Samstag, 24. Januar 2015

Ernst Kay

Ernst Kay mochte knapp sechzig sein. Damals, im Frühjahr 1960 gehörte er dem Sicherheitspersonal des Panzerreparaturwerkes Neubrandenburg an und war wegen seiner Alt-KPD-Mitgliedschaft Teil der Betriebsleitung. Er verfügte dementsprechend über Insiderwissen. Zu seinen Aufgaben gehörte es, uns Fischer zu begleiten und zu bewachen, wenn wir im Sperrbereich fischen wollten.
An jenem Morgen, den 15. Mai hatte ich mir das ND (Neues Deutschland”) mit auf den See hinausgenommen. Da stand in roten Lettern auf der Titelseite die Schlagzeile: “Nikita Sergejewitsch Chrustschow: FÜR EINE WELT OHNE WAFFEN”.
Ich hielt Ernst Kay das riesige Blatt hin. Aus seinem langen und müden Faltengesicht warf er einen schrägen, kurzen Blick auf seine Parteipresse und sagte beeindruckend kühl, aber mit jener ungeheuren Selbstverständlichkeit, die gewisse Wahrheiten eben begleiten: “Hei lücht!” (Er lügt!)
 
Keiner der Kremlchefs samt ihren Beratern, weder Lenin, noch Trotzki weder Stalin, noch Tuchatschewskij geschweige denn Malenkow, hätten jemals dermaßen “brutal”, wie eben Chrustschow auf militärische Rüstung gesetzt. Jedes Wort, das Ernst Kay mit seiner heiseren, doch nicht unsympathischen Stimme so gelassen aussprach, drang mir tief ins Bewusstsein. Dann schnitt er alles, was er geäußert hatte, auch meine weiteren Fragen mit der lapidaren Bemerkung weg, aus Frauen und den Militärs mache er sich nichts mehr. Prost! Er trank etwas, das wie Wasser aussah. Er betrachtete den Rest des Inhaltes traurig und steckte die kleine Flasche zurück in eine Tasche seines weiten Jacketts, wo er sie hergeholt hatte, wobei er mich mit einem weltmännisch klugen Blick auf die letzte Schlussfolgerung seines bewegten Arbeiterlebens hinwies: für ihn sei die pünktliche Einnahme seiner Seelenmedizin immer noch das Wichtigste.

Ich nickte, mochte ihn und bedachte sein Vermerk unter tausend gesammelten Illusionen “Hei lücht!” (Er lügt!)  

 

7 Kommentare:

  1. Interessant? Aber glaubst Du, d. dieser Mann wirklich hoch genug in der Partei vernetzt war, um dies ernsthaft beurteilen zu koennen? Zumal ddie KPdSU selbst dem DDR_Politbuero viele Informationenen vorenthielt. Als Betriebsrat in Neubrandenburg? Auf welche spezifischen Entwicklungen hat er sich denn bezogen? Was fuer spezifische Belege hat er angefuehrt? Auch wundert mich, d. er den Namen Trotzki in diesem Zusammenhang erwaehnte -- die KPDSU sowie die SED und seit 1928 auch die KPD haben Trotzki verteufelt und/oder totgeschwiegen. Dies kommt mir ein wenig anachronistisch vor.. Und schlimmer als Stalin? Dein Freund Axel

    AntwortenLöschen
  2. P.S.: Sprachlich ist diese Anekdote uebrigens schoen formuliert, einschliesslich Lokalkolorit

    AntwortenLöschen
    Antworten
    1. Welcher Altkommunist, um 1900 geboren wusste nicht, dass Trotzki der Gründer der Roten Armee sowie Volkskommissar für das Kriegswesen war???
      Er spielte eine ähnliche Rolle wie Thomas B Marsh bei den Mormonen - er war zu wichtig, als dass wir nicht möglichst alles über ihn erfahren wollten. Hast Du mal, wie ich, mit Trotzkisten geredet?
      Und Du, lieber Axel kennst persönlich wohl kaum Rotfrontkämpfer des Jahrgangs 1900. Ihr habt alle zusammen keine Ahnung welche Hintergrundinformationen unter Genossen kursierten. .Ich war mit einem Dolmetscher befreundet der als Politoffizier Details über das Innenleben seiner Mitgenossen verfügte die Atomraketen betreuten..Das Beste allerdings gab er mir erst nach der Wende preis.

      Ich bin froh glauben zu können, dass uns die Augen übergehen werden, wenn auf der anderen Seite ausgepackt wird... Es geht dabei weder um Rache noch um Rechthaberei. Sondern um das Wissen wie es wirklich war und welche Schlüsse aus alledem gezogen werden müssen - und es geht um Korrektur von eigenem, angeblichem Wissen um die Dinge.
      Übrigens lernte ich ein ukrainisches Ehepaar in Freiberg kennen, die J. Stalin für einen großen Staatsmann halten. ER war hochrangiger Offizier gewesen - und gemäß einem Artikel unter LDS today kämpft er als bekennender Mormone im Donezkgebiet auf Seiten der Rebellen.
      Klischees passen selten
      Ernst Kay mit dem ich mehrfach zu tun hatte, war zwar Gewohnheitstrinker aber ein sehr kluger.

      Übrigens wusste ich als Fischer, weil gewisse Leute mit mir unter vier Augen reden wollten, Ende der 70er Jahre hoch brisante Militärgeheimnisse, die per Zufall rüberkamen. Aber, das kann ich ehrlich sagen, mir ist nie die Idee gekommen, davon etwas auszuplaudern. Solche Sachen liegen unter Verschluss. Vertrauen verspielt man nur einmal.
      Dein alter Freund Gerd

      PS. wenn Dir einer erzählt hätte da ist ein Fischer, der Bücher schreibt und der in Sachen Theologie mitreden kann und dieser jemand sei gar nicht so dumm wie er aussieht. Hättest Du ihm geglaubt? So einer war Ernst Kay. Dokumente brauchte er nicht um zu wissen was los ist.

      Löschen
  3. Lieber Gerd, ich habe nicht nur mehr als einmal mit Trotzkisten "geredet," ... ich bin sogar selbst einer. "Meine Partei" ist die International Socialist Organization (ISO), die in der trotzkistischen Tradition von Tony Cliff steht. Wir beide wissen, d. es sehr riskant war, Trotzki in der DDR zu erwaehnen -- oder gar auf seine herausragende Rolle in der Oktoberrevolution, als Volkskommissar fuer Auswaertige Angelegenheiten, als Gruender der Roten Armee etc. etc. hinzuweisen. Ich kenne Ernst Kay nicht, aber eine angemessene Wertung von Trotzki war auch unter Altkommunisten in der KPD-Tradition sehr sehr selten. Wir beide wissen natuerlich, d. sowohl Durchschnitts-KPD-Mitglieder wie auch Durchschnitts-Mitglieder der HLT-Kirche von der tatsaechlichen Geschichte ihrer Kirche wenig wissen und in erster Linie auf offizielle und ideologisch linientreu geglaettete Versionen angewiesen sind. So war Ernst Kay also zumindest ueberdurchschnittlich informiert und hat Trotzki nicht aus seinem Bewusstsein verdraengt wie die uebergrosse Mehrheit. Ich interviewte eine ganze Reihe Altkommunisten, einschliesslich Juergen Kuczynski (Jahrgang 1904) und Ernst Engelberg (Jahrgang 1909). Obgleich beide Genossen ohne Frage ueberdurchschnittlich intelligent waren, so wurden sie nervoes und ungehalten, als das Gespraech auf Trotzki und die Trotzkisten kam. Selbst nach der "Wende" war Trotzki fuer sie noch immer der grosse Verraeter und Todfeind der Sowjetunion.

    AntwortenLöschen
  4. P.S.: Auf welche spezifischen Insider-Infos verwies Ernst Kay in seiner Wertung? Und aus persoenlichem Interesse -- hat er Dir erzaehlt, wann und warum er der KPD beitrat? Jahrgang 1900 -- vielleicht kannte er noch Rosa und Karl? Paul Levi vielleicht? Und hat er sich in irgend einer Form zu Heinrich Brandler und August Thalheimer geaeuusert? Und Ruth Fischer? Wie sah er Thaelmanns Putsch? Und war fuer ihn die KPD-Opposition oder aber die SAP ansprechende Alternativen? Und schliesslich: wurde seine Parteilaufbahn in der fruehen DDR in irgendeiner Form aus den Bahnen geleitet -- da er nur auf einem provinziellen und relativ unbedeutenden Posten landete, als Du ihn kanntest?

    AntwortenLöschen
  5. Er war ehrlich. Ehrliche sind nie unbedeutend!, auch wenn sie keine Akademiker sind.

    AntwortenLöschen
  6. Da gebe ich Dir vollkommen Recht -- persoenliche Integritaet zaehlt auch in meinen Augen mehr als Macht- und Einflusspositionen. Ich fragte nur, da mir seine Laufbahn nach so langer Zeit als Altkommunist etwas kurz schien. Sicherlich hat seine persoenliche Anstaendigkeit dazu beigetragen, d. seine Karriere in der SED nicht recht florierte. Stand er vielleicht in der Janka-Harich-Zaiser-Wollweber-Ackermann-Merker-Zeit auf der "falschen" Seite? Gab es ei Parteiverfahren gegen ihn, wurde er vielleicht zurueckgestuft...?

    AntwortenLöschen