Neue Zeiten, neue Gesichter - 1949
Einen neuen Anfang musste auch der spätere Tollense-Fischer
Hermann
Witte machen. Der zweiunddreißigjährige Woldegker hatte glücklich den Krieg
überlebt, kam in dieser Herbstnacht, des Gründungsjahres der DDR, vom
Nachtfischen, war erschöpft, müde
und hungrig. Der Fang war mager gewesen, die
Klaulust seiner
Helfer beträchtlich. Aber Hermann genoss es wieder ein freier
Mann zu sein. Niemand jagte ihn mehr ins Feuer dieser sinnlosen Schlachten auf
Russlands Weiten.
Gekrümmt wie er jahrelang in den Schützengräben gestanden hatte, blies er in die dürftigen Flammen des alten Küchenherdes die sein ohnehin rotes Gesicht gespenstisch aufleuchten ließen. Barfuß und bartstoppelig ging er. Sein rundliches Gesicht war faltenlos. Er trug ein verschlissenes
Gekrümmt wie er jahrelang in den Schützengräben gestanden hatte, blies er in die dürftigen Flammen des alten Küchenherdes die sein ohnehin rotes Gesicht gespenstisch aufleuchten ließen. Barfuß und bartstoppelig ging er. Sein rundliches Gesicht war faltenlos. Er trug ein verschlissenes
Unterhemd sowie eine löchrige Hose und hauste ebenso erbärmlich.
Ein paar
Pellkartoffeln und ein wenig Speck brutzelten in seiner steinalten Pfanne. Es
mochte zwei Uhr morgens sein, als in dem
alten Wohnhaus die Dielen zu knarren
begannen und plötzlich ein gigantisch wirkender Fremder eintrat. Im Schein der
25-Watt-Lampe, die lose von der grauen Decke herunterbaumelte, betrachteten sie
einander. “Wecker büst du denn?” 113,
fragte Hermann den riesigen Eindringling, der breitbeinig auf ihn zukam. Der
Hüne trug ein
Körbchen mit schön gewölbten
Hühnereiern. Er stellte es auf
die Bank, zog die Mundwinkel nach oben und fragte: „Is dat de grötzte
Pann? Ilses Fründ bün ick! Möt mi ierst stärken!“ 114 Hermann
grinste: „Na,
denn man tau!“115 und meinte spöttisch, dass die
Pfanne die da am Küchenbord hing, wohl ausreichen würde.
Der sonderbare Fremde entnahm Ilses Schrank, den er also bereits
kannte, eine beachtliche Speckseite und mit einem Seitenblick auf den
Nachtfischer säbelte er ein Stück von der Größe eines Lutherischen Gesangbuches
ab, schnitt alles sehr gekonnt in Streifen und legte sie in die
Großfamilienpfanne.
Seelenruhig schlug er sämtliche Eier auf. Hermann gingen die Augen
über. 17 Stück! „De reken vör uns beid! Ick bün Karl“, sagte der Koloss, „de
Söhn vun den ollen Degelow, den Schlachter!“ 116
Nun erst reichte er Hermann die Hand, wobei dessen Bewunderung vor dem
Eindringling permanent wuchs. Der Fischer bemerkte nur: „Dorher weicht de
Wünd.”117 Daher also der Überfluss an Nahrungsmitteln.
An Stelle eines Tisches standen in Hermanns Stube zwei Fischkisten
hochkant und obendrauf lag eine kippelnde Holzplatte, Platz genug für beide
Pfannen, die schließlich zugleich die Teller ersetzten. Karl hockte sich in
Ermangelung eines Stuhles, ebenfalls auf eine der Kisten.
„Wo wierst du?“
„Bi Woronesh un Kursk!“
„Kiek mol an. Dor wier ick uk!“ Sie erzählten einander nicht, was sie
an Grauenvollem mitgemacht hatten.
Hermann hing wohl seinen Gedanken nach. Soldat und Infanterist wider Willen, wurde er im Raum Woronesh zu einem Spähunternehmen ausgeschickt. Bis dahin hatte er in den vielen Monaten des Männermordens immer wieder Glück gehabt. Stets flogen die Projektile vorbei an ihm, krachten die Granaten der feindlichen Artillerie weit genug von ihm entfernt in den russischen Ackerboden hinein, und selbst wenn seine Einheit unter eigenen Beschuss geriet, traf es stets die anderen. In jener Nacht jedoch wollte das Glück endgültig von seiner Seite weichen. Sein Spähtruppführer befahl ihm, in ein verdächtiges Gebäude einzudringen und zu erkunden wie die Lage ist. Es handelte sich um eins der wenigen, größeren steinernen Häuser, das scheinbar verlassen in der weiten Ebene lag, gedeckt nur durch zwei Bäume. Hermann, die Maschinenpistole schussbereit, betrat mutterseelenallein das Gehöft, dann vorsichtig das Haus. Leise wie eine Katze schlich er vorwärts. Unversehens befand er sich in einem Raum, inmitten von vielleicht zwei Dutzend schnarchenden Russen. Er wagte kaum zu atmen. Nur raus hier. Nur einer brauchte hochzuschrecken und dann war es aus. Beim Verlassen des Raumes zwei Handgranaten zu schärfen und sie verteilt hinlegen? Niemals! Als Gefreiter Hermann Witte sich leise über die letzte Tür zurückzog, bewegte ihn zum ersten Mal unabweislich die Erkenntnis, dass er zwar ungewollt in unentschuldbare Verbrechen verwickelt worden war, aber dass er sehr wohl noch immer selbst entschied, ob er zum Mörder würde oder nicht.
Millionen hatten wie er das Elend gesehen. Das namenlose Leid. |
Hermann hing wohl seinen Gedanken nach. Soldat und Infanterist wider Willen, wurde er im Raum Woronesh zu einem Spähunternehmen ausgeschickt. Bis dahin hatte er in den vielen Monaten des Männermordens immer wieder Glück gehabt. Stets flogen die Projektile vorbei an ihm, krachten die Granaten der feindlichen Artillerie weit genug von ihm entfernt in den russischen Ackerboden hinein, und selbst wenn seine Einheit unter eigenen Beschuss geriet, traf es stets die anderen. In jener Nacht jedoch wollte das Glück endgültig von seiner Seite weichen. Sein Spähtruppführer befahl ihm, in ein verdächtiges Gebäude einzudringen und zu erkunden wie die Lage ist. Es handelte sich um eins der wenigen, größeren steinernen Häuser, das scheinbar verlassen in der weiten Ebene lag, gedeckt nur durch zwei Bäume. Hermann, die Maschinenpistole schussbereit, betrat mutterseelenallein das Gehöft, dann vorsichtig das Haus. Leise wie eine Katze schlich er vorwärts. Unversehens befand er sich in einem Raum, inmitten von vielleicht zwei Dutzend schnarchenden Russen. Er wagte kaum zu atmen. Nur raus hier. Nur einer brauchte hochzuschrecken und dann war es aus. Beim Verlassen des Raumes zwei Handgranaten zu schärfen und sie verteilt hinlegen? Niemals! Als Gefreiter Hermann Witte sich leise über die letzte Tür zurückzog, bewegte ihn zum ersten Mal unabweislich die Erkenntnis, dass er zwar ungewollt in unentschuldbare Verbrechen verwickelt worden war, aber dass er sehr wohl noch immer selbst entschied, ob er zum Mörder würde oder nicht.
„Ne”, erwiderte Karl auf Hermanns Frage, ob er wie sein Vater Kommunist
sei. Das beabsichtige er auch nicht zu werden. Er murmelte ein unschönes Wort
respektlos.
Der Alte sei durch Wilhelm Pieck dazu gekommen, in den zwanziger Jahre,
in denen sie zusammen ‚auf der Walze’ gewesen wären.
Anderntags sah Karl Degelow seinen neuen Freund Hermann Witte das
Fahrrad schieben. Das war auf halbem Wege zwischen Woldegk und dem
uckermärkischen Strasburg.
Als Fleischergesellen hatten sie in Carlslust zu tun. Neben
Hermann ging eine etwa gleichalte Frau mit einem langen grünen Rock und in
einer ein wenig ausgeblichenen rötlich schimmernden Strickjacke. Er lenkte das
Rad. Sie hatte offensichtlich die Aufgabe, die beachtliche Fuhre im
Gleichgewicht zu halten. Denn auf dem ungewöhnlich breiten Gepäckträger wankten
zwei graue, hohe Holzkästen, in denen sich die Aalschnüre befinden mussten. An
den Seiten des Fahrrades befestigt hingen ein Paar stabile Ruder, Kescher und
Setzbunge. Darin lagen eine Kahnschaufel, ihre Gummistiefel und die metallnen
Ruderdollen. Sie benutzten den linken Straßenrand, schritten schnell aus und
sahen nur ihre Ladung sowie den
staubigen Weg unmittelbar vor sich. Fischer Hermann schimpfte hörbar mit seiner
anscheinend neuen Freundin, sie möge gefälligst aufpassen. Wenn ihnen die
Kisten durcheinander stürzten, verhedderten sich die Schnüre. Unvorstellbar für
sie, wie wütend er dann werden könnte. Das noch eine gute Wegstunde entfernte
Strasburg konnte nicht ihr Zielort sein, denn dort wirtschaftete ein anderer
Binnenfischer. Karl Degelow wusste das. Beide mussten zum noch zwölf Kilometer
entfernten, nicht gerade großen, aber hochproduktiven Schönhausener See
marschieren um Aalschnüre zu legen. Da würden sie anschließend in einer
Strohmiete kampieren, dann noch vor Sonnenaufgang die Schnur heben, die
gefangenen Fische einsacken und sich auf dieselbe Weise auf den langen Rückweg
machen, zusätzlich beladen und bereichert um hoffentlich weitere zwanzig
Kilogramm Fischlast. Verkaufen durfte Witte die Menge vor Ort allerdings nicht,
weil die wertvollen Fische an Fahrer der Fischauslieferungslager gegen
Bescheinigung abzuliefern waren. Nur so konnte er den Nachweis führen, dass er
ernsthaft bemüht war, sein ihm vom Staat zugeteiltes Auflagesoll zu erfüllen.
Obwohl Hermann raubeinig mit ihr umging, muss seine Freundin Gefallen an ihm
gefunden haben. Sie teilte bald alles, was sie besaß mit ihm, auch die Hoffnung
auf bessere Tage.
Er trug glatte, fest nach hinten gekämmte strohblonde Haare. Ob er
getrunken hatte oder nicht, stets wankte er im Wiegeschritt. Damals lief er in
mehrfach geflickten, wadenhohen Gummistiefeln. Die Stiefel schwarz, die
Gummiflickstücke rot. Seine Bluse war von Art und Farbe der Schlosserjacken.
Fast nie überlegte er, was er sagte. Hermann Witte mochte in seiner
Kleinstadtschule nur wenig gelernt haben, für dumm verkaufen ließ er sich
nicht. Einem Werber, der ihm die Parteimitgliedschaft und damit einen
leichteren Weg für seinen Ausstieg aus dem Elend anbot, sagte er es auf den
Kopf zu: „Ji SEDisten spannen uns alltohop för jugen Plog.”118
So sei das auch mit der Blockpolitik. Ob sie in der CDU waren oder sich
Liberale nannten, Bauernparteiler oder Nationaldemokraten, nur was die SED
ihnen gestattete, durften sie propagieren und tun. Durch ihren Trick, die
Bürger des Landes “offen” wählen zu lassen, verhinderte die SED seit der
Herbst–‚wahl’ 1949 jede Form von Opposition. „Wer für den Frieden ist, der darf
das offen bekennen!”
Diese Wahl
war die erste, an der auch ich teilnahm. Damals lebte ich noch in Prenzlau.
Noch trug ich mich nicht mit der Absicht Fischer werden zu wollen. Aber für
einen Jüngling von meinem Naturell, sollte sich dieser Beruf bald als der bestgeeignete
erweisen. „Unser“ Wahllokal befand sich
in einem Haus an der Schnelle. Vor mir standen ungefähr dreißig Jungoffiziere
der kasernierten Volkspolizei mit ihren Mädchen. Hinter mir setzten etwa noch
einmal so viele Uniformierte mit ihren hübschen Begleiterinnen die
Menschenkette fort. Für sie war es selbstverständlich, sich für diesen Staat
auszusprechen, denn er bezahlte sie gut.
Ich verdiente als Baumschulisten-Lehrling fünfzig Mark monatlich, meine
Altersgenossen erhielten für blankes Nichtstun, das Zehnfache.
In den ehemaligen Prenzlauer Artilleriekasernen in der Alsenstraße
wohnten sie umsonst. Sie waren satt, aber ich hungerte nach der Freiheit.
Vielleicht hätte ich gewollt, was ich tun sollte, nämlich die unter
SED-Führung agierende Nationale Front wählen. Doch da ich diese Freiheit nicht
genoss, mich auch anders zu entscheiden, fühlte ich diesen Mangel als großen,
schmerzhaften Verlust und wünschte deshalb gegen diese politische Clique zu
stimmen.
Mir schien, dass tausende Augen mich böse betrachteten: Würdest du
Zwerg es wagen, den Krieg zu wählen? Mit bitterem Empfinden nahm ich die mit
den mir unbekannten Namen bedruckten Papierblätter entgegen und kniffte sie
unter den Blicken der Öffentlichkeit. Ärgerlich steckte ich sie gegen meine
Überzeugung durch die Schlitze von zwei Kästen auf denen das Wort ‚Wahlurne’
geschrieben stand.
Einige Monate später machte mich die damalige stellvertretende
Bezirksärztin Frau Dr. Edith Ackermann aufmerksam: “Wenn sie wissen wollen, wie
es in unserem Lande politisch weitergehen wird, dann lesen sie Stalins Buch.
Geschichte der KPdSU (B), Kleiner Lehrgang.“
Es ist ein Irrtum, anzunehmen, irgendjemand, außer dem höchsten
Kremlherrn, hätte ändernden Einfluss auf den Verlauf der Ereignisse in diesem
Lande nehmen können. Nicht einmal ein Mann wie der hart gesottene
Generalsekretär der Partei, Ulbricht, hätte etwas zwingend Erforderliches
bewirken können, wie etwa die Gewährleistung der Unantastbarkeit der
Menschenwürde. Und wenn er es noch sehr gewollt hätte. Wer sich gegen den Kopf
des Unternehmens Kommunismus aussprach, wurde, wenn er Glück hatte ermahnt oder
bedroht, vielleicht sogar eingesperrt, wer dagegen kämpfte, riskierte sein
Leben. Echte Privatinitiativen und divergierende Meinungen wurden nicht
geduldet. Wie Eisen durch eine Biegemaschine wurden wir geformt und
beschnitten. So hast du zu sein und nicht anders, so zu denken und so zu reden
und zu handeln ist deine eiserne
Pflicht.
Weil das Sein angeblich das Bewusstsein bestimmt, sollte ein radikal
geändertes gesellschaftliches Sein das Bewusstsein entscheidend umprägen.
Menschen müssen erzogen werden. Niemand darf üppig auf Kosten anderer wuchern. An
diesen beiden Grundsätzen wollte ich ja gar nicht rütteln.
Aber, wenn Menschenlenkung durch Zwang erfolgt, dann muss gefragt
werden, was das für Wesen sind, die andere an eine Kette legen.
Hunderttausende‚ von der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen
‚befreite’ Männer und Frauen, selbst bodenständige Bauern, verließen ihre trostlos grau gewordene Heimat, um in
den ‚goldenen’ Westen zu fliehen.
Am liebsten wäre auch ich davon gegangen, aber
meine Eltern wären traurig gewesen…, doch auch das Wasser und die kaum
vergleichliche Schönheit des Tollensesees zogen
mich magisch an, fast zum Ausgleich für die Lockungen die von der
aufblühenden Bundesrepublik Deutschland ausgingen. Jeden Tag breitete sich
beides, der blaue, tiefe See und seine Hügellandschaft zu meinen Füßen aus,
denn ich verdiente damals mein bisschen Geld in der Obstplantage Tollenseheim
und diese lag an einem der großen Hänge im Südosten des Gewässers, die mir das
gelobte Panorama darboten.
Sehnsüchtig schaute ich stets den Fischern hinterher,
wenn ihr Kutter sie bis an die Grenze meines Arbeitsgebietes brachte und
neidete ihnen das Glück erfolgreiche Fänger zu sein.
Ich hoffte, eines Tages Fischer werden zu dürfen. Zumal ich schon als
Kind vom Wasser angezogen wurde.
Deutlich erinnere ich mich dieses Augusttages 1943. Zumindest wurde
damals meine Illusion geboren, ein Leben zwischen Himmel und Erde, auf dem
Wasser, sei das Schönste. Ich saß auf der Ducht des Segelbootes unseres
Nachbarn, des Wolgaster Sattlermeisters Janzen. Geräuschlos und leicht wie
Wasserläufer glitten wir über die leicht aufgeraute Haut des Peenestromes.
Korngelb bauschte sich das Großsegel über mir. Darüber wölbte sich der
friedliche blaue Himmel.
Fünf Stunden später - in dieser Nacht vom 17. zum 18. August 1943 -
heulten die Sirenen. Ich schrak hoch. Der durch Mark und Bein schneidende Ton
forderte von uns herrisch, sofort aufzustehen und den Luftschutzkeller
aufzusuchen. Aber wie oft schon riss uns dieses himmelschreiende Tosen aus dem
Schlaf und dann war nichts passiert. Wie immer flogen die feindlichen Bomber
nur über unsere Köpfe hinweg. Wir wussten schon, die Flugzeugverbände zogen in
Richtung Stettin.
Nichts wussten wir. Aber ich sollte lernen, auch
die Stille zu lieben.
Mitten in meine Träume hinein dröhnten die Detonationen. Anschläge auf
mein Leben. Bis zu dieser Schrecksekunde ahnte ich nicht, wie kostbar mir mein
Leben war. Andere starben. Das war natürlich. Aber, doch ich nicht. Wir
hasteten, Hemd, Hose, Kleider fassend, in den Keller. Direkt neben uns
explodierten die Luftminen.
600 Flugzeuge der Typen Lancaster und Halifax hatten Peenemünde
bombardiert. Der größte Luftangriff in der Weltgeschichte bis dahin. Die
Engländer hatten entdeckt, dass Hitler hier Langstreckenraketen bauen ließ.
Eine einfache britische Schneiderin, beschäftigt als Soldatin der Air Force,
deutete die Linien auf dem Aufklärungsfoto richtig. “Das sind Abschussrampen!”
Entschlossen, einen noch nicht ganz ausgewachsenen Feuer speienden Drachen in
zahllose Stücke zu zerfetzen, flogen die Briten diesen Einsatz. Wir beklommenen
und neugierigen Herumstromer fanden im Tannenkamp zertrümmerte Flugzeugteile
und schaudernd hörten wir von verbrannten, auf Minimaß geschrumpften Piloten.
Nach all diesen Hässlichkeiten und Grausamkeiten sehnten wir uns umso
mehr nach einem glücklicheren Leben und das verband ich stets mit Wasser und
Waldlandschaften.
Obwohl sich noch keine Tür in diesen Lebensbereich öffnen ließ, sollte
ich dennoch bald innigste Bekanntschaft mit dem Wasser des Tollensesees machen.
Damals, in den Jahren ’54 bis ’55, musste ich leider noch auf dem festen
Land bleiben.
Da trat an einem Dezemberabend des Jahres 1955 etwas Unvorhersehbares
ein.
Überraschenderweise war eine große Ladung Sport- und Ruderboote auf
‚Tollenseheim’ angekommen. Mir schien, dass da ein Irrtum vorliegen musste.
Hausmeister Paul schob mich beiseite. Der Fahrer nickte nur. Nein, die Papiere
besagten eindeutig: Auslieferung an die Bezirks-LPG Schule, Tollenseheim, bei
Neubrandenburg.
Wir kratzten uns die Köpfe und zuckten die Achseln.
Paul Schmidt und ich waren Menschen, die unterschiedlicher kaum sein
konnten. Er, einsachtundachtzig, extrovertiert und athletisch gebaut, ich,
einsfünfundsechzig, introvertiert, war schmal wie ein indischer Hungerkünstler.
Ich liebte es zu meditieren, Paul war lebensprühender Akteur. Ich liebte meinen
kleinen Sohn, er seinen Hund. Aber über den Wellenbinder, den wir als erstes
auf dem großen LKW entdeckten, wunderten wir uns gemeinsam.
Paul begab sich ins Haus um Herrn Maque, den Chef, zu informieren. Ich
fragte mich in der Zwischenzeit, ob unsere noch kleine LPG-Schule sich ein Boot
leisten konnte, das schätzungsweise dreißigtausend Mark kostete, sowie
weiterhin Wassersportgeräte mit einem Wert von zusammen vielleicht zwanzigtausend
Mark.
Beide kamen eiligst an. Herbert Maque, ungefähr fünfzigjährig, schritt
auf seinen langen dünnen Beinen schnell und federnd, trug das kantige Gesicht
eines Mannes, der auch als Schauspieler hätte auftreten können.
Von dem Augenblick an, als er den großen Ferntransporter sah, hatte der
schneidige Genosse Maque vorübergehend keine Augen mehr für die vorbei
flanierenden, jungen Lehrgangsteilnehmerinnen, sondern nur noch für den als
Vorderkajütboot ausgestatteten Flitzer. Wie ein Wiesel rannte er um den LKW
herum, schwang sich auf die Pritsche und mahnte nun auch die anderen zur Hilfe
herbeigerufenen Männer: „Vorsicht, Vorsicht. Seid bloß vorsichtig mit dem
Motorboot.”
Tatsächlich kümmerte sich Herbert Maque, der ehemalige Kreissekretär
der SED, Neustrelitz, lediglich um das teure Luxusboot persönlich. Kaum hatte
es Platz gefunden in seinem wintersicheren Unterstand, wandte er sich wieder
höheren Aufgaben zu.
Von Anfang an stand fest, das kostspielige Schmuckstück würde quasi nur
ihm gehören.
Der Rest der Fuhre war ihm gleichgültig.
Die Paddelboote, darunter eine Vierergig, wurden einfach unter einem
der uralten Apfelbäume hingestapelt, so wie man rohes Schnittholz lagert.
Niemand, der ihm auch nur eine Stunde lang zugehört hatte, hätte dem
Genossen Herbert Maque, dem derzeitigen Leiter der Schulungsstätte Tollenseheim,
zugetraut, dass er, keck die für Vermessungsarbeiten bereitgestellten
staatlichen Mittel in seinen persönlichen Interessenbereich umlenken würde. Die
ihm seitens der staatlichen Organe übertragene Aufgabe bestand darin, den Bau
der späteren Agraringenieurschule vorzubereiten.
Aber er war ein leidenschaftlicher Bootsfahrer und Angler. Und damit
bestätigte sich abermals, dass die Vernunft der Leidenschaft regelmäßig
unterlegen ist.
Es macht gar nichts aus, wie klug jemand ist. Der Wunsch sich auszuleben
ist regelmäßig durchsetzungsfähiger, als der Verstand. Ausnahmen bestätigen die
Regel. Paul und mir musste er nicht den Bären aufbinden, er brauche den Flitzer
für die Besorgungsfahrten nach Neubrandenburg.
Mit dem „Framo“ war er allemal schneller. Selbst wenn Herr Maque mit
dem Rennboot bis vor die Tür eines Lebensmittelgeschäftes hätte fahren können,
der Benzinverbrauch jedes Wasserfahrzeuges ist pro Kilometer Fahrstrecke
mindestens doppelt, wenn nicht dreimal so hoch, wie der eines Lieferwagens.
Eindeutig war es sein Vergnügungsfahrzeug. Der gnadenlose Kritiker des
Kapitalismus nahm sich damit reichlich viel heraus. Er beutete den Staat aus.
Genau das war es, was ich immer wieder als zutreffend registrierte:
Proportional mit dem vermeintlichen Machtzuwachs des gewöhnlichen Mannes,
minimiert sich die Lautstärke seines Gewissens. Wie lange kann das gut gehen?
fragte ich mich ungeniert. Das nachfragend zu denken war leicht, denn ich, als
das letzte Glied in der Kette dieser neuen Gesellschaft höchst entwickelter
Primaten, war nämlich im Wortsinn ohnmächtig.
Das würde auch so bleiben.
Denn ich glaubte daran, dass Evolution nicht alles sein kann, dass es
da eine alles überragende, planende und handelnde Intelligenz geben muss und
gibt…die übrigens weiß, wie miserabel wir mit unserem allerhöchsten Gut
umgehen.
Solche Leute durften in der DDR nicht hoch kommen.
Die acht oder zehn Paddelboote und die Vierergig lagen noch tagelang
draußen.
Der sie überragende Apfelbaum bot aber keinen Schutz; vor allem nicht
gegen fliegende Pfeile und rotweiße Messstäbe. Techniker hatten sie in die
Garage gestellt und möglichweise längst vergessen. Respektlos wog ich, an einem
der Arbeitstage zwischen Weihnachten und Silvester ’55, eine der speerähnlichen
Stangen. Verwegen schleuderte ich sie, aus der offenen Garage, in der, zwischen
zerkrümmelten Briketts, auch der Lieferwagen “Framo” stand, ins Freie. Der
rotweiße Markierungsstab flog vielleicht zwanzig Meter weit. Paul, mit seinen
strammen Muskeln, ein ehemaliger Waffen SSler, wider Willen übrigens und sehr
selbstbewusst, war überzeugt, er würde gewiss doppelt so weit, wie ich Knirps
werfen. Aber schlecht gepackt, noch mieser geworfen. Krachend bohrte sich die
stählerne Stabspitze in den millimeterdünnen Rumpf der aus Mahagoniholz
gefertigten Vierergig. Sie hatte genau soviel Geld gekostet, wie Paul und ich
zusammen in einem dreiviertel Jahr verdienten.
Der schwere Messstab vibrierte noch, als wir aufgeschreckt hinliefen um
dem entsetzlichen Bersten und Brechen des dünnen Bootsrumpfes ein Ende zu
bereiten. Viel zu spät. Wir schauten als erstes zum schräg rechts oben
liegenden Fenster des alten Stammhauses, das wie eine Villa aussah, aber
ursprünglich wahrscheinlich als Hotel gedacht gewesen war. Weder Herbert Maque
noch seine Wirtschaftleiterin Inge ließen sich blicken. Sie hatten es also, zum
Glück, nicht gehört.
Paul verzog keine Miene seines ohnehin ruhigen, großflächigen Gesichtes.
„Schnell!”, sagte er.
Ich half ihm.
Gemeinsam schuldbewusst, aber gerissen genug, trugen wir die
irreparabel zerstörte Gig gemessenen Schrittes ins nahe liegende ehemalige
Hühnerhaus. Diese Behausung war eine aus morschen Brettern bestehende ziemlich
große Baracke. Schlau gedacht bauten wir sämtliche Paddelboote davor auf. Wenn
es gut ging, kam es nicht heraus, bevor der große Neubau stand und das konnte
noch zwei Jahre dauern.
Sollten wir uns irren?
Aber zunächst war da der Gedanke: Nach uns die Sintflut.
In den Märztagen 1956 glaubte ich, es sei gut, das Gras auf der so
genannten Liegewiese abzubrennen. Ohne zu bedenken, dass Feuer im Freien, wenn
es trockene Nahrung findet sich auch seitlich und somit gegen die Windrichtung
ausbreiten kann, entzündete ich die Grasfläche mindestens zweihundert Meter
weit von der Hühnerstallbaracke entfernt, in der die demolierte Vierergig, die
Ruderbote, und die Kanus sorgfältig übereinandergestapelt lagen.
Vorsichtshalber entzündete ich die Wiese am untern Teil des Hanges.
Allerdings kam vom Flächenbrand angesaugt, im Handumdrehen mehr Wind
auf. In zwei Richtungen breitete sich das Feuer aus. Außerdem schlug der
Hauptwind um und ehe ich mich versah, züngelten die Flammen in jene fünf
herrlichen Omorikafichten hinein, die vor der für mich so wichtigen Baracke,
hünenhaft wie zuverlässige Wächter standen. Wütend auf mich, das
knochentrockene Gras, und mein Schicksal, riss ich die wie Zunder brennenden
Clematisranken herunter und entdeckte zu spät, dass die Flammen unmittelbar an
den dürren Brettern des flachen Hauses leckten. Immer wieder warf ich mich mit
meinen blauen Latzhosen mitten hinein ins knisternde Feuer, bis mir die Luft
ausging. Ich wälzte mich in den Flammen, von der Vorstellung getrieben, dass da
drinnen für mindestens zwanzigtausend Mark Wassersportgeräte lagerten,
In sechs Jahren verdiente ich zwanzigtausend, und damit gehörte ich
schon zu den Privilegierten. Alles andere war in diesen Minuten bedeutungslos.
Ich hörte Gespenster lachen.
Ich sah sie erst, die beiden Spötterinnen, als der Spuk so schnell wie
er aufgekommen war, glücklicherweise mangels weiterer Nahrung in sich
zusammenbrach, ohne die für mich so kostbare Baracke zu vernichten. Zwar perlte
noch Teer vom Pappdach, doch er entzündete sich nicht mehr. Mein Kopf sank auf
die Brust, ich atmete tief.
Herbert Maque sah eine halbe Stunde nach dem letzten Aufbäumen des
gefährlichen Feuers die schwarze Wiese und die teilweise angesengten Omorika.
Er strich, seine langen Beine behutsam setzend, um den Hühnerstall herum und
hielt den markanten Kopf wie ein witternder Fuchs. Bemüht, die ärgsten Spuren
zu verwischen, arbeite ich auf dem Gelände eifrig, buddelte da ein Loch um die
halbverbrannten Ranken einzugraben und dachte, jetzt zeigt er dir seine Zähne. Doch
als Herr Maque näher kam, schaute er mich eine ganze Weile nur vielsagend an,
als wollte er ausdrücken: Jetzt sind wir quitt! Du hast wie ich, nur eine
Dummheit, ohne Folgen, gemacht.
Es war ihm also nicht einerlei gewesen, dass ich ihn eine Woche zuvor
mit einer Dame gesehen hatte. Eilends trennte sie sich von seinem Schoß, als
ich in sein Büro hereingestürmt kam, weil ich meinte, er hätte mich
hereingerufen.
Vielleicht wären wir wirklich quitt gewesen, gäbe es da nicht die noch
nicht entdeckte Gig, und hätte ich keine weiteren Fehler begangen.
Denn, mich manchmal nur auf mein Gefühl verlassend, redete ich bei
Gelegenheit mit mir unbekannten Leuten offen über meine nicht staatskonformen
Ansichten.
Ich selber hatte in den ersten Nachkriegsmonaten zu viel gesehen. Verschiedene
Exbaltendeutsche und andere Augenzeugen, vor allem ostpreußische Frauen, hatten
mir zudem entsetzliche Geschichten erzählt. Bei mir waren all diese Berichte
gut aufgehoben. Sie bestätigten mich in meiner Ablehnung und Gesinnung: diese
neue Gesellschaftsordnung hatte sich unmenschlich eingeführt.
Mitunter war ich unvorsichtig und sprach darüber. Aber wie gingen
unbekannte Fremde mit meinen Äußerungen um?
Was hätte ich antworten sollen, wenn mir die Männer des
DDR-Staatssicherheitsdienstes jemals die Frage nach der Authentizität der
gelegentlich von mir verbreiteten Antisowjetgeschichten gestellt hätten?
In jenen Tagen des Frühjahres 1956, behandelte das „Neue Deutschland”,
den für uns allesamt aufregenden Verriss Stalins auf dem XX. Parteitag.
Noch vor wenigen Wochen stand in weißer, riesiger Schrift auf revolutionsroten
Holztafeln, die sie am Friedländer Tor angebracht hatten, der uns alle
bedrohende Satz geschrieben: Stalins Geist lebt!
Noch war es nicht die volle Verurteilung des verstorbenen Machthabers.
Man sprach vom Personenkult um Stalin. Das wäre nicht in Ordnung gewesen.
Noch wurde nicht klar ausgesprochen, dass er ein Verbrecher war, der
Millionen Familien zerstört hatte, indem er maßlose Strafen für geringste
Vergehen verhängen ließ, die Hunderttausende nicht überlebten.
Uns gingen dennoch die Augen über. Zwar stand mehr zwischen den Zeilen
geschrieben als im Klartext, doch es erregte uns bereits.
Denn Stalin war der Gott der ausgehenden vierziger und der
nachfolgenden Jahre gewesen. Nun entgöttlichten sie ihn, obwohl seine einst so
strammen Anbeter ihm ewige Treue geschworen hatten. Einige seiner Verehrer
fielen nach der Lektüre ihres ND ins andere Extrem. Sie traten dem Genossen
Josef Wissarionowitsch postum kräftig in den Hintern. Unverfroren wie sie
bisher das Gegenteil behaupteten, erklärten sie auch uns: Er sei nur ein Götze
gewesen.
Ich weiß noch, wie an einem warmen Oktoberabend des Jahres 1949 im
Sportstadion zu Prenzlau, Stalins Profil von leuchtenden Feuerwerkskörpern
gezeichnet wurde.
Dröhnender Applaus schwoll auf. Er kam von Seiten der vielen anwesenden KVP Offiziere. Ansteckend wirkte diese Begeisterung, wie damals der Hitlerwahn, dem ich ja auch einige Jahre meines jungen Lebens verfallen war.
Wenige Wochen später erwog auch ich, ob Stalin ein neuer Heiland sei, bis es mir wie Schuppen von den Augen fiel |
Dröhnender Applaus schwoll auf. Er kam von Seiten der vielen anwesenden KVP Offiziere. Ansteckend wirkte diese Begeisterung, wie damals der Hitlerwahn, dem ich ja auch einige Jahre meines jungen Lebens verfallen war.
Nur, ich hatte meine Lektion gelernt, und die da nicht. Deshalb rührte
mich diese Woge damals nicht sonderlich.
Dieselben Presseleute, die noch wenige Wochen zuvor Millionen ihrer
Leser leidenschaftlich versicherten, dass J.W. Stalin der „Vater der
Gerechtigkeit” und der „Genius der Menschheit” sei, schrieben jetzt gegen ihn.
Auf der Straße, in den Bussen, in den Eisenbahnabteilen wurde Nikita
Sergejewitsch Chrustschow zitiert. Man hielt einander die Zeitungen unter die
Nasen. Wir DDRler waren endgültig ein Volk von Politikern geworden. In einem Punkt
waren sich alle, mit denen ich sprach, einig: Die Partei hatte sich
jahrzehntelang keineswegs nur geirrt. Ihre Köpfe wussten mehr.
Zu keiner Zeit der Stalinverbrechen ging es um die Wahrheit. Es ging
ihnen um die Teilhabe an Macht. Um den Willen aufzubringen, einen einzigen Mann
zu entmachten, hätte sie zuvor verzichten müssen.
Für das Vorderkajütboot musste ein Anlegesteg gebaut werden. Paul
machte sich an die Arbeit. Gegen die Grundregel verzichtete er darauf, Leinen
zu spannen, an denen entlang die Pfähle zu rammen sind.
Danach muss er versucht haben, ebenfalls ohne Schnur, die ungleichen
Bretter auf die Verbinder zu nageln.
Sein Machwerk sah dementsprechend aus. Eher einem zufällig entstandenen
Schrotthaufen ähnlich, als einem Werk von Menschenhirn und -hand, stand das
Unding krumm und windschief da, sogar gefährlich wacklig. Eine Schande! Als ich
auf dem Laufsteg entlang ging, wurde mir schlecht. Meine Mitarbeiterpflicht
war, ihm zu sagen, dass er vielleicht ein guter Hausmeister und bestimmt ein hervorragender
Hundeliebhaber sei, aber vom Stegebau keine Ahnung hat.
Herbert Maque, an meiner Stelle, wäre gewiss verrückt geworden.
Während ich nun versuchte, meine Bemerkungen zu relativieren (wie man
heute zu sagen pflegt, wenn man aus Gründen der Höflichkeit die Wahrheit zu
verbiegen beabsichtigt) kam ein sonderbarer Lehrgangsteilnehmer anspaziert, ein
großer, steckendürrer Mann. Von Gesicht und Gestik wirkte er wie ein
Sektenprediger des vergangenen Jahrhunderts. Er kam uns vor wie einer, der gerade
in einen sauren Apfel gebissen hatte.
Für einen Meisterlandwirt hätte ihn wohl niemand gehalten. Der Mann
setzte die großen Schritte ganz
bedächtig. Als er die Bescherung sah, wurde sein langes Gesicht noch länger. Er
schlug buchstäblich die Hände über dem Kopf zusammen und blieb nachdenklich
stehen. Soviel Mist auf einem Haufen hätte er noch nie gesehen. „Abreißen!”
Dieser Mann war ein Brigadier!
Kommandieren konnte er schon.
„Abreißen?”, fragte Paul, gleich
wutentbrannt. „Rüchtig!”, erwiderte der große Dünne und machte eine weitere abfällige
Bemerkung.
Paul zog mich beiseite, zu den Pfählen hin, die ungeordnet im Gras
herumlagen: „Den Kierl schmiet ick int Woter!”119, flüsterte er. Ich
kannte ihn. Dieses Zucken seiner Augenlider verriet das Ausmaß seines mit
Erregung gepaarten Leichtsinns. Wahrscheinlich sah Paul selber ein,
dass er keine Glanzleistung vollbracht hatte. Nur er wusste nicht, wohin mit
dem Ärger.
Hinterhältig fragte er den Bauernbrigadier, ob der für ihn noch einen
guten Rat parat habe.
Arglos, die hohe Stirn gefurcht, erwiderte der etwas schrullige Fremde:
Am seeseitigen Ende des Anlegesteges müsste ja sowieso noch der Kopf des
Laufsteges gerammt werden. Er, an Pauls Stelle, würde restlos alles ‚abräumen’
und dann da, in dreißig Meter Entfernung einen starken Pfahl hinstellen und von
ihm ein kräftiges Seil zum Land spannen und dann... Lebhaft machte der uns so
großmäulig erscheinende Mensch die dazugehörigen Arm- und Handbewegungen. Sogar
mich reizte sein Befehlston.
Paul nickte mir vielsagend zu und fragte den Mann, ob er sich denn auch
zutraue, mit ihm und uns aufs Wasser zu fahren, um ihn vor Ort zu beraten.
Schließlich käme es ja auf den Eckpfosten an und den könnte man gleich
hinstellen. Kurioserweise akzeptierte der Fremde. Warum nicht?
Echt treuherzig schaute Paul jetzt drein.
Das Mienenspiel unseres künftigen Opfers war eindeutig.
Und so machte der Ahnungslose mit seinen Halbschuhen einen eleganten,
akkuraten Satz vom Land ins Boot, das sich immerhin in fast anderthalb Meter
Entfernung von ihm befand. Er wankte nur kurz, setzte sich dann bedächtig auf
die kleine Heckbank, zupfte seine Hosennaht zurecht, zog eine Shagpfeife aus
der Hosentasche, stopfte sie aufreizend langsam mit Tabak, entzündete sie
seelenruhig, sog den Qualm in sich, blies ihn selbstzufrieden in die blaue
Frühlingsluft und schaute sich um. Offensichtlich genoss der Ackerbauer die
Aussicht auf die Schönheit der Landschaft, während er paffte und geduldig der
Dinge harrte, die kommen sollten.
Paul hatte indessen den kräftigsten unter den herumliegenden Pfählen
ausgesucht. Er richtete ihn auf. Das war fast ein Mast, dazu knochentrocken und
deshalb nicht zu schwer. Scheinbar fachsimpelnd weihte Paul mich in Details
seines schändlichen Planes ein. Als hielte er seinen ärgsten Kritiker schon am
Genick, schüttelte Stegebauer Paul den Pfahl, wie man im Herbst einen
Pflaumenbaum rüttelt. „De is rüchtig!”, ahmte er den anderen nach.
Jawohl, diesen sollten wir einladen ins Boot, meinte der von uns
heuchlerisch um sein Urteil befragte Brigadier. Der setzte hinzu: „Naja, ein
lütt bisken zu lang ist er noch”, aber sonst sei der Pfosten ganz prima, wenn
es da oben denn weichen Seegrund gäbe.
Wir nickten. „Na klar, da oben ist es bannig weich.” Zufrieden
kopfnickend äußerte der Landwirt, kürzer schneiden könne man das Holz ja immer
noch.
Wir meinten bei uns, über dem zwei Meter tiefen Wasser, wenn wir da
denn angelangt wären, würden wir den Starkpfahl mit Schwung über einen Meter
tief in den weichen Grund hineindrücken.
Paul zog sein flächiges Gesicht schief und kniff sein linkes Auge zu.
„Ick pett denn up de Siet, un du uk.” 120
Ich war längst einverstanden und lachte vergnügt, denn ich sah ja
voraus, was sich ereignen musste. Dieses Bild!
„Naja”, dachte ich, „ein Bad im Freien hat noch niemandem geschadet!”
Uns beiden war natürlich klar, dass das Oberflächenwasser des
Tollensesees Anfang April sich trotz tagelanger Sonneneinstrahlung kaum erwärmt
haben konnte. Dafür war der See zu tief und die Zone des nur nullgradkalten
Wassers zu mächtig. Sobald man bloß die Hand in seinen Rachen steckte, biss das
Wasser noch kräftig zu.
Mit unseren Gummistiefeln durch Wasser und Morast patschend, trugen wir
das Langholz zum kleinen Ruderboot, schoben es so behutsam, wie es uns nur
möglich war, zwischen die Schuhe und Beine unseres gemütlich rauchenden Gastes.
Sobald wir uns von Land abgestoßen hatten, schaukelte der Kahn in den
Wellen, die durch das Gelege hindurch wogten. Aber das war ungefährlich, obwohl
der Nordostwind auffrischte. Wir freuten uns. Das Schaukeln des Kahns kam uns
wie gerufen. Wir überaus erfahrenen und eitlen Bootsmänner grinsten einander
an.
Vor Ort angekommen nahmen wir den Pfosten, steckten mit ziemlicher
Anstrengung seine spitze Nase ins bewegte Wasser und richteten ihn einigermaßen
aus.
Wir hatten noch soviel Zeit uns an unseren Berater zu wenden.
„Rüchtig
so!”, bestätigte der kühne Bauer. Das untere Ende unseres Pfahles war vom
Eigengewicht bereits drei, vier Dezimeter tief in den weichen, tonigen Grund eingedrungen. Entschlossen spannten wir
unsere Muskeln. Paul griff weit nach oben. Er wollte die Schwere seiner gut
neunzig Kilogramm zur vollen Geltung
bringen.
Gleichzeitig sprangen wir auf den schmalen Bord, des grünrot getünchten
Ruderbootes. Jetzt gab es keine Rettung mehr. Jetzt sauste der lange,
aufreizende Kerl samt seiner Pfeife über Bord.
Jedenfalls war dies die bunte, von mir verinnerlichte Illusion.
Aber, wieso denn ich?
Es machte nur Patsch! „Äh und Bäh!”, schrie ich. Mehr nicht, und
ruderte schon gewaltig und peitschte das Eiswasser atemringend, das mich in den
Hintern biss und in den Hals, den ich schwanengleich so hoch wie möglich
reckte.
Dabei genoss ich eben noch das Plinkern dieser himmelblauen
Hausmeisteraugen und die Vorstellung, wie der andere das erfrischende Bad
nimmt. Urplötzlich hatten meine flatternden Hände äußerst heftig und dennoch
sehr vergeblich in die kühlen Frühlingslüfte hineingegriffen.
Gewaltig trieben mich die Urinstinkte an. Schnell, schnell! An Land, an
Land! Ins Trockene!
Mit einem einzigen Blick, während ich noch eisern kraulte, sah ich
Paul. Der klebte noch am Pfahl.
Entschieden zu weit entfernt vom rettenden Boot waren wir, das mit seinem
trockenen, immer noch qualmenden Feldbaubrigadier sachte in Richtung Land trieb,
weil wir es ungewollt zwar, aber kräftig von uns abgestoßen hatten.
Vom Gürtel abwärts kam ich mir vor wie ein Eisklotz. Dicht unter meinem
Bewusstsein dagegen klapperten die Zähne bereits wie spanische Kastagnetten.
Land unter Füßen, wandte ich mich sogleich wieder um.
Da!
Immer noch, wie ein verstörtes Affenbaby mit enorm verkürzten Armen und
Beinen klammerte Exelitesoldat Paul sich verzweifelt an den kräftigen und doch
unverlässlichen Pfahl. Die Wellenspritzer nässten schon seinen Hosenboden, denn
sein Halt neigte und neigte sich, wenn auch ganz langsam.
Ich war fasziniert. Noch zwei Sekunden vielleicht. Länger hielt ihn das
Holz nicht über Wasser.
Da tat er einen urigen Schrei.
Heftig, wie ein startender Schwan, mit seinen Schwingen auf das Wasser
einschlagend, krächzte er markerschütternd: „Himmelarsch und Wolkenbruch!”
Weiter kam er nicht.
Es verschlug ihm die Luft.
Ein paar hastige Bewegungen noch, dann hatte auch er den Schilfstreifen
erreicht. Mit wilder Kraft richtete sich der bibbernde Gardesoldat auf. Statt
dankbar zu sein, dass sein Herz noch schlug, schrie er, je weiter er in
Sicherheit kam, Unanständiges.
Der unschuldige Brigadier, dem das galt, nahm erst jetzt die Pfeife aus
dem Mund. Er machte eine salbungsvoll anmutende Geste, ehe er uns unterwies.
Man müsse auf dem Wasser immer danach trachten, sicher zu stehen, oder sich im
Boot gut festhalten. So wie er. Er klemmte den Pfeifenstiel zwischen die roten
Lippen, dann griff er nach beiden Bordseiten und demonstrierte, wie er sich
verhalten hätte. Da erst bemerkten wir, wie groß und kräftig des Brigadiers
Hände waren, Pranken die zufassen konnten. Er hob die Mundwinkel und lächelte
nachsichtig.
Irene K.
Schulleiter Maque lud häufig Gastdozenten in sein Haus. Darunter befand
sich eine freundliche, fünfundzwanzigjährige rotblonde Dame, die Vorlesungen im
Fach Philosophie hielt. Sie hieß Irene K., sah gut aus, war ein wenig korpulent
und von ganz und gar offenem Wesen. Sie lachte gerne, aber sie hatte etwas an
sich, das Männer nicht unbedingt mögen. Sie konnte herausfordernd frech
blicken.
Maque stellte sie kurze Zeit später als feste Lehrkraft ein.
Am letzten Apriltag 1956 grub ich, gut dreihundert Meter vom Haus
Tollenseeheim entfernt, mit einem Spaten eine Ackerfläche um, die mit
Tomatenstauden besetzt werden sollte. Da sah ich die Philosophiedozentin
unerwartet auf mich zukommen. Selbst wenn ich sie nie gemocht hätte, allein die
berechtigte Vermutung, dass sie ihr graues, gutsitzendes Kostüm für mich
angezogen hatte, war aufregend. Denn alle Lehrer und Schüler befanden sich im
Kurzurlaub. Nur sie und mich gab es noch.
Ringsum standen im Geviert riesige Birnenbäume, die selten oder nie
Früchte trugen. Das Gelände lag unmittelbar am friedlich blinkenden See. Sie
lächelte schon von weitem, als sie den Weg zwischen den gerade grünenden
Apfelbäumen herunterkam.
„Ich muss doch mal gucken, was unser Gärtner den ganzen lieben, langen
Tag so treibt.” Ihre helle Stimme
vibrierte reizend.
„Ob er überhaupt was zuwege bringt!”, lachte ich.
Sie schaute mich freundlich an. Das Haus stünde ja, wie ich wüsste
leer. Einen Tag vor dem ersten Mai, am Nachmittag, müsste man es ja nicht
übertreiben. Sie lade mich zu einer Tasse Kaffee ein.
Sie möchte mit mir über die biblischen Paulusbriefe reden. „Es hat mich
fasziniert, dass du sie kennst!”
Einmal hatten wir darüber gesprochen und ich hatte geäußert, die
zweitausend Jahre alten Briefe enthielten noch so manche, für uns interessante
Botschaft.
„Und welche?”, wollte sie daraufhin wissen.
„Dass wir tun müssen und in die Tat umsetzen, wovon wir überzeugt sind,
dass es richtig ist.”
„Das liest du da heraus?”
„Der Kern der Paulusaussagen ist keineswegs, was die Protestanten
daraus ziehen, sondern eher umgekehrt: dass der Mensch ernten wird, was er
sät.” Ihre Erwiderung lautete: „Das klingt ja nicht unvernünftig!” Natürlich
war ihr völlig gleichgültig, was ich mit kritischem Blick auf die Lehre beider
Großkirchen meinte.
Die Sonne wärmte uns, während wir plauderten.
In einer ihrer nächsten Vorlesungen käme das Thema Glaube und Wissen
vor. „Mach’ Schluss für heute, lass uns oben gemütlich Platz nehmen und darüber
reden.”
Ich wollte nicht nein sagen.
Sie war so höflich gewesen nicht zu formulieren: Was du denkst, ist
trotz alledem kurios.
In ihrem Zimmer umfing mich augenblicklich ein Gemisch aus Nelkenduft
und dem Geruch von ‚Großer Freiheit’.
Aus der Diskussion über Paulus, Luther, Bauernkrieg und evangelischer
Rechtfertigungslehre wurde natürlich nichts.
Schade! Denn ich verdammte die Ansichten jener schwachsinnigen Protestanten,
die meinten der liebe Gott würde schon alles richten, wenn sie nur an seinem
Namen und ihrem vagen Glauben an ihn festhielten.
So jedenfalls, mit derartigem Selbstbetrug, kann die Welt kein besserer
Wohnplatz werden! Aber eben darum geht es, wird es immer gehen, solange wir uns
nicht zum Affentum zurückentwickelt haben.
Auch aus dem Kaffeetrinken wurde nichts, denn ich nahm Selterswasser zu
mir. Sie saß, die Beine übereinander geschlagen auf dem Sofa, und ich hatte zu
tun, mein Gleichgewicht zu behalten. Ich glaube, dass ich stocksteif an ihrem
Zimmertisch saß und halb verlegen, halb verwirrt, mit den Fransen ihrer
gehäkelten Decke spielte. Sie sprach über Homers Nymphe Kalypso und in
spöttischlockendem Ton über Männer wie Odysseus, Kalypsos Verehrer.
Sie sei jedenfalls keine ‚schön dumme’ Penelope, die artig daheim sitze
und unentwegt wartend bloß Strümpfe für ihren Mann strickte, während der eine
andere bezirze.
Sie nickte, als ich sie anschaute.
„Meiner sitzt jetzt irgendwo in Rostock bei einem Weibsbild herum und
spielt den Seelentröster!”
Warum war ich so dämlich gewesen, mich wissentlich in diese Situation
zu begeben?
Hatte ich nicht schon einmal Lehrgeld bezahlt?
Ich sollte, wenn ich meinen Vorsätzen treu bleiben wollte, nicht einen
Augenblick länger hier oben in ihrem Zimmer herumhocken, sondern lieber zu
meiner kleinen Familie zurückradeln.
Aber das war bloß die Sprache der Vernunft.
Meine Basisinstinkte bestanden darauf, sofort ihren Forderungen
nachzukommen. Mein Geist funkte nochmals dazwischen: Du bist nicht der Mann,
der das um jeden Preis haben muss. Es ist besser inkonsequent zu sein, als
verräterisch. Ich lenkte das Gespräch auf meine Ansichten zum Kommunismus. Mir
war der Gedanke gekommen: Wie ich selbst mitunter bin, ist der ganze
Kommunismus aufgebaut, gespalten von oben bis unten! Lauter Widersprüche
zwischen Theorie und Praxis.
Außerdem: Von menschlicher Läuterung ist ernsthaft keine Rede. Wenn es
andererseits auch immer wortreich herausgestellt wurde, dass Menschen für den
Sozialismus reif werden müssten. Nicht wenige, die das forderten, täuschten
sich selbst ungeniert, weil es ja unsagbar schwer ist sich unter allen
Umständen selbst zu zügeln. Man kann es leicht von andern verlangen, sich
korrekt zu verhalten.
Die Dozentin
lächelte, aber nur aus Höflichkeit.
Sie schätze
Leute, die denken können.
Nicht gerade versteckt war meine Attacke auf die marxistischen
Weltverbesserer, die alles verändern und verbessern wollten, außer sich selbst.
Herbert Maque und diese Frau da vor mir, würden alles tun um mir zu
beweisen, wie gut und beschützenswürdig die DDR und ihr Sozialismus seien und
im selben Atemzug zeigten sie nicht die geringsten Beschützerinteressen, soweit
es seine und meine Frau betraf. Würde ich zugreifen und das Lockende auch nur
flüchtig berühren, würde ich mein Recht preisgeben, den Kommunismus vehement
wegen innerer Unwahrhaftigkeit abzulehnen. Das war der Punkt, den ich
verteidigen oder meine Position aufgeben musste.
„Die ganze Philosophie ist keinen Pfifferling wert, wenn wir uns bei
ihr nur bedienen, wie es uns gerade in den Kram passt!” Obwohl ich es mit
diesen Worten ein bisschen verkorkst ausdrückte, verstand sie, glaube ich, was
ich meinte.
Irene K. schaute mich an wie jemand, der über den Brillenrand blickt. Sie
stimmte mir, jedenfalls teilweise zu.
Doch ihr hübsches Gesicht verriet mir, dass ich sie beleidigt hatte.
Dann schüttelte sie den Kopf und lachte ein wenig unnatürlich. Es war ja auch
komisch. In der Natur fragt man nicht. Die Blüte lädt den Schmetterling ein und
der nektarsüchtige Sammler kostet aus, was sich ihm darbietet. Ihre Augen
sprühten plötzlich Zorn. Wenige Tage später saß ich wieder an dieser im
Tollenseheim nach Nordwesten gerichteten, großen Fensterwand und schaute
sehnsüchtig auf den weit unten im Tal liegenden langgestreckten, wunderschönen
See. Seinen geschwungenen Buchten folgte der Blick zu gerne. Das herrliche
Gewässer lockte mich stärker denn je zuvor. Seine ihn umgebenden Mischwaldhänge
umrahmten ein Gemälde wie von Monets Hand.
Es kam ein fremder, stattlicher und auffallend gut gekleideter Mann in
die geräumige Veranda herein, ein Buchhalter, wie ich richtig vermutete, der
mir nur kurz seinen Namen nannte und nach knapper Frage neben mir am
Mittagstisch Platz nahm. Ohne uns je zuvor gesehen zu haben, fassten wir
zueinander schnell Vertrauen. Es war dieses Gefühl von innerer Übereinstimmung,
das mich in den vielen Jahren nie verlassen hatte, das Gespür wie weit und wem
ich mich öffnen durfte und wem nicht.
Es dauerte nicht lange, bis wir die übertriebene Parteitreue der
Philosophiedozentin aufs Korn nahmen.
Er sei auch Theaterkritiker - und ich, sagte ich, versuche ‚Theater’ zu
schreiben. Er gab an, ich auch.
Wir kamen wieder auf die Dozentin zu sprechen. Ich plauderte etwas aus.
Daraufhin schmunzelte er. Er kannte sie. Sie gehöre zum neuen Frauentyp. Dabei
lachte er und dieses Lachen klang um eine Kleinigkeit zu hart.
Nach einer Weile des Schweigens wechselten wir zum ursprünglichen Thema
zurück: Über den XX. Parteitag der KPdSU tauschten wir unser sich erstaunlich
ergänzendes Wissen und unsere Meinungen aus. Mir kam noch nicht in den Sinn,
dass wir abgehört wurden.
Er wusste, was ich noch nie gehört hatte, und ich wusste von
Ereignissen zu berichten, die wiederum in sein Bilderbuch hineinpassten, als
hätte er längst nach ihnen gesucht.
Zwei Leute, die nicht ein gutes Haar an der Verwirklichung dieses
Sozialismus lassen konnten, hatten sich gesucht und gefunden. Die Rohheit eines
Systems, das uns keine Wahl ließ, quälte uns. Zu viele Leute, deren Namen und Gesichter
wir sehr gut kannten, hatten sich für ihre Karriere gegen ihre Vorbehalte
entschieden. Andererseits war uns bewusst, dass die große Geschichte so
chaotisch, wie sie zum Dritten Reich Hitlers verlaufen war, sich niemals wiederholen
dürfe.
An sich war ein Experiment wie der Sozialismus berechtigt. Aber nicht
als Abenteuer ohne Rücksicht auf Verluste. Bereits der Urgrund, den Lenin in
der Sowjetunion gelegt hatte, erschien uns beiden als unzuverlässig, weil
unehrlich.
Einmal würden die Historiker offen legen, wie viele Millionen
Menschenleben zwischen 1917 und 1937 infolge dieser Art der Revolution allein
in Russland vernichtet wurden.
Beide Jahrgang 30, hatten wir vieljährige Erfahrungen mit dem auf uns
zielenden pausenlosen Propagandatrommelfeuer des Stalinismus hinter uns. Wie so
viele andere hatten auch wir uns wundgerieben an den uns unsympathischen
Parolen, die in uns den undifferenzierten Hass auf den “Kapitalismus”
hervorrufen sollten.
Hass sollte gesät werden, Hass musste
aufgehen!
Wir empfanden sehr stark, dass es den maßgeblichen Kommunisten
vorrangig um die Vernichtung der Demokratie ging. Das war es, was uns wie die
Vorstufe zur Sklaverei erschien.
Als einziges Mittel zum Überleben unserer prodemokratischen Ansichten
blieb uns nur der Versuch einander in der Ablehnung zu bestärken. Ähnliches
wagten Hunderttausende in diesem Lande, vielleicht sogar Millionen. Und doch
war es nur ein Aufblasen der Backen gegen den gewaltigen Oststurm.
Ziemlich unvorsichtig bezeichnete ich in jener Mittagsstunde Lenins
Dekret über den Boden als glatte Lüge. Lenin habe nie anderes als die
schließliche Vergesellschaftung des Bodens gewollt. Die bitterarmen Muschiks
jedoch, an die sich das Dekret richtete, mussten glauben, wenn sie sich auf
Lenins Seite stellten, dann bekämen sie selbst, für immer, ein Stückchen Land
zu eigen. Die vom mörderischen Krieg ausgezehrten, von Heimweh, Hunger, Läusen
und Tod geplagten Russen hörten auch
heraus, dass Lenin den Krieg sofort beenden wolle. Ja, dass sein erstes
Dekret überhaupt ihrem ureigensten, dringlichsten Wunsch entsprach: „Alle
Frieden! Frieden!”
Von klaren aber auch unnennbaren Hoffnungen getrieben, mussten sie in
Lenin den Erlöser sehen. Vorausgesetzt sie würden seinen Aufrufen Folge leisten,
gelangten sie durch einen einzigen Schwenk aus der Hölle direkt ins Paradies.
Wir beide glaubten, dass Lenin vorsätzlich so
verfänglich geschrieben hatte. Sein wahres Gesicht zeigte er, nur drei Jahre
später, in seinem Brief „Tod den Kulaken!”, den man ja in jeder
Lenin-Gesamtausgabe nachlesen könne. Eine ganze Klasse, nämlich sämtliche
Mittelbauern Russlands, gab er - wenn auch aus dem berechtigten Zorn über
einige tatsächliche Verbrecher- unterschiedslos dem Verderben preis. Das waren
zwölf Millionen Todesurteile!
Jeder mit einer Pistole bewaffnete Neidhammel, der glaubte, er hätte
noch eine offene Rechnung mit diesem und jenem Mittelbauern, kam mit
Leninsätzen daher, um an sich zu reißen, wonach ihn gelüstete. Namens der
Partei und der Wahrheit wurden Menschen aus Machtgründen schutzlos dem
Verderben preisgegeben.
Die Zeitung vom 22. Januar 1956 hatte ich mir aufgehoben. Den
Ausschnitt trug ich bei mir. Ich zeigte zwei Passagen, die mir ins Auge
gestochen hatten. Auf einer Innenseite der Zeitung des Zentralkomitees der SED
“Neues Deutschland” wurde dort berichtet, wie der Frankfurter Obermagistralrat
Dr. Julius Hahn, Mitglied des westdeutschen Arbeitsausschusses der Nationalen
Front aus einer Tagung heraus verhaftet wird.
„Wir sitzen, hatten gerade das Hauptreferat gehört...plötzlich beim
Mittagsmahl stürmen auf ein Trillerpfeifenzeichen 20 uniformierte Polizeibeamte
in den Saal, riegeln ihn ab, verlangen in barschem Ton von den Anwesenden die
Ausweise...”
Brecht wurde in diesem Zusammenhang zitiert. Auf dieses Brechtzitat
legte ich den Finger. Es sollte Dr. Hahn betreffen, den Sympathisanten der
Kommunisten, aber es betraf genauso die Kulaken!
“Eurem Bruder wird Gewalt angetan, und Ihr kneift die Augen zu! Der
Getroffene schreit laut auf, und Ihr schweigt? Der Gewalttätige geht herum und
wählt sein Opfer, und Ihr sagt, uns verschont er, denn wir zeigen kein
Missfallen. Was ist das für eine Stadt, was seid Ihr für Menschen? Wenn in
einer Stadt ein Unrecht geschieht, muss ein Aufruhr sein...”
In dem Zeitungsausschnitt wurde auf die Quelle verwiesen. Da stand
geschrieben: aus ‚Der gute Mensch von Sezuan’.
„Bilder, Originalbilder aus den Tagen der Nachrevolution müsste man
sehen, dann wüssten wir, wie viel Unrecht in Russland zwischen 1917 und 1956
wirklich geschehen ist. Denkt daran, was Brecht fragte: Was ist das für ein
Land, was seid ihr für Menschen? Denn da wurde bisher jeder, -jeder-, Aufruhr
im Blut erstickt.”
Ich schimpfte und er bekräftigte. Wir selbst waren in Aufruhr,
glaubten, wir hätten eine wenn auch nur schwache Vorstellung vom Elend, in das
die Menschen jahrzehntelang durch den Kommunismus gestürzt worden waren.
Plötzlich hob ich den Kopf und erschrak. Den Lautsprecher in der Ecke
hatte ich missachtet. In jedem der drei Geräte befand sich seit seiner
Installation ein Mikrofon!
Ich hätte es doch wissen müssen! Nicht nur in dem Lautsprecher des
Schulungssaales, in jedem anderen befand sich wahrscheinlich dieselbe Technik.
Denn einmal, im Büro der Wirtschaftsleiterin zeigte Paul Schmidt mir, wie das
funktioniert. Deshalb der große Schaltschrank. Man bediente zwei Knöpfe und
schon konnte man hineinhören in den Schulungsraum. Furchtlos, nachdem
Wirtschaftsleiterin Inge und Herbert Maque eines zurückliegenden Tages mit dem
Luxusflitzer nach Neubrandenburg gefahren waren, nahm er sich heraus mich
einzuweihen.
Respektlos lauschten wir beide in die Vorlesung der Philosophiedozentin
hinein. Wie konnte ich so naiv sein und glauben, dass Herbert Maque nur wissen
wollte, was in seiner Abwesenheit im Klassenzimmer geredet wurde? Das
Naheliegendste war mir entgangen.
Was dort möglich war, das galt auch für alle andern Räume. Während mein
Blick sich auf den stoffbespannten kleinen Trichter in weniger als drei Metern
Entfernung richtete, fielen mir sämtliche Sünden bei. Sofort gab ich meinem
Gesprächspartner, Buchhalter Günter, ein Zeichen der Warnung.
Wir hatten gerade in sehr scharfem Ton über einen Fall von
Aufruhrniederschlagung in der SU gesprochen. Da war die nur wenigen bekannte,
jedoch zuverlässig überlieferte Erhebung der Kronstädter Matrosen, 1921,
gewesen. Nur dreieinhalb Jahre nach der Errichtung der Sowjetmacht ereignete
sich das Verbrechen.
Von ihren Schlachtschiffen “Sewastopol” und “Petropawlowsk” aus hatten
die Matrosen heftig protestiert, dass die Arbeiter in den Kronstädter
Staatsunternehmen der Sowjetunion „wie die Zuchthäusler zur Zarenzeit”
behandelt wurden.
Auf Lenins Befehl hin ließ Kriegskommissar Trotzki die Aufständischen
zusammenschießen. Da hatten Mitmenschen eben das getan, was Bertolt Brecht sich
wünschte. Doch eben die Partei, der auch
Bert Brecht diente zerschmetterte gnadenlos den Aufruhr des leidenschaftlichen
Mitleids.
Wie passte das zusammen?
Buchhalter Günter vermochte es mir sehr anschaulich zu schildern, wie
die Truppenteile der Roten Armee über das Eis des finnischen Meerbusens
vorrückten und wie sich die Artilleristen der eingefrorenen Schlachtschiffe
vergeblich gegen den Sturmlauf ihrer in Weiß gekleideten Waffenbrüder
verteidigten.
Ich stimmte ihm zu: Wenn das wahr sei! Dann hätte man Lenin allein für
diese Ruchlosigkeit in Ketten legen müssen.
Gerade, als ich das ausgesprochen hatte, war mein Blick auf das Gerät
zu unseren Köpfen gefallen. Vor Schreck blieb mir der Bissen im Halse stecken.
Die Ikone des Kommunismus hatte ich besudelt. So dumm zu sein, wie ich, musste
bestraft werden.
Eine Minute später kam sie tatsächlich an.
Ich hörte, wie Irene K. die Treppe herunterstieg. Das typische Klappern
ihrer hohen Absätze klang allein schon bedrohlich.
Ich sah diese blitzenden Augen, als sie sich uns näherte und wusste
Bescheid. Als leibhaftiger Racheengel wird sie sich nun erweisen.
Aber wir hatten doch leise gesprochen.
„Die Empfindlichkeit eines Mikrofons der neuen Generation ist
beträchtlich.” Dieser Satz eines Technikers kam mir in den Sinn. Zugleich war
ich wütend. Namens der Diktatur des Proletariates waren wir der Dozentin, wenn
sie wollte, ausgeliefert. Aber, die einzige Diktatur, die mein Gewissen je
dulden würde, war die meiner eigenen Vernunft über die Leidenschaft.
„Dafür schuldet ihr mir Rechenschaft!”, hörte ich sie schon im Voraus
tönen. Dafür, dass wir uns herausgenommen hatten, sie persönlich zu kränken.
Dafür, dass wir uns herausgenommen ihre Partei und den großen Denker Lenin
beleidigend zu kritisieren.
Sie wusste nun, dass wir Ulbrichts System als seelenknechtend
betrachteten. Für sie gab es keinen Zweifel an der Richtigkeit des Weges, der
Zwang als politisches Mittel einschloss.
Sie diente der Diktatur, die wir hassten. Innerlich verteidigte ich
mich ununterbrochen gegen eine mögliche Anklage. Ich wehrte mich: Zwang,
gleichgültig, von wem angewandt, verkehrt die beste Sache der Welt in ihr
Gegenteil. Wisst ihr das nicht? Erniedrigte Frauen müssten unsere Gefühle
verstehen können.
Dozentin Irene ging an uns vorbei. Nur einen einzigen, wenn auch sehr
sonderbaren Blick gab sie mir.
Es ereignete sich nichts. Ungewissheit kann schlimmer sein als eine
schlimme Gewissheit. Das war es, womit sie regierten.
Es braute sich etwas Gefährliches gegen mich zusammen. Es lag in der
Luft. Einige Tage später, Mitte Mai erfuhr ich, dass mein Gesprächspartner, der
Buchhalter Günter, wahrscheinlich verhaftet worden sei, oder, und das war nicht
auszuschließen, er hatte sich in den Westen abgesetzt.
Jedenfalls sei er spurlos verschwunden.
Das war natürlich zweierlei! Im Westen zu sein oder im Gefängnis zu
sitzen.
Verhaftet!
Herbert Maque und andere hatten es mir schon mehrfach zu verstehen
gegeben: Wer gegen die DDR hetzt, der spricht der Friedensfeinde Sprache.
Einen Tag nachdem ich vom Verschwinden Günters erfuhr fauchte mich die
Philosophielehrerin im Waschraum an: „So nicht!”
Was meinte sie mit diesem unbestimmten, unvollendeten Satz? Ich holte
mein Fahrrad aus dem Keller, wollte heimfahren. Da sah ich Braun, einen der
neueingestellten Lehrer, neben Irene K. stehen. Er löste seinen Arm, den er um
ihre Schulter geschlungen hatte.
Braun kam auf mich zu. Er war klein. Sein Ausdruck allerdings war der
eines Giganten. Er machte scheinbar vielsagende Gesten. Ich betrachtete seinen kahlen
Kopf, seine glatten Züge, um ihm nicht in die provokant ausforschenden, hellen
Augen blicken zu müssen. Unter dieser Schädeldecke bildeten sich Worte und
Sätze gegen mich. Das war nicht zu übersehen. Nicht so sehr überraschte mich
deshalb, dass er formulierte: „Wir werden sie wohl hoppnehmen müssen!” Wortlos
fragte ich: Wegen meiner Gespräche mit Günter, nicht wahr?
Braun schien zu wissen, was ich dachte. Er sagte: „Wegen subversiver
Tätigkeit.”
Erst als ich mit meinem Rad davonfuhr und seine und ihre Blicke im
Rücken zu spüren glaubte, fiel ich in Panik. So leicht hatte der Neue es
dahergesagt, als hätte er gemeint, morgen ist auch noch ein Tag zum Teetrinken.
Bezog er sich auf das Abbrennen der Wiese? Hatten sie die zerstörte Gig
entdeckt? War, was die Dozentin über die Abhöranlage vernahm, nur der I-Punkt?
Reimten beide sich des Buchhalters Günters Bemerkungen wegen noch mehr
zusammen? War Günter ein Spitzel gewesen? Du wirst für die unverzeihliche Sünde
bezahlen. Lenin durfte. Im Namen der Revolution durfte er tun, was er für erforderlich
hielt, selbst wenn sämtliche Nichtroten allesamt daran verreckt wären. Wo
gehobelt wird, da fallen Späne.
Heiligtümer besudelte niemand ungestraft. Du hast ihre Sache in den
Dreck getreten. Geschieht dir recht, wenn sie dich hoppnehmen. Mit diesem
Schock fuhr ich heim. Ich trat in die Pedalen und schwitzte vor Aufregung.
Einer meiner väterlichen Freunde beruhigte mich. „Subversiv? Was heißt das?
Tollenseheim steht doch noch. Bange machen gilt nicht! Lass dich nicht ins
Bockshorn jagen!”
Er hatte gut reden.
Das Wochenende verging. Am Montagmorgen versicherte ich mich, ob Braun
die Gig entdeckt haben konnte.
Nein.
Es geschah so gut wie nichts, außer dass meine Gefühle verrückt
spielten.
Hausmeister Paul ging in dieser Woche überraschend von Tollenseheim weg
und ich beschloss, dasselbe zu tun.
Als ich in der Presse las, die Produktionsgenossenschaft werktätiger
Fischer “Tollense” suche umgehend zwei Saisonarbeiter, schien mir das ein Wink
des Himmels zu sein. Zögern? Nicht eine Minute.
Herbert Maque legte sein ernstes Gesicht in tiefe Falten und entließ
mich erstaunlich zurückhaltend aus der Pflicht. Hatte ich mich umsonst
aufgeregt?
Als Fischereihilfsarbeiter auf Zeit
Da ist dieses Bild vom 1. Mai 1956. Auf den ersten Blick sehen sie glücklich aus, die alten Neubrandenburger
Seenfischer, doch sie sind es nicht.
Man sollte meinen, dass die Männer sowohl kämpferisch kritisch wie auch
zuversichtlich sind. Die Momentaufnahme hätte sie eher pessimistisch fragend
darstellen müssen, als heiter dreinschauend. Es ging ihnen eindeutig schlechter
als vor fünfzehn Jahren. Mein Informant sagte: „Du musst einmal einen Blick in
ihre Fangbücher werfen Aber sie wollen es dennoch packen. Sie wirtschaften nun
bereits seit mehr als vier Jahren auf eigene Rechnung. Sie sind selbständig.
Nur, sie fangen zu wenige Fische. Sie leben zwar von einem Tag und Traum zum
nächsten, doch sie fühlen sich wesentlich bedrängter und unzufriedener als
damals, unter Peters, auch weil ihnen ihr Buchhalter sagt, dass es so nicht
weiter gehen kann.“
Zudem erschien in Neubrandenburg und in der DDR nicht eine einzige
Tageszeitung, in der nicht dramatisch von der westlichen Kriegshysterie und den
permanent drohenden Gefahren für den Weltfrieden geredet wurde.
Alle wurden so immer wieder in diese mitunter unerträglichen
Spannungszustände versetzt. Krieg oder Frieden, Friede oder Krieg. Sein oder
Nichtsein. Jeden Tag hörte es jeder. Dieses Konzert für allesamt war zu
schrill. Andererseits entkam man dem Lärm der Propagandapauken nicht: Pax
oriente lux. Das Licht des Friedens kann nur vom Osten kommen.
Es war auch in dieser Hinsicht wie zu Hitlers Zeiten. Stets drängten
sich uns ‚ihre’ Parolen auf. Da hieß es: Räder müssen rollen für den Sieg. Hier
stand Ähnliches, wenn auch von entgegengesetzter Hand geschrieben: Der Sieg des
Sozialismus ist gewiss. Jeder Schulungsrunde Fazit lautete: Als faulender,
parasitärer Kapitalismus begehre der Imperialismus die friedliebende Menschheit
in seinen Untergang hinein zu reißen.
Manchmal klang es so, als könnte
die einzige Konsequenz nur folgendermaßen lauten: Los Brüder! Gebt ihm den
Todesstoss! Brüder zur Sonne, zur Freiheit... Brüder das Sterben verlacht...
Auf zum letzten Gefecht. Monatelang, jahrelang spürten wir es als Alpdruck.
Man gewöhnt sich nur schwer
daran, immerhin man gewöhnte sich.
Täglich war dieser düstere Geist
anwesend. Es ist eisig in Europa, der kalte Krieg herrscht. Zum Selbstschutz
holt man sein eigenes Licht hervor. Es war zu klein, es wärmte auch kaum.
Stündlich, das war die schwebende
Gefahr, konnte diese lautstarke Phase, eines vorerst nur
Wortekrieges, revolutionär in militärische
Aktionen umschlagen. Für diesen schier unausweichlich erscheinenden Fall
müsse man militärisch und ideologisch vorbereitet sein.
Das war der Tenor der Tagespresse. Wilhelm Bartel, der kleine Fischer
vorne links, erwog ernsthaft, ob er den kaltschnäuzigen Agitatoren, mutwillig,
also wider besseres Wissen, Glauben schenken will. In seinem schwarzweißen
Westover und mit der Bierflasche in der Rechten steht er verlegen da. Gerade
zum neuen Vorsitzenden der Tollense-Fischerei eGmbH gewählt, will er
Selbstbewusstsein vortäuschen. Weil der Vorsitzende Karl Görß - nicht Otto - sich
über Nacht aus dem Staube gemacht und alles im Stich lassend, nach Australien
durchzuschlagen beabsichtigte, (nur weit weg vom gefährlicher werdenden
Kontinent), trägt Wilhelm ab jetzt die
Verantwortung.
Otto Görß, das ausgeprägte immer scharf rasierte Kinn erhoben, dritter
von rechts, hält einen Brotlaib unter seinem Arm. Gerade zum vierten Mal Vater
geworden, hegt er trotz seiner Ablehnung des Geistes dieses Staates noch
hoffnungsfroh gewisse Pläne. Er wird seinem Namensvetter nicht nachfolgen,
sondern dableiben, komme, was da wolle. Er wird aus der miserablen Situation
das Beste machen. Seine wunderbare Frau Erna, streichelte ihm für solches
Versprechen immer wieder den geraden Scheitel seiner dunkelblonden, starken
Haare. Nein er werde gar niemanden verraten. Für Otto galt es voll und ganz:
Ein Mann, ein Wort. Seiner Meinung nach muss und kann ihnen gelingen, mehr zu
fangen. Wenn sie nur die Mittel hätten, sich mehr Netze zu kaufen. Er muss hier
an diesem Ort und auf diesem Platz das tun, was er leisten kann, um
herauszukommen aus dem Elend, gleichgültig, was dann wieder auf der großen
Bühne geschieht, dessen Geschehen er ohnehin nicht beeinflussen kann.
Der Kopf des Mannes Fritz Biederstaedt ruht scheinbar auf Ottos
Schultern. Seit vier Jahren befindet er sich nun schon wieder in Freiheit. Dass
er diesen Zustand wirklich genießt,
kann Flaschen- und Busenfreund Otto nur
bestätigen. Sie sind Freunde in der Trinkerrunde und Kumpels auf dem See.
Bescheidener ist Fritz geworden, wesentlich kameradschaftlicher als in den
Jahren seiner Regentschaft über den früheren Fischereihof. Deshalb, und weil er
gut verhandeln konnte, wenn es ums Geld ging haben sie ihn zum Stellvertreter
Wilhelms gemacht. So hatte er sich wieder hochgerappelt. Karl Neumann steht
links außen, ein pures Bündel Energie. Dass er das Maiabzeichen wie Gräf,
zweiter von rechts und wie Mikusch trägt, besagt gar nichts. Neumann ist
ausschließlich und jeweils am ersten Mai Mitglied der Arbeiterklasse, sonst ist
er ihr und ihren Funktionären spinnefeind. Mit Logik hat das bei ihm nichts zu tun.
Mir wollte er an die Kehle gehen, als ich ihn später einmal, als er besonders
scharf über die Parteileute herzog, mahnte, er müsste sich doch befreit fühlen.
Denn früher sei er doch nur ein armer Schlucker unter der Fuchtel eines
Ausbeuters gewesen. Hart fuhr er mich an: „Du hesst keene Ohnung!”122
Dabei spreizte er seine mächtigen Hände, als wollte er einen Ochsen erwürgen.
Hermann Müller, das Fliegengewicht, feierlich im schwarzen Anzug, hat
vornean links seinen Platz eingenommen.
Ich sollte die Männer allesamt sehr
gut kennen lernen.
Denn sie stellten mich
ein, für sechs Wochen, wie sie sagten.
Die Zeit verging wie im
Fluge und ich war immer noch da.
Geräuschvoll trieb der Nordwest an diesem düsteren Novembernachmittag die
ersten Schneeflocken vor sich her.
Wie ein Treidler gegen das Seil, stemmte sich der untersetzte, gut fünfzigjährige
Fritz Biederstaedt gegen den Wind. Stossweise zerrte der Sturm an seiner grauen
Schiebermütze.
Gefühlvoll umklammerten seine starken Fäuste zwei glasklare Flaschenhälse,
deren schwere Leiber tief in seinen Joppentaschen steckten.
So recht wollte sich die Vorfreude auf seine traute Männerrunde jedoch
nicht einstellen. Fritz bog um die Ecke der ersten Bootsschuppenreihe. Er
spürte es nun noch deutlicher: Irgendetwas stimmte nicht. Er kam nicht so
schnell dahinter, was ihn bedrückte und das beunruhigte ihn plötzlich noch
mehr. Wie der heftige Sturm mit dem Qualm umsprang, der aus dem abgestumpften
Ofenrohr der Fischereibaracke drang, so müsste das Leben alles gegen ihn stehende
Schwarze, Unangenehme, zerfetzen.
Fritz stapfte fester auf.
Manchmal ärgerte er sich sehr über unfreundliche Mitmenschen, über sich
selbst und den Mangel vor allem, der in den Lebensmittelgeschäften
vorherrschte. Aber das war es nicht. Obwohl er sich darüber gerade wieder
erbost hatte. Fast nur das zum Überleben Notwendige konnte man einigermaßen
billig erwerben. Vieles gab es immer noch nur auf Lebensmittelmarken zu kaufen.
Pro Person 1380 g Fleisch im Monat, - 46 g pro Tag, - 815 g Fett und zweieinhalb
Pfund Zucker. Wer mehr haben wollte, musste es kostspielig in den HO-Läden
einkaufen. Seine Mitfischer murrten seit Monaten und ich hörte zu: So viel
Arbeit für so wenig Lohn. So hätten sie sich das Leben in der Binnenfischerei, mehr
als 10 Jahre nach dem Kriege, nicht vorgestellt. In den langen Monaten
Dezember, Januar, Februar, März lebten sie von Vorschüssen, die sie im kurzen
Frühling und Sommer wieder abzahlen mussten. Dieses Teufelsloch war groß und
die Hoffnung, da endgültig herauszusteigen, klein. Die Bauernbank gab ungern
Kredite für Löhnung. “Warum investiert ihr nicht? Warum dies nicht, warum jenes
nicht?” So hieß es bei denen. Lieber
rannte Fritz dann, in seiner Eigenschaft als zweiter Vorsitzender der
Genossenschaft, zum Steuerberater Hermann Köppen, der sich auch als
Geldverleiher hervortat.
Köppen nahm zwar höhere Zinsen, doch er meckerte ihn nicht an. Von
wegen: „Genosse Biederstaedt, da stellen sie zuerst mal ein Konzept auf, wie
sie die Rückzahlungsraten pünktlich leisten wollen.”
„Ück bün aber kein Genosse”, pflegte er sich vor dem Bankchef
kopfwiegend zu entschuldigen.
Beim Geldmann Köppen ging das wesentlich kultivierter zu: „Prost, Herr
Biederstaedt, auf gute Zusammenarbeit!”
Dieser Mensch wusste, was sich gehörte. Aus dem Kognakschrank holte der
höfliche Geldborger stets das Beste. „Wohlsein, Herr stellvertretender
Vorsitzender! Sie werden das schon machen. Sechs Prozent sind für sie doch
keine Hürde.”
Diesmal jedoch sah er sich genötigt bereits Anfang November bei Herrn
Hermann Köppen anzufragen.
Blödes Wetter!
Die sechs Prozent Zinsen waren keine Hürde, aber der verdammte
Nordnordwest, der jagte die Fische in unerreichbare Seetiefen.
Was soll ein Fischer unter solchen Umständen anderes tun, als abwarten
und sich dieses Abwarten auf möglichst angenehme Weise verkürzen? Nämlich da
drinnen in der Holzbaracke, wo seine Mitfischer ihn und das, was er mit sich
trug sehnsüchtig erwarteten. Als Fritz um die letzte Ecke seines Weges bog,
rührte ihn plötzlich der Schlag. „Düwel uk!”123
Da stand der Grund seiner düsteren Ahnung fest: der fast fabrikneue PKW
F 8 des Rates des Bezirkes! Biederstaedt schluckte. Die beiden Fischmeister
Eduard Jochim und Ernst Stöckelt waren von Neustrelitz gekommen um
ihm und seinen
Männern ein paar unbequeme Fragen zu stellen. “Düwel,
Düwel”, wiederholte er. Er, der zweite Chef, hätte pünktlich und andächtig
lauschend in der Quartalsversammlung sitzen müssen! Wo er so verspätet
herkomme, werden sie ihn aushorchen. Ob es Wichtigeres gäbe als die Politstunde.
Gerade er, der aus dem Knast entlassene…
Ein drittes, „de Düwel holt!”123, platzte ihm über die
dicken Lippen. Fritz schüttelte sich, als wäre ihm ganz unangenehm brennendes
Zeug durch die ausgedörrte Kehle geronnen.
Tapfer betrat er den unaufgeräumten Vorraum zum Schulungs- und
Kulturraum. Normalerweise kam die Partei an jedem letzten Mittwoch des Quartals
angereist, um ihre Schulung zu halten. Ausgerechnet diesmal war es anders. Mit
der flachen Hand hätte er sich vor den Kopf schlagen können, wäre die nicht
damit beschäftigt gewesen der andern zu helfen die Flaschen aus dem Versteck zu
ziehen und sie unterzubuddeln unter einen Haufen alter, vergammelter Netze.
Vergessen!
Jemine, wie peinlich!
Alle werden
den Termin vergessen haben.
Na, denn man
tau.
Doppelt werden ihm die beiden Parteigenossen nun zusetzen, es wäre
alles eine Frage des gesellschaftlichen Bewusstseins.
Und jetzt erst recht wird die alte Leierei losgehen: “Wann wollt ihr
endlich mehr für eure Zukunft tun? Ihr müsst mehr Satzfische kaufen! Wo man nix
reinsteckt, da kommt auch nix ‘raus!“ Lächelnd zwar, aber innerlich
zerknirscht, wird er ihnen die großen, grünlichgelben Zähne zeigen und es zum
Scherz ummünzen: “Ganz meine Meinung!” In Wahrheit aber möchte er sagen und
ihnen an den Kopf schmettern, was er wirklich dachte: “Lüd, woväl Geld häm wie
all de Johren tun Fenster rut, in den See rinner schmeten.”124 Er
murmelte das kleine, aber inhaltsreiche Zwiegespräch vor sich hin, während er
sich innerlich aufrüstete, gleich unter die forschen Augen der kritischen Gäste
zu treten. Natürlich war er ein Freund von richtigen Besatzmaßnahmen. Aber die
fünftausend Mark für die Maränen war auch solch ein Fall von sinnlos
vergeudeten Finanzen. Ein Glück, dass
die beiden Genossen
auf Kosten des Rates des Bezirkes
die Rechnung für ihre wahnwitzige Idee bezahlt haben. Er dachte an die
angeblich fünf Millionen winzigen Brütlinge, die sie vor Jahresfrist in ein
Eisloch gegen alle Vorschrift in Ufernähe geschüttet hatten, weil das Eis so
brüchig geworden war. “So lütt!”, sagte Fritz, als erkläre er jemanden, was ihn
so aufregte. Die winzigen Dinger bestanden ja nur aus Augen. Wie wollten die da
unten in der Finsternis ihr Futter finden? Jochim und Stöckelt hatten Stock und
Bein geschworen, es sei hoch an der Zeit, den Tollensesee mit Aalbrut und
Maränensetzlingen zu spicken. Wer weiß, welchen kostenaufwendigen Beschluss sie
ihm und den Männern diesmal abnötigen würden. In der vorletzten Versammlung war
von zukünftiger Karpfenwirtschaft auf der Lieps die Rede gewesen. Auch so ein
Blödsinn. Viel zu viel Ried... viel zu teuer! Kaufen, immer kaufen, höhnte er
in seine lustlose Seele hinein!
Fritz schöpfte tief Luft, riss die Tür zu dem viermal vier Meter
‚großen’ Schulungs- und Kulturraum auf, in dem sechzehn kräftige Männerärsche
auf den mehr oder weniger wackligen Stühlen hockten. ‚Kulturraum’ hieß dieser knapp abgeschlagene
Teil der Holzbaracke, weil da ein Radio, ein Blaupunktgerät, auf einem mit
silbern glänzenden Fischschuppen
überdeckten und verstaubten,
kleinen Holzregal stand.
Einige Jahre zuvor, 1950, war es ihnen als Prämie übergeben worden und
seither gab es gleichmütig West- oder Ostnachrichten von sich, je nachdem, wer
sich dem Gelände näherte und welche Gesichter zur Tür hereinschauten. Fröhlich
laut platzte Fritz mit der forschen Bemerkung in die Agitationsstunde hinein:
„Dor mach man jo nich mol ‚nen Hund vör de Dör jogen“ 125 Ernst Stöckelt unterbrach seine offizielle
Rede. Sein schwungvoll geformter Kopf ruckte herum. Er schaute erstaunt und
riss seinen fein geschnittenen Mund auf ohne auch nur ein Wort hervorzubringen.
Er verharrte, als sei er verhext, für drei Sekunden. Stöckelt wollte gerade fortsetzen da schüttelte
Biederstaedt sich, als sei er geradewegs aus dem Eisbunker gekommen und
unterbrach den jungen Mann sogleich noch einmal mit seinem lauten Gruß: “Dach uk alltohop!”126
Einige grinsten. Des ersten Bezirksfischmeisters nominierter Nachfolger
hob nochmals verwirrt die bleiche Stirn. Biederstaedt nickte ihm herzhaft zu,
zog die Mundwinkel herauf, ganz verbindlich, ganz der Alte, der nicht verlernt
hatte, wie ein Diener seinem Herrn in einer kritischen Situation zu gefallen
wusste.
Er zog unnachahmlich seinen beachtlichen Bauch ein und zwängte
sich durch den
engen Spalt zwischen
der grauen Zimmerwand sowie den vier Rückenlehnen der
Stühle des Buchhalters, Bartels und der beiden Bezirksfischmeister. Da musste
er partout durchschlüpfen, weil er unbedingt seinen Stammplatz neben Otto
einzunehmen gedachte, der auf der entgegengesetzten Tischseite saß. Noch hatte
er es nicht ganz geschafft. Fritz hauchte dem nervös werdenden Stöckelt aus
seinem scheinbar unerschütterlichen Gemüt und mit seiner heiseren Stimme in das
weiße Genick: “Ever soveel jemütlicher is dat hür drinnen!” 127
Er hätte ja auch auf der Türschwelle Platz nehmen können. Während er
sich so durchkämpfte, ruhten aller Blicke auf ihm, wenige missbilligend, die
anderen amüsiert. Das genoss er. Fritz wusste, diese Unterbrechung des
Vortrages war den meisten willkommen.
Der kleinen Genossenschaft Stimmungsmacher war
er allemal. Erst vor vierzehn Tagen hatten ihn beide, Reiniger und Bartel,
zusammengestaucht. Sogar sein Freund Otto Görß war ihm grob über den Mund
gefahren. Da hatte er nämlich in Neverin, nachdem sie den Dorfteich abgefischt,
heimlich einige Kilo Karauschen gegen eine kleine Flasche “Bärenfang”
eingetauscht. Weil ihm doch so jämmerlich zumute gewesen und er gefroren habe,
indessen er auf sie warten musste. Bis sie endlich mit dem Fuhrwerk herankutschiert
kamen, hätte er sich berechtigt gesehen, etwas gegen die ihn anschleichende
innere Kälte zu unternehmen. Der Fehler bestand darin, dass nur für Otto ein
Rest übrigblieb. Das bekamen die Benachteiligten mit. - Großes Wehgeschrei. Bei
solchen Sachen kannten sie kein Pardon. „Uns hat auch gefroren!”, musste er in
deftigem Platt- und Hochdeutsch hören. Als Brigadier sei er abgesetzt und wenn
er sich Ähnliches noch ein einziges Mal erlaube, dann sei es endgültig aus mit
seiner Herrlichkeit als stellvertretender Chef.
Nachdem er sich endlich geräuschvoll
niedergelassen, erteilte Fritz Biederstaedt
Ernst Stöckelt das Zeichen, nun könne es von ihm aus weitergehen. Dem
energischen Redner zogen Unverfrorenheiten normalerweise die Winkel seiner
schmalen Lippen herab. In Biederstaedts Anwesenheit allerdings war alles immer
anders. Biederstaedt breites Lächeln wirkte überwältigend.
Sich sammelnd kratzte Ernst Stöckelt seine
leicht gewellten, dunkelblonden Schläfenhaare. Er hüstelte, wog den schmalen
Charakterkopf und fuhr offensichtlich da fort, wo er unterbrochen worden war.
Ernst fragte die Tollensefischer, was sie denn wollten? Niemand könne mehr Lohn
bekommen, als er durch entsprechende Gegenleistung verdient hätte. So
funktioniere die Wirtschaft eben. Man kann aus einem Topf nur herauslöffeln,
was da drin ist.
Fritz Biederstaedt kniff die Augen zu. Türlich!
Stöckelt Ernst hatte Recht. Doch da war es
wieder, das alte böse Thema. Stöckelt sollte es lieber ruhen lassen. Sah er
denn nicht, wie es in den Gesichtern der Fischer zuckte? Otto Görß hob denn
auch sofort den Kopf: „Und de Kasernierten? Und de Aktendaschendräger?”128
Wofür die ihr Geld bekämen? Ihren Funktionären hätte der Staat große
Suppenkellen in die Hand gedrückt und den Arbeitern bloß Teelöffel. Wie ein
Paukenschlag vibrierte die ungeheure Anklage. Otto war nie feige, jedenfalls nie besonders vorsichtig gewesen.
Unverbildet wie er war, sagte Otto, was er dachte. Als Vater von vier Kindern
sperrten sie ihn nicht so leicht ein. Ottos weiße Wangenknochen schimmerten
durch die dünne Haut.
Er selbst
sollte schuld daran sein, dass er sich für seine dreihundert Mark monatlich,
nur das Unentbehrlichste kaufen könne? Sein Vater hätte vor dem Kriege,
einhundertundachtzig verdient, aber es sei für ihn als Kind hin und wieder eine
Tafel Schokolade abgefallen. Das könne er seinen Kindern nicht bieten. „Disser
Stoot is nich fehig, blot luder Beamte un Pulezisten.”129
Eduard Jochim
rutschte unruhig auf dem Stuhl umher. Ungestraft durfte sich niemand herausnehmen
den Arbeiter- und Bauernstaat zu attackieren! Otto wies die Finger seiner
Rechten vor. An ihnen zählte er noch einmal die Ursachen für die Teuerung auf.
Es gäbe schließlich zu viele Schmarotzer in diesem Beamtenstaat. Jochim, dem
alten Bezirksfischmeister, war es unmöglich, noch länger nur schweigend
dazusitzen. Einmal, vor Monaten, hatte er Otto sogar zugestimmt, insgeheim,
unter vier Augen. Es traf zu. Zu viele Polizisten gab es! Hunderte in einer
kleinen Stadt wie Neubrandenburg. Das sei ein Kennzeichen des faschistischen
Staates, hatte auch er in seinen Schulungen gelernt.
Seine eigenen
Worte könnten Eduard Jochim nun in Teufels Kammer bringen, falls Görß ihn hier
und jetzt daran erinnern sollte, was er ihm heimlich zugestanden hatte. Das
runde, hochrote Gesicht des ältlichen, kleinen Mannes verriet, dass er sich
wieder einmal in tiefen Zwiespalt gestürzt fand. Konnte er wissen, ob da unter
den Fischern nicht ein Schweinhund saß, der ihn bei Walter Bär anzeigte. Ins
Herz sah man Niemand. Irgendjemand könnte schon am nächsten Morgen im Auftrage
Walter Bärs in seinem Büro in Neustrelitz auftauchen, seinen Dienstausweis
zücken oder die ‚Hundemarke’ vorweisen und sagen: ‚Kommen Sie mal mit, Genosse
Jochim. Wir müssen mit Ihnen über das Gesetz zum Schutze des Friedens reden.
Sie haben Ihre Dienstaufsichtspflicht verletzt. Man lässt den Klassenfeind
nicht zu Worte kommen. Schon gar nicht in einer öffentlichen Versammlung.’
Otto Görß ließ
nicht ab. Um seinen harten Mund zuckte es spöttisch. Wer sich gegen die Überbezahlung der
Angehörigen der kasernierten Volkspolizei aussprach, der galt
den ‚Hundertprozentigen’ als Klassenfeind. Das war ihm wohl bewusst. Doch
darüber konnte einer wie er nur lachen. Siebenhundert Mark bekämen selbst die
dämlichsten Bengel, die knapp ihren eigenen Namen schreiben konnten und er
bekam dreihundert plus achtzig für die Kinder. Unklug wiederholte er sich:
Früher wären in Neubrandenburg nur drei Ordnungshüter zu sehen gewesen, jetzt
rannten über sechshundert umher. Ach, das langte nicht zu. Doppelt so viele. An
jeder Straßenecke stünden und
liefen sie und die meisten säßen in den Kasernen herum, statt zu arbeiten.
In breitem Mecklenburger Platt sagte er das. Es klang fast gemütlich. Aber das
war in Wahrheit einer seiner, im Kern der Aussage, sich wiederholenden scharfen
Angriffe auf die ungeliebte Partei.
Stöckelt
schaute wütend herüber: „Wi kennen Di all, Otto Görß, wes blot still un
taufräden!” 130 Warnend waren diese Blicke gemeint. Sie bedeuteten
dem Furchtlosen: Warum er immer wieder den Bogen überspannen müsse? Das könne
Folgen haben.
Biederstaedt
räusperte sich. Er wollte etwas sagen.
Jochim hob den
Zeigefinger zur eindeutigen Geste. Er wünsche keinen Streit. Ärgerlich
erwiderte Otto: statt ihm zu drohen, sollten sie lieber dafür sorgen, dass die
Lebensmittelkarten abgeschafft würden, dass es außer Margarine, Brot und
Marmelade auch alles andere frei zu kaufen gäbe. ”Teigen Johr no den Krieg!”131
Von Westberlin sollten sie sich eine Scheibe abschneiden, statt ihn vollzunölen.
Stöckelt schnitt Otto das Wort weg: “Walter Ulbricht hat gesagt,...”
Fritz
Biederstaedt und Otto stießen sich gegenseitig mahnend an: Lasst es gut sein.
Fritz wies Otto vorsichtig auf das Bild zu ihrer Linken. In Schwarz-Weiß
blickte der spitzbärtige, hartherzige Mensch von der kleinen Zimmerwand auf sie
herab. Ulbricht hatte gesagt: „Ja
Genossen, also, ja, da machen wir eine klare Front zwischen Freund
und Feind, ja.”
So, im vollen Wortlaut zitierte Stöckelt ihn natürlich nicht.
Die andern Männer schwiegen aus Gründen der Vernunft. Otto Görß biss auf
die Zunge.
Sein Freund Fritz hatte ja Recht. Wem half das ganze lamentieren? Nachher
werden sie ihren Ingrimm auf ihre Weise bekämpfen.
Mit nun brüchiger, wenn auch gedämpft klingender Stimme, fasste Stöckelt
zusammen: „Erfüllt erst mal euer Soll, dann reden wir weiter!”
Damit war alles Wichtige gesagt. Sie hätten es dabei bewenden lassen
sollen. Doch Ernst Stöckelt war noch nicht ganz am Ende seiner vorbereiteten
Rede angelangt. Er stelle sich das folgendermaßen vor.
„Was sagst du?”, fuhr nun plötzlich auch Kurt Reiniger auf, als sei er
gerade aus einem bösen Traum erwacht. Das Bündel steiler Falten über seiner
kurzen, gestauchten Boxernase stand wie gemeißelt.
Er zitterte vor Erregung. Angetrunken war er. „Ganz ruhig! Sitzen bleiben!”, herrschte
Fritz Reiniger seinen jüngeren Bruder an. Erst vor einem Jahr, von einer
gewissen Dame und ihrer Alimentenklage gehetzt,
war Kurt mit einem alten Koffer, zwei neuen Kindern und seiner neuen
Frau aus dem Ruhrgebiet in die DDR übergesiedelt. Bruder Fritz hatte ihn
eingeladen. „Komm in die DDR! Wir brauchen noch einen Fischer.”
So trennte er sich, wie er zuerst geglaubt hatte, von dem langen Rattenschwanz Verbindlichkeiten mit einem
einzigen Schnitt.
Biederstaedt scharrte bedeutungsvoll mit den Füßen. Den Neuen, wie Kurt
Reiniger, stand es längst noch nicht zu aufzumucken! Mindestens fünf
Fischerjahre, und zwar auf dem Tollensesee, müsste man seiner Meinung nach auf
dem Buckel haben, um sich ungefragt zu Wort melden zu dürfen.
Biederstaedt fürchtete die Unberechenbarkeit des selten nüchternen
Mannes Kurt. Erst
vor kurzem wäre
er um Haaresbreite von Kurts niedersausendem Ruder in dem
niedrigbordigen Kahn getroffen worden, weil der glaubte Fritz hätte ihn mit
seiner Wasserschaufel mutwillig durchnässt. Wasserspritzer von außen waren die
Ursache gewesen. Instinktiv hatte Fritz
sich in jener Gewitternacht auf dem bewegten See vor dem drohenden Schatten
unter den Netzballen geduckt. In Biederstaedt lebhaftem Gesicht spiegelte sich
das ganze Unbehagen vor der Wesensart dieses Neulings wider.
Neun Fischer blickten plötzlich auf die Faust Ernst Stöckelts, die er
gerade beeindruckend langsam auf den Genossenschaftstisch drückte. Er sei doch
nicht zu seinem Vergnügen hier. Ob er denn chinesisch rede? Ihrem Lohn ginge
der Fangerfolg voraus! Otto Görß wagte es, seine Faust ebenfall und zwar gegen
Stöckelt auf diese von Löchern und schadhaften Linoleumflächen übersäte und
außerdem mit dem Hauptfangbuch der Genossenschaft bedeckte Tischplatte zu
pressen. Hier sind wir, hieß das. Du bist bloß geduldeter Gast. Fritz, sowie
Kurt und Mikusch nickten Otto zu.
Wilhelm Bartel, der dreiundvierzigjährige Genossenschaftsvorsitzende, und
Adi Voß schüttelten kaum merklich ihre Köpfe.
Beide hatten bereits bei früheren Gelegenheiten ihre Meinung geäußert.
Ihrer Überzeugung nach ginge es so wirklich nicht weiter. Nicht mit der alten
Laxheit! Bei jedem Lüftlein zu behaupten, man könne nicht zum Fischen
hinausfahren und es lohne nicht bei diesem und jenem Wetter, hielten sie für
unverantwortlich. Aber zum Schnapssaufen sei jede Windrichtung gut.
Zur Rechten, von Biederstaedt aus gesehen, im Hintergrund der kleinen
Stube saßen die andern fünf, die Ruhigen, die Beobachter. Der kleine dürre
Sablotny der keinen Schluck Alkohol vertrug, Gruß, Müller, Milster, Neumann.
Allesamt keine handfesten Trinker.
Mikusch, der Eiskalte, schielte angespannt von Görß Miene, die alles
verriet, in die Runde. Mikusch war ein
launenhafter, klamauksüchtiger Geselle, wie sich in der Vergangenheit
gezeigt hatte. Hoch und breit gewachsen, gab er sich auch in diesen Sekunden
deutlich gewaltbereit. Ihm und Kurt Reiniger zuckte es stets in den Fäusten,
selbst wenn sie nicht angetrunken waren. Eine Kleinigkeit wäre es für beide,
das Universalmöbel umzustürzen und eine Keilerei anzufangen.
Sie warteten nur auf Ottos Signal.
Sogar Karl Neumann hatte Anteil an der Wut auf den Wanderprediger
Stöckelt und würde mitmachen. Denn Neumann hasste, wie kein zweiter, alles
Neue, nur weil es neu war.
Görß sah das anders. Er war für das Neue, wenn es gut war, wenn ihm
einleuchtete, dass es wirklich Fortschritt brachte. Er war für den Fortschritt.
Er wäre vielleicht für diese DDR eingetreten, würde sie ihn nicht unentwegt zwingen
wollen, sie lieben zu müssen.
Was ist das für eine Liebe, zu der man jeden Tag neu angetrieben werden
musste?
Nein! Vor allem, die von Plakaten und Stellwänden herunterschreienden
Lehrsätze der Partei, die ihn und seine Mitfischer jeden Tag rechts und links
ihrer Wege begleiteten, widerten ihn heftiger als alle anderen an.
Das war keine Werbung um irgendeines Menschen Herz, sondern unverhohlene
Drohung gegen eventuelle Aufmüpfigkeit der eigenen Bevölkerung.
Während des ganzen Vormittags hatten die Männer schon Alkohol zu sich
genommen. Unbesonnen wie Kinder konnten sie sein. Die irreversiblen Folgen,
falls sie Stöckelt den Schlips gerade rückten, bedachten Mikusch und Kurt
Reiniger gewiss nicht.
Bartel rutschte zunehmend unruhig auf dem Stuhl hin und her. In den
letzten drei Wochen hatten sie von nichts anderem als vom ausfallenden
Weihnachtsgeld und der daraus resultierenden Verdienstminderung gesprochen.
Weihnachtsgeld stünde Genossenschaftlern nicht mehr zu, hieß es, sondern es
sollte im Eigenbetrieb erwirtschaftet werden.
Das sei auch richtig so, hatte Ernst Stöckelt gerade vor einer halben
Stunde bekräftigt.
Noch ein einziges unbedachtes Wort aus Stöckelts Mund und sie sprangen
ihm tatsächlich an seine große Gurgel.
Hermann Müller schaute zu Bartel hinüber, gab ihm ein kleines Zeichen.
Sofort presste Bartel es hart und schnell über die Lippen: ”Zehn Minuten
Raucherpause!”
Nicht einen Augenblick länger hätte er warten dürfen.
Sofort rückten die eingeengt sitzenden Fünf den Tisch und ihre Stühle von
sich, als würden sie einen Reifen sprengen, der sie einzuschnüren drohte.
Bartel schnäuzte ins bunte Taschentuch.
Gefolgt von seinem bisher schweigsamen Vorgesetzten, begab sich Ernst
Stöckelt ziemlich schnell hinaus. Eduard Jochim sprach draußen auf seinen
Mitarbeiter intensiv ein.
Biederstaedt sah sie beide neben dem Auto stehen und gehen. Ernst
Stöckelt wickelte sich in seinen langen, schönen Marinemantel. Er schüttelte
immer nur den Kopf und machte sich gerade. Anscheinend sah er keinen Grund die
Situation zu entschärfen. Es war ja gar nichts passiert.
Es war in der Tat nur ein Nachdenken angeregt worden, ohne das es nie
weitergehen wird.
Biederstaedt sah, dass Ernst Stöckelt kaum weniger als seine Männer
aufgeregt war. Denn jetzt ging er hastig ein paar Schritte hin und her. Sein
Mundwerk stand nicht eine Sekunde still, obwohl Eduard Jochim ganz
offensichtlich versuchte seinen jungen,
ungestümen Mitarbeiter zu beruhigen.
Biederstaedt fühlte sich getrieben, seinerseits die Rolle, die Jochim vor
der Türe spielte, drinnen zu übernehmen. Er packte Otto und mit einem zweiten
Griff Mikusch am Ärmel. „Jetzt wat dat
Muhl hollen!”132 Gleichgültig was der junge Mann noch sagen
könnte, selbst wenn er sie bis aufs Blut reizen sollte.
Was im Guten nicht ginge, ließe sich im Bösen sowieso nicht erzwingen.
Schließlich wünschte er, was er herbei geschleppt hätte, noch heute ungestört
zu genießen. Als Mikusch und Kurt das hörten, reckten sie die Hälse. Wo er die
guten Sachen denn versteckt habe? Plötzlich war für beide nichts wichtiger.
Görß dagegen sagte, er habe nichts zu verlieren. Das sollten sie sich mal
versuchen mit vier Kindern. Deshalb. Bevormunden lasse er sich von diesen
Maulhelden nicht mehr und die ganze DDR mitsamt ihren Parolen könne ihm gestohlen
bleiben. „Freie Wahlen sollen sie machen!”, dröhnte er, dass es durch die
dünnen Fensterscheiben bis an Ernst Stöckels scharfe Ohren gedrungen sein
musste. „Um Gottes Willen! Lüd’ wi hem drunken, mokt juch nich unglicklich!”
133, bettelte Biederstaedt.
Görß lachte. In trockenem Ton wiederholte er sich. In einer freien Wahl
bekämen sie weniger Stimmen, als die SED Mitglieder hätte.
Aber darum ginge es doch gar nicht, beschwor Biederstaedt seinen besten
Freund. Er wollte ihm gerade etwas zuflüstern, da kam Ernst Stöckelt schon wieder zur Tür herein.
Biederstaedt stockte der Atem, noch
bevor der junge Mann den Mund aufmachte. Gleich krachte es.
Doch Stöckelt fragte nur, ob es immer so trocken zuginge bei ihnen.
Im Nu ruckten die kantigen Schädel.
Überrascht hob auch Biederstaedt den großen, geröteten Kopf.
Eine Stecknadel hätte man fallen hören können.
Sogar Otto Görß ging der Mund auf. Perplex, dass Stöckelt plötzlich ihre
Sprache beherrschte! Sofort erhob Fritz Biederstaedt sich. Er strahlte wie ein
blauer Morgenhimmel. Im Handumdrehen standen vierzehn randvoll gefüllte Gläser
da. Keine halbe Stunde später sangen Biederstaedt, Kurt Reiniger und Mikusch in
drei verschiedenen Tonarten: „Heut wolln wir glücklich sein, heut wolln wir
fröhlich sein...”, als hätte es nie zuvor Anlass zu geringstem Ärger gegeben.
Heute!
Heute hieß es für Stöckelt und Jochim nachzugeben, nicht in der Sache,
nur im Stil und Ton. Der Pessimisten Horizonte sind klein, aber ihre Fehl- und
Vorurteile riesig groß. Diese für ihn neue Erkenntnis muss vor Ernst Stöckelt
wie die Morgensonne aufgegangen sein. Denn er prostete ihnen lächelnd zu,
zeigte seine kräftigen Zähne. Zwischendurch erklärte er dasselbe, sogar
deutlicher als vorher, nur bemüht ihresgleichen zu sein. Immer habe er wirklich
nur ihr Bestes gewollt. Immerhin seien nun schon zwei Sommer lang die
Maränenbrütlinge im Tollensesee und sie sollten mal sehen, in ein paar
Jahren...
Im Verlaufe der kommenden Jahrzehnte müssten und könnten sie den Hektarertrag
durchaus vervierfachen und damit ihren persönlichen Reichtum. Jahraus, jahrein
reproduziere ein See von durchschnittlicher Bonität auf einer Fläche von
einhundert mal einhundert Metern, einhundert Kilogramm Fischmasse, wenn sie
abgeschöpft wird. Blieben die Fänger unter dieser Möglichkeit, dann reduziere
sich der Gesamtzuwachs. Es pendele sich stets eine gewisse Menge Biomasse pro
Kubikmeter Wasser ein, in Abhängigkeit von der Nährsalzlösung und der
Lichtdurchlässigkeit. Diese beiden Faktoren seien im Tollensesee aber von hervorragender
Qualität.
„Jawoll! Ji hem schlecht wirtschaftet”, schimpfte Stöckelt durchaus nicht
nur humorvoll. Wasser hätten sie genug. Und sie schimpften mit ihm auf sich
selber, weil er im selben Atemzug einen neuen Fünfmarkschein aus der
Westentasche hervorgenestelt hatte um sie dem Moloch Alkohol zu opfern.
Jawoll, Wasser hätten sie genug, Mikusch möge Bier holen.
„Zweitausendachthundert Hektar! Achtundzwanzig Quadratkilometer!”, wiederholte
Stöckelt rückfällig scharf, vorwurfsvoll. Aus ihren Möglichkeiten müssten sie,
verdammt noch einmal, mehr machen!
„Jawoll!”, bestätigten Otto Görß und Biederstaedt wie aus einer Kehle,
als hätte derselbe Mann, den sie soeben noch verwünscht hatten, nicht nur seine
Stimme sondern sogar Fell und Gesinnung gewechselt wie ein Chamäleon seine
Farbe. „Wat willn ji miehr?” 134, rief Ernst Stöckelt verwegener als
vor einer halben Stunde aus. Mehr als zwei Quadratkilometer pro Mann. Damit
lägen sie in der Norm.
Sogar Kurt und Fritz Reiniger
stimmten zu. Ungefragt erwähnten sie Beispiele aus heimischer
Fischereierfahrung.
Beide stammten aus dem Posener Gebiet. Während in den Nachbarfischereien
nur klägliche Aalmengen gefangen wurden, hätte ihr Vater schon in den zwanziger
und dreißiger Jahren das Zehnfache geerntet, weil er mehr Aalbrut eingesetzt
habe. Daraufhin meldete sich Eduard Jochim zu Wort. In der Tat, sie sollten
endlich den Beschluss fassen, mit Karpfen zu wirtschaften. Satzkarpfen sollten
sie kaufen, mehrere Tonnen, egal ob mit oder ohne Bankkredite.
Da hätten sie doch die mehr als vier Quadratkilometer große Lieps, dieses
Prachtgewässer, oberhalb des Tollensesees, mit der idealen Wassertiefe für
Karpfen, nämlich weniger als drei Meter im Maximum. „Acht Tonnen Karpfen
gehören da hinein und mindestens sechzehn Tonnen werdet ihr wiederfangen.
Rechnet euch den Gewinn selbst aus!” Das alte Lied, neu gespielt. Doch keine
Dissonanzen mehr. Obwohl die Lieps wegen der ungeheuren Riedflächen kein
Gewässer für die Karpfenproduktion war. Die sich immer mehr ausdehnenden
Schilfbestände konnte niemand beherrschen. Dieser Urwuchs von ungeheurer
Ausdehnung vereitelte einen geregelten Wiederfang von Karpfen zuverlässig. Weil
sich in den Rohrbereichen der tieferen Uferzonen ganze Kutterladungen
Großfische zuverlässig verstecken konnten. Er hätte schon vor einem Jahr
gesagt, was sie tun sollten, bekräftigte Eduard Jochim. „Rottet das verfitzte
Rohr aus. Flache See verlanden eben mit den Jahren.” Dann seien die besten
Partien des Gewässers schließlich nur noch stinkenden Löchern vergleichbar.
Und er hätte bereits über den Bau und den Einsatz einer
Unterwasserschilfschneidemaschine nachgedacht, flocht Otto Görß überraschend
ein.
Biederstaedt sah das sonderbare Glimmen in Ottos Augen. Der Schalk Otto
sprach. Eulenspiegels bester Kopist. Biederstaedt kratzte den Kehlkopf
anhaltend. Denn Otto holte eine Streichholzschachtel aus der Tasche und
zeichnete mit vorgespielt seriös wirkender Miene ein Kreuz auf die winzige
blaue Rückseite. Vorsitzender Bartel schlug, als er das sah, die Hände über dem
Kopf zusammen.
Jedesmal wenn sie tranken, brüteten seine Männer etwas aus, das nie
flügge werden konnte. Otto Görß bildete sich doch nicht ein, er könne ein so
komplexes Gerät aus Schrottteilen zusammenbauen.
„Wüso nich?“ fragte Otto. Bartels rang um Atem. Das kannte er zur Genüge. Baumann Otto hatte
immer Lust, etwas zusammenzubasteln und hinzuflicken. In Sachen Holz kannte er
sich aus, aber doch nicht in der Metalltechnik. “Fische soll der hitzköpfige
Kerl fangen!” Das flüsterte er Eduard Jochim zu. Der aber wollte Otto, oder
zumindest seinen Denkanstoß, für bare Münze nehmen. „Erst mal sehen!”,
erwiderte Jochim deshalb ausweichend.
Ottos fixe Idee, er müsse so etwas wie eine Erfindung machen, reizte
Bartels Nervenkostüm bis aufs Äußerste. Mit seinen braunen Machorkafingern
knöpfte er vor Erregung zitternd den obersten Knopf seines dunkelblauen
Oberhemdes auf. Wer weiß, was Otto in
Wahrheit beabsichtigte. Otto schob sein markantes Kinn noch weiter vor. Vom
Scheitel bis zur Sohle war Otto ein Draufgänger.
Vorsitzender Bartel wusste aus trauriger Erfahrung, was aus
Fieberphantasien, die man ernst nahm, herauskommen konnte. Regelmäßig, wenn sie
trinkend beieinander saßen, kamen ähnlich verrückte Vorstellungen zum
Vorschein. Wenn sie im Rausch beieinander hockten, dann fingen sie jedesmal
Unmengen Fische. Nur mit der Verwirklichung haperte es gewaltig. „Hört bloß
auf!”, warnte Bartel mühsam an sich haltend und zugleich eindringlich.
Buchhalter Voß, der in den Weiten der Sowjetunion zuerst als Zahlmeister und später lange Zeit als Kriegsgefangener
dienen musste, nickte ihm hilflos zu. Bartels war Realist, mochte er auch sonst
seine Fehler haben. Bartels erklärte Bedenken richteten sich als vorsichtige
Mahnung vor allem an Stöckelt und Eduard Jochim, Görß um Himmels Willen nicht
zu glauben und die Versammlung zu schließen, obwohl sie einem Görß in dieser
Situation gern Glauben schenken möchten.
Bartel sah nur noch das schwarze Loch in das Otto die ganze Mannschaft
reißen könnte.
Er sprach gewöhnlich Hochdeutsch. Wenn er je Platt zu sprechen versuchte,
klang das schaurig. Er wandte ein: “Nicht Ruhrschnitt, Ruhrschnitt! Sondern
Unterwasserruhrschnitt, - un dat jeht nich.”
Görß hatte die miesmacherischen Flüstereien des Vorsitzenden Bartel
natürlich mitgehört und ärgerte sich. „Rüchtig Willem”, grinste er,
„Unterwasserschilfabschnittmaschine!” Spaßvogel Görß machte komische Gesten,
und dann im Ernst, erläuterte er sein Vorhaben an dessen Verwirklichung er
anscheinend bereits einige Denkstunden
lang gearbeitet hatte.
Er bewegte seine Hände wie zwei gegenläufige Sägeblätter eines Gatters.
Er werde das Ding zuwege bringen!
„Lasst uns von was anderem reden!“ verlangte nun auch der Buchhalter, dem
schwante was auf ihn zukommen würde.
Indessen leuchtete das, vom hochprozentigen Alkohol geschürte Feuer in
Görß Augen.
Bartel schüttelte den graumelierten Kopf vergeblich. Nicht ein einziger
DDR-Ingenieurbetrieb habe bisher die Aufgabe zufriedenstellend lösen können,
ein Boot zu fertigen, dass sich durch Eigenantrieb im Rohrdickicht Bahnen in
Metertiefe freischneiden konnte und inzwischen waren auch Gegenstimmen laut
geworden, eine massive Schilfreduzierung würde der Natur nicht gut bekommen.
Bartel kniete mehr, als er saß.
Eine alte Schusswunde im Becken, vor Stalingrad erlitten, hinderte ihn
beschwerdefrei aufrecht zu sitzen.
Bezirksfischmeister Jochim wunderte sich: „Warum bist du bloß immer gegen
den Fortschritt, Willem?” Er strich sehr langsam mit der weißen Rechten über
seinen kahlen, roten Schädel.
Jochim versuchte energisch, die Bedenken Bartels zu zerstreuen. Wenn die
Bauern so dächten, würden sie mehr Melde und Disteln ernten, als Korn. Man
müsse das Unkraut ausrotten, egal wo es vorkommt. Kultur kommt vor Natur!
„Bitte!”, sagte Bartel grob, „dann macht doch gleich, was ihr wollt. Görß
spinnt!” Damit erhob er sich. Er ginge nun doch lieber nach Hause. Der
Versammlungsrahmen war ohnehin längst gesprengt, die offizielle Schulungsrunde
hatte ihren Geist aufgegeben.
Stöckelt, als er bemerkte, dass der Vorsitzende sich nun, wo es konkret
wurde, davonstehlen wollte, hielt Bartel am Jackenärmel fest und legte die
Stirn in Falten. Warum er nicht auf die Fähigkeiten seiner eigenen Leute baue.
Otto sah sich wie nie zuvor ermutigt, seinen geheimen Intentionen zu
folgen.
Mit vermehrtem Eifer legte er dar, was das Kreuz auf dem blauen
Untergrund der Streichholzschachtel bedeuten soll. Das sei die Schwachstelle
aller bisherigen Unterwasserschnittmaschinen. Es müsse lediglich das
gleichzeitige Zusammenwirken des Horizontal- als auch des Vertikalschnittwerkes
bedacht werden. Während er so redete, rollte er allerdings wieder verdächtig
mit den dunklen Augen.
Stöckelt nickte, als verstünde er.
Er traue ihm das zu. Otto solle sich umgehend an die wichtige Arbeit
machen.
Eduard Jochim, der als einziger noch völlig nüchtern war und der
voraussah, dass er im Bezirkstag fundiert zu berichten habe, welche
Steigerungsraten im Bereich der Fischproduktion zu erwarten seien, hegte
natürlich gewisse Zweifel, ob ausgerechnet ein dickschädliger Fischer das zwar
dringend anstehende, aber komplizierte Problem zu lösen vermochte.
Andererseits war er froh, dass die Diskussion nun angenehmer verlief.
Wilhelm Bartel möge die Angelegenheit mit Fingerspitzengefühl begleiten.
Dieser Görß meine anscheinend wirklich, er sei imstande die Maschine zu bauen.
„Du kannst hier nicht kneifen, Willem!”
Wilhelm wollte nicht. Mit ihm war hinsichtlich Karpfenwirtschaft in der
Lieps grundsätzlich nicht zu reden. Er könnte aus der Haut fahren. „Wir sind
Fänger, und machen keine Kinkerlitzchen!”
Mitten in diese Bemerkung hinein lachte Ernst Stöckelt.
Wilhelm, der immer noch dastand, so klein wie breit, sog verzweifelt am
letzten Zentimeter seiner Zigarillo. Erst verbrannte er sich erneut die
geschwärzten Fingerkuppen, dann gab er eine Erklärung ab. „Ein für allemal”,
begann er so laut, dass alle aufhorchten: selbst wenn sie das Ried denn jemals
auf wunderbare Weise um die Hälfte gemindert hätten und wenn er sich denn dazu
durchringen könnte, die Bank um Kredit zu ersuchen, gäbe es immer noch riesige
Probleme, für die er keine Lösung sieht.
Er hustete gegen den Nikotinreiz auf den Schleimhäuten. Die Satzfische
würden sich auf der Lieps nicht halten lassen.
Die zweisömmrigen Karpfen hetzten von der ersten Minute des Einsetzens an
wie eingesperrte Tiger im neuen Gewässer umher, den Ausweg aus der
Gefangenschaft zu suchen. Das wüssten alle Fachleute. Kleine Karpfen sind
reisende Fische. Das kleinste Schlupfloch würden sie finden und auf
Nimmerwiedersehen flüchten. Es müssten aufwendige Sperren zwischen dem
Tollensesee und der mit ihr durch einen breiten Graben und einen weiteren immer
noch intakten Flusslauf verbundenen Lieps gebaut werden.
Viertens... Bartel hob den Ringfinger.
Ernst Stöckelt und Otto Görß ließen übereinstimmend kein weiteres
Gegenargument zu.
Mit seinem üblichen ‚Kinnings!’ fuhr Stöckelt den „Genossen Vorsitzenden“
an, der längst noch kein Genosse war, sowie den sich gegen sämtliche Illusionen
sperrenden Buchhalter Voß. „Ich bin dafür!“
Zumindest Voß hätte sein Vater sein können.
Biederstaedt strahlte: „Otto bucht die dei Maschin und de Afsperrung.
Stümmt dat Otto?” 135
Der Angesprochene nickte Stöckelt zu. Seine Lippen zuckten, denn er war
ein ausgemachter Schelm.
Erst vor einer Woche hatte er dem dicken Neumann freundschaftlich den
Rücken getätschelt, worüber der sich gefreut und fast geehrt gefühlt hatte.
Gerade zu Hause angelangt war der Koloss Neumann jedoch von seiner resoluten
Ehefrau Ida dreimal um die eigene Achse geschleudert und laut befragt worden:
„Weker hett di de Hosenpot anstickt?” 136
„Otto!”
Keiner weiter brachte das fertig
ihm den Rücken zu klopfen und zu
streicheln und ihm gleichzeitig auf die
Hinterseite der guten Feierabendjoppe ein Hasenbein zu heften, mit der
er dann durch die Neubrandenburger Straßen gerannt war .
Stöckelt, der verstohlen auf seine Armbanduhr schaute, bestand auf
sofortiger Abstimmung.
„Otto, Düwelskierl, woväll Geld
brukst du dorför?” 137, fragte er. Wie aus der Pistole geschossen
antwortete Görß: „Höchstens Sössdusendt!” 138
Bartel lachte stotternd. Das könne Ottos Ernst nicht sein. Er musste
Platz nehmen. „Miehr nich?”, wunderte dagegen Stöckelt sich, „dat löt sich doch
moken.” 139 Der Riesenbrocken wollte Wilhelm Bartel im Halse stecken
bleiben. Mit solcher ungeheuren Summe vermochte er
seine zwölf Männer
fünf lange Wochen zu löhnen.
„Wer ist dafür?”, fragte Stöckelt. Die Abstimmung zu leiten stand ihm
nicht zu. „Alltohop!”140, erklärte Biederstaedt leichtfertig, weil
er Otto liebte. Gewohnheitsgemäß hoben die Mitglieder die Hand. Sablotny und
Mikusch wussten offensichtlich nicht, worum es ging. Aber da Biederstaedt und
Hermann Müller zustimmten, musste es schon seine Richtigkeit haben.
Wilhelm wollte retten, was zu retten war und deshalb im Protokoll vermerken
lassen, dass ihm die Quartalsversammlung der werktätigen Fischer „Tollense”,
Neubrandenburg, mit dem Datum des soundsovielten November, den Auftrag
übertragen hat, zu prüfen, ob ein Karpfenbesatz in der Lieps vertretbar sei.
Zweitens, dass die Anwesenden Otto Görß verpflichteten, eine technische
Zeichnung anzufertigen...
Görß fuhr sogleich gegen Bartel und dessen geschickt gedachte
Formulierungen: „Quatsch! Zeichnung.” Er tippte auf seinen Kopf. Da drinnen
wäre alles klar und außerdem gab es da eine Skizze, die auf seiner
Streichholzschachtel. Bartel konterte mit ungewöhnlicher Schärfe: „Nix is!
Endwerer orer!”
Otto wiederholte diese vier Worte
mit Betonung. Er verlange die Freigabe von wenigstens dreitausend Mark oder er
stünde für die ganze Sache nicht mehr zur Verfügung. Er wusste, dass Bartel
geizig bis zum selbstverhängten Hungerleiden sein konnte. Da hatte der
Vorsitzende neulich frierend auf dem Strasburger Bahnsteig gestanden und sich
nicht eine Tasse Kaffe gegönnt, weil die
ihm zu teuer erschien,
obwohl sein Gesicht schon blau angelaufen war. Den Preis
bisse er von der Tasse nicht ab. Dabei hatten sie den ganzen Tag schwer auf dem
Haussee gearbeitet.
Otto fühlte für Geizkragen kein Mitleid. „Dredusend!”, forderte er, nun
erst recht trotzig. Im Stehen, wankend, die winzige Streichholzschachtel in der
Hand, mit glasigen Augen auf das von ihm gezeichnete Kreuz starrend,
wiederholte Görß: „Dat watt dat Vertikolschnittwark!” 141
Andere Schwierigkeiten sehe er nicht. Ihm war anscheinend klar, nie wieder würde er seine Kollegen davon
überzeugen, dass sie ihm soviel Geld zur freien Verfügung aushändigen müssten.
Im Protokoll müsse geschrieben stehen, er bekäme die dreitausend Mark, dafür
sei abgestimmt worden.
„Jawoll!”, bekräftigte Biederstaedt.
In der darauf folgenden Nacht wälzte sich der Vorsitzende Bartel unruhig
im Bett. Der Sturm war zum Orkan angeschwollen und ließ ihn nicht schlafen. Die
riesigen Lindenbäume ächzten und ihre starken Äste knackten. Wilhelm erhob sich
und ging ans Fenster. Wind pfiff durch die Ritzen der Fensterrahmen. Er fror
und stand sinnend da. Wie sollte er diese Genossenschaft zusammenhalten, wenn
seine Männer gegen ihn entschieden? Wie konnte der kluge Stöckelt glauben, Görß
meine immer was er sage?
Die brausenden Wellen brachen sich in geringer Entfernung von seinem
Wohnzimmer an den Findlingen, die das Ufer am Badehaus säumten. Bartel sah die
dunklen Konturen des Waldes und seufzte. Schließlich begab er sich wieder zu
Bett. Er starrte die graue Zimmerdecke an, als stünde da der Ansatz für die
Lösung seiner vielen Probleme geschrieben.
Ruhe fand Wilhelm erst, als er auf den rettenden Einfall kam, am nächsten
Morgen eine Kurzversammlung einzuberufen. Er wird seine Fischer überzeugen, mit
dem Genossenschaftskapital sorgsamer umzugehen und nichts zu überstürzen. Otto
schulde ihnen erst den Beweis, dass er das, was er wolle, auch umsetzen kann.
Den idiotischen Beschluss, Görß dreitausend Mark in die Hand zu drücken, wird
er wegen gestriger Unzurechnungsfähigkeit der Mehrheit der Anwesenden
kassieren. Zweimal dreitausend sogar, die waren ja verrückt!
Der ernüchterte Otto wird sich selbst ein gehöriges Stück zurücknehmen.
Wahrscheinlich wird er zugeben, dass er sich lediglich einen Scherz erlaubt
habe.
Um sechs Uhr kamen sie wie gewohnt zur Arbeit.
Alle, außer Milster und Neumann, erschienen mit grauen und zerknitterten
Gesichtern. Erst sehr spät waren sie heimgekehrt.
Sablotny, der ein Leichtgewicht war und nicht ein einziges Glas Klaren
vertrug, hatte fünf oder sechs getrunken. Er fuhr regelmäßig abends von
Neubrandenburg über Burg Stargard heim, denn er hatte mit seinen fünfzig
Lebensjahren noch eine temperamentvolle, junge Frau geheiratet. Statt aber an
der dritten Haltestelle der Reichsbahn in Blankensee auszusteigen, war er die
ganze Nacht hindurch mit demselben Personenzug über Oranienburg und Berlin
wieder zurück nach Neubrandenburg gefahren. Auf der Rücktour hatte er zeitweise
im Stehen geschlafen und so ebenfalls wieder seinen Zielort verfehlt. Nach
alledem war ihm nicht mehr danach zumute gewesen, noch einen Versuch zu
unternehmen. Strafen hatte er genug bezahlt. Was nur seine Frau sagen und ob
sie ihm glauben würde? Das war seine größte Sorge.
Wilhelm Bartel sagte es direkt: „Otto, was wir gestern im Rausch geschrieben
und gepinselt haben, ist vergeben und vergessen.”
„Vertroch is Vertroch!” 142, beharrte Görß. Er klatschte die
derben Hände zusammen.
In der Tiefe seiner Augäpfel glomm der rote Zorn. Er wollte die Welt
umstürzen, und zwar die ganze Welt. Überraschend für Bartel reckte Otto seine
Rechte aus: „Wetten?” Dabei gähnte und lachte er gleichzeitig.
Der unerwartete Wechsel im Mienenspiel seines Gegenübers überreizte den
Vorsitzenden. Bartel fuhr ihn an: „Schluss mit den Kindereien.” Görß schüttelte
den Kopf ganz langsam. Diesmal nicht! Immer noch hielt er die Hand hin: „Wenn’t
nix wat, denn go ick in de SED, wenn’t ever wat wat, denn geihst du inn’ne
Partei!” 143 Bartels graue Augen schielten über den Brillenrand.
Alle schwiegen. Dann musste das Verhängnis eben seinen Lauf nehmen. Er
hatte redlich versucht es aufzuhalten.
Ottos immer noch vorgestreckte Hand regte ihn noch mehr auf als der
übrige Blödsinn.
Wilhelm verkniff die Augen. Vielleicht wird der Tag kommen, an dem er der
SED beitreten muss, aber dann nicht als Verlierer.
Vorsitzender Bartel erreichte, dass Otto Görß bis zur ersten
Ausführungsstufe nur zweitausend Mark in bar ausgehändigt wurden. Darüber
hinaus erhielt er das Verfügungsrecht über eintausend Mark in
Verrechnungsschecks.
Es war seine Pflicht, den Schaden zu begrenzen.