vermutete, der mir nur kurz seinen Namen nannte und nach knapper Frage neben mir am Mittagstisch Platz nahm. Ohne uns je zuvor gesehen zu haben, fassten wir zueinander schnell Vertrauen. Es war dieses Gefühl von innerer Übereinstimmung, das mich in den vielen Jahren nie verlassen hatte, das Gespür wie weit und wem ich mich öffnen durfte und wem nicht.
Es dauerte nicht lange, bis wir die übertriebene Parteitreue der Philosophiedozentin aufs Korn nahmen.
Er sei auch Theaterkritiker - und ich, sagte ich, versuche ‚Theater’ zu schreiben. Er gab an, ich auch.
Wir kamen wieder auf die Dozentin zu sprechen. Ich plauderte etwas aus. Daraufhin schmunzelte er. Er kannte sie. Sie gehöre zum neuen Frauentyp. Dabei lachte er und dieses Lachen klang um eine Kleinigkeit zu hart.
Nach einer Weile des Schweigens wechselten wir zum ursprünglichen Thema zurück: Über den XX. Parteitag der KPdSU tauschten wir unser sich erstaunlich ergänzendes Wissen und unsere Meinungen aus. Mir kam noch nicht in den Sinn, dass wir abgehört wurden.
Er wusste, was ich noch nie gehört hatte, und ich wusste von Ereignissen zu berichten, die wiederum in sein Bilderbuch hineinpassten, als hätte er längst nach ihnen gesucht.
Zwei Leute, die nicht ein gutes Haar an der Verwirklichung dieses Sozialismus lassen konnten, hatten sich gesucht und gefunden. Die Rohheit eines Systems, das uns keine Wahl ließ, quälte uns. Zu viele Leute, deren Namen und Gesichter wir sehr gut kannten, hatten sich für ihre Karriere gegen ihre Vorbehalte entschieden. Andererseits war uns bewusst, dass die große Geschichte so chaotisch, wie sie zum Dritten Reich Hitlers verlaufen war, sich niemals wiederholen dürfe.
An sich war ein Experiment wie der Sozialismus berechtigt. Aber nicht als Abenteuer ohne Rücksicht auf Verluste. Bereits der Urgrund, den Lenin in der Sowjetunion gelegt hatte, erschien uns beiden als unzuverlässig, weil unehrlich.
Einmal würden die Historiker offen legen, wie viele Millionen Menschenleben zwischen 1917 und 1937 infolge dieser Art der Revolution allein in Russland vernichtet wurden.
Beide Jahrgang 30, hatten wir vieljährige Erfahrungen mit dem auf uns zielenden pausenlosen Propagandatrommelfeuer des Stalinismus hinter uns. Wie so viele andere hatten auch wir uns wundgerieben an den uns unsympathischen Parolen, die in uns den undifferenzierten Hass auf den “Kapitalismus” hervorrufen sollten.

Hass sollte gesät werden, Hass musste aufgehen!

Wir empfanden sehr stark, dass es den maßgeblichen Kommunisten vorrangig um die Vernichtung der Demokratie ging. Das war es, was uns wie die Vorstufe zur Sklaverei erschien.
Als einziges Mittel zum Überleben unserer prodemokratischen Ansichten blieb uns nur der Versuch einander in der Ablehnung zu bestärken. Ähnliches wagten Hunderttausende in diesem Lande, vielleicht sogar Millionen. Und doch war es nur ein Aufblasen der Backen gegen den gewaltigen Oststurm.
Ziemlich unvorsichtig bezeichnete ich in jener Mittagsstunde Lenins Dekret über den Boden als glatte Lüge. Lenin habe nie anderes als die schließliche Vergesellschaftung des Bodens gewollt. Die bitterarmen Muschiks jedoch, an die sich das Dekret richtete, mussten glauben, wenn sie sich auf Lenins Seite stellten, dann bekämen sie selbst, für immer, ein Stückchen Land zu eigen. Die vom mörderischen Krieg ausgezehrten, von Heimweh, Hunger, Läusen und Tod geplagten Russen hörten auch  heraus, dass Lenin den Krieg sofort beenden wolle. Ja, dass sein erstes Dekret überhaupt ihrem ureigensten, dringlichsten Wunsch entsprach: „Alle Frieden! Frieden!”
Von klaren aber auch unnennbaren Hoffnungen getrieben, mussten sie in Lenin den Erlöser sehen. Vorausgesetzt sie würden seinen Aufrufen Folge leisten, gelangten sie durch einen einzigen Schwenk aus der Hölle direkt ins Paradies.

Wir beide glaubten, dass Lenin vorsätzlich so verfänglich geschrieben hatte. Sein wahres Gesicht zeigte er, nur drei Jahre später, in seinem Brief „Tod den Kulaken!”, den man ja in jeder Lenin-Gesamtausgabe nachlesen könne. Eine ganze Klasse, nämlich sämtliche Mittelbauern Russlands, gab er - wenn auch aus dem berechtigten Zorn über einige tatsächliche Verbrecher- unterschiedslos dem Verderben preis. Das waren zwölf Millionen Todesurteile!

Jeder mit einer Pistole bewaffnete Neidhammel, der glaubte, er hätte noch eine offene Rechnung mit diesem und jenem Mittelbauern, kam mit Leninsätzen daher, um an sich zu reißen, wonach ihn gelüstete. Namens der Partei und der Wahrheit wurden Menschen aus Machtgründen schutzlos dem Verderben preisgegeben.

Die Zeitung vom 22. Januar 1956 hatte ich mir aufgehoben. Den Ausschnitt trug ich bei mir. Ich zeigte zwei Passagen, die mir ins Auge gestochen hatten. Auf einer Innenseite der Zeitung des Zentralkomitees der SED “Neues Deutschland” wurde dort berichtet, wie der Frankfurter Obermagistralrat Dr. Julius Hahn, Mitglied des westdeutschen Arbeitsausschusses der Nationalen Front aus einer Tagung heraus verhaftet wird.
„Wir sitzen, hatten gerade das Hauptreferat gehört...plötzlich beim Mittagsmahl stürmen auf ein Trillerpfeifenzeichen 20 uniformierte Polizeibeamte in den Saal, riegeln ihn ab, verlangen in barschem Ton von den Anwesenden die Ausweise...”
Brecht wurde in diesem Zusammenhang zitiert. Auf dieses Brechtzitat legte ich den Finger. Es sollte Dr. Hahn betreffen, den Sympathisanten der Kommunisten, aber es betraf genauso die Kulaken!
“Eurem Bruder wird Gewalt angetan, und Ihr kneift die Augen zu! Der Getroffene schreit laut auf, und Ihr schweigt? Der Gewalttätige geht herum und wählt sein Opfer, und Ihr sagt, uns verschont er, denn wir zeigen kein Missfallen. Was ist das für eine Stadt, was seid Ihr für Menschen? Wenn in einer Stadt ein Unrecht geschieht, muss ein Aufruhr sein...”
In dem Zeitungsausschnitt wurde auf die Quelle verwiesen. Da stand geschrieben: aus ‚Der gute Mensch von Sezuan’.
„Bilder, Originalbilder aus den Tagen der Nachrevolution müsste man sehen, dann wüssten wir, wie viel Unrecht in Russland zwischen 1917 und 1956 wirklich geschehen ist. Denkt daran, was Brecht fragte: Was ist das für ein Land, was seid ihr für Menschen? Denn da wurde bisher jeder, -jeder-, Aufruhr im Blut erstickt.”
Ich schimpfte und er bekräftigte. Wir selbst waren in Aufruhr, glaubten, wir hätten eine wenn auch nur schwache Vorstellung vom Elend, in das die Menschen jahrzehntelang durch den Kommunismus gestürzt worden waren.
Plötzlich hob ich den Kopf und erschrak. Den Lautsprecher in der Ecke hatte ich missachtet. In jedem der drei Geräte befand sich seit seiner Installation ein Mikrofon!
Ich hätte es doch wissen müssen! Nicht nur in dem Lautsprecher des Schulungssaales, in jedem anderen befand sich wahrscheinlich dieselbe Technik. Denn einmal, im Büro der Wirtschaftsleiterin zeigte Paul Schmidt mir, wie das funktioniert. Deshalb der große Schaltschrank. Man bediente zwei Knöpfe und schon konnte man hineinhören in den Schulungsraum. Furchtlos, nachdem Wirtschaftsleiterin Inge und Herbert Maque eines zurückliegenden Tages mit dem Luxusflitzer nach Neubrandenburg gefahren waren, nahm er sich heraus mich einzuweihen.
Respektlos lauschten wir beide in die Vorlesung der Philosophiedozentin hinein. Wie konnte ich so naiv sein und glauben, dass Herbert Maque nur wissen wollte, was in seiner Abwesenheit im Klassenzimmer geredet wurde? Das Naheliegendste war mir entgangen.
Was dort möglich war, das galt auch für alle andern Räume. Während mein Blick sich auf den stoffbespannten kleinen Trichter in weniger als drei Metern Entfernung richtete, fielen mir sämtliche Sünden bei. Sofort gab ich meinem Gesprächspartner, Buchhalter Günter, ein Zeichen der Warnung.
Wir hatten gerade in sehr scharfem Ton über einen Fall von Aufruhrniederschlagung in der SU gesprochen. Da war die nur wenigen bekannte, jedoch zuverlässig überlieferte Erhebung der Kronstädter Matrosen, 1921, gewesen. Nur dreieinhalb Jahre nach der Errichtung der Sowjetmacht ereignete sich das Verbrechen.
Von ihren Schlachtschiffen “Sewastopol” und “Petropawlowsk” aus hatten die Matrosen heftig protestiert, dass die Arbeiter in den Kronstädter Staatsunternehmen der Sowjetunion „wie die Zuchthäusler zur Zarenzeit” behandelt wurden.
Auf Lenins Befehl hin ließ Kriegskommissar Trotzki die Aufständischen zusammenschießen. Da hatten Mitmenschen eben das getan, was Bertolt Brecht sich wünschte.  Doch eben die Partei, der auch Bert Brecht diente zerschmetterte gnadenlos den Aufruhr des leidenschaftlichen Mitleids.
Wie passte das zusammen?

Buchhalter Günter vermochte es mir sehr anschaulich zu schildern, wie die Truppenteile der Roten Armee über das Eis des finnischen Meerbusens vorrückten und wie sich die Artilleristen der eingefrorenen Schlachtschiffe vergeblich gegen den Sturmlauf ihrer in Weiß gekleideten Waffenbrüder verteidigten.
Ich stimmte ihm zu: Wenn das wahr sei! Dann hätte man Lenin allein für diese Ruchlosigkeit in Ketten legen müssen.
Gerade, als ich das ausgesprochen hatte, war mein Blick auf das Gerät zu unseren Köpfen gefallen. Vor Schreck blieb mir der Bissen im Halse stecken. Die Ikone des Kommunismus hatte ich besudelt. So dumm zu sein, wie ich, musste bestraft werden.
Eine Minute später kam sie tatsächlich an.
Ich hörte, wie Irene K. die Treppe herunterstieg. Das typische Klappern ihrer hohen Absätze klang allein schon bedrohlich.
Ich sah diese blitzenden Augen, als sie sich uns näherte und wusste Bescheid. Als leibhaftiger Racheengel wird sie sich nun erweisen.
Aber wir hatten doch leise gesprochen.
„Die Empfindlichkeit eines Mikrofons der neuen Generation ist beträchtlich.” Dieser Satz eines Technikers kam mir in den Sinn. Zugleich war ich wütend. Namens der Diktatur des Proletariates waren wir der Dozentin, wenn sie wollte, ausgeliefert. Aber, die einzige Diktatur, die mein Gewissen je dulden würde, war die meiner eigenen Vernunft über die Leidenschaft.
„Dafür schuldet ihr mir Rechenschaft!”, hörte ich sie schon im Voraus tönen. Dafür, dass wir uns herausgenommen hatten, sie persönlich zu kränken. Dafür, dass wir uns herausgenommen ihre Partei und den großen Denker Lenin beleidigend zu kritisieren.
Sie wusste nun, dass wir Ulbrichts System als seelenknechtend betrachteten. Für sie gab es keinen Zweifel an der Richtigkeit des Weges, der Zwang als politisches Mittel einschloss.
Sie diente der Diktatur, die wir hassten. Innerlich verteidigte ich mich ununterbrochen gegen eine mögliche Anklage. Ich wehrte mich: Zwang, gleichgültig, von wem angewandt, verkehrt die beste Sache der Welt in ihr Gegenteil. Wisst ihr das nicht? Erniedrigte Frauen müssten unsere Gefühle verstehen können.
Dozentin Irene ging an uns vorbei. Nur einen einzigen, wenn auch sehr sonderbaren Blick gab sie mir.
Es ereignete sich nichts. Ungewissheit kann schlimmer sein als eine schlimme Gewissheit. Das war es, womit sie regierten.
Es braute sich etwas Gefährliches gegen mich zusammen. Es lag in der Luft. Einige Tage später, Mitte Mai erfuhr ich, dass mein Gesprächspartner, der Buchhalter Günter, wahrscheinlich verhaftet worden sei, oder, und das war nicht auszuschließen, er hatte sich in den Westen abgesetzt.
Jedenfalls sei er spurlos verschwunden.
Das war natürlich zweierlei! Im Westen zu sein oder im Gefängnis zu sitzen.
Verhaftet!
Herbert Maque und andere hatten es mir schon mehrfach zu verstehen gegeben: Wer gegen die DDR hetzt, der spricht der Friedensfeinde Sprache.
Einen Tag nachdem ich vom Verschwinden Günters erfuhr fauchte mich die Philosophielehrerin im Waschraum an: „So nicht!”
Was meinte sie mit diesem unbestimmten, unvollendeten Satz? Ich holte mein Fahrrad aus dem Keller, wollte heimfahren. Da sah ich Braun, einen der neueingestellten Lehrer, neben Irene K. stehen. Er löste seinen Arm, den er um ihre Schulter geschlungen hatte.
Braun kam auf mich zu. Er war klein. Sein Ausdruck allerdings war der eines Giganten. Er machte scheinbar vielsagende Gesten. Ich betrachtete seinen kahlen Kopf, seine glatten Züge, um ihm nicht in die provokant ausforschenden, hellen Augen blicken zu müssen. Unter dieser Schädeldecke bildeten sich Worte und Sätze gegen mich. Das war nicht zu übersehen. Nicht so sehr überraschte mich deshalb, dass er formulierte: „Wir werden sie wohl hoppnehmen müssen!” Wortlos fragte ich: Wegen meiner Gespräche mit Günter, nicht wahr?
Braun schien zu wissen, was ich dachte. Er sagte: „Wegen subversiver Tätigkeit.”
Erst als ich mit meinem Rad davonfuhr und seine und ihre Blicke im Rücken zu spüren glaubte, fiel ich in Panik. So leicht hatte der Neue es dahergesagt, als hätte er gemeint, morgen ist auch noch ein Tag zum Teetrinken.
Bezog er sich auf das Abbrennen der Wiese? Hatten sie die zerstörte Gig entdeckt? War, was die Dozentin über die Abhöranlage vernahm, nur der I-Punkt? Reimten beide sich des Buchhalters Günters Bemerkungen wegen noch mehr zusammen? War Günter ein Spitzel gewesen? Du wirst für die unverzeihliche Sünde bezahlen. Lenin durfte. Im Namen der Revolution durfte er tun, was er für erforderlich hielt, selbst wenn sämtliche Nichtroten allesamt daran verreckt wären. Wo gehobelt wird, da fallen Späne.
Heiligtümer besudelte niemand ungestraft. Du hast ihre Sache in den Dreck getreten. Geschieht dir recht, wenn sie dich hoppnehmen. Mit diesem Schock fuhr ich heim. Ich trat in die Pedalen und schwitzte vor Aufregung. Einer meiner väterlichen Freunde beruhigte mich. „Subversiv? Was heißt das? Tollenseheim steht doch noch. Bange machen gilt nicht! Lass dich nicht ins Bockshorn jagen!”
Er hatte gut reden.
Das Wochenende verging. Am Montagmorgen versicherte ich mich, ob Braun die Gig entdeckt haben konnte.
Nein.
Es geschah so gut wie nichts, außer dass meine Gefühle verrückt spielten.
Hausmeister Paul ging in dieser Woche überraschend von Tollenseheim weg und ich beschloss, dasselbe zu tun.
Als ich in der Presse las, die Produktionsgenossenschaft werktätiger Fischer “Tollense” suche umgehend zwei Saisonarbeiter, schien mir das ein Wink des Himmels zu sein. Zögern? Nicht eine Minute.
Herbert Maque legte sein ernstes Gesicht in tiefe Falten und entließ mich erstaunlich zurückhaltend aus der Pflicht. Hatte ich mich umsonst aufgeregt?

Als Fischereihilfsarbeiter auf Zeit


Da ist dieses Bild vom 1. Mai 1956. Auf den ersten Blick sehen sie  glücklich aus, die alten Neubrandenburger Seenfischer, doch sie sind es nicht.
Man sollte meinen, dass die Männer sowohl kämpferisch kritisch wie auch zuversichtlich sind. Die Momentaufnahme hätte sie eher pessimistisch fragend darstellen müssen, als heiter dreinschauend. Es ging ihnen eindeutig schlechter als vor fünfzehn Jahren. Mein Informant sagte: „Du musst einmal einen Blick in ihre Fangbücher werfen Aber sie wollen es dennoch packen. Sie wirtschaften nun bereits seit mehr als vier Jahren auf eigene Rechnung. Sie sind selbständig. Nur, sie fangen zu wenige Fische. Sie leben zwar von einem Tag und Traum zum nächsten, doch sie fühlen sich wesentlich bedrängter und unzufriedener als damals, unter Peters, auch weil ihnen ihr Buchhalter sagt, dass es so nicht weiter gehen kann.“
Zudem erschien in Neubrandenburg und in der DDR nicht eine einzige Tageszeitung, in der nicht dramatisch von der westlichen Kriegshysterie und den permanent drohenden Gefahren für den Weltfrieden geredet wurde.
Alle wurden so immer wieder in diese mitunter unerträglichen Spannungszustände versetzt. Krieg oder Frieden, Friede oder Krieg. Sein oder Nichtsein. Jeden Tag hörte es jeder. Dieses Konzert für allesamt war zu schrill. Andererseits entkam man dem Lärm der Propagandapauken nicht: Pax oriente lux. Das Licht des Friedens kann nur vom Osten kommen.

Es war auch in dieser Hinsicht wie zu Hitlers Zeiten. Stets drängten sich uns ‚ihre’ Parolen auf. Da hieß es: Räder müssen rollen für den Sieg. Hier stand Ähnliches, wenn auch von entgegengesetzter Hand geschrieben: Der Sieg des Sozialismus ist gewiss. Jeder Schulungsrunde Fazit lautete: Als faulender, parasitärer Kapitalismus begehre der Imperialismus die friedliebende Menschheit in seinen Untergang hinein zu reißen.
Manchmal klang es so, als könnte die einzige Konsequenz nur folgendermaßen lauten: Los Brüder! Gebt ihm den Todesstoss! Brüder zur Sonne, zur Freiheit... Brüder das Sterben verlacht... Auf zum letzten Gefecht. Monatelang, jahrelang spürten wir es als Alpdruck.
Man gewöhnt sich nur schwer daran, immerhin man gewöhnte sich.
Täglich war dieser düstere Geist anwesend. Es ist eisig in Europa, der kalte Krieg herrscht. Zum Selbstschutz holt man sein eigenes Licht hervor. Es war zu klein, es wärmte auch kaum.
Stündlich, das war die schwebende Gefahr,  konnte  diese lautstarke Phase, eines vorerst nur Wortekrieges, revolutionär in militärische  Aktionen umschlagen. Für diesen schier unausweichlich erscheinenden Fall müsse man militärisch und ideologisch vorbereitet sein.
Das war der Tenor der Tagespresse. Wilhelm Bartel, der kleine Fischer vorne links, erwog ernsthaft, ob er den kaltschnäuzigen Agitatoren, mutwillig, also wider besseres Wissen, Glauben schenken will. In seinem schwarzweißen Westover und mit der Bierflasche in der Rechten steht er verlegen da. Gerade zum neuen Vorsitzenden der Tollense-Fischerei eGmbH gewählt, will er Selbstbewusstsein vortäuschen. Weil der Vorsitzende Karl Görß - nicht Otto - sich über Nacht aus dem Staube gemacht und alles im Stich lassend, nach Australien durchzuschlagen beabsichtigte, (nur weit weg vom gefährlicher werdenden Kontinent),  trägt Wilhelm ab jetzt die Verantwortung.
Otto Görß, das ausgeprägte immer scharf rasierte Kinn erhoben, dritter von rechts, hält einen Brotlaib unter seinem Arm. Gerade zum vierten Mal Vater geworden, hegt er trotz seiner Ablehnung des Geistes dieses Staates noch hoffnungsfroh gewisse Pläne. Er wird seinem Namensvetter nicht nachfolgen, sondern dableiben, komme, was da wolle. Er wird aus der miserablen Situation das Beste machen. Seine wunderbare Frau Erna, streichelte ihm für solches Versprechen immer wieder den geraden Scheitel seiner dunkelblonden, starken Haare. Nein er werde gar niemanden verraten. Für Otto galt es voll und ganz: Ein Mann, ein Wort. Seiner Meinung nach muss und kann ihnen gelingen, mehr zu fangen. Wenn sie nur die Mittel hätten, sich mehr Netze zu kaufen. Er muss hier an diesem Ort und auf diesem Platz das tun, was er leisten kann, um herauszukommen aus dem Elend, gleichgültig, was dann wieder auf der großen Bühne geschieht, dessen Geschehen er ohnehin nicht beeinflussen kann.
Der Kopf des Mannes Fritz Biederstaedt ruht scheinbar auf Ottos Schultern. Seit vier Jahren befindet er sich nun schon wieder in Freiheit. Dass er diesen Zustand wirklich  genießt, kann  Flaschen- und Busenfreund Otto nur bestätigen. Sie sind Freunde in der Trinkerrunde und Kumpels auf dem See. Bescheidener ist Fritz geworden, wesentlich kameradschaftlicher als in den Jahren seiner Regentschaft über den früheren Fischereihof. Deshalb, und weil er gut verhandeln konnte, wenn es ums Geld ging haben sie ihn zum Stellvertreter Wilhelms gemacht. So hatte er sich wieder hochgerappelt. Karl Neumann steht links außen, ein pures Bündel Energie. Dass er das Maiabzeichen wie Gräf, zweiter von rechts und wie Mikusch trägt, besagt gar nichts. Neumann ist ausschließlich und jeweils am ersten Mai Mitglied der Arbeiterklasse, sonst ist er ihr und ihren Funktionären spinnefeind. Mit Logik hat das bei ihm nichts zu tun. Mir wollte er an die Kehle gehen, als ich ihn später einmal, als er besonders scharf über die Parteileute herzog, mahnte, er müsste sich doch befreit fühlen. Denn früher sei er doch nur ein armer Schlucker unter der Fuchtel eines Ausbeuters gewesen. Hart fuhr er mich an: „Du hesst keene Ohnung!”122 Dabei spreizte er seine mächtigen Hände, als wollte er einen Ochsen erwürgen.
Hermann Müller, das Fliegengewicht, feierlich im schwarzen Anzug, hat vornean links seinen Platz eingenommen.
Ich sollte die Männer allesamt sehr gut kennen lernen.
Denn sie stellten mich ein, für sechs Wochen, wie sie sagten.
Die Zeit verging wie im Fluge und ich war immer noch da.

Geräuschvoll trieb der Nordwest an diesem düsteren Novembernachmittag die ersten Schneeflocken vor sich her.
Wie ein Treidler gegen das Seil, stemmte sich der untersetzte, gut fünfzigjährige Fritz Biederstaedt gegen den Wind. Stossweise zerrte der Sturm an seiner grauen Schiebermütze.
Gefühlvoll umklammerten seine starken Fäuste zwei glasklare Flaschenhälse, deren schwere Leiber tief in seinen Joppentaschen steckten.
So recht wollte sich die Vorfreude auf seine traute Männerrunde jedoch nicht einstellen. Fritz bog um die Ecke der ersten Bootsschuppenreihe. Er spürte es nun noch deutlicher: Irgendetwas stimmte nicht. Er kam nicht so schnell dahinter, was ihn bedrückte und das beunruhigte ihn plötzlich noch mehr. Wie der heftige Sturm mit dem Qualm umsprang, der aus dem abgestumpften Ofenrohr der Fischereibaracke drang, so müsste das Leben alles gegen ihn stehende Schwarze, Unangenehme, zerfetzen.
Fritz stapfte fester auf.
Manchmal ärgerte er sich sehr über unfreundliche Mitmenschen, über sich selbst und den Mangel vor allem, der in den Lebensmittelgeschäften vorherrschte. Aber das war es nicht. Obwohl er sich darüber gerade wieder erbost hatte. Fast nur das zum Überleben Notwendige konnte man einigermaßen billig erwerben. Vieles gab es immer noch nur auf Lebensmittelmarken zu kaufen. Pro Person 1380 g Fleisch im Monat, - 46 g pro Tag, - 815 g Fett und zweieinhalb Pfund Zucker. Wer mehr haben wollte, musste es kostspielig in den HO-Läden einkaufen. Seine Mitfischer murrten seit Monaten und ich hörte zu: So viel Arbeit für so wenig Lohn. So hätten sie sich das Leben in der Binnenfischerei, mehr als 10 Jahre nach dem Kriege, nicht vorgestellt. In den langen Monaten Dezember, Januar, Februar, März lebten sie von Vorschüssen, die sie im kurzen Frühling und Sommer wieder abzahlen mussten. Dieses Teufelsloch war groß und die Hoffnung, da endgültig herauszusteigen, klein. Die Bauernbank gab ungern Kredite für Löhnung. “Warum investiert ihr nicht? Warum dies nicht, warum jenes nicht?”  So hieß es bei denen. Lieber rannte Fritz dann, in seiner Eigenschaft als zweiter Vorsitzender der Genossenschaft, zum Steuerberater Hermann Köppen, der sich auch als Geldverleiher hervortat.
Köppen nahm zwar höhere Zinsen, doch er meckerte ihn nicht an. Von wegen: „Genosse Biederstaedt, da stellen sie zuerst mal ein Konzept auf, wie sie die Rückzahlungsraten pünktlich leisten wollen.”
„Ück bün aber kein Genosse”, pflegte er sich vor dem Bankchef kopfwiegend zu entschuldigen.
Beim Geldmann Köppen ging das wesentlich kultivierter zu: „Prost, Herr Biederstaedt, auf gute Zusammenarbeit!”
Dieser Mensch wusste, was sich gehörte. Aus dem Kognakschrank holte der höfliche Geldborger stets das Beste. „Wohlsein, Herr stellvertretender Vorsitzender! Sie werden das schon machen. Sechs Prozent sind für sie doch keine Hürde.”
Diesmal jedoch sah er sich genötigt bereits Anfang November bei Herrn Hermann Köppen anzufragen.
Blödes Wetter!
Die sechs Prozent Zinsen waren keine Hürde, aber der verdammte Nordnordwest, der jagte die Fische in unerreichbare Seetiefen.
Was soll ein Fischer unter solchen Umständen anderes tun, als abwarten und sich dieses Abwarten auf möglichst angenehme Weise verkürzen? Nämlich da drinnen in der Holzbaracke, wo seine Mitfischer ihn und das, was er mit sich trug sehnsüchtig erwarteten. Als Fritz um die letzte Ecke seines Weges bog, rührte ihn plötzlich der Schlag. „Düwel uk!”123
Da stand der Grund seiner düsteren Ahnung fest: der fast fabrikneue PKW F 8 des Rates des Bezirkes! Biederstaedt schluckte. Die beiden Fischmeister Eduard Jochim und Ernst Stöckelt waren von Neustrelitz gekommen  um  ihm  und  seinen  Männern  ein  paar unbequeme Fragen zu stellen. “Düwel, Düwel”, wiederholte er. Er, der zweite Chef, hätte pünktlich und andächtig lauschend in der Quartalsversammlung sitzen müssen! Wo er so verspätet herkomme, werden sie ihn aushorchen. Ob es Wichtigeres gäbe als die Politstunde. Gerade er, der aus dem Knast entlassene…
Ein drittes, „de Düwel holt!”123, platzte ihm über die dicken Lippen. Fritz schüttelte sich, als wäre ihm ganz unangenehm brennendes Zeug durch die ausgedörrte Kehle geronnen.
Tapfer betrat er den unaufgeräumten Vorraum zum Schulungs- und Kulturraum. Normalerweise kam die Partei an jedem letzten Mittwoch des Quartals angereist, um ihre Schulung zu halten. Ausgerechnet diesmal war es anders. Mit der flachen Hand hätte er sich vor den Kopf schlagen können, wäre die nicht damit beschäftigt gewesen der andern zu helfen die Flaschen aus dem Versteck zu ziehen und sie unterzubuddeln unter einen Haufen alter, vergammelter Netze.
Vergessen! Jemine, wie peinlich!
Alle werden den Termin vergessen haben.
Na, denn man tau.
Doppelt werden ihm die beiden Parteigenossen nun zusetzen, es wäre alles eine Frage des gesellschaftlichen Bewusstseins.
Und jetzt erst recht wird die alte Leierei losgehen: “Wann wollt ihr endlich mehr für eure Zukunft tun? Ihr müsst mehr Satzfische kaufen! Wo man nix reinsteckt, da kommt auch nix ‘raus!“ Lächelnd zwar, aber innerlich zerknirscht, wird er ihnen die großen, grünlichgelben Zähne zeigen und es zum Scherz ummünzen: “Ganz meine Meinung!” In Wahrheit aber möchte er sagen und ihnen an den Kopf schmettern, was er wirklich dachte: “Lüd, woväl Geld häm wie all de Johren tun Fenster rut, in den See rinner schmeten.”124 Er murmelte das kleine, aber inhaltsreiche Zwiegespräch vor sich hin, während er sich innerlich aufrüstete, gleich unter die forschen Augen der kritischen Gäste zu treten. Natürlich war er ein Freund von richtigen Besatzmaßnahmen. Aber die fünftausend Mark für die Maränen war auch solch ein Fall von sinnlos vergeudeten Finanzen. Ein  Glück,  dass  die  beiden  Genossen  auf  Kosten des Rates des Bezirkes die Rechnung für ihre wahnwitzige Idee bezahlt haben. Er dachte an die angeblich fünf Millionen winzigen Brütlinge, die sie vor Jahresfrist in ein Eisloch gegen alle Vorschrift in Ufernähe geschüttet hatten, weil das Eis so brüchig geworden war. “So lütt!”, sagte Fritz, als erkläre er jemanden, was ihn so aufregte. Die winzigen Dinger bestanden ja nur aus Augen. Wie wollten die da unten in der Finsternis ihr Futter finden? Jochim und Stöckelt hatten Stock und Bein geschworen, es sei hoch an der Zeit, den Tollensesee mit Aalbrut und Maränensetzlingen zu spicken. Wer weiß, welchen kostenaufwendigen Beschluss sie ihm und den Männern diesmal abnötigen würden. In der vorletzten Versammlung war von zukünftiger Karpfenwirtschaft auf der Lieps die Rede gewesen. Auch so ein Blödsinn. Viel zu viel Ried... viel zu teuer! Kaufen, immer kaufen, höhnte er in seine lustlose Seele hinein!
Fritz schöpfte tief Luft, riss die Tür zu dem viermal vier Meter ‚großen’ Schulungs- und Kulturraum auf, in dem sechzehn kräftige Männerärsche auf den mehr oder weniger wackligen Stühlen hockten.   ‚Kulturraum’ hieß dieser knapp abgeschlagene Teil der Holzbaracke, weil da ein Radio, ein Blaupunktgerät, auf einem mit silbern glänzenden Fischschuppen   überdeckten  und  verstaubten,  kleinen  Holzregal  stand.  Einige Jahre zuvor, 1950, war es ihnen als Prämie übergeben worden und seither gab es gleichmütig West- oder Ostnachrichten von sich, je nachdem, wer sich dem Gelände näherte und welche Gesichter zur Tür hereinschauten. Fröhlich laut platzte Fritz mit der forschen Bemerkung in die Agitationsstunde hinein: „Dor mach man jo nich mol ‚nen Hund vör de Dör jogen“ 125  Ernst Stöckelt unterbrach seine offizielle Rede. Sein schwungvoll geformter Kopf ruckte herum. Er schaute erstaunt und riss seinen fein geschnittenen Mund auf ohne auch nur ein Wort hervorzubringen. Er verharrte, als sei er verhext, für drei Sekunden. Stöckelt  wollte gerade fortsetzen da schüttelte Biederstaedt sich, als sei er geradewegs aus dem Eisbunker gekommen und unterbrach den jungen Mann sogleich noch einmal mit seinem lauten Gruß:  “Dach uk alltohop!”126
Einige grinsten. Des ersten Bezirksfischmeisters nominierter Nachfolger hob nochmals verwirrt die bleiche Stirn. Biederstaedt nickte ihm herzhaft zu, zog die Mundwinkel herauf, ganz verbindlich, ganz der Alte, der nicht verlernt hatte, wie ein Diener seinem Herrn in einer kritischen Situation zu gefallen wusste.
Er zog unnachahmlich seinen beachtlichen Bauch ein und zwängte sich  durch  den  engen  Spalt   zwischen  der  grauen  Zimmerwand sowie den vier Rückenlehnen der Stühle des Buchhalters, Bartels und der beiden Bezirksfischmeister. Da musste er partout durchschlüpfen, weil er unbedingt seinen Stammplatz neben Otto einzunehmen gedachte, der auf der entgegengesetzten Tischseite saß. Noch hatte er es nicht ganz geschafft. Fritz hauchte dem nervös werdenden Stöckelt aus seinem scheinbar unerschütterlichen Gemüt und mit seiner heiseren Stimme in das weiße Genick: “Ever soveel jemütlicher is dat hür drinnen!” 127
Er hätte ja auch auf der Türschwelle Platz nehmen können. Während er sich so durchkämpfte, ruhten aller Blicke auf ihm, wenige missbilligend, die anderen amüsiert. Das genoss er. Fritz wusste, diese Unterbrechung des Vortrages war den meisten willkommen.
Der kleinen Genossenschaft Stimmungsmacher war er allemal. Erst vor vierzehn Tagen hatten ihn beide, Reiniger und Bartel, zusammengestaucht. Sogar sein Freund Otto Görß war ihm grob über den Mund gefahren. Da hatte er nämlich in Neverin, nachdem sie den Dorfteich abgefischt, heimlich einige Kilo Karauschen gegen eine kleine Flasche “Bärenfang” eingetauscht. Weil ihm doch so jämmerlich zumute gewesen und er gefroren habe, indessen er auf sie warten musste. Bis sie endlich mit dem Fuhrwerk herankutschiert kamen, hätte er sich berechtigt gesehen, etwas gegen die ihn anschleichende innere Kälte zu unternehmen. Der Fehler bestand darin, dass nur für Otto ein Rest übrigblieb. Das bekamen die Benachteiligten mit. - Großes Wehgeschrei. Bei solchen Sachen kannten sie kein Pardon. „Uns hat auch gefroren!”, musste er in deftigem Platt- und Hochdeutsch hören. Als Brigadier sei er abgesetzt und wenn er sich Ähnliches noch ein einziges Mal erlaube, dann sei es endgültig aus mit seiner Herrlichkeit als stellvertretender Chef.
Nachdem er sich endlich geräuschvoll niedergelassen, erteilte Fritz Biederstaedt  Ernst Stöckelt das Zeichen, nun könne es von ihm aus weitergehen. Dem energischen Redner zogen Unverfrorenheiten normalerweise die Winkel seiner schmalen Lippen herab. In Biederstaedts Anwesenheit allerdings war alles immer anders. Biederstaedt breites Lächeln wirkte überwältigend.
Sich sammelnd kratzte Ernst Stöckelt seine leicht gewellten, dunkelblonden Schläfenhaare. Er hüstelte, wog den schmalen Charakterkopf und fuhr offensichtlich da fort, wo er unterbrochen worden war. Ernst fragte die Tollensefischer, was sie denn wollten? Niemand könne mehr Lohn bekommen, als er durch entsprechende Gegenleistung verdient hätte. So funktioniere die Wirtschaft eben. Man kann aus einem Topf nur herauslöffeln, was da drin ist.
Fritz Biederstaedt kniff die Augen zu. Türlich!
Stöckelt Ernst hatte Recht. Doch da war es wieder, das alte böse Thema. Stöckelt sollte es lieber ruhen lassen. Sah er denn nicht, wie es in den Gesichtern der Fischer zuckte? Otto Görß hob denn auch sofort den Kopf: „Und de Kasernierten? Und de Aktendaschendräger?”128 Wofür die ihr Geld bekämen? Ihren Funktionären hätte der Staat große Suppenkellen in die Hand gedrückt und den Arbeitern bloß Teelöffel. Wie ein Paukenschlag vibrierte die ungeheure Anklage. Otto war nie feige,  jedenfalls nie besonders vorsichtig gewesen. Unverbildet wie er war, sagte Otto, was er dachte. Als Vater von vier Kindern sperrten sie ihn nicht so leicht ein. Ottos weiße Wangenknochen schimmerten durch die dünne Haut.
Er selbst sollte schuld daran sein, dass er sich für seine dreihundert Mark monatlich, nur das Unentbehrlichste kaufen könne? Sein Vater hätte vor dem Kriege, einhundertundachtzig verdient, aber es sei für ihn als Kind hin und wieder eine Tafel Schokolade abgefallen. Das könne er seinen Kindern nicht bieten. „Disser Stoot is nich fehig, blot luder Beamte un Pulezisten.”129
Eduard Jochim rutschte unruhig auf dem Stuhl umher. Ungestraft durfte sich niemand herausnehmen den Arbeiter- und Bauernstaat zu attackieren! Otto wies die Finger seiner Rechten vor. An ihnen zählte er noch einmal die Ursachen für die Teuerung auf. Es gäbe schließlich zu viele Schmarotzer in diesem Beamtenstaat. Jochim, dem alten Bezirksfischmeister, war es unmöglich, noch länger nur schweigend dazusitzen. Einmal, vor Monaten, hatte er Otto sogar zugestimmt, insgeheim, unter vier Augen. Es traf zu. Zu viele Polizisten gab es! Hunderte in einer kleinen Stadt wie Neubrandenburg. Das sei ein Kennzeichen des faschistischen Staates, hatte auch er in seinen Schulungen gelernt.
Seine eigenen Worte könnten Eduard Jochim nun in Teufels Kammer bringen, falls Görß ihn hier und jetzt daran erinnern sollte, was er ihm heimlich zugestanden hatte. Das runde, hochrote Gesicht des ältlichen, kleinen Mannes verriet, dass er sich wieder einmal in tiefen Zwiespalt gestürzt fand. Konnte er wissen, ob da unter den Fischern nicht ein Schweinhund saß, der ihn bei Walter Bär anzeigte. Ins Herz sah man Niemand. Irgendjemand könnte schon am nächsten Morgen im Auftrage Walter Bärs in seinem Büro in Neustrelitz auftauchen, seinen Dienstausweis zücken oder die ‚Hundemarke’ vorweisen und sagen: ‚Kommen Sie mal mit, Genosse Jochim. Wir müssen mit Ihnen über das Gesetz zum Schutze des Friedens reden. Sie haben Ihre Dienstaufsichtspflicht verletzt. Man lässt den Klassenfeind nicht zu Worte kommen. Schon gar nicht in einer öffentlichen Versammlung.’
Otto Görß ließ nicht ab. Um seinen harten Mund zuckte es spöttisch. Wer sich  gegen die Überbezahlung   der  Angehörigen  der  kasernierten Volkspolizei aussprach, der galt den ‚Hundertprozentigen’ als Klassenfeind. Das war ihm wohl bewusst. Doch darüber konnte einer wie er nur lachen. Siebenhundert Mark bekämen selbst die dämlichsten Bengel, die knapp ihren eigenen Namen schreiben konnten und er bekam dreihundert plus achtzig für die Kinder. Unklug wiederholte er sich: Früher wären in Neubrandenburg nur drei Ordnungshüter zu sehen gewesen, jetzt rannten über sechshundert umher. Ach, das langte nicht zu. Doppelt so viele. An jeder  Straßenecke stünden  und  liefen sie und die meisten säßen in den Kasernen herum, statt zu arbeiten. In breitem Mecklenburger Platt sagte er das. Es klang fast gemütlich. Aber das war in Wahrheit einer seiner, im Kern der Aussage, sich wiederholenden scharfen Angriffe auf die ungeliebte Partei.
Stöckelt schaute wütend herüber: „Wi kennen Di all, Otto Görß, wes blot still un taufräden!” 130 Warnend waren diese Blicke gemeint. Sie bedeuteten dem Furchtlosen: Warum er immer wieder den Bogen überspannen müsse? Das könne Folgen haben.
Biederstaedt räusperte sich. Er wollte etwas sagen.
Jochim hob den Zeigefinger zur eindeutigen Geste. Er wünsche keinen Streit. Ärgerlich erwiderte Otto: statt ihm zu drohen, sollten sie lieber dafür sorgen, dass die Lebensmittelkarten abgeschafft würden, dass es außer Margarine, Brot und Marmelade auch alles andere frei zu kaufen gäbe. ”Teigen Johr no den Krieg!”131 Von Westberlin sollten sie sich eine Scheibe abschneiden, statt ihn vollzunölen. Stöckelt schnitt Otto das Wort weg: “Walter Ulbricht hat gesagt,...”
Fritz Biederstaedt und Otto stießen sich gegenseitig mahnend an: Lasst es gut sein. Fritz wies Otto vorsichtig auf das Bild zu ihrer Linken. In Schwarz-Weiß blickte der spitzbärtige, hartherzige Mensch von der kleinen Zimmerwand auf sie herab. Ulbricht hatte  gesagt: „Ja Genossen,  also, ja, da  machen wir eine klare Front zwischen Freund und Feind, ja.” So, im vollen Wortlaut zitierte Stöckelt ihn natürlich nicht.
Die andern Männer schwiegen aus Gründen der Vernunft. Otto Görß biss auf die Zunge.
Sein Freund Fritz hatte ja Recht. Wem half das ganze lamentieren? Nachher werden sie ihren Ingrimm auf ihre Weise bekämpfen.

Mit nun brüchiger, wenn auch gedämpft klingender Stimme, fasste Stöckelt zusammen: „Erfüllt erst mal euer Soll, dann reden wir weiter!”
Damit war alles Wichtige gesagt. Sie hätten es dabei bewenden lassen sollen. Doch Ernst Stöckelt war noch nicht ganz am Ende seiner vorbereiteten Rede angelangt. Er stelle sich das folgendermaßen vor.
„Was sagst du?”, fuhr nun plötzlich auch Kurt Reiniger auf, als sei er gerade aus einem bösen Traum erwacht. Das Bündel steiler Falten über seiner kurzen, gestauchten Boxernase stand wie gemeißelt.
Er zitterte vor Erregung. Angetrunken war er.  „Ganz ruhig! Sitzen bleiben!”, herrschte Fritz Reiniger seinen jüngeren Bruder an. Erst vor einem Jahr, von einer gewissen Dame und ihrer Alimentenklage gehetzt,  war Kurt mit einem alten Koffer, zwei neuen Kindern und seiner neuen Frau aus dem Ruhrgebiet in die DDR übergesiedelt. Bruder Fritz hatte ihn eingeladen. „Komm in die DDR! Wir brauchen noch einen Fischer.”
So trennte er sich, wie er zuerst geglaubt hatte, von dem langen  Rattenschwanz Verbindlichkeiten mit einem einzigen Schnitt.

Biederstaedt scharrte bedeutungsvoll mit den Füßen. Den Neuen, wie Kurt Reiniger, stand es längst noch nicht zu aufzumucken! Mindestens fünf Fischerjahre, und zwar auf dem Tollensesee, müsste man seiner Meinung nach auf dem Buckel haben, um sich ungefragt zu Wort melden zu dürfen.
Biederstaedt fürchtete die Unberechenbarkeit des selten nüchternen Mannes  Kurt.  Erst  vor  kurzem  wäre  er  um Haaresbreite  von Kurts niedersausendem Ruder in dem niedrigbordigen Kahn getroffen worden, weil der glaubte Fritz hätte ihn mit seiner Wasserschaufel mutwillig durchnässt. Wasserspritzer von außen waren die Ursache gewesen. Instinktiv hatte  Fritz sich in jener Gewitternacht auf dem bewegten See vor dem drohenden Schatten unter den Netzballen geduckt. In Biederstaedt lebhaftem Gesicht spiegelte sich das ganze Unbehagen vor der Wesensart  dieses Neulings wider.
Neun Fischer blickten plötzlich auf die Faust Ernst Stöckelts, die er gerade beeindruckend langsam auf den Genossenschaftstisch drückte. Er sei doch nicht zu seinem Vergnügen hier. Ob er denn chinesisch rede? Ihrem Lohn ginge der Fangerfolg voraus! Otto Görß wagte es, seine Faust ebenfall und zwar gegen Stöckelt auf diese von Löchern und schadhaften Linoleumflächen übersäte und außerdem mit dem Hauptfangbuch der Genossenschaft bedeckte Tischplatte zu pressen. Hier sind wir, hieß das. Du bist bloß geduldeter Gast. Fritz, sowie Kurt und Mikusch nickten Otto zu.
Wilhelm Bartel, der dreiundvierzigjährige Genossenschaftsvorsitzende, und Adi Voß schüttelten kaum merklich ihre Köpfe.
Beide hatten bereits bei früheren Gelegenheiten ihre Meinung geäußert. Ihrer Überzeugung nach ginge es so wirklich nicht weiter. Nicht mit der alten Laxheit! Bei jedem Lüftlein zu behaupten, man könne nicht zum Fischen hinausfahren und es lohne nicht bei diesem und jenem Wetter, hielten sie für unverantwortlich. Aber zum Schnapssaufen sei jede Windrichtung gut.
Zur Rechten, von Biederstaedt aus gesehen, im Hintergrund der kleinen Stube saßen die andern fünf, die Ruhigen, die Beobachter. Der kleine dürre Sablotny der keinen Schluck Alkohol vertrug, Gruß, Müller, Milster, Neumann. Allesamt keine handfesten Trinker.
Mikusch, der Eiskalte, schielte angespannt von Görß Miene, die alles verriet, in die Runde. Mikusch war ein  launenhafter, klamauksüchtiger Geselle, wie sich in der Vergangenheit gezeigt hatte. Hoch und breit gewachsen, gab er sich auch in diesen Sekunden deutlich gewaltbereit. Ihm und Kurt Reiniger zuckte es stets in den Fäusten, selbst wenn sie nicht angetrunken waren. Eine Kleinigkeit wäre es für beide, das Universalmöbel umzustürzen und eine Keilerei anzufangen.
Sie warteten nur auf Ottos Signal.
Sogar Karl Neumann hatte Anteil an der Wut auf den Wanderprediger Stöckelt und würde mitmachen. Denn Neumann hasste, wie kein zweiter, alles Neue, nur weil es neu war.
Görß sah das anders. Er war für das Neue, wenn es gut war, wenn ihm einleuchtete, dass es wirklich Fortschritt brachte. Er war für den Fortschritt. Er wäre vielleicht für diese DDR eingetreten, würde sie ihn nicht unentwegt zwingen wollen, sie lieben zu müssen.
Was ist das für eine Liebe, zu der man jeden Tag neu angetrieben werden musste?
Nein! Vor allem, die von Plakaten und Stellwänden herunterschreienden Lehrsätze der Partei, die ihn und seine Mitfischer jeden Tag rechts und links ihrer Wege begleiteten, widerten ihn heftiger als alle anderen an.
Das war keine Werbung um irgendeines Menschen Herz, sondern unverhohlene Drohung gegen eventuelle Aufmüpfigkeit der eigenen Bevölkerung.
Während des ganzen Vormittags hatten die Männer schon Alkohol zu sich genommen. Unbesonnen wie Kinder konnten sie sein. Die irreversiblen Folgen, falls sie Stöckelt den Schlips gerade rückten, bedachten Mikusch und Kurt Reiniger gewiss nicht.
Bartel rutschte zunehmend unruhig auf dem Stuhl hin und her. In den letzten drei Wochen hatten sie von nichts anderem als vom ausfallenden Weihnachtsgeld und der daraus resultierenden Verdienstminderung gesprochen. Weihnachtsgeld stünde Genossenschaftlern nicht mehr zu, hieß es, sondern es sollte im Eigenbetrieb erwirtschaftet werden.
Das sei auch richtig so, hatte Ernst Stöckelt gerade vor einer halben Stunde bekräftigt.
Noch ein einziges unbedachtes Wort aus Stöckelts Mund und sie sprangen ihm tatsächlich an seine große Gurgel.
Hermann Müller schaute zu Bartel hinüber, gab ihm ein kleines Zeichen.
Sofort presste Bartel es hart und schnell über die Lippen: ”Zehn Minuten Raucherpause!”
Nicht einen Augenblick länger hätte er warten dürfen.
Sofort rückten die eingeengt sitzenden Fünf den Tisch und ihre Stühle von sich, als würden sie einen Reifen sprengen, der sie einzuschnüren drohte.
Bartel schnäuzte ins bunte Taschentuch.
Gefolgt von seinem bisher schweigsamen Vorgesetzten, begab sich Ernst Stöckelt ziemlich schnell hinaus. Eduard Jochim sprach draußen auf seinen Mitarbeiter intensiv ein.
Biederstaedt sah sie beide neben dem Auto stehen und gehen. Ernst Stöckelt wickelte sich in seinen langen, schönen Marinemantel. Er schüttelte immer nur den Kopf und machte sich gerade. Anscheinend sah er keinen Grund die Situation zu entschärfen. Es war ja gar nichts passiert.
Es war in der Tat nur ein Nachdenken angeregt worden, ohne das es nie weitergehen wird.
Biederstaedt sah, dass Ernst Stöckelt kaum weniger als seine Männer aufgeregt war. Denn jetzt ging er hastig ein paar Schritte hin und her. Sein Mundwerk stand nicht eine Sekunde still, obwohl Eduard Jochim ganz offensichtlich versuchte seinen jungen,  ungestümen Mitarbeiter zu beruhigen.
Biederstaedt fühlte sich getrieben, seinerseits die Rolle, die Jochim vor der Türe spielte, drinnen zu übernehmen. Er packte Otto und mit einem zweiten Griff  Mikusch am Ärmel. „Jetzt wat dat Muhl hollen!”132 Gleichgültig was der junge Mann noch sagen könnte, selbst wenn er sie bis aufs Blut reizen sollte.
Was im Guten nicht ginge, ließe sich im Bösen sowieso nicht erzwingen. Schließlich wünschte er, was er herbei geschleppt hätte, noch heute ungestört zu genießen. Als Mikusch und Kurt das hörten, reckten sie die Hälse. Wo er die guten Sachen denn versteckt habe? Plötzlich war für beide nichts wichtiger. Görß dagegen sagte, er habe nichts zu verlieren. Das sollten sie sich mal versuchen mit vier Kindern. Deshalb. Bevormunden lasse er sich von diesen Maulhelden nicht mehr und die ganze DDR mitsamt ihren Parolen könne ihm gestohlen bleiben. „Freie Wahlen sollen sie machen!”, dröhnte er, dass es durch die dünnen Fensterscheiben bis an Ernst Stöckels scharfe Ohren gedrungen sein musste. „Um Gottes Willen! Lüd’ wi hem drunken, mokt juch nich unglicklich!” 133, bettelte Biederstaedt.
Görß lachte. In trockenem Ton wiederholte er sich. In einer freien Wahl bekämen sie weniger Stimmen, als die SED Mitglieder hätte.
Aber darum ginge es doch gar nicht, beschwor Biederstaedt seinen besten Freund. Er wollte ihm gerade etwas zuflüstern, da kam Ernst  Stöckelt schon wieder zur Tür herein. Biederstaedt  stockte der Atem, noch bevor der junge Mann den Mund aufmachte. Gleich krachte es.
Doch Stöckelt fragte nur, ob es immer so trocken zuginge bei ihnen.
Im Nu ruckten die kantigen Schädel.
Überrascht hob auch Biederstaedt den großen, geröteten Kopf.
Eine Stecknadel hätte man fallen hören können.
Sogar Otto Görß ging der Mund auf. Perplex, dass Stöckelt plötzlich ihre Sprache beherrschte! Sofort erhob Fritz Biederstaedt sich. Er strahlte wie ein blauer Morgenhimmel. Im Handumdrehen standen vierzehn randvoll gefüllte Gläser da. Keine halbe Stunde später sangen Biederstaedt, Kurt Reiniger und Mikusch in drei verschiedenen Tonarten: „Heut wolln wir glücklich sein, heut wolln wir fröhlich sein...”, als hätte es nie zuvor Anlass zu geringstem Ärger gegeben.
Heute!
Heute hieß es für Stöckelt und Jochim nachzugeben, nicht in der Sache, nur im Stil und Ton. Der Pessimisten Horizonte sind klein, aber ihre Fehl- und Vorurteile riesig groß. Diese für ihn neue Erkenntnis muss vor Ernst Stöckelt wie die Morgensonne aufgegangen sein. Denn er prostete ihnen lächelnd zu, zeigte seine kräftigen Zähne. Zwischendurch erklärte er dasselbe, sogar deutlicher als vorher, nur bemüht ihresgleichen zu sein. Immer habe er wirklich nur ihr Bestes gewollt. Immerhin seien nun schon zwei Sommer lang die Maränenbrütlinge im Tollensesee und sie sollten mal sehen, in ein paar Jahren...
Im Verlaufe der kommenden Jahrzehnte müssten und könnten sie den Hektarertrag durchaus vervierfachen und damit ihren persönlichen Reichtum. Jahraus, jahrein reproduziere ein See von durchschnittlicher Bonität auf einer Fläche von einhundert mal einhundert Metern, einhundert Kilogramm Fischmasse, wenn sie abgeschöpft wird. Blieben die Fänger unter dieser Möglichkeit, dann reduziere sich der Gesamtzuwachs. Es pendele sich stets eine gewisse Menge Biomasse pro Kubikmeter Wasser ein, in Abhängigkeit von der Nährsalzlösung und der Lichtdurchlässigkeit. Diese beiden Faktoren seien im Tollensesee aber von hervorragender Qualität.
„Jawoll! Ji hem schlecht wirtschaftet”, schimpfte Stöckelt durchaus nicht nur humorvoll. Wasser hätten sie genug. Und sie schimpften mit ihm auf sich selber, weil er im selben Atemzug einen neuen Fünfmarkschein aus der Westentasche hervorgenestelt hatte um sie dem Moloch Alkohol zu opfern.
Jawoll, Wasser hätten sie genug, Mikusch möge Bier holen. „Zweitausendachthundert Hektar! Achtundzwanzig Quadratkilometer!”, wiederholte Stöckelt rückfällig scharf, vorwurfsvoll. Aus ihren Möglichkeiten müssten sie, verdammt noch einmal, mehr machen!
„Jawoll!”, bestätigten Otto Görß und Biederstaedt wie aus einer Kehle, als hätte derselbe Mann, den sie soeben noch verwünscht hatten, nicht nur seine Stimme sondern sogar Fell und Gesinnung gewechselt wie ein Chamäleon seine Farbe. „Wat willn ji miehr?” 134, rief Ernst Stöckelt verwegener als vor einer halben Stunde aus. Mehr als zwei Quadratkilometer pro Mann. Damit lägen sie in der Norm.
Sogar Kurt und Fritz Reiniger stimmten zu. Ungefragt erwähnten sie Beispiele aus heimischer Fischereierfahrung.
Beide stammten aus dem Posener Gebiet. Während in den Nachbarfischereien nur klägliche Aalmengen gefangen wurden, hätte ihr Vater schon in den zwanziger und dreißiger Jahren das Zehnfache geerntet, weil er mehr Aalbrut eingesetzt habe. Daraufhin meldete sich Eduard Jochim zu Wort. In der Tat, sie sollten endlich den Beschluss fassen, mit Karpfen zu wirtschaften. Satzkarpfen sollten sie kaufen, mehrere Tonnen, egal ob mit oder ohne Bankkredite.
Da hätten sie doch die mehr als vier Quadratkilometer große Lieps, dieses Prachtgewässer, oberhalb des Tollensesees, mit der idealen Wassertiefe für Karpfen, nämlich weniger als drei Meter im Maximum. „Acht Tonnen Karpfen gehören da hinein und mindestens sechzehn Tonnen werdet ihr wiederfangen. Rechnet euch den Gewinn selbst aus!” Das alte Lied, neu gespielt. Doch keine Dissonanzen mehr. Obwohl die Lieps wegen der ungeheuren Riedflächen kein Gewässer für die Karpfenproduktion war. Die sich immer mehr ausdehnenden Schilfbestände konnte niemand beherrschen. Dieser Urwuchs von ungeheurer Ausdehnung vereitelte einen geregelten Wiederfang von Karpfen zuverlässig. Weil sich in den Rohrbereichen der tieferen Uferzonen ganze Kutterladungen Großfische zuverlässig verstecken konnten. Er hätte schon vor einem Jahr gesagt, was sie tun sollten, bekräftigte Eduard Jochim. „Rottet das verfitzte Rohr aus. Flache See verlanden eben mit den Jahren.” Dann seien die besten Partien des Gewässers schließlich nur noch stinkenden Löchern vergleichbar.
Und er hätte bereits über den Bau und den Einsatz einer Unterwasserschilfschneidemaschine nachgedacht, flocht Otto Görß überraschend ein.
Biederstaedt sah das sonderbare Glimmen in Ottos Augen. Der Schalk Otto sprach. Eulenspiegels bester Kopist. Biederstaedt kratzte den Kehlkopf anhaltend. Denn Otto holte eine Streichholzschachtel aus der Tasche und zeichnete mit vorgespielt seriös wirkender Miene ein Kreuz auf die winzige blaue Rückseite. Vorsitzender Bartel schlug, als er das sah, die Hände über dem Kopf zusammen.
Jedesmal wenn sie tranken, brüteten seine Männer etwas aus, das nie flügge werden konnte. Otto Görß bildete sich doch nicht ein, er könne ein so komplexes Gerät aus Schrottteilen zusammenbauen.
„Wüso nich?“ fragte Otto. Bartels rang um Atem.  Das kannte er zur Genüge. Baumann Otto hatte immer Lust, etwas zusammenzubasteln und hinzuflicken. In Sachen Holz kannte er sich aus, aber doch nicht in der Metalltechnik. “Fische soll der hitzköpfige Kerl fangen!” Das flüsterte er Eduard Jochim zu. Der aber wollte Otto, oder zumindest seinen Denkanstoß, für bare Münze nehmen. „Erst mal sehen!”, erwiderte Jochim deshalb ausweichend.
Ottos fixe Idee, er müsse so etwas wie eine Erfindung machen, reizte Bartels Nervenkostüm bis aufs Äußerste. Mit seinen braunen Machorkafingern knöpfte er vor Erregung zitternd den obersten Knopf seines dunkelblauen Oberhemdes auf.  Wer weiß, was Otto in Wahrheit beabsichtigte. Otto schob sein markantes Kinn noch weiter vor. Vom Scheitel bis zur Sohle war Otto ein Draufgänger.
Vorsitzender Bartel wusste aus trauriger Erfahrung, was aus Fieberphantasien, die man ernst nahm, herauskommen konnte. Regelmäßig, wenn sie trinkend beieinander saßen, kamen ähnlich verrückte Vorstellungen zum Vorschein. Wenn sie im Rausch beieinander hockten, dann fingen sie jedesmal Unmengen Fische. Nur mit der Verwirklichung haperte es gewaltig. „Hört bloß auf!”, warnte Bartel mühsam an sich haltend und zugleich eindringlich. Buchhalter Voß, der in den Weiten der Sowjetunion zuerst als Zahlmeister  und später lange Zeit als Kriegsgefangener dienen musste, nickte ihm hilflos zu. Bartels war Realist, mochte er auch sonst seine Fehler haben. Bartels erklärte Bedenken richteten sich als vorsichtige Mahnung vor allem an Stöckelt und Eduard Jochim, Görß um Himmels Willen nicht zu glauben und die Versammlung zu schließen, obwohl sie einem Görß in dieser Situation gern Glauben schenken möchten.
Bartel sah nur noch das schwarze Loch in das Otto die ganze Mannschaft reißen könnte.
Er sprach gewöhnlich Hochdeutsch. Wenn er je Platt zu sprechen versuchte, klang das schaurig. Er wandte ein: “Nicht Ruhrschnitt, Ruhrschnitt! Sondern Unterwasserruhrschnitt, - un dat jeht nich.”
Görß hatte die miesmacherischen Flüstereien des Vorsitzenden Bartel natürlich mitgehört und ärgerte sich. „Rüchtig Willem”, grinste er, „Unterwasserschilfabschnittmaschine!” Spaßvogel Görß machte komische Gesten, und dann im Ernst, erläuterte er sein Vorhaben an dessen Verwirklichung er anscheinend bereits einige Denkstunden  lang gearbeitet hatte.
Er bewegte seine Hände wie zwei gegenläufige Sägeblätter eines Gatters. Er werde das Ding zuwege bringen!
„Lasst uns von was anderem reden!“ verlangte nun auch der Buchhalter, dem schwante was auf ihn zukommen würde.
Indessen leuchtete das, vom hochprozentigen Alkohol geschürte Feuer in Görß Augen.
Bartel schüttelte den graumelierten Kopf vergeblich. Nicht ein einziger DDR-Ingenieurbetrieb habe bisher die Aufgabe zufriedenstellend lösen können, ein Boot zu fertigen, dass sich durch Eigenantrieb im Rohrdickicht Bahnen in Metertiefe freischneiden konnte und inzwischen waren auch Gegenstimmen laut geworden, eine massive Schilfreduzierung würde der Natur nicht gut bekommen.
Bartel kniete mehr, als er saß.
Eine alte Schusswunde im Becken, vor Stalingrad erlitten, hinderte ihn beschwerdefrei aufrecht zu sitzen.
Bezirksfischmeister Jochim wunderte sich: „Warum bist du bloß immer gegen den Fortschritt, Willem?” Er strich sehr langsam mit der weißen Rechten über seinen kahlen, roten Schädel.
Jochim versuchte energisch, die Bedenken Bartels zu zerstreuen. Wenn die Bauern so dächten, würden sie mehr Melde und Disteln ernten, als Korn. Man müsse das Unkraut ausrotten, egal wo es vorkommt. Kultur kommt vor Natur!
„Bitte!”, sagte Bartel grob, „dann macht doch gleich, was ihr wollt. Görß spinnt!” Damit erhob er sich. Er ginge nun doch lieber nach Hause. Der Versammlungsrahmen war ohnehin längst gesprengt, die offizielle Schulungsrunde hatte ihren Geist aufgegeben.
Stöckelt, als er bemerkte, dass der Vorsitzende sich nun, wo es konkret wurde, davonstehlen wollte, hielt Bartel am Jackenärmel fest und legte die Stirn in Falten. Warum er nicht auf die Fähigkeiten seiner eigenen Leute baue.
Otto sah sich wie nie zuvor ermutigt, seinen geheimen Intentionen zu folgen.
Mit vermehrtem Eifer legte er dar, was das Kreuz auf dem blauen Untergrund der Streichholzschachtel bedeuten soll. Das sei die Schwachstelle aller bisherigen Unterwasserschnittmaschinen. Es müsse lediglich das gleichzeitige Zusammenwirken des Horizontal- als auch des Vertikalschnittwerkes bedacht werden. Während er so redete, rollte er allerdings wieder verdächtig mit den dunklen Augen.
Stöckelt nickte, als verstünde er.
Er traue ihm das zu. Otto solle sich umgehend an die wichtige Arbeit machen.
Eduard Jochim, der als einziger noch völlig nüchtern war und der voraussah, dass er im Bezirkstag fundiert zu berichten habe, welche Steigerungsraten im Bereich der Fischproduktion zu erwarten seien, hegte natürlich gewisse Zweifel, ob ausgerechnet ein dickschädliger Fischer das zwar dringend anstehende, aber komplizierte Problem zu lösen vermochte.
Andererseits war er froh, dass die Diskussion nun angenehmer verlief.
Wilhelm Bartel möge die Angelegenheit mit Fingerspitzengefühl begleiten. Dieser Görß meine anscheinend wirklich, er sei imstande die Maschine zu bauen. „Du kannst hier nicht kneifen, Willem!”
Wilhelm wollte nicht. Mit ihm war hinsichtlich Karpfenwirtschaft in der Lieps grundsätzlich nicht zu reden. Er könnte aus der Haut fahren. „Wir sind Fänger, und machen keine Kinkerlitzchen!”
Mitten in diese Bemerkung hinein lachte Ernst Stöckelt.
Wilhelm, der immer noch dastand, so klein wie breit, sog verzweifelt am letzten Zentimeter seiner Zigarillo. Erst verbrannte er sich erneut die geschwärzten Fingerkuppen, dann gab er eine Erklärung ab. „Ein für allemal”, begann er so laut, dass alle aufhorchten: selbst wenn sie das Ried denn jemals auf wunderbare Weise um die Hälfte gemindert hätten und wenn er sich denn dazu durchringen könnte, die Bank um Kredit zu ersuchen, gäbe es immer noch riesige Probleme, für die er keine Lösung sieht.
Er hustete gegen den Nikotinreiz auf den Schleimhäuten. Die Satzfische würden sich auf der Lieps nicht halten lassen.
Die zweisömmrigen Karpfen hetzten von der ersten Minute des Einsetzens an wie eingesperrte Tiger im neuen Gewässer umher, den Ausweg aus der Gefangenschaft zu suchen. Das wüssten alle Fachleute. Kleine Karpfen sind reisende Fische. Das kleinste Schlupfloch würden sie finden und auf Nimmerwiedersehen flüchten. Es müssten aufwendige Sperren zwischen dem Tollensesee und der mit ihr durch einen breiten Graben und einen weiteren immer noch intakten Flusslauf verbundenen Lieps gebaut werden.
Viertens... Bartel hob den Ringfinger.
Ernst Stöckelt und Otto Görß ließen übereinstimmend kein weiteres Gegenargument zu.
Mit seinem üblichen ‚Kinnings!’ fuhr Stöckelt den „Genossen Vorsitzenden“ an, der längst noch kein Genosse war, sowie den sich gegen sämtliche Illusionen sperrenden Buchhalter Voß. „Ich bin dafür!“
Zumindest Voß hätte sein Vater sein können.
Biederstaedt strahlte: „Otto bucht die dei Maschin und de Afsperrung. Stümmt dat Otto?” 135
Der Angesprochene nickte Stöckelt zu. Seine Lippen zuckten, denn er war ein ausgemachter Schelm. 
Erst vor einer Woche hatte er dem dicken Neumann freundschaftlich den Rücken getätschelt, worüber der sich gefreut und fast geehrt gefühlt hatte. Gerade zu Hause angelangt war der Koloss Neumann jedoch von seiner resoluten Ehefrau Ida dreimal um die eigene Achse geschleudert und laut befragt worden: „Weker hett di de Hosenpot anstickt?” 136
„Otto!”
Keiner weiter brachte  das  fertig  ihm den Rücken zu klopfen und  zu streicheln   und  ihm gleichzeitig auf  die  Hinterseite der guten Feierabendjoppe ein Hasenbein zu heften, mit der er dann durch die Neubrandenburger Straßen gerannt war .
Stöckelt, der verstohlen auf seine Armbanduhr schaute, bestand auf sofortiger Abstimmung.
 „Otto, Düwelskierl, woväll Geld brukst du dorför?” 137, fragte er. Wie aus der Pistole geschossen antwortete Görß: „Höchstens Sössdusendt!” 138
Bartel lachte stotternd. Das könne Ottos Ernst nicht sein. Er musste Platz nehmen. „Miehr nich?”, wunderte dagegen Stöckelt sich, „dat löt sich doch moken.” 139 Der Riesenbrocken wollte Wilhelm Bartel im Halse stecken bleiben.  Mit solcher  ungeheuren Summe vermochte  er  seine  zwölf  Männer  fünf  lange Wochen zu löhnen.
„Wer ist dafür?”, fragte Stöckelt. Die Abstimmung zu leiten stand ihm nicht zu. „Alltohop!”140, erklärte Biederstaedt leichtfertig, weil er Otto liebte. Gewohnheitsgemäß hoben die Mitglieder die Hand. Sablotny und Mikusch wussten offensichtlich nicht, worum es ging. Aber da Biederstaedt und Hermann Müller zustimmten, musste es schon seine Richtigkeit haben.
Wilhelm wollte retten, was zu retten war und deshalb im Protokoll vermerken lassen, dass ihm die Quartalsversammlung der werktätigen Fischer „Tollense”, Neubrandenburg, mit dem Datum des soundsovielten November, den Auftrag übertragen hat, zu prüfen, ob ein Karpfenbesatz in der Lieps vertretbar sei. Zweitens, dass die Anwesenden Otto Görß verpflichteten, eine technische Zeichnung anzufertigen...
Görß fuhr sogleich gegen Bartel und dessen geschickt gedachte Formulierungen: „Quatsch! Zeichnung.” Er tippte auf seinen Kopf. Da drinnen wäre alles klar und außerdem gab es da eine Skizze, die auf seiner Streichholzschachtel. Bartel konterte mit ungewöhnlicher Schärfe: „Nix is! Endwerer orer!”
Otto wiederholte  diese vier Worte mit Betonung. Er verlange die Freigabe von wenigstens dreitausend Mark oder er stünde für die ganze Sache nicht mehr zur Verfügung. Er wusste, dass Bartel geizig bis zum selbstverhängten Hungerleiden sein konnte. Da hatte der Vorsitzende neulich frierend auf dem Strasburger Bahnsteig gestanden und sich nicht eine Tasse Kaffe gegönnt, weil die  ihm zu teuer  erschien, obwohl  sein  Gesicht schon blau angelaufen war. Den Preis bisse er von der Tasse nicht ab. Dabei hatten sie den ganzen Tag schwer auf dem Haussee gearbeitet.
Otto fühlte für Geizkragen kein Mitleid. „Dredusend!”, forderte er, nun erst recht trotzig. Im Stehen, wankend, die winzige Streichholzschachtel in der Hand, mit glasigen Augen auf das von ihm gezeichnete Kreuz starrend, wiederholte Görß: „Dat watt dat Vertikolschnittwark!” 141
Andere Schwierigkeiten sehe er nicht. Ihm war anscheinend klar,  nie wieder würde er seine Kollegen davon überzeugen, dass sie ihm soviel Geld zur freien Verfügung aushändigen müssten. Im Protokoll müsse geschrieben stehen, er bekäme die dreitausend Mark, dafür sei abgestimmt worden.
„Jawoll!”, bekräftigte Biederstaedt.

In der darauf folgenden Nacht wälzte sich der Vorsitzende Bartel unruhig im Bett. Der Sturm war zum Orkan angeschwollen und ließ ihn nicht schlafen. Die riesigen Lindenbäume ächzten und ihre starken Äste knackten. Wilhelm erhob sich und ging ans Fenster. Wind pfiff durch die Ritzen der Fensterrahmen. Er fror und stand sinnend da. Wie sollte er diese Genossenschaft zusammenhalten, wenn seine Männer gegen ihn entschieden? Wie konnte der kluge Stöckelt glauben, Görß meine immer was er sage?
Die brausenden Wellen brachen sich in geringer Entfernung von seinem Wohnzimmer an den Findlingen, die das Ufer am Badehaus säumten. Bartel sah die dunklen Konturen des Waldes und seufzte. Schließlich begab er sich wieder zu Bett. Er starrte die graue Zimmerdecke an, als stünde da der Ansatz für die Lösung seiner vielen Probleme geschrieben.
Ruhe fand Wilhelm erst, als er auf den rettenden Einfall kam, am nächsten Morgen eine Kurzversammlung einzuberufen. Er wird seine Fischer überzeugen, mit dem Genossenschaftskapital sorgsamer umzugehen und nichts zu überstürzen. Otto schulde ihnen erst den Beweis, dass er das, was er wolle, auch umsetzen kann. Den idiotischen Beschluss, Görß dreitausend Mark in die Hand zu drücken, wird er wegen gestriger Unzurechnungsfähigkeit der Mehrheit der Anwesenden kassieren. Zweimal dreitausend sogar, die waren ja verrückt!
Der ernüchterte Otto wird sich selbst ein gehöriges Stück zurücknehmen. Wahrscheinlich wird er zugeben, dass er sich lediglich einen Scherz erlaubt habe.
Um sechs Uhr kamen sie wie gewohnt zur Arbeit.
Alle, außer Milster und Neumann, erschienen mit grauen und zerknitterten Gesichtern. Erst sehr spät waren sie heimgekehrt.
Sablotny, der ein Leichtgewicht war und nicht ein einziges Glas Klaren vertrug, hatte fünf oder sechs getrunken. Er fuhr regelmäßig abends von Neubrandenburg über Burg Stargard heim, denn er hatte mit seinen fünfzig Lebensjahren noch eine temperamentvolle, junge Frau geheiratet. Statt aber an der dritten Haltestelle der Reichsbahn in Blankensee auszusteigen, war er die ganze Nacht hindurch mit demselben Personenzug über Oranienburg und Berlin wieder zurück nach Neubrandenburg gefahren. Auf der Rücktour hatte er zeitweise im Stehen geschlafen und so ebenfalls wieder seinen Zielort verfehlt. Nach alledem war ihm nicht mehr danach zumute gewesen, noch einen Versuch zu unternehmen. Strafen hatte er genug bezahlt. Was nur seine Frau sagen und ob sie ihm glauben würde? Das war seine größte Sorge.
Wilhelm Bartel sagte es direkt: „Otto, was wir gestern im Rausch geschrieben und gepinselt haben, ist vergeben und vergessen.”
„Vertroch is Vertroch!” 142, beharrte Görß. Er klatschte die derben Hände zusammen.
In der Tiefe seiner Augäpfel glomm der rote Zorn. Er wollte die Welt umstürzen, und zwar die ganze Welt. Überraschend für Bartel reckte Otto seine Rechte aus: „Wetten?” Dabei gähnte und lachte er gleichzeitig.
Der unerwartete Wechsel im Mienenspiel seines Gegenübers überreizte den Vorsitzenden. Bartel fuhr ihn an: „Schluss mit den Kindereien.” Görß schüttelte den Kopf ganz langsam. Diesmal nicht! Immer noch hielt er die Hand hin: „Wenn’t nix wat, denn go ick in de SED, wenn’t ever wat wat, denn geihst du inn’ne Partei!” 143 Bartels graue Augen schielten über den Brillenrand.
Alle schwiegen. Dann musste das Verhängnis eben seinen Lauf nehmen. Er hatte redlich versucht es aufzuhalten.
Ottos immer noch vorgestreckte Hand regte ihn noch mehr auf als der übrige Blödsinn.
Wilhelm verkniff die Augen. Vielleicht wird der Tag kommen, an dem er der SED beitreten muss, aber dann nicht als Verlierer.

Vorsitzender Bartel erreichte, dass Otto Görß bis zur ersten Ausführungsstufe nur zweitausend Mark in bar ausgehändigt wurden. Darüber hinaus erhielt er das Verfügungsrecht über eintausend Mark in Verrechnungsschecks.
Es war seine Pflicht, den Schaden zu begrenzen.


Montag, 17. April 2017

Im Zeitalter zunehmender Gefährdung der Demokratie: ein Rückblick

Tertullian.PNG wird angezeigt.
Alfred Marx erstellte dieses Bild soeben, sandte es mir zu


Es geht darum, dass jeder Katholik wissen sollte, dass seine Kirche sich (wenn auch erst) mit Vatikanum II, 1965, eindeutig von dem durch Ambrosius von Mailand im Jahr 380 verurteilten Recht jedes Menschen auf Gaubensfreiheit, distanzierte. Sie tat es mit dieser Veröffentlichung

ERKLÄRUNG
DIGNITATIS HUMANAE
ÜBER DIE RELIGIONSFREIHEIT
DAS RECHT DER PERSON UND DER GEMEINSCHAFT
AUF GESELLSCHAFTLICHE UND BÜRGERLICHE FREIHEIT
IN RELIGIÖSEN BELANGEN


Seither verbesserten sich die Beziehungen zwischen maßgeblichen Vertretern der beiden Halbschwesterkirchen - zwischen Mormonen und Katholiken - erheblich.
Ebenfalls sollte jeder wissen, dass die Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage mit dem Hervorkommen des Buches Mormon, 1830, erklärte, - 135 Jahre früher als Rom - dass das Individualrecht ein allen Menschen von Gott verliehenes Recht ist. Niemand darf es antasten.

Es wurde viele Jahrhunderte hindurch massiv angetastet . Nicht nur in diesem Punkt erkannte ich selbst die Notwendigkeit und Güte der Existenzberechtigung meiner Kirche. Aber ich erkannte auch, dass namentlich die Evangelikalen der USA von daher ihre Feindseligkeit begründet sehen. Man bedenke

Die Southern Baptist Convention wurde 1845 gegründet, um Sklaverei zu verteidigen und erst Juni 1995, zum 150. Jahrestag der Verbandsgründung verwarfen ihre Exponenten diese Einstellung.

Es geht hier hier nicht um Rechthaberei sondern um Tatsachen von Bedeutung.

Im 2. Nephi 2 steht u.a. bedeutenden Aussagen zu diesem Thema dieser von Lehi um 580 v. Chr. formulierte Satz:

Vers 26

"Und der Messias kommt, wenn die Zeit erfüllt ist, damit er die Menschenkinder vom Fall erlöse.
Und weil sie vom Fall erlöst sind, so sind sie für immer frei geworden und können Gut von Böse unterscheiden; sie können
für sich selbst
handeln und müssen nicht auf sich einwirken lassen, außer durch die Strafe des Gesetzes am großen
und letzten Tag, gemäß den Geboten, die Gott gegeben hat."

Samstag, 15. April 2017

Mein Osterwunsch


Zu meinen Wünschen gehört der, dass die Verleumdung meiner Kirche durch Christen aufhört.
Manchmal ist es nur ein einziges Wort, das unsere Kritiker hinzusetzen: In einem Fall schrieb einer unserer Feinde:

       Mormonen trachteten nach der politischen Weltmacht.

Das Gegenteil ist der Fall.

Mormonismus sucht, wo immer unsere Missionare hingehen, wo immer ein bemühtes Mitglied der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage auftritt, die Vergrößerung der Macht der Toleranz, der Vernunft, der Liebe.

Solche Prinzipien schließen jegliche Absicht aus, jemals über andere herrschen zu wollen.
Sogar in Sachen Theologie sollte unsere Gegnerschaft bedenken, dass die Kirche Jesu Christi lehrt: dass jeder Mensch in den Augen Gottes gleichwertig ist.

Wir sind es die die Unterschiede machen. Das Buch Mormon schreibt - in diesem Fall Alma der Jüngere, im Jahr 80 v. Chr.

"Siehe, er lädt alle Menschen ein, denn die Arme der Barmherzigkeit sind ihnen entgegengestreckt, und er spricht: Kehrt um, und ich werde euch empfangen." 5:33

Kopie von Bertel Thorvaldsen Christusstatue im Besucherzentrum des Tempelplatzes von Salt Lake City

Der eine akzeptiert die Einladung indem er  die Gebote Gottes hält, der andere missachtet sie.
Der Eine legt Wert auf seine eigene Entfaltung, der andere weniger. So ist es mit dem Zugewinn an Erkenntnis.
Erneut ist es Alma der darauf hinwies.

"Es ist vielen gegeben, die Geheimnisse Gottes zu kennen; doch ist ihnen das strenge Gebot auferlegt, nichts mitzuteilen außer gemäß dem Maß seines Wortes, das er den Menschenkindern zugesteht, gemäß der Beachtung und dem Eifer, die sie ihm widmen."





Freitag, 14. April 2017

"The Jesuit Review " about "Mormons"


AMERICA
The Jesuit Review August 19. 2015
Stephen H. Webb is an American Catholic theologian, author, and First Things columnist who teaches at Christian Theological Seminary in Indianapolis, Ind. He holds a Ph.D in theology from the University of Chicago and a B.A. in religion from Wabash College, where he taught in the religion department from 1988 to 2012.
Author of more than a dozen books and hundreds of articles, Professor Webb’s research works cover everything from a Biblical basis for Christian vegetarianism to a theology of compassion for animals and a theology of sound for hearing-impaired Christians. He has also written on the Christian conversion of Bob Dylan and on the problem of creation and evolution. He converted to Catholicism in 2007 and currently lives with his wife (a theater professor at Butler University) and children in Brownsburg, Ind.
Professor Webb’s newest book, “Catholic and Mormon: A Theological Conversation” (co-authored with Alonzo L. Gaskill of Brigham Young University) will be published Aug. 31 by Oxford University Press. 

It is a follow-up to his earlier “Mormon Christianity: What Non-Mormon Christians Can Learn from the Latter-day Saints” (Oxford, 2013).
On Aug. 11, I interviewed Professor Webb by email about his upcoming book.
Why did you write this book?
There is a great need for dialogue between Mormons and Catholics, especially since Mormonism is growing in areas of the world that are traditionally Catholic. Moreover, the Mormons are opening a Mormon Temple in Rome in a year or two. This is the first book to really look into how much Mormonism and Catholicism share and how much they can learn from each other. I wrote it with a BYU Professor, Alonzo Gaskill. We hope it will be the beginning of a dialogue, the first word but certainly not the last as these two traditions increasingly encounter each other.
Who is your audience?
Our book is very accessible. We get down to the basics of Christianity to create a lively conversation with a lot of theological depth. The book could be read by just about anyone interested in the topic, but it could also be used in a comparative theology class or any discussion of religious diversity. I think it would even work as an introduction to theology, because people often come to see their own faith in fresh ways when they take another tradition seriously. Mormonism and Catholicism are close enough to really engage each other, and different enough to offer new perspectives on old theological issues.
Christian theologians tend to disagree about whether Mormons are Christians, with many arguing “no” because the Book of Mormon is an addition to the New Testament. What do you think and why?
The problem with Mormonism for many Protestants is the Book of Mormon, which is another testament to Jesus, a new testament that does not contradict the Bible in any significant way. Catholics understand that the Bible alone is not a sufficient source of religious authority. Catholics view the Bible through the creeds and other traditional teachings of the Church.
Mormons use the Book of Mormon as a hermeneutical key to understanding the Bible’s many theological perplexities. So Catholics and Mormons agree that there needs to be another teaching tradition in addition to the Bible to make full sense of biblical truth. The Catholic criticism of Mormonism usually focuses on the topic of the Trinity. Mormons emphasize the relative independence of the three divine persons of the Trinity. Many theologians today, whatever their church tradition, are developing what is called a “social Trinity,” which is very similar to Mormonism in seeing the Trinity as a society of persons rather than a single immaterial substance defined by a set of internal relations.
The Book of Mormon is based on a revelation in the woods to 19th century prophet Joseph Smith, who claimed God told him about Jesus Christ’s interactions in ancient America with various indigenous tribes. Unlike the Old and New Testaments, however, there is no archeological evidence that any of these tribes ever existed. What would you say to Catholics who avoid Mormons because their religion lacks historical credibility?
For me, the Book of Mormon is an apparently miraculous text that addresses theological issues in a narrative form. Reading it religiously, rather than according to modern historical standards, suggests how it resolves many of the issues that were dividing Protestants in the nineteenth century and points the way toward a richer and broader Christianity than was then available. Joseph did not know any Catholics, and he lived in a time of sterile theological debate and ecclesial division. He wanted a fully sacramental Christianity with lively rituals and a hierarchical source of authority. He had a deeply Catholic mind. He was, in a way, reinventing Catholicism for a time and a place that did not have access to a truly Catholic presence.
What can Catholics learn from Mormons?
Protestants tend to view Mormons and Catholics (wrongly, I think) as being insufficiently grace oriented. Mormons and Catholics both talk about works and holiness more than Protestants, and they can learn from each other on that score. Moreover, Mormons have a strong belief in the physical reality of heaven. Catholicism used to have a more graphic and detailed approach to heaven, but we have largely lost that, I am afraid. We have much to learn from Mormon confidence in a materially real afterlife.
Mormons also have a very strong sense of the connection between the living and the dead. This is so unlike Protestantism, which rebelled against Catholic prayers to and for the dead, but it is very similar to Catholicism. We Catholics can come to appreciate our own responsibility for the dead in news ways through studying Mormonism.
What can Mormons learn from Catholics?
Mormons believe that Christianity lost its way after the death of the original Apostles, so most Mormons do not read much traditional theology. Don’t get me wrong. I have found Mormons to be more theologically sophisticated and engaged than the members of any other church I know. They are incredibly literate about their own beliefs and, since they are a minority religion, they are very articulate in showing the relevance and coherence of those beliefs.
Mormons are theologically curious and intellectually bold in their faith. But Mormons often do not know how their beliefs fit into the rest of the Christian tradition. I try to show in my work that Mormonism is not an isolated and inaccessible form of Christianity. Mormon beliefs have many interesting parallels and precedents in other parts of Christian history and tradition.
As you understand it, what is the essential message of Mormonism?
Their central message is no different from any other church. Every Mormon I have talked to and every Mormon book I have read promotes the Lordship of Jesus Christ as the Son of God and our one true Savior.
What is the biggest difference between Catholicism and Mormonism?
Mormons have a disruptive, discontinuous view of Christian history. They find a lot of falling away, a nearly constant temptation of apostasy, which must be countered by nothing less than prophetic authority. Catholics, of course, have a continuous view of the Holy Spirit's guidance of the Church throughout Christian history, and thus are content with grounding religious authority in apostolic succession, which leaves them suspicious of any prophetic claims that undermine that religious continuity.
You’ve engaged in a number of dialogues with Mormon scholars, including the co-author of your newest book. In your opinion, why don’t mainstream U.S. Christian theologians take Mormon theologians seriously?
It is a two way street. For a long time, Mormons kept to themselves theologically. In recent years, they have opened up about their own traditions and beliefs, and this makes it possible for real dialogue to begin. Moreover, the theological landscape has shifted on the issue of divinization, which allows non-Mormons to appreciate Mormon contributions to this difficult idea. Divinization means that we will, in some sense, share in God’s power and glory in heaven. This has always been a part of Catholic theology, but it was not often talked about until the last ten or fifteen years. Now, divinization is becoming a standard topic in theological schools and journals.
Protestants never accepted divinization, so seeing Mormonism through Protestant eyes makes them look a bit exotic. Looking at Mormons through Catholic eyes helps to make better sense of their theology. They have a very interesting and informed view of divinization that deserves careful and serious study.
What are some stereotypes Catholics have about Mormons?
Mormonism has not really been on the Catholic theological map except in terms of its successful effort to grow in areas of the world that have been historically Catholic. That creates some tension. It wasn’t until 2001 that the Catholic Church decided that Mormon baptisms are invalid. The reason for that decision was concern over Mormonism’s lack of a strong doctrine of original sin and its view of the Trinity. Before that time, Mormon baptisms were treated just the same as the baptisms of any Protestant Church. So Catholicism does not give Mormons the same honor as Protestants in being treated as “separated brethren.” I think that is a real shame, especially since Mormons have a much higher view of Jesus Christ than many mainline Protestant churches.
What are some stereotypes Mormons have about Catholics?
Mormons are critical of the way the Catholic Church absorbed so much Greek and Roman philosophy. They think Catholic talk of God being infinite, boundless, unknowable, immaterial, and so on makes God too distant and replaces the biblical view of God with a philosophical one.
What do you want readers to take away from this book?
That there is a new theological world (Mormonism) that is waiting to be discovered, and the trip is exciting if you take it seriously and enter into it with an open mind.
If you could say one thing to Pope Francis about Mormons, what would it be?
The time is ripe for Catholics to take Mormons seriously. A good topic to begin with would be a reconsideration of the decision by then-Cardinal Joseph Ratzinger to deny the validity of baptisms by the Latter-day Saints. A good place to begin would be Rome, and a good time would be when the Mormons open their new Temple there!
What’s your favorite scripture passage and why?
Ephesians 1:4. That God chose us “in Christ” before the creation of the world is a truly mysterious and marvelous truth. The world was created by, for, and through Jesus Christ. We were chosen to be his friends from the beginning, which is why God created the world in the first place. Everything that happens here is preparation for our being presented to Jesus, holy and blameless.
What are your hopes for the future?
I am continuing on my path of exploring the many riches of Joseph Smith’s own theological journey. He was unmatched in the nineteenth century by his capacity for spiritual wonder and his talent in synthesizing so many aspects of Christianity that had fallen into fragmentation and disuse. I don’t know of any theological tradition that is more interesting to study and more fascinating to contemplate.
Mormons, for example, really honor the idea that Jesus Christ was the creator of the world and that he appeared to the people of the Old Testament. The pre-existence of Christ finds no more vigorous or heartfelt support and explication than in Mormon theology. Studying Mormonism, and being with Mormons, always draws me closer to Christ, and that is all I want and hope for: to be a witness to the glory and divinity of Jesus.
Any final thoughts?
People tend to focus on the question of whether Jesus really appeared to the people of the Americas, which is the teaching of the Book of Mormon. I think the greater question is whether God is real, and if so, what kind of reality that is. Mormons do not separate spirit from matter. Spirit is a higher form of matter. That means that God is material in some way, which is a surprising thought for many Catholics.
But after all, we believe that Jesus exists today in his glorified body and that we will join him after the resurrection of our own bodies. Matter has the potential to become divinized—supernaturalized, we could say. Mormons believe that heaven will be the transformation of time and space, not their obliteration. That, to me, is a wonderful thought, and one which I wholeheartedly, as a Catholic, endorse.

Sean Salai, S.J., is a contributing writer at America.

Samstag, 8. April 2017

Mormonen sind Freunde Israels und der Araber!



1936, oder 37 - ich war damals sieben - wohnten wir in Wolgast, Norddeutschland, zur Miete bei dem Gemischtwarenhändler Eckdisch, Wilhelmstraße 53. In den Gassen schnappte ich den Begriff "Judensau" auf. Die Ladentür des Kaufmannes aufstoßend schrie ich es zweimal, soweit ich mich erinnern kann.
Der kleine joviale Mann, Vater zweier erwachsenen Kinder wusste, dass mein Vater kein Nazifreund war: "Herr Skibbe, ihr Sohn hat mich beschimpft!"

Vater Wilhelm der sich fünf Jahre zuvor, nach gründlicher Überlegung den Mormonen angeschlossen hatte, warnte den Hausbesitzer auch bei dieser Gelegenheit.  Er habe  mit ihm schon wiederholt darüber geredet, die Juden sollten wieder zurückkehren in das Land ihrer Väter. Herr Eckdisch wäre gut beraten seine drei Häuser, die ihm in Wolgast gehörten zu verkaufen und das Geld nehmen um sich dann in Palästina niederzulassen. Er sehe zunehmend Gefahr für alle Juden Deutschlands. Sein etwa fünfundvierzigjähriger Gegenüber lachte: "Wissen sie, wir sind ja keine deutschen, sondern polnische Juden. Denen darf keiner etwas antun. Wir stehen auch unter Londoner Schutz“
So die Überlieferung meiner Mutter.

Dann winkte Vater, - ein Holzpantoffelmacher in seinen besten Jahren, - mich zu sich. Nach kurzem Hinweis legte er mich über die Knie, nahm einen Pantoffel. Es klatschte heftig, war aber kaum schmerzhaft: "Denke daran: alle Menschen sind Kinder Gottes!" Dreimal fragte er nach: "Hast du das verstanden?" Muss ja wohl, denn wenn ich das weiter erzählt hätte wäre das nicht ohne Folgen geblieben.

1938 oder 39 kam ein LKW der schwarzen SS und stoppte vor unserem Haus. Ich lief nach oben und sah dann den Mann mit der Mütze, der hinter mir her lief,  und erinnere mich gut an das Totenkopfsymbol, auch ein wenig an das Gesicht, als er die uns gegenüberliegende Tür aufriss und der in ihrer Küche stehenden Frau des Händlers, sagte: „Kommen sie mit!“. 

1944 im Oktober erhielten wir eine Postkarte aus dem „Generalgouvernement“, abgestempelt in Warschau: „Vater tot, Mutter tot, Lotte tot. Jakob.“

Das hat sogar mich erschüttert. Als polnische Juden waren sie während des Aufstandes im Getto umgekommen.

Ich liebe die toleranten Araber und schrieb einen Geschichtsbericht. Im Internet nachzulesen 

http://gerd-skibbe.blogspot.com.au/2015/08/die-vergessenen-sohne-ismaels-by-gerd.html