Montag, 27. Februar 2012

Der Traum eines Mennoniten

Seine Vorfahren waren 1788 nach Rußland ausgewandert, aufgrund der  Einladung der deutschbürtigen Zarin Katharina II. (1762-1796). Sie siedelten sich im Westen der Ukraine an, ließen musterhafte Dörfer zwischen den Flüssen Torez und Donez entstehen, die zum Schönsten gehörten was es in dieser Gegend zu sehen gab. Sie fühlten sich dort bald heimisch.
Kurz vor dem Revolutionjahr 1917, nachdem sich die Lage grundsätzlich zum Negativen gewandelt hatte, wurde der damals etwa sechsjährige Georg Hildebrandt mit einem Wahrtraum geehrt. Er sah sich in Deutschland, "es wird sehr lange dauern bis ich reise. Ich werde noch lange hier in Rußland umherwandern, erst danach fahre ich... eine alte Frau fährt mit...nein, nicht die Mutter, aber die Frau ist immer dabei..."  Seiner Schilderung am Frühstückstisch wurde kein Gewicht beigemessen, schließlich war es Erntezeit und die Gedanken der Erwachsenen drehten sich um die Tagesprobleme. "Mich aber hat der Traum mein ganzes Leben begleitet..." und beschützt, schreibt Georg, der sich, in den vielen Jahren seiner grauenvollen Gefangenschaft in sowjetischen Sibiriengefängnissen und Arbeitslagern fast ununterbrochen  in höchster Todesgefahr  befand.
Dass Gott ihn auswählte Zeuge für jenen Tag zu werden, der, nach unserer diesseitigen Laufbahn für jeden von uns kommen wird, ist die wohl unausweichliche Erklärung für die Besonderheit dieses Menschenlebens. Georg-Isaak sollte ein Augenzeuge für die Verruchtheit des Kommunismus, wie er ihn erlebte, werden. Sein Verbrechen bestand darin, der Sohn eines wohlhabenden Bauern zu sein, in einer Zeit, um 1929, als Stalin die Kollektivierung der Landwirtschaft ankommandiert hatte.
Sein Pech und das hunderttausender anderer Rußlanddeutscher  bestand darin, 1941, als Hitlers Armee grundlos und vertragsbrüchig die Sowjetunion überfiel, ein Deutscher zu sein, ein Umstand der nicht immer, aber überwiegend, wie in seinem Fall,  so gedeutet wurde, er sei ein potentieller Faschist.
Zu den unentschuldbaren Vergehen der damaligen Sowjetbehörden gehört die Ungeheuerlichkeit, dass sie die "politischen" Gefangenen nicht strikt von den Kriminellen  getrennt haben. Im Gegenteil, wichtige Mächtige wollten, dass  sie auf engstem Raum zusammen arbeiteten und "wohnten", Schwerstverbrecher und Unschuldige. Niemand sollte dem Sadismus der Peiniger entkommen.
Georg erinnert sich: "Am achten Tag (meiner zweiten Verhaftung) wurde ich in eine Zelle verlegt, in der ungefähr achtzig Häftlinge zusammengepfercht waren, die alle aus dem Verbrechermilieu stammten. Es war die schrecklichste Zelle von allen. Eine solche existierte in jedem der großen sowjetischen Gefängnisse, die ich kennenlernte, und trug auch immer denselben Namen: Indien. 
Als ich hereinkam, wurde mir von dem ältesten Gefangenen, einem vielfachen Mörder, eine Stelle auf dem Fußboden unter der aus Brettern gezimmerten Liege angewiesen. Auf diesen Brettern sitzend, spielten die Verbrecher nachts Karten, dann rauften sie - das ganze Gestell wackelte und schaukelte, und ich stand eine furchtbare Angst aus, darunter zerquetscht zu werden. Am zweiten Tag wurde ich zum Zellenältesten gerufen. Er saß in Badehose und weißem Hemd alleine auf einem breiten Lager. Sehr genau wurde ich ausgefragt, wer ich sei, woher ich käme und in welchen Zellen ich schon gesessen hätte. Solche eingehende Befragung fand bei jedem Neuankömmkling statt, denn jeden verdächtigte man zuerst als eingeschleusten Spitzel. Wurde ein Spitzel entdeckt oder ein Häftling besonders verdächtigt, dann setzten sich vier bis fünf Männer auf ihn und und hielten ihn fest, ein Handtuch wurde um seinen Hals geschlungen und von zwei Gefangenen zugezogen. Dies alles geschah blitzschnell. Kein Schrei, kein Lärm - das Opfer starb lautlos..."
In seinem Gesuch um Rehabilitation an den Ministerrat der UdSSR schilderte Georg, Isaak Hildebrandt im Spätsommer 1961,-  nachdem die gröbsten Missstände schon behoben worden waren -,  die Zustände, die in sowjetischen Gefängnissen der Stalinära herrschten: "... nach zwei Wochen kam ich für sieben Tage und Nächte in die kalte Einzelzelle mit betoniertem Boden. Von der armseligen Kost in diesen sieben Tagen will ich nicht reden... schon vor der Gerichtsverhandlung war ich moralisch auf dem Tiefpunkt angekommen und vom Hunger ausgezehrt. Ich lag im Gefängniskrankenhaus und zeigte überhaupt keine Willenskraft mehr... bereits im Gefängnis erkrankte ich an Lungentuberkulose. Während der ganzen Zeit, die ich im Gefängnis zubrachte, bekam ich  keinen einzigen Brief oder ein Nahrungsmittelpaket. Später erfuhr ich, das mir durch einen Sonderbefehl alle Gaben verboten waren... die gerichtliche Untersuchung wurde in gröbster Form vorgenommen, die Zeugen waren ohne Willenskraft. Sie waren eingeschüchtert und bezeugten, das der Untersuchungsrichter zu hören wünschte. Bei der Gegenüberstellung mit den Zeugen ermunterte er sie: "Sprechen, sprechen sie nur, er kommt nie zurück, er verreckt, den werdet ihr nie mehr treffen. Wir verstecken ihn so, dass er verreckt."
Nach langer Lagerhaft und anderthalb Jahren Zwangsarbeit in der Kolyma ist Georg am Ende seiner Kräfte angelangt, wird jedoch schließlich zum "Freigelassenen" erklärt. Er darf aber nicht heimreisen. Plötzlich steht er jenem Offizier gegenüber, der Jahre zuvor, zu gewissen "Zeugen" gesagt hatte: "Redet nur, habt keine Scheu, packt aus, wir verstecken ihn so, dass er verreckt."  Verblüfft, so unerwartet seinem Opfer gegenüberzustehen rutschte dem Mann die Frage heraus: "Warum lebst du noch?"
Georg schaut ihn an. Das war ihm ja verheißen worden, dass er noch Deutschland sehen werde.
Nun versuchten sie es erst recht, den "Faschisten" zu ermorden.
Aber die das planten konnten nicht ahnen, dass eine höhere Macht über Georg waltete.
Sie transportieren ihn auf dem Wasserweg über das Ochotskische Meer, vorbei an den japanischen Inseln. Immer wieder wird er von den ebenfalls freigelassenen Kriminellen attackiert.
Wie sollte Georg ahnen, dass der Staatssicherheitsdienst die von ihrem Minister, Berija, amnestierten Verbrecher dazu aufgefordert hatte, ihn umzubringen.
16 Freigelassene fehlten, als sie im Hafen von Nachodka gezählt wurden. Die Banditen hatten sie aus Spaß in den Ozean gestürzt... "schon am zweiten Tag (der Heimreise) hörten wir von Deck aus die verzweifelten Hilferufe eines Mannes der über Bord gegangen war. Wir baten den Kapitän haltzumachen und ein Rettungsboot auszusetzen. Er aber schien taub zu sein... dieser Vorfall ließ mich vorsichtig sein. Ich schnallte mich oben an Deck an," (denn eine Kabine zu benutzen war Georg Hildebrandt verboten worden) "... mit meinem Hosengürtel band ich mich an einem starken eisernen Ring fest... denn von meinem Schlafplatz bis zur Reling war nur ein Abstand von anderthalb Metern... dann hörte ich die Worte: "Über Bord mit ihm", und im selben Moment packten sie mich an Händen und Füßen, um mich über das Gelände in die eisige, vom Sturm aufgewühlte See zu werfen. Sie zerrten mit solcher Gewalt, dass ich glaubte zerrissen zu werden. Aber der Gürtel hielt mich fest. der schreckliche Schmerz ließ mich laut aufschreien. Trotz der lärmenden Feier (die im Schifssinnern stattfand) drang mein Schrei an die Ohren der anderen Passagiere. Meine Peiniger suchten das Weite, das Ochostkische Meer wurde nicht zu meinem Grab..." Unter den Freigelassenen befanden sich auch einige deutsche Frauen. Eine von ihnen "erzählte mir in Nachodka", berichtet der Verfasser, "dass der Staatssicherheitsdienst MGB den Kriminellen befohlen hatte, mich zu töten. Sie hatte das von einer Wachfrau erfahren, die sie schon einige Jahre kannte. Diese Gefangene hätte es nicht länger ertragen können, mit diesem furchtbaren Geheimnis zu leben...
Meine Bitten auf eigene Kosten weiterzureisen, ohne Aufenthalt in Übergangsgefängnissen wurde immer wieder abgelehnt,... nach zehn Tagen in einer nassen Zelle wurde ich in einen Raum mit Kriminellen gesteckt. (die natürlich wissen wollten, woher er kommt und ob er "echt" ist...) Drei Tage lang musste ich vom Leben in der Kolyma - dem Kältepol der Erde und seinen Todeslagern - erzählen...Sie wiesen mir dann einen Platz in der Nähe des Fensters zu, einen der besten Plätze... die Kriminellen sagten: Wer in der nassen Folterkammer nicht verreckt, wird zu uns zur endgültigen Erledigung gebracht. Aber vor einem Menschen, der die Kolyma überlebt hat, vor dem haben wir Hochachtung, den rühren wir nicht an..."und wieder drohten die Untersuchungsbeamten ihm eine fünfzehnjährige Haftstrafe an.
In einem weiteren Übergangsgefängnis muss Georg erneut mit anderen Kriminellen zusammensein und schlafen. Dann liegt er plötzlich alleine. "Nach drei Sunden wurde ein sehr kräftiger, noch junger Mann in meine Zelle gebracht,... Brust, Arme und Rücken waren mit Tätowierungen bedeckt, er rühmte sich drei Männer umgebracht zu haben, und erzählte mir sehr ausführlich, wie er es getan hatte..." dann prüfte ihn der Verbrecher, erkannte jedoch an den Namen die Georg ihm sagte, dass sein Bericht zutreffend ist... "Kurz vor Chabarowsk, seinem Reiseziel, sagte er: Du weißt nicht, weshalb ich in dieser Zelle bei dir bin. Der MGB hat mich beauftragt, dich zu erwürgen... Ich tue dir nichts, doch deine Reise bis Swerdlowsk in den Ural ist noch lang. Die werden dich kaltmachen. Ich lege nicht Hand an einen Menschen der die Hölle durchgemacht hat..." Dieser Unhold gab ihm dann wirklich gute Ratschläge, die Georg noch sehr hilfreich sein sollten.
Georg überlebte danach auch einen Gefangenenaufstand, obwohl er längst auf freiem Fuß sein sollte. Dieser Protest  wurde von zwölf hochrangigen Offizieren angeführt, die den Tod weniger fürchteten, als jede vermeidbare Unterwerfung unter die Willkür der bestialischen Aufseher. "Wir werden in Moskau mit gutem Gewissen als Helden erschossen. Euch aber wird das Gewissen, wenn es der Satan nicht schon herausgerissen hat, bis zum Tod plagen. Ihr seid nur elende Diener der Kremlbande, die früher oder später vom eigenen Volk vernichtet werden wird."
"In großer Ehrfurcht" so schreibt Georg Hildebrandt, "gedenke ich der zwölf tapferen Männer. Für das Leben dieser Helden habe mit Innigkeit gebetet, so wie meine Mutter für meine Rückkehr gebetet hat... Mich aber hat der Traum mein ganzes Leben lang begleitet."
 
Als Rentner erhielt er schließlich die Erlaubnis zur Ausreise nach Deutschland, Georg fährt durch eben die Städte, die er als Kind schon im Geist gesehen hatte, die ihm in seinem Wahrtraum gezeigt worden waren, wie die Frau an seiner Seite Agathe, sein Engel der Ergebenheit.
 
Georg Hildebrandt "Warum lebst du noch?" Ullstein, 1993

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