Gerd Skibbe
Ordenspriester Dr. Carranza und sein
Sohn (Teil 2)
„Der echte Ring vermutlich ging
verloren“
Religionskritischer, historischer
Roman (2019)
Kupferstich von John ROYCE, 1780 |
Dieses
Massaker wurde als Piemontesische Ostern bekannt. Im Frühling 1655 wurden schätzungsweise
1700 Waldenser geschlachtet. Das Massaker war so brutal, dass es in ganz Europa
Empörung auslöste. Protestanten in Nordeuropa boten den verbliebenen Waldensern
Zuflucht. Oliver Cromwell, damals Lordprotektor in England, schrieb im Namen
der Waldenser in einer Petition dass er Truppen zur Rettung der Verfolgten
schicken würde.
Papst
Franziskus suchte Vergebung, als er 2015 den Tempel der Waldenser zu Turin
besuchte. Die Synode der Waldenser sprach zwar ihre Anerkennung für dieses
Ansinnen aus, lehnte die Entschuldigung jedoch sinngemäß mit den Worten ab: „Es
ist Sache der Opfer Vergebung zu gewähren.“
Gemäß der Beweislage
des Mordes am Theologiestudenten Samuel Moret wird der Mauriske Ahmed Ricote
schuldig gesprochen.
Das Präsidialgericht
von Marseille verurteilte in einem Indizienprozess den zwanzigjährigen Ricote
in Abwesenheit zum Tod durch Rädern.
Sein Motiv: Eifersucht
und Rache.
Die Tatwaffe: ein
Toleder Messer.
Die Mitstudenten Paul
Cölestin und Gabriel Thomas, beide achtzehnjährig, Söhne angesehener Marseiller
Familien, eingeschriebene Hörer der hiesigen medizinischen Fakultät bezeugen,
dass Ahmed Ricote der Besitzer der Waffe gewesen sei. Dem Gerichtsbericht
zufolge bestätigten mehrere befragte Studenten, Ahmed Ricote und Samuel Moret
wären zwar befreundet gewesen, doch wegen zwei Schwestern, beide
Tortenbäckerinnen, hätten sie im Streit gelegen. Das Mädchen Florence,
- Schwester des Opfers -, ist ebenfalls flüchtig. Sie war angeblich
sowohl die Geliebte des Ahmed Ricote, sowie des Samuel Moret.
Ein klares Motiv für
die Flucht der Florence C. erkannte das Gericht nicht. Ein Rechtsgutachter
verwies auf Anfrage des Vorsitzenden des Gerichtes darauf, dass ein gewisser
Frauentyp, was ihre Männerbeziehungen betrifft, undurchschaubar sei. Logische
Betrachtungsweisen seien von daher auszuschließen. Ein Verdacht auf
Komplizenschaft konnte folglich nicht ausgeräumt, aber auch nicht
bewiesen werden. Ricote galt in Studentenkreisen als arrogant und
eloquent. Er entrann unmittelbar
nach der Tat und hinterließ ein Schreiben folgenden Inhaltes:
„Ich sage bei Gott, dem Allwissenden: ich bin
nicht der Mörder meines Freundes Samuel Moret. Ich liebte und liebe diesen Mann
als meinen Freund. Das wird sich am Jüngsten Tag erweisen, dem Tag der
Abrechung vor Allah, yaum ad-din.
Darauf vertraue ich. Aber ich weiß, dass es
Menschen gibt, die mich bezichtigen und falsche Eide schwören werden. Das ist die
Ursache meiner Flucht. Ich bekenne, dass mein Vertrauen in die Rechtsprechung
klein ist. Gezeichnet: Ahmed Ricote.
Es folgt das Postskriptum: „Tausend Sätze
bester Logik können die Wahrheit nicht ändern.“
Das war provokant
gedacht und gemeint.
Man fand zudem die
Asche eines ehemaligen Zettels zerdrückt vor. Ricote gehört einer Gruppe
Maurenflüchtlinge an, denen 1609, durch königlichen Beschluss das Bleiberecht
gewährt wurde. Nach einem Eintrag der Universität, wäre er der Sohn eines
spanischen promovierten Historikers mit nicht einwandfrei zu entzifferndem
Namen. Cananse oder Cerranze. Mutter unbekannt. Zu seiner Ergreifung wird eine
Belohnung ausgeschrieben. Zu den Erkennungsmerkmalen gehört, das ihm
linksseitig der halbe Arm fehlt.
Zurück zur Vorweihnachtszeit 1609
Ahmeds Zukunft sah damals, vier Jahre vor
diesem Marseiller Urteil noch rosig aus. Seinem Vater und ihm war es gelungen
den Verfolgern zu entkommen, wenn auch um den Preis des Verlustes des
Heimatlandes. Ahmed
bat damals seinen Vater, Dr. Jòse Carranza, darum, sich in Frankreich Ahmed
Ricote nennen zu dürfen: „Selbstverständlich!“ lautete die karge aber
berechtigte Bitte. Damals,
als sie endlich im Rücken der Spitzen der Pyrenäen im französisch-spanischen
Grenzort C. ankamen, wollte er sich unabhängig von der Vergangenheit machen,
auch unabhängig von seinem Vater, wenngleich Ahmed gelernt hatte ihn zu lieben.
Nur einen Tag zuvor, hatte der Vater ihm
mitgeteilt, dass sie sich einige Monate, vielleicht noch länger lang nicht
sehen würden. Diese Trennung sei erforderlich, er wünschte eiligst nach
Marseille zu gehen. Zunehmende Unrast um seine Frau triebe ihn vorwärts. Er
empfand große Angst um seine geliebte Jimena. Seinem Gefühl nach rief und
schrie sie nach ihm. Sie sei spanischer Willkür ausgesetzt. Er würde verkleidet
zurückgehen nach Valencia um sie herauszuhauen aus der Gefahrenzone. Das
leuchtete Sohn Ahmed ein: Er wusste, wenn es auch nur einen einzigen, ihr nicht
gut gesonnenen Schwätzer gäbe, der behauptete sie sei keine echte Christin,
dann würde sie gemäß dem Austreibungsedikt, vom 22. September des Jahres,
zurück in den nicht beneidenswerten Status einer Maurin zurückfallen. Man würde
sie, wie andere zigtausende Maurenstämmige, zwingen nach Marokko
auszuwandern, so wie Spanien bereits die Juden des Landes verwiesen hatte, weil
die sich weigerten sich dem Kreuz zu unterwerfen, das sie seit je peinigte.
„Aber du weißt, dass ich Jimena, der Schwester deiner Mutter,
damals dringend nahe legte, mit uns zu fliehen. Du weißt auch Ahmed, dass sie
gelobte uns nachzureisen, sobald es die Umstände erlaubten. Sie käme nach
Marseille zur angegebenen Adresse. Aber ich befürchte nun das
Schlimmste.“ Die Vorstellungen, was seiner Frau zustoßen könnte, quälten
ihn immer mehr. So deutlich sähe er die Gefahren erst jetzt. Immerhin besaß sie einen Beichtschein,
den ihr Pfarrer ihr kurz zuvor ausgestellt hatte. In ihrer Gemeinde galt sie als Christin. Wer es jedoch auf den Besitz abgesehen
hatte den sie verwaltete, konnte das negieren. Lüsternen Mächtigen standen ohnehin
alle Türen zu einsamen Frauen ihres Alters offen.
In diesen Zeiten galten alle Ausgewiesenen als
Freiwild.
„Aber ich darf dich nicht mit mir ziehen.
Ahmed, ich kann dir unter den gegebenen Umständen keine Sicherheit bieten. Du
bist bei diesen Bauern besser aufgehoben, als andernorts. So bald wie möglich
komme ich zurück. Ich lasse dich nicht im Stich. Nur im Notfall solltest du
dich an den Reeder Ballarde wenden, dessen Adresse du kennst. Wenn ich in einem
Jahr nicht dahin komme, hast du freie Verfügungsgewalt über mein Geld und Konto
bei dem Reeder Henry Ballarde, meinem langjährigen Freund. Hier ist der Brief,
den du gut versteckt halten musst.“
So trennten sich, damals im Dezember 1609,
zunächst ihre Wege.
Schockiert fürs Erste, dann zufrieden, dass er
die erste Spur zu seiner Jimena fand, die nach Tunis führte, und dass ihm in
dieser nordafrikanischen Metropole glücklicherweise drei Männer zur Seite
traten, mit deren Hilfe er sie befreien konnte. Durch sie sollte sich erfüllen, was damals
niemand zu hoffen und zu ahnen vermochte.
Mit reichlich Zufällen auf seiner Seite löste
er binnen der folgenden drei Monate, sein Versprechen ein. Bereits drei
Monate nach seinem, Ahmed damals überstürzt erscheinenden Aufbruch, kam der
Vater nun begleitet von seiner Frau und einigen neuen Freunden Ende März 1610
zurück auf französischen Boden.
Berechtigte
Sorgen
Aber was geschah in diesen Wochen, der
Abwesenheit mit seinem Sohn?
Carranza und Freunde landeten also am 26. März
1610 bei stillem Wetter und nur leicht bewegter See, im kleinen Fischerhafen D.
nur etwa drei Tagesreisen von dem Pyrenäendorf C., entfernt, in dem er Ahmed
und Freund Francisco verlassen musste. Obwohl neu für alle, empfanden sie den
Boden den sie betraten als anheimelnd.
Die Geschäftigkeit seitens bunt gekleideter
Menschen, sowie die Bewegungen der blauschwarz gekleideten Fischerleute die
ihren Fang an Land brachten, zeigten das hier pulsierende, anscheinend
friedvolle Leben an.
Gut vorbereitet durch Dr. Carranza, was ihn
erwarte, und somit entschlossen verkaufte der Fischer Jemen, der
zweitwichtigste unter seinen Rettern, sein kleines Segelschiff sofort, wenn
auch nicht gerade für einen berauschenden Preis an einen der an der Kaimauer
sitzenden alten Händler. Das Segelboot Jemens hätten sie vielleicht für die
Fahrt nach Marseille benötigt, doch der Doktor sprach sich dafür aus, dass sie
später vom Hafen Port Vendres aus mit einem
Frachter nach Marseille gehen werden, schon um jede mögliche Spur zu
verwischen, denn noch sei er nicht vor den Krakenarmen der spanischen
Inquisition sicher.
Stark im Vertrauen, dass sie gemeinsam die
Zukunft meistern werden, begaben sie sich nun auf den Weg um zunächst Carranzas
Sohn abzuholen. Dass
Jimena, nach Wochen höchster Verzweiflung, als Gefangene in einem fremden
Land, wieder jeden seiner Schritte in Freiheit und Dankbarkeit
begleitete, müsste ihn glücklich machen, doch im Innersten fürchtete er, dass
Ahmed, in den vergangenen Monaten, schwere Turbulenzen verursacht hatte.
Dr. Carranza konnte es kaum erwarten, die
Wahrheit zu erfahren.
Nun unter förmlichem, französischen Schutz vor
spanischen Verfolgungsbehörden wird sein Ahmed, in seiner neuen Heimat, danach
trachten unter den Maurenflüchtlingen Gesinnungsfreunde zu finden, allesamt
erfüllt von Rachegedanken, um mit denen Dummheiten auszuhecken, weiß der Himmel
welche.
Der nun Fasterwachsene war ein Dickschädel,
stolz auf seinen Islam und redegewandt. Die
Kraft und sein Verlangen nach beeindruckenden Taten, wie zu Untaten, rührten in
auf.
Der sechszehnjährige war reif geworden. Er sah
schon vor Monaten aus, als wäre er zweiundzwanzig. Dem äußeren Erscheinungsbild
angemessen war sein Denken. Unbändig im Glauben an den Endsieg seiner Freiheit
könnte er erneut ins Verderben rennen, um diesmal, statt nur den linken
Unterarm, den Kopf zu verlieren.
Zu groß war Ahmeds Hass, wegen der schwer zu
ertragenden Niederlagen die er in Spanien, gemeinsam mit seinen nun
verschollenen Freunden, erleiden musste. Nie wird er den Schmerz verwinden, den
ihm die grässlichen Bilder, vom Ende seines großen Helden und Anführers, des
General „alsyd Saykwira“, des Herrn über 30 000 Aufständische, bereiteten.
Diesen Kühnen haben die Seelenlosen gefasst und schließlich an ein
Stadttor Valencias kopfunter angenagelt. Das, obwohl man es in seiner grausamen
Wirklichkeit nicht miterlebte, kann man nicht vergessen.
Da war auch Ahmeds Zorn auf die Mörder seiner
Mutter Amira. Vor dreizehn Jahren starb sie an den Folgen inquisitorischer
Wasserfolter. Sohn Ahmed schwor den Gläubigen der falschen Götter Vergeltung. Die Demütigungen werden der
entscheidende Stachel seines Tuns bleiben.
Vater Carranza schätzte ein, das es hunderte,
wenn nicht tausende junge, nach Frankreich eingewanderte Muslime gab, die wie
er chauvinistisch dachten und sich einem Anführer wie ihn unterstellen würden.
Sie werden gemäß dem Geist der Zeit Raubzüge in spanischen Regionen planen. Ahmed war zuzutrauen, dass er
spanische Söldner angreifen, und gezielt katholische Klöster überfallen wird.
Die bittere Verachtung ihrer Feinde trieb
schon viele ins Verderben des Banditentums. Abzurutschen
ist eben leichter als sich wieder aus dem Elend legal heraus zu ziehen.
Für ihn, als Vater, kam als erschwerende
Tatsache hinzu, den Sohn, während der Wochen des Wartens auf den Todfeind,
damals, in den Bergen Valencias, in allem was er für wissenswert hielt, unterrichtet zu haben. Doch gelegentlich
ist es zu viel, was Eltern ihren Kindern zumuten. Wissen
ist nicht immer hilfreich. Unklug gewählte Worte konnten unter Umständen mehr
Schaden anrichten als eine Axt.
Im Beiseins Ahmeds hatte er reichlich Spott
über die hugenottischen Calvinisten ausgeschüttet, über Leute, auf deren Hilfe
sie zumindest in Marseille angewiesen sein werden. Das könnte Ahmed dazu
treiben, nicht mit ihm weiter zu ziehen, sondern in den Bergen zu bleiben.
Es war schon belastend, dies zu befürchten.
Jedenfalls von denen die sich hüben wie drüben
betont katholisch bekannten, durften vertriebene Abtrünnige wie sie nichts Gutes
erwarten.
Menschen sind so. Sie sind selbstgerecht, je
frommer sie sein wollen umso mehr. Ideen, gerade die der verrücktester Art,
wenn sie erst Eingang in die, auf große Taten hungrige Gedankenwelt junger,
Männer gefunden hatten, wollen ausgelebt werden. Anders lässt sich kaum
erklären, warum schmucke, gesunde Burschen statt zu leben, für ein paar lumpige
Münzen, auf den Schlachtfeldern einander Mistforken in die Bäuche rammten.
Ihm schmeckte das beste Essen nicht, wenn er
sich in Ahmed hineindachte.
Sonderbar war für den Historiker Carranza,
dass gerade die Theorien von Gott und Freiheit regelmäßig zu Mord und Totschlag
führten. Gläubige waren imstande höchste Ideale mit niedrigsten Mitteln zu
verteidigen - und in gewisser Weise galt das auch für Ahmed -. Vor ihm hatte er
nicht selten gelästert, der Gott der Hugenotten sei ein wahrer Teufel.
Das war schon ein starkes Stück!
Für ihn, und damit für den lernhungrigen Sohn
Ahmed stand fest, dass der Hugenottengott einer war, der kein Gericht abhielt,
und dennoch Todesurteile gegen Menschen fällte, die ihm nichts angetan hatten!
Der Hugenottengott war der grässlichste unter
allen, ein Herr absoluter Willkür.
Ihren Glaubensquark hatten sie auch noch in
ihren Bekenntnissen niedergelegt. Etwas, das sie bei dem, im 4. Jahrhundert
führenden innerkirchlichen Seelenverderber, Bischof Augustinus von Hippo gelernt
hatten:
„Die Menschen werden nicht alle mit der
gleichen Bestimmung erschaffen, sondern den einen wird das ewige Leben, den
anderen die ewige Verdammnis vorher
zugeordnet.“ (1)
Institutio Christianae Religionis 3.21.
Auf der Zunge muss man sich die beiden Worte
„Zuordnung“ und „Verdammnis“ zergehen lassen.
„Ewige Verdammnis!“ Das ist höllischer
Determinismus! Ahnt
ihr gelehrten Esel, was das bedeutet?
Das habt ihr aus der Bibel herausgelesen, in
der geschrieben steht: Kommt her zu mir, die ihr mühselig und beladen seid, ich
will euch erquicken?
Schlimmstes irdisches Leid hat spätestens mit
dem Tod ein Ende. Endloses Leid ist unvorstellbar.
Man muss schon ein Bösewicht ersten Grades
sein, um solchem perversen Wesen zu huldigen.
Es ist wahr, er Dr. Carranza, hatte seinem
Sohn gelobte: Der Gott der Hugenotten muss zugunsten des gerechten Vaters
Christi von seinem Thron gestoßen werden.
Um das Jahr 400 vermochte Augustinus von Hippo,
ein Busenfreund des Götzendieners Ambrosius von Mailand, tausend süße Worte von
seinem Jesus zu schreiben, die er
anschließend mit zwei kurzen Sätzen vergiftete:
„Nur eine relativ kleine Zahl von Menschen...
sind zur Seligkeit vorausbestimmt. Die anderen (sind) ‚Masse der Verdammnis’.“ (2) Küng „Kleine Geschichte der katholischen Kirche“
Dr. Carranza führte während der Wanderung sein
lebhaftes, allmählich immer lauter werdendes Selbstgespräch: „Kirchenweit
erlangten weitere teuflische Richtsprüche des Herrn Augustinus Gültigkeit.
“...
alle werden (endlos) in der Hölle (schmoren) die nicht getauft wurden ... auch
ungetauft verstorbene Kleinkinder und vorchristliche Gerechte...“100 (3) Didaktische Materialien „Dialog mit dem
Jenseits“, Museum für Kommunikation 2008
Und auch diese Behauptung wurde Basis des
Calvinismus. Es
dauerte nur wenige Jahrzehnte und schon lehrte
"Papst Gregor der Große, um das Jahr 600, dass die Seligkeit der
Erwählten im Himmel nicht vollkommen sein würde, wenn sie nicht über den
Abgrund blicken und sich an der Angst ihrer Mitbrüder im ewigen Feuer erfreuen
könnten.“ (4) Henry
Charles Lea, Geschichte Geschichte der Inquisiton des Mittelalters" Bd.1
Nach seinen eigenen Erfahrungen bitterster Art,
und nachdem er sich dieser Hinweise erinnert, wird Ahmed sich solcher dämlichfrommen
Welt nicht länger aussetzen wollen. Er wird zu Recht geloben: Nie wieder
Diktatur.
Nicht nur das.
Die Verehrer des Calvin-Gottes, das hatte er
vor seinem Sohn glücklicherweise zugegeben, gehörten, trotz alledem, zu einer
besseren Menschensorte. Viele konnten, ihren Lippen-bekenntnissen zum Trotz,
erstaunlich menschenfreundlich, offen und partiell tolerant sein, - wie der
Reeder Henry Ballarde - der langjährige große Freund der Carranzas, zu Marseille.
Hugenotten waren Menschen, die lange Zeit
ihres Lebens hindurch religiöse Intoleranz ertragen mussten.
Zu hoch war der Blutzoll den sie für ihr
Ringen zugunsten ihrer Glaubensfreiheit,
insbesondere in Frankreich, zahlen mussten.
Gelegentlich beißen sich Erkenntnisse und
Tatsachen. Besser gesagt, es beißen sich vermeintliches Wissen und die
Wirklichkeit.
Das für ihn Unerklärliche, Unvernünftige
drückte sich dennoch in der Frage aus, warum selbst die Gescheiten unter den
Calvinisten für eine Religion sterben wollten, die behauptete: alles sei vorbestimmt:
„Ahmed, umgekehrt ist es: Wer Christi Programm der Befreiung aus allen
ungerechten Zwängen annimmt, der ist Sein Freund.“
Jimena stieß ihrem Ehemann in die Rippen,:
„Mit wem plauderst du so heftig?“
Sie schmunzelte.
Sie kannte ihn doch.
„Ich habe Ahmed ein paar Flöhe ins Ohr
gesetzt, die würde ich gerne verscheuchen.“ Sein Sohn kannte durch ihn die
Ungeheuerlichkeiten die sich die, auf Herrn Augustinus berufenden Calvinisten,
gegen den berühmten Arzt Michael Servet herausnahmen: Der vierzigjährige
Mediziner Servet glaubte seinerzeit leichtsinnigerweise, er genieße einen
ausgezeichneten Ruf und dürfe schon deshalb selbst im Herrschaftsbereich
Calvins sagen, was er in Sachen Kirche und Theorie für richtig und für falsch
hält: „Obenan stand für Servet, meinem Helden und Glaubensvorbild die Freiheitslehre
Christi. Dann allerdings setzte der tiefschürfende Denker etwas hinzu, dass zu
seinem gewaltsamen Tod führen musste. Er behauptete, es sei erwiesen, dass
Kaiser Konstantin der Christenheit sein paganes Welt- und Gottesbild aufgenötigt
hat.“
Auch Chico grinste weil sein Doktor scheinbar
selbstvergessen ins Unbekannte hineinschritt.
In der Tat: Der Exdominikaner wird es in die
Welt posaunen. Er hatte etwas als zutreffend erkannt, das jeder Denkende in
seine Betrachtungen einbeziehen sollte: Kaiser
Konstantin wollte Gott sein wie die römischen Kaiser vor ihm:
Sie
setzten sich den Glorienschein des Kriegsgottes aufs Haupt, weil sie das räuberisch entstandene römische Reich bewahren
wollten und koste es das Leben und das Glück von Millionen.
Wikimedia commons: Imperator Probus um 280
|
Konstantin
wollte nichts anderes, nur, dass er sein Verständnis vom Gottestum ins
sogenannte nicänische Bekenntnis einfließen ließ: „Es gibt nur einen Gott!“ ...
mit dem Hintergedanken: Und diese eine bin ich, Konstantin!“
Von Classical Numismatic Group, Inc. http://www.cngcoins.com, https://commons.wikimedia: Konstantin der Große (306–337) als Sol Invictus Geprägt ca. 309–310 in Lugdunum. Sol stehend mit dem Gesicht nach rechts, rechte Hand erhoben, den Globus in der linken Hand. ll
Konstantin der Massenmörder wurde mit Hilfe gewisser Kollaborateure, was er wünschte.
„Jimena, das Problem besteht darin, dass die Menschen seines Wirkungsbereiches nicht erkennen durften, dass die höchsten Kirchenmänner „Christus, Christus“ sagten und Sol Invictus dienten. Zehn Prozent gaben sie fortan Christus und den Rest Sol, wenn auch irrtümlich. Deshalb hauen sie drauf, deshalb brennen die Scheiterhaufen, deshalb die Prachtbauten und der Kardinalspurpur. Von daher die Arroganz der Päpste, die sich nicht schämen ihre Füße küssen zu lassen.“
Michael Servet kritisierte scharf was er miterlebte, diesen konstantinischen Hang der Päpste, gottgleich aufzutreten. Er sah
„wie der König von Spanien, - der Welt mächtigster Herr - Karl V., von Papst Clemens VII. zum Kaiser des Heiligen Römischen Reiches gekrönt wurde. Der Papst wurde auf einem Thron einher getragen. Als er den König empfing, küsste der ihm den Fuß. Servet schrieb später: „Mit diesen meinen Augen habe ich den Papst, gesehen, im Festzug getragen auf den Schultern von Prinzen . . ., und das ganze Volk bezeugte ihm auf den Plätzen kniend seine Verehrung.“ (5) Michael Servet — Die einsame Suche nach der Wahrheit, Erwachet! 2006
„Das war Blasphemie! Zehn Prozent Christus und der Rest Sol Invictus! Ich befürchte, dass sich das nie ändern wird, solange bezahlte Funktionäre mit ihrem Kreuz auf der Brust und dem Christusschild auf der Stirn das Sagen haben. (6) Pfarrer und Hochschullehrer Weber „Jugendlexikon Religion“: „...jubelnd begrüßten katholische und protestantische Geistliche den Ausbruch des Ersten Weltkrieges … Hei wie es saust aus der Scheide! Wie es funkelt im Maienmorgensonnenschein! Das gute deutsche Schwert, nie entweiht, siegbewährt, segensmächtig. Gott hat dich uns in die Hand gedrückt, wir halten dich umfangen wie eine Braut...komm Schwert, du bist mir Offenbarung des Geistes... im Namen des Herrn darfst du sie zerhauen.“
An Chico gewandt: „Weißt du, dass König Heinrich IV., Sols Vormachtstreben zum Trotz, das Kunststück fertig brachte diesem Land, nach endlosen Jahrzehnten des gegenseitigen Todschlags Frieden und gewisse Glaubensfreiheit zu stiften?
Stell dir vor, er muss gerade im heiratsfähigen Alter gewesen sein. In seiner Hochzeitsnacht zum 24. August 1572, entkam er nur durch Zufall dem ihm von fanatischen Katholiken bestimmten Tod.“
Auf Jimenas Nachfrage erklärte Carranza, dass man schätzt, dass dreitausend Hochzeitsgäste in der Nacht rings um den Regierungspalast, weil sie anders glaubten, erdolcht und abgeschlachtet wurden: „Die Angreifer hatten weiße Kreuze, auf ihre Kleidung oder Stirnen gemalt. Wer kein Kreuz trug war Todfeind und damit verloren, denn die Untergebenen Heinrichs gingen waffenlos.“
Kein anderes Ereignis grub sich so tief und folgenreich ins Gedächtnis aller ein.
Während sie unentwegt daher schritten, erzählte Carranza, dass Servets umfangreiche Kritik am derzeitigen „Christentum“ ihm des Genick brechen sollte, und Luthers Freund Melanchthon lobte die Mörder.“
Servet glaubte an die Notwendigkeit der Wiederherstellung des originalen Evangeliums, die alleine durch den auferstandenen Christus erfolgen kann. Ich bin derselben Überzeugung.
Von den Bergen blies ein frischer Wind. Sie rasteten und ruhten auf einer trockenen Wiese auf frisch gemähtem Gras.
„Chico, Du bist frei, in diesem Land des Unbekannten. Du darfst denken, glauben und tun was dir beliebt, nur darüber zu reden, was du mitgehört hast, würde ich dir nicht raten. Mir bist du zu wertvoll, gleichgültig was du meinst, denn ich brauche deine Hilfe zum Besten. Mir schwebt stets eine Schule vor Augen, die wir errichten könnten, wenn wir das Privileg dazu vom französischen König erhalten. Ich sehe dich als den Mann der den Bau überwacht, und nicht nur das. Solltest du dich meiner Denkweise anschließen, würde mich das freuen, doch würde das zur Unzeit bekannt, könnte dich das die Freiheit kosten.“
Dann sprach er noch einmal anerkennend über den Franzosenkönig.
Heinrich sei aus politischer Klugheit zum Kreuz Roms gekrochen. Um rechtmäßiger Monarch Frankreichs zu werden musste er einlenken: „Nichts bestimmte Heinrichs Denken fortan mehr als die Versöhnung. Er brachte es fertig. Er stellte, vor ungefähr zehn Jahren, die Feinde gleich. Man nennt dieses filigrane Werk, den Frieden zu Nantes.“ Er setze alle Hoffnung darauf, dass der König ihrem Ansinnen zustimmen werde, eine Schule der Toleranz für die Spanienflüchtlinge zu bauen, in der sie die neue Sprache lernen.
Trotz dieser Schilderung seiner künftigen Aufgaben malte Chico sich Vorstellungen die nicht realistisch sein konnten. Doch er war entschlossen seinem Freund unter allen Umständen eine Stütze zu sein. Er würde sein Leben geben um ihn zu schützen.
„Noch eins,“, sagte Carranza: „Ich schimpfe auf die Religion derer die uns beistehen sollen, nicht aus Streitsucht. Ich kann nach dem was ich erlebte nicht anders, als Engstirnigkeit zu verabscheuen. Sowohl die Katholiken wie die Protestanten sind farbenblind. Im Wichtigsten kennen sie keinen Spaß, das bunte Menschsein, mögen sie nicht. Sie bevorzugen Schwarz.“
Er verhielt den Schritt, schaute seinem Mann des Vertrauens direkt in die Augen: „Ich, übrigens sobald ich dich anschaue ebenfalls!“
Chico der den Witz verstand, bog sich vor Lachen.
„Ahmed vernahm damals wahrscheinlich eher zufällig, mehr Unverdauliches, als mir heute lieb ist. Was ich weiß, versteht kaum jemand.“
Die Tunesier Ali, Jemen der Bootsbesitzer und Aben der Berber plauderten ebenfalls und Jimena sorgte sich ein wenig.
Sie lieferten sich sowieso dem Ungewissen aus. Darauf wies sie hin, als es ihr passend erschien.
Ihr Mann nickte: „Deshalb werde ich mich weiter um sie kümmern, denn das haben sie verdient. Ohne sie wäre das Unternehmen „Befreiung“ niemals gelungen.“
Vor allem Chico, seinem Freund dem fünfunddreißigjährigen Ehrenmann, verdankte er fast alles.
Damit sie sich jedoch keine Flausen in den Schädel setzten, hatte er ihnen gleich am zweiten Tage ihrer abenteuerlichen Seereise gesagt, was ihnen ungefähr bevorstand und womit sie rechnen durften. Jeder erhielte von ihm, sobald sie in Marseille anlangten - aus dem beim Reeder Ballarde gehorteten Schatz - den Wert von vierzig Gramm Gold in französischer oder spanischer Währung. Der Bootsmann bekäme das Doppelte, Chico das Dreifache, plus der Summe seiner Auslagen. Damit würde Carranza nur etwas mehr als zehn Prozent seines Barvermögens hergeben und sie dennoch, wie er hoffte, zufrieden stellen. Das bestätigten sie denn auch per Handschlag und mit Kopfnicken.
Herrlich anzusehen waren für sie die vielen weißen Häuser der kleinen Dörfer mit ihren grauen, gelegentlich roten oder gelben Dächern. Das satte Grün der Bäume und die verschiedenen Tupfer der Dauerblüher ergaben ein malerisch schönes Bild, des französischen Grenzgebietes.
Dass sie sich jedoch statt unter die Hugenotten zu mischen, demnächst in Katharergebiete begeben würden, blieb ihnen ausnahmslos noch verborgen.
Sie sollten sich in Gegenden hineinbewegen, in denen seit sechs Jahrhunderten Krieg herrschte, ein Krieg allerdings der auch längere Ruhephasen kannte, ein Krieg des katholischen Rom und des romhörigen Madrid gegen Leute die wie keine andere Glaubensgruppe, dem Urchristlichen auffallend nahe standen.
Der Marsch ins Landesinnere stand unter guten Vorzeichen. Wo immer sie hinkamen wurden sie, von den Häuslern mit dem Notwendigsten versehen. Überwiegend beglichen mit dem letzten Geld Chicos, des dunkelfarbigen Äthiopiers, der am Schlusstag den letzten Silberrealen hingab. Und das wiederum war Ausdruck seines Glaubens an den Exordenspriester.
Die schlichten Menschen der Pyrenäen zeigten sich beeindruckt vom starken Wesen und dabei bescheidenen Auftreten Dr. Carranzas, wenn er sie um Brot und Rat bat. So verbreitete sich das Gerücht, dass der Mann mit dem spanischen Akzent ein nobler sei, wahrscheinlich ein Friedensbote im Auftrag des Nachbarlandes, Spanien.
Wenn es nur so wäre.
Alle sehnten sich nach dauerhaftem Frieden. Hüben wie drüben litten sie unter der Ungewissheit, ob der gerade von Spanien ausgerufene zeitlich begrenzte Waffenstillstand, der auch ihre Gegend betraf, zu echtem Frieden führt, oder ob die Mordlust der Soldateska nur eine Erschöpfungspause einlegte. Manchmal wussten die Eingeborenen nicht wer vor ihnen auftauchte. Truppen unter der Regie der Kirche, oder Freischärler die als Diebesbanden das Land verunsicherten. Immer noch zogen einzelne desertierende, geschlagene Soldatengruppen, mit ihrem Raubgut bestückt, von Flandern nach Spanien zurück, quer durch dünn besiedelten Gebiete Frankreichs in Richtung Katalonien. Und neue Marodeure suchten umgekehrt ihren Weg nach Norden Richtung Niederlande, da ginge es bald wieder weiter. Pure Habgier verleitete sie dazu den für ihre Unabhängigkeit von Spanien kämpfenden Holländern, die „Moneten abzuknöpfen“.
Eins wussten die Bürger dieses Landes anscheinend allesamt: Frankreich rüstete sich weiter gegen Spanien auf, um das Rad des Geschehens unbedingt ins Mittelalter zurück zu drehen.
Über diesem Spannungsfeld lag dennoch für alle, auch für die Spanienflüchtlinge, eine gewisse Chance und die ruhte letztlich in den Gunsterweisungen König Heinrich IV. Sie hielten ihn hoch in Ehren, weil er, wo er konnte seine Truppen hinschickte um in seinem Herrschaftsbereich Frieden zu stiften.
Er war ihre große Hoffnung.
Er, der gesagt hatte: „Jedem Bauern wünsche ich sein sonntägliches Suppenhuhn im Topf“, verbreitete Optimismus.
Er war der große Hoffnungsträger Dr. Carranzas.
Der hohe Rat
In diesen Frühlingstagen des Jahres 1610, saßen drei sehr unterschiedliche Männer in der gut eingerichteten Mietwohnung des etwa dreißigjährigen François Ravaillac, zusammen. Ravaillac ein Hochschullehrer, wohnte im Zentrum von Paris. Dort redeten sie ebenfalls über einen Plan. Der baute sich allerdings entschieden gegen Dr. Carranzas Wünsche auf.
Wo das Leben zu ihren ungeduldigen Füßen, wie üblich brodelte, erwog vor allem Ravaillac Einzelheiten seines Attentatversuches. Das wäre dann der achtzehnte, wenn er richtig zählte, aber der erste der den Franzosenkönig vom Diesseits in die jenseitige Hölle schmettert, wo er, gemäß katholischem Denken, hingehört, dieser Erzfeind religiöser Einheit.
Er, Ravaillac, wird sein Leben dransetzen das Schicksal zu wenden.
Dort wo man an den Ufern der Seine, in gepflegten Lustgärten leichtfertig flanierte, fuhr er sein schweres Geschütz auf.
Er verachtete die verrückte Welt, die, was auch geschieht, dem Amusement zugewandt blieb, als könne das gerade im herrlichen Frühling dieses Landes der Mitte nicht anders sein. Na und?, fragten die meisten, falls es wieder zum Krieg kommt, dieser Krieg wird sich fernab austoben. Soll man etwa wegen ein paar tausend jungen Männern die ins Gras beißen werden, auf die kleinen Freuden verzichten? Im Gegenteil, man liebt, weil man lebt und je gefährlicher es wird, umso mehr.
Die Gedanken dieser besonnenen Herren, zumindest die des Monsigneur Ravaillac, wollten radikal verwirklicht werden. Es ging in diesem Kreis einfach gesagt darum, klar zu stellen, dass die Umstände und das wahre, das römischpäpstliche, Menschenrecht dringend danach verlangten sofort zur Tat zu schreiten.
Die beiden Jesuiten krausten die Stirn.
Zu diesem Thema trugen beide, wie sich zeigen sollte, jeweils zwei entgegengesetzte Meinungen in sich, dieses Einerseits und Andererseits, das jeder aus eigenem Erleben kennt.
Mit anderen Worten gesagt, sie waren nicht sicher. Die Mutter Kirche müsse das Schiff durch stürmische See navigieren. Ihre Aufgabe bestand darin das Schiff zu retten, nicht einen einzelnen Menschen.
Der gebürtige Wiener Jesuit Leopold, etwa in seinem fünfzigsten Lebensjahr stehend, ein eher unauffälliger Man mit Glatze, schöpfte tief Atemluft, als er sich wieder über die auf dem Tisch liegenden Papiere beugte.
Zutreffender gesagt, er krümmte sich, um kein eindeutiges Ja zum Plan des François Ravaillac zu sagen, obwohl er es wohl gerne möchte: „Wenn wir in Betracht ziehen, dass König Heinrich die ketzerischen Hugenotten auf dieselbe Stufe hob wie die Unsrigen, wenn wir weiterhin bestätigt sehen, dass er ein unersättlicher Hurenbock ist, schlimmer, dass er den Krieg mit den Spaniern und den Deutschen sucht um Herr des Westens und des Bösen zu werden, dann müssten ihm sehr bald unüberwindbare Felsbrocken vor seine elenden Füße geworden werden.“
Bruder Leopold legte eine Kunstpause ein: „Aber zum Königsmord möchte ich aus Gewissensgründen nicht unbedingt raten ... wenngleich ich es wünschen würde, wenn ich die Spätfolgen positiv sehen könnte.“ Schweigend und nachdenklich, wie Generäle vor der Schlacht betrachteten sie die große Landkarte der Mitte Europas. Zerfetzt und anfällig für schwer beherrschbare Konflikte, lag der Flickenteppich da. Jedes Fitzelchen Land wurde von eigensinnigen Tyrannen beherrscht die sich Fürsten und Herren nannten. Uneiniger als diese Kleinstaaten der Möchtegerneregenten, konnte die Welt nicht sein. Nur in einem Punkt stimmten die Protestanten überein, und das hielt sie zusammen: Sie wünschten den Tod des Papsttums.
Deshalb saßen die drei nachdenklichen Männer in Ravaillacs Wohnung beieinander. Es ging schließlich um die Restaurierung der alten bewährten Herrschaft des Stellvertreter Christi auf Erden. Es ging um die Rückführung irregeleiteter Seelen, und sei es mit Hilfe einer angemessen großen Peitsche. Andernfalls fällt die Welt in Scherben, eben das, was dem heiligen römischen Reich deutscher Nation soeben widerfuhr. Das durften die besorgten Gläubigen der römischen Kirche nicht zulassen.
„Nun ja“, sagte Jesuit Leopold: „Wir fragen uns schon lange, ob es einen friedlichen Ausweg aus diesem Dilemma gibt, oder ob wir die Option Krieg - den Angriffskrieg - ernsthaft in Betracht ziehen müssen. Gott alleine weiß es.“
François Ravaillac runzelte die Stirn. Das Gesülze ging ihm auf die Nerven. Er wollte hören, dass die Jesuiten ohne Wenn und Aber hinter ihm stehen.
Bruder Leopold kratzte sein Kinn: „Der Papst muss sich schlimmste Beleidigungen anhören und kann im Augenblick nichts dagegen tun. Sie wollen die heilige Messe abschaffen und den Stuhl Petri demontieren und wir sehen uns im Augenblick noch ratlos. Ehrlich gesagt. Wir Mitglieder der Gesellschaft Jesu stemmen uns gegen Gotteslästerung. Eins aber ist gewiss: Wir brauchen Männer wie Sie!“
François Ravaillac strich über seinen gepflegten Spitzbart bevor er beschloss, die für ihn leider schwammige Stellungnahme der beiden Mitglieder der Gesellschaft Jesu, dennoch als Ermutigung zur Ausführung seines Planes aufzufassen. Erneut legte er den Finger seiner Rechten auf die Landkarte und das hinter Köln liegende Herzogtum Jülich. In der Tat, François Ravaillac wusste gut Bescheid, denn seine lauschenden Freunde im Louvre berichteten ihm regelmäßig. „Gestern vernahm ich, dass wegen des Machtwechsels zu Jülich der gesamte Artilleriepark morgen aus den Pariser Arsenalen in Richtung Rhein verlegt werden soll. Heinrich will dort seine Macht sichern. Er riskiert den Krieg. Wir wissen, dass er plant zur Hauptarmee nach Chalons an der Marne abzureisen, um den Oberbefehl gegen unsere Armee der katholischen Liga zu übernehmen.“
„Ja, wir hörten davon!“
Ravaillac schaute den Jesuiten verdutzt an. Erstens wegen der Seelenruhe Bruder Leopolds bei dieser gefährlichen Lage und zweitens, dass sie ihm nicht die Schulter klopften.
Bruder Leopold glättete seine wenigen Haare die sein sonst kahles Haupt bedecken sollten: „Heinrich verspricht sich große Geschäfte mit den Briten und den Niederländern. Wir wissen genug. Gott sei mit dir François!“
Mit schmutzigen Details hätten sie jedoch nichts zu schaffen.
Schließlich schloss Jesuit Leopold: „Sollte Heinrich sterben, dann war es Gottes Wille.“
Die beiden Herren verließen die Wohnung Ravaillacs anscheinend guten Gewissens.
Er aber trank vor Erregung gleich zwei Gläser Rotwein hintereinander, als könnte das süffige Zeug seine letzten Bedenken herunterspülen.
François Ravaillac streichelte das kostbare Erbstück, seinen Dolch, küsste ihn: „Sogar die protestantische Union wird es mir eines Tages danken. Ich werde das Signal setzen. Wenn mir das gelingt, dann wäre sie nicht nur aufgeschoben, sondern wahrscheinlich sogar verhütet, die mörderischste aller Schlachten im Glaubenskrieg. Fällt Heinrich, sind die anderen Ketzer gewarnt. Dieser eine scharfe Schnitt muss sein: Heißt es in der Bibel doch:
Es ist besser, dass ein Falschprophet und Gotteslästerer stirbt, als dass das ganze Volk zugrunde geht! (7) Johannes: 18: 14
Im neuen Daheim
Jimena hinkte, nachdem sie, einige Tage zuvor, bei einer notwendigen Rast, einen zu großen Sprung von der Bord ans Ufer wagte und unsanft auf einem Stein landete.
Er flüsterte halb zufrieden und halb sorgenvoll Ahmeds wegen: „ Oft ist der Kummer nur der andere Teil unseres Glückes.“
Unmittelbar vor der ersten Hütte des französischen Pyrenäendorf P., ihrem Zielort - am Nachmittag des 24. März 1610, - hörten sie , von einer Dörflerin die ihre Ziegen hütete, vom Sorgensohn. Und das erschrak beide, aber im Guten. Er ginge einem beliebten Hausarzt, seit mehreren Wochen, zur Hand. Beide seien gerade auf dem Weg um in einem Nachbarort, einer Hebamme beizustehen. „Da ist eine schwierige Geburt!“ wurde ihnen gesagt.
Überaus erstaunt und erfreut hörten die Carranzas mehr Angenehmes von ihrem Ahmed.
Jòses um zehn Jahre jüngere Ehefrau, die sich von den Schrecken ihrer Befreiung aus tunesischer Gefangenschaft gut erholt hatte, wog den Kopf: „Dein Sohn ist wie sein Vater. Unentwegt seid ihr aufs Tun und Lernen aus. Zum Glück!“
Zum Gegenteil seiner Befürchtungen.
Das beglückte ihn. Großartig, dass sein Ahmed sich, wie es nun unerwartet schien, endgültig für den Arztberuf entschieden hatte. Mehr als das. Menschen die andern aus ihrer Not und dem Schmerz heraus helfen wollten, gewannen immer, ob ihr Wirken sie materiell reich machte oder nicht.
Der massiv gebaute Bergbauer Juan Carlos, der sich gerade zwischen dem bunten, kleinen Federvieh auf dem Hof befand, und ihnen Futter streute, sah unerwartet das ein wenig mitgenommene Ehepaar, in ihren ausgeblichenen Kleidern, sowie deren vier Begleiter. Er rief sein lautes „Willkommen!“ in beiden Sprachen.
Selbstverständlich, da er die beiden, Hand in Hand schreitend, nun nahe vor sich sah, erinnerte Juan Carlos sich an Jòse Carranza als den ungeduldigen Gelehrten, der von seinen Bedenken getrieben den Sohn zurückließ: „Gratulation zur Befreiung ihrer Frau!“
Liebevoll schüttelte er mit seinen Arbeiterpranken die Rechte des Doktors. Der etwa fünfzigjährige Bauer schaute aus einem faltenreichen Gesicht. Er schöpfte tief Luft, so dass man sehen konnte wie sich seine grau behaarte Brust unter dem offen stehenden Hemd hob. Er bekannte: „Ich habe, ehrlich gesagt, stets gezweifelt, das es gut ausgeht. Zurückzukehren nach Spanien um seine dort in der Falle sitzende Ehefrau herauszuholen, zumal ihr Ehemann dort sehr wahrscheinlich steckbrieflich gesucht wird. Das war schon mehr als nur ein Wagnis. Umso mehr erfreut es mich ihren Erfolg zu sehen. Tretet ein ihr Rebellen, ins Haus eines Rebellenfreundes.“
Die Einladung galt natürlich auch den Tunesiern Chico, Ali und den beiden anderen, Aben und Jemen, die sich mittlerweile viel von einem Leben in Europa versprachen und doch noch nicht wussten, dass es im Leben immer auf und ab geht, wie das bewegte Meer. Nie sind wir lange oben, nie im Tal für immer.
Für die meisten Tunesier galt Frankreich als Paradies, doch auch dieses Gute wird selbstverständlich seinen Preis fordern.
Noch ehe die Gruppe der Einladung zu Tisch folgte legte Dr. Carranza dem etwa gleichgroßen, charakterstarken Mann die Hand auf die Schulter und blickte ihm freundlich ins Gesicht: „Meine Frau Jimena war zu diesem Zeitpunkt bereits als Gefangene und Ausgewiesene unterwegs. In Tunis angekommen ist sie in ein Araberhaus gesperrt worden! Mein Glück war, dass ich auf diesen Umstand durch zwei Briefe, die ich unglaublicher Weise auf direktem Weg erhielt, aufmerksam gemacht wurde. Und es gab Zufälle und tapfere Leute. Eine lange Geschichte.“
Er wies mit dem Kopf hinüber zum Äthiopier Chico, der gerade auf einem Grünstreifen zwischen zwei noch kahlen Obstbaumreihen stand und mit einem breiten Lächeln zurück nickte: „Ohne ihn, stünde ich heute nicht vor ihrer wunderbar geöffneten Haustür!“
„Unglaublich!“ stöhnte der Gastgeber: „Ich bin gespannt. In Tunis haben sie ihre Jimena aus einem Harem herausgeholt?“
Jòse lachte. Vor vier Wochen erst, war ihm nicht nach Lachen zumute gewesen.
Jimena atmete auf. Diesen Empfang hatte sie sich so nicht vorgestellt. Aber so ist es. Mit unserer Erwartungshaltung liegen wir nicht selten schief.
Sie bedankte sich. Der freundliche Bergbauer mit den Riesenhänden erwiderte ihr: „Ich kenne ihren Mann besser als Sie denken!“ Mit diesen Worten schlug er dem Doktor derbe auf die Schulter: „Nur er weiß noch nicht, dass er es in unserem Fall mit verdammten Katharern zu tun hat!“
„Sagen Sie bloß!“ staunte Carranza erfreut, dann fügte er heiter hinzu: „Ich kenne euch besser als ihr meint, lieber Freund. Ihr seid die vor Gott Berühmten! „Selig sind, die um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden; denn ihrer ist das Himmelreich. Selig seid ihr, wenn euch die Menschen um meinetwillen schmähen und verfolgen und allerlei Böses gegen euch reden und dabei lügen.“ (6) Matth. 5: 10-12
„Das jedenfalls, nachdem sie uns verleumdeten, hoffen wir!“
„Die Truppen des Vatikans führen einen asymmetrischen Krieg gegen euch!“
Erst auf der Türschwelle stehend befanden sich die Herren bereits mitten in einer hochpolitischen Diskussion: „Nie gehört, „asymmetrisch“?, fragte der Gastgeber.
„Die sind bewaffnet und ihr erwartet eure Mörder mit bloßen Händen!“
„Na, ja, immer haben wir uns auch nicht wie die Lämmer abschlachten lassen. Manchmal, wenn unsere Kinder in Todesangst schrien, nahmen wir Äxte und Sicheln und trugen Bratpfannen als Schilde.“
Sie wurden gleich zu Tisch gebeten.
Infolge der Berichte des muslimischen Waffenschmiedes Francisco, - eines anderen Freundes des Doktors, der zur Nacht erst von einer Reise zurückkäme - sähe er sich völlig im Bilde, sagte der Juan Carlos.
An manchen längst vergangenen Abenden am gedeckten Tisch musste der Klingenschmied, erzählen was er wusste. Immerhin gehörte er derselben Widerstandsarmee der bedrängten Maurisken an, wie Vater Carranza. Sie waren Kriegskameraden gewesen, geschlagene und gedemütigte.
Brutale Söldner hier wie da, und so die verlorenen Schlachten. Hier wie da standen die Verteidiger ihrer Heimat, vor einer seelenlos metzelnden Übermacht, denen stets Kreuzflaggen voran wehten.
„Sie, lieber Pilger, kämpfen wie wir, für dieselbe Sache.
Dieses Wort des Bergbauern Juan Carlos tat Dr. Carranza wohl: Um die Freiheit des Geistes ging es.
Die hier um den Tisch Versammelten bekannten ihrem Glauben gemäß Waldenser, (oder Vaudois, oder Katharer) zu sein.
Nachdem sich alle bereits zu Bett begeben hatten, auch Jimena, legte Bauer Juan Carlos noch einmal die grobe Rechte auf die Schulter Carranzas: „Ist da ein Plan, was Sie als Nächstes unternehmen werden?“
Die Antwort wartete er nicht ab: „Ich würde gerne sehen, Sie nähmen in der Nähe Neuland unter den Pflug.“
Jòse blinzelte ins Kaminfeuer und nickte: „Wir möchten uns auf jeden Fall nützlich machen. Meine Absicht ist, sobald wie möglich nach Paris aufzubrechen: König Heinrich soll durch uns erfahren, dass wir Maurenflüchtlinge zwar in noch unwegsamen Gelände siedeln möchten um dort Schulen und Straßen zu bauen, aber unser Ziel geht weiter: Wir bieten dem König an im Grenzbereich einen militärischen Block gegen eventuelle spanische Übergriffe zu bilden. Stimmt er uns zu, dann ziehen wir zehntausende an, überwiegend Muslime, und ob Sie, lieber Freund, das wollen?“ Er wandte den Blick in die hellen Augen des Hausherrn: „Ich glaube nicht.“
„Ihre Geradlinigkeit gefällt mir! Schlafen Sie gut Doktor!“ Jòse sah ihm das Bedauern an. Da wandte Juan Carlos sich noch einmal um: „Bringt sie her die zehntausende! Sie wären unser Schild und Schwert für uns!“
Carranza wusste sehr wohl, dass der mehrhundertjährige Krieg der Kirche gegen die unbeugsamen Katharer längst noch nicht beendet worden war. Wie der Bauer ihn schon gewarnt hatte, zu jeder Zeit und aus allen Klüften konnten die Kreuzträger herausstürmen und zuschlagen, wie sie es seit dem dritten Innozenz – mit Kanon 3, des ungeheuerlichen 4. Laterankonzils von 1215 - taten. Da stand es in ihren wohl bekannten, grauenvollen Akten nieder geschrieben, Wort für Wort:
„Weltliche Mächte, die sich an der Ausrottung derer nicht beteiligten, die seitens des Papsttums als Ketzer betrachtet wurden, werden nach Mahnung exkommuniziert. Nach Ablauf eines Jahres werden ihre Vasallen und Lehnsnehmer von ihrem Treueid entbunden und der Papst gibt ihre Ländereien zur Besetzung durch kirchentreue Christen frei.
Wer an den Ketzerkreuzügen teilnimmt, genießt dieselben Privilegien wie ein Jerusalemfahrer. Wer hingegen den Ketzereien anhängt, wer sie verteidigt, in Schutz nimmt oder begünstigt, verfällt der Exkommunikation. Nach Ablauf eines Jahres verliert er seine Rechtsfähigkeit, wird von der Erbfolge ausgeschlossen, Richter verlieren ihre Juris-diktionsgewalt, Kleriker ihre Ämter und Pfründen ...“
Was Kanon 3 forderte, das taten die Banditen aller Farben des Kreuzes, im Namen des Friedefürsten, allzu gerne. Er versprach ihnen Gewinn. Sol sprach sie heilig.
Jimena half schon am frühen Morgen in der Küche. Ihr Jòse hatte sie zur halben Nacht noch unterrichtet. Flüsternd neben ihr liegend sprach er über Einzelheiten. Roms erneuerte Anti-Ketzer-Befehle mussten immer noch gnadenlos ausgeführt werden. Angeraten war es für sie nicht, sich länger als unbedingt notwendig in dieser Gegend aufzuhalten.
Sie strahlte trotzdem über das ganze, schöne Gesicht, weil sie erlebte, dass sie dort zuhause war, wo Ehrliche sie anlächelten.
Ihr fiel es schwer sich vorzustellen, dass hier vor erst wenigen Monaten ein Massaker unter den freundlichen Katharern angerichtet wurde, wodurch die Dorfbevölkerung halbiert wurde. Wer nicht schnell genug laufen konnte starb.
Am Morgentisch wurde sie befragt, wie sie sich als Gefangene in einem Araberhaus gefühlt hätte. Alle starrten sie, in diesem Augenblick, an.
Sogar die Löffel für die Milchsuppe hielten die sechs oder sieben Mitarbeiter des Carloshofes, für eine Weile still. Jimena erzählte kurz und schmucklos, wie sie erst im Herbst vergangenen Jahres, aus ihrem sicher geglaubten Haus in Alboraya, in der Provinz Valencia herausgeholt und unter furchtbaren Flüchen angeblicher Christen, in Gesellschaft anderer Opfer, zum nächsten Hafen getrieben wurde. Sie betonte aber auch, sie sei zwar in Tunis als Rechtlose angekommen, dort aber nicht versklavt, sondern nur verpflichtet worden...
Nächst Jòse, ihrem Ehemann, der sich entschlossen auf den nicht ungefährlichen Weg gemacht hatte, war Chico, der farbige Riese, ihr Retter. Das möchte sie in dieser Runde gerne noch einmal laut sagen. Er war es der die Idee ihrer gewaltsamen Befreiung verwirklichte: „Das Haus meines Araberherren musste brennen! Eine Alternative dazu gab es nicht.“ Das sähe sie jetzt, nachträglich deutlich, obwohl sie über das Geschehen immer noch nicht glücklich sein konnte: „Denn meine muslimische Familie behandelte mich gut.“
Sie ließ die Frage im Raum stehen, ob ihr Jòse dasselbe aus eigenem Antrieb gewagt hätte?
Jimena schaute ihn an.
Dr. Carranza gab zu, dass er nichts ausgerichtet hätte: „Ehrlich gesagt, auf den Gedanken ein Haus in Brand zu setzen, wäre ich nicht gekommen. Ich hätte mich aus Verzweiflung betrunken und dann wäre ich wahrscheinlich ausgerastet und hätte unverzeihliche Fehler begangen.“
Man hätte meinen sollen, dem dunkelhäutigen Mann würde das viele Lob zu Kopf steigen. Das war nicht der Fall. Dr. Carranza wusste auch warum Chico bescheiden blieb.
Er hatte seine Frau durch einen Akt des Leichtsinns, im Rausch seiner vermeintlichen Stärke an einen Sklavenjäger verloren...
Der Doktor lobte aber auch die anderen Helfer namentlich.
Er forderte sie auf sich zu erheben, wenn er erwähnte welchen Anteil sie jeweils an Jimenas Rettung hatten. Er erklärte, wie riskant es für den im brennenden Haus lebenden Berber Aben gewesen sei, ihr kleines Gefängnis aufzubrechen. Alis Schlauheit erwähnte er, des Fischers Jemen Entschlossenheit sein Schicksal aufs Spiel zu setzen. Alles hätte auch ganz anders ausgehen können.
Da standen die vier und waren für ein paar Minuten selig, Anerkennung zu finden. Köstliche Momente für alle, auch weil die Güte der Katharer das zuließ.
Nie wieder, und würde er alt wie Methusalem, betonte Carranza, wird er vergessen wie Chico die Pechfackeln entzündete, wie geschickt er sie durch das eiserne Gitterwerk warf..., womit er ein Gesetz brach, zugunsten eines Höheren.
Es gab am zweiten Abend - und damit schon wieder unmittelbar vor ihrem Aufbruch nach Marseille - ein richtiges Festmahl. Waffenschmied Francisco war zurückgekommen und begrüßte seinen Doktor laut und herzlich.
Die ganze Gruppe um Jimena und Jòse umrundete erneut denselben riesigen Küchentisch. Es roch nach Pasteten und Hühnersuppe, nach Gebratenem und Obst. Es war zugleich ein Empfangs- wie ein vorweggenommenes Abschiedsfest.
Dann trat Ahmed spätabends ein, unversehens und ziemlich nach langem, schnellen Marsch. Er war schon vorinformiert worden. Hausbedienstete hatten es ihm zugeraunt, als er des Bergbauern Wohnhaus betrat: Jimena und der Vater befänden sich hinter der nächsten Tür.
Welch ein Ereignis, auch für ihn. Mit strahlendem Lächeln schritt der noch höher gewachsene Medizinstudent auf seinen leicht angetrunkenen Vater zu und umarmte ihn kurz und betont männlich. Stolz berichtete er, dass es seinem Mentor gelungen sei, einem Babymädchen und der sehr jungen Mutter das Leben zu retten. Ebenso in einem weiteren Fall, kurz danach.
Jimena erhob sich ebenfalls von ihrem Sitz. Sie stand ein wenig scheu und angespannt hinter ihren beiden Männern. Wird Ahmed sie, die ungeliebte Stiefmutter, der er zu Valencia jahrelang das Leben zur Hölle gemacht hatte ebenfalls umschließen. Wird er sie nun akzeptieren?
Sie bebte vor kaum verhohlener Erregung. Ahmed bedeutete ihr mehr als je zuvor, - und er tat es.
Er drückte Jimena fest an sich und sagte nur: „Danke!“
Er schaute sie an, sehr gereift, geläutert durch die Schicksalsschläge und ein klein wenig steif.
Sie setzte sich wieder, ganz in sich gekehrt. Dass es das je geben würde, hätte sie vor noch einigen Wochen für unmöglich gehalten.
Zwei Öllämpchen wurden angezündet.
Als sie fast heruntergebrannt waren endete für alle ein guter Tag. Aufgefordert vom Bergbauern sprach die füllige freundliche Hausfrau das Nachtgebet. Mit ihren Worten kam zum Vorschein, dass ihr Mann, Juan Carlos, der Präsident der örtlichen Katharergemeinde war.
Jòse ruckte zusammen, obwohl er nun doch eine leichte Vorahnung hatte: Alle Achtung, Mon Seigneur Präsident.
Zu guter Letzt lud Juan Carlos die große Familie Carranza ein, noch ein paar Tage zu bleiben, ehe sie sich auf den weiten Weg machten. Er lade jeden ein am kommenden Sonntag an einem Gottesdienst seiner Freunde teilzunehmen.
Eine Katharergemeinde
Fest stand von Anfang an, dieser Einladung würde, außer den drei Carranzas, allenfalls Chico folgen. Der begleitete seinen Doktor nach wie vor, wie dessen Schatten.
Sie gingen hin, und das sollte weitreichende Folgen haben.
Im schmucklosen Versammlungsraum gab es weder Kreuze, noch einen Altar.
Jòse stellte das eben sowohl erstaunt wie befriedigt fest. Gerade die Abwesenheit dieser beiden Elemente war Teil der Bestätigung, dass die Katharer zu den wenigen Bewahrern des urchristlichen Glaubens und Geistes gehörten. In den sonntäglichen Zusammenkünften früher Christen kamen weder Altäre noch Kreuze vor.
Wie ihre Glaubensväter legten sie kaum Wert auf Äußerlichkeiten, außer, dass sie sich festlich kleideten. Gespannt was nun folgte konzentrierte Carranza sich auf jedes Wort, jedes Detail.
Es gab eine etwas langatmige Schriftlesung.
Die etwa achtzig Anwesenden sangen in Harmonie zweistimmig die Trotz-Hymne der Waldenser und Katharer: „Wir danken dir Gott für der Berge Kraft, die uns schützten und bewahrten. In des stolzen Gebirges Hort hast du Israel geführet, gabst ihm der Freiheit Pfand.“
Der zweite Vers des Liedes erschütterte Jimena:
„Von der Hand des Unterdrückers litten wir und trugen schwer, du warst unsre Macht in Schwäche.“
Die Atmosphäre war es. Die Sänger lebten im Bewusstsein, dass es urplötzlich wieder auf sie zukommen wird: Roms Drache starrte unbeirrt wuterfüllt, auf sie herunter.
Der behäbige Präsident erzählte in ruhigem Ton, dass erst zwei Generationen seit dem Erlass von Mérindol vergangen seien, und, dass einer seiner Nachbarn im Besitz soliden Beweismaterials ist. Darunter befände sich eine beglaubigte Abschrift von 1540. Sie belegte die Verwüstung eines Waldenserdorfes von den Truppen des Barons Meynier von Oppède. Er selbst besitze nur eine einfache Kopie davon.
„Das Massaker erstreckte sich über den gesamten Luberon und fordert über 2000 Opfer. 700 Waldenser wurden auf die Galeeren geschickt.“ (7) Geschichte der Waldenser - Musée protestant
Bauer Carlos fügte hinzu, dass kein Galeerensträfling länger als fünf Jahre dienen konnte, dann würde auch den letzten der Tod der Erschöpfung ereilen.
Präsident Carlos sagte – und dabei hob er seine Stimme: „Aus Unmenschen sollen Gute werden. Kirche muss deshalb Schule der Tugend sein.“ Andernfalls könnte sie aus purem Gold bestehen und wäre doch nicht mehr als des Teufels hässliche Braut.
Sie, die Katharer, dürften nie vergessen perfekt zu werden. „Die Perfecti“ nannten ihre Feinde sie höhnisch.
Doch ohne ideale Menschen, gibt es keine ideale Welt.
Carlos stellte Dr. Carranza seiner Gemeinde nun offiziell vor, dessen Geschichte sich längst in der Gegend herumgesprochen hatte.
Diese Zusammenkunft war auf ihn gemünzt, das war klar. Sie wünschten, dass er Katharer wird. Sie umwarben ihn. Er könnte tausende Beschützer anziehen. Das war es. Sie hofften, weil sie bangten. Seit Menschengedenken klammerten sie sich an jeden Strohhalm.
Welche Ehre für ihn.
Der Präsident gab ihm das Wort.
Dr. Carranza war überrascht. Er blieb an seinem Platz.
Lediglich, dass er sich erhob.
Er musste zunächst aus innerer Bewegtheit schweigen. Sein Herz schlug hart, denn was im Luberon und auf den Galeeren des Grauens geschah sah er deutlich!
Eine unsichtbare Hand glitt über seinen Kopf, als streichele ihn seine längst verstorbene Mutter. Für Dr. Carranza galt es geradezu sprichwörtlich: „Nie haben Katharer sich an ihren Verfolgern gerächt. Sie blieben mitfühlende Menschen unter der Hand der Teufel der Gewalt.“
Dr. Carranza dankte dafür, dass ihm das Wort erteilt wurde und sagte mit wenigen Worten, dass er überzeugt sei, das letztlich die Wahrheit der Liebe siegen wird und eben nicht der Arm der Brutalität. Er hatte es wiederholt gehört und gelesen, die Katharer haben diejenigen, die sie misshandelten und dann hier und da, als Gefangene in ihre Hände fielen, trotz deren Grausamkeiten immer gut behandelt.
Er endete mit den Worten: „Ihr dürft stolz darauf sein, dass ihr in allen Stürmen durch die eure Eltern gehen mussten, eure Toleranz bewahrt habt. Ihr wurdet geschlagen, aber ihr habt nicht zurückgeschlagen.“
Juan Carlos sprach dem Redner seine Dankbarkeit aus, der nur gut zwei Minuten in Anspruch genommen hatte.
Er, der wie ein Denkmal stand, räusperte sich. Er müsse das Lob des Dr. Carranza redlichkeitshalber korrigieren. In herbem Ton setzte er hinzu: „Wir schlugen nur dann zurück, wenn sie uns umzingelt hatten, wenn uns nur die Wahl blieb auszubrechen oder zu sterben. Einer meiner Urväter gehörte zu denen, die, unweit von diesem Platz, um 1400, während einer Andacht von päpstlichen Soldaten in ihrer Felsenhöhle eingemauert wurden. Unserer Vorfahren einzige Schuld bestand darin, dass sie ihrer Erkenntnis die Treue hielten. Manchmal legen unsere dort eine Blume hin, zur ewigen Erinnerung.“
Jimena aber erschauderte, als sie das hörte. Sie war regelrecht erstarrt. Die vielen sonst so lebhaften Gesichter derer um sie herum blieben fast reglos.
Nun erhoben sich alle Anwesenden, auch die Kinder. Sie standen ehrfurchtsvoll schweigend.
Unmöglich schien ihr, sich vorzustellen was inseits der kleinen von Unmenschen umzingelten Felsenkirche geschah. Sie fragte sich mit Herzklopfen, was sie erlebt hätte, wäre sie dabei gewesen, als der letzte Funke des Tageslichtes für die Eingemauerten erlosch. Was geschah danach, im tiefsten Schwarz, dieses Riesensarges?
Und was war außerhalb? Schlugen sich die Täter tatsächlich einander anerkennend auf die Schultern? Konnten sie wirklich glauben, sie dürften sich freuen, ihnen sei ja für jede Teilnahme an solchen „Kreuzzügen“ ein völliger Ablass zugesichert worden? Kann es sein, dass Papst auf Papst, die Stirn hatten den Massenmord zu fordern?
Konnte es Christenprediger geben denen nicht das Gewissen schlug, solcher unheiligen Macht zu dienen?
Ihr Jòse flüsterte, als er sah wie bleich sie geworden war: „Das Hegemonialstreben hat der Teufel erfunden.“
Nach der denkwürdigen Zusammenkunft der Katharer-gemeinde blieben draußen viele Paare und Freunde beieinander um zu plaudern. Es war ein schöner Märzmorgen. Von den Bergkuppen, bis weit hinunter lag Schnee. Die Sonne schien, Schafe und Kühe grasten unfern von ihnen auf sattgrünen Weiden. Die heimkehrenden Menschen bewegten sich ruhig. Wunderbar war die Harmonie der Natur.
Ahmed hatte sich zu einigen etwa Gleichaltrigen hinzu gesellt.
Jimena und ihr Doktor standen noch neben der Familie des Juan Carlos, umgeben von vielen Freunden, die dem spanischen Ehepaar unbedingt Gutes zum Abschied sagen wollten. In diesem Moment schritt ein Gast der Rebellen-gemeinde auf sie zu. Ein pockennarbiger, etwa vierzig Jahre alter freundlich lächelnder Mann aus Turin, wie er sich vorstellte, schüttelte deren Hände. Er sprach sowohl spanisch wie französisch und gab vor, er sei ein Waldenser auf dem Weg Freunde in Valencia zu besuchen.
Das hätte den Exordenspriester hellhörig machen sollen.
Doch von der Herzlichkeit des Fremden geblendet freute er sich zu hören, dass es auch im fernen Umfeld Valencias noch gut versteckt Waldenser oder Katharer gab.
Eigentlich war das unglaublich und es schien dennoch wahr zu sein.
Dann kam die Frage von den Lippen des Turiners, ob Dr. Carranza ebenfalls den Katharern angehöre. Eigentlich war die Frage bereits beantwortet worden.
„Nein, noch nicht, aber soweit wie ich sehen kann, decken sich die meisten Ansichten dieser großartigen Leute weitgehend mit meinen persönlichen Überzeugungen, die ich in den zurückliegenden Jahren erwarb.“
Jedenfalls alles was er über die Ansichten und Praktiken der Katharer wusste sprach sehr für sie.
„In einer Bibliothek zu Marseille liegt ein Almanach und da steht ein positives Werturteil des berühmten Bernhard von Clairvaux geschrieben. Bernhard verfasste es fünfzig oder sechzig Jahre vor dem Mordurteil des dritten Innozenz:
„... Es kann nichts Christlicheres geben, als diese Häretiker... Ihre Worte stimmen mit ihren Taten überein. Ein Waldenser betrügt niemanden, er bedrückt niemanden, seine Wangen sind bleich vom Fasten, er isst nicht das Brot des Müßiggangs, seine Hände arbeiten für seinen Lebensunterhalt.“ (8) Henry, Charles Lea „Geschichte der Inquisition im Mittelalter Bd. 1, S. 112
Der Turiner Wanderer, der dies ungerührt hinnahm, wurde ebenfalls zu Tisch gebeten. Die Hausfrau machte eine entsprechende Geste und sagte: „Ihr könnt es euch daheim gemütlich machen.“
So entwickelte sich am gemeinsamen Mittagstisch, zwischen Gesang und Schriftlesung, ein langes Gespräch zwischen beiden Männern, da sie nebeneinander saßen. Dr. Carranza, der dem Fragenden blind anvertraute, und seinen Namen preisgab, musste dem Turiner schließlich auf dessen Nachfrage erzählen wie einem ehemaligen Priester zumute ist, als Feind Roms und Madrids aktiv in eine unsichere Zukunft zu gehen.
Carranza schwärmte von der momentanen Freiheit die sie allesamt vor allem König Heinrich IV. zu verdanken hätten: „Wir planen diesem großartigen Land zu dienen. Wir betrachten die Erlaubnis König Heinrichs, durch sein Land zu ziehen, als Einladung. Wohin sonst sollten wir gehen?“ (9) Rochau „Die Moriscos in Spanien“, Leipzig 1853, sowie Sarah Maislinger „Die spanische Inquisition und die Morisken“
Carranza fügte hinzu, dass er allerdings beunruhigt sei, dass die französische Regierung bislang nicht im Stande war, auch die Freiheit in diesen fernab liegenden Tälern zu gewährleisten.
Das großflächige pockennarbige Gesicht seines Gegenüber und dessen stahlgraue Augen prägten sich in Jòse Carranzas Gedächtnis ein. Er wünschte dem „guten“ Mann Gottes Segen und die Erfüllung seiner besten Wünsche.
„Viel Glück im Land der Freiheit!“ gab der Besucher abschließend zurück. Und da lag nichts unter diesem Ton das ihn verriet. Lediglich seine Neugierde schien befriedigt, und so schritt er zwei Stunden später auf seinen Xbeinen, als harmloser Besucher davon. Jòse schaute ihm nach und winkte noch freundlich. Und immer noch schien die Sonne über den Gerechten und den Ungerechten. Sie lächelte allen huldvoll zu.
Carranza hatte in der folgenden Nacht einen sonderbaren Traum. Er sah einen riesigen, Zähne starrenden Fisch, der das Maul weit aufsperrend auf ihn zu schwamm. Ihm schien eine Stimme ermahne ihn, künftig vorsichtiger zu sein.
Aber vor dem Hintergrund des freundlichen Gesichtes seiner Majestät Heinrich IV., des Schutzengels aller Glaubensverfolgten Frankreichs verlor das Maul des Verderbens an Bedeutung:
Lang lebe der König!
Der x-beinige Mann in Valencia
Was nun geschah, sollte der Doktor bald erfahren: Als der Turiner Spanienpilger an seinem Ziel angekommen war, fragte er den erstbesten Bürger jenseits der Torres de Serranos, - des Nordtores Valencias, - der ihm begegnete, ob ihm der Name Dr. Jòse Carranza ein Begriff sei.
Umgehend hörte der pockennarbige, angebliche Waldenser die immer noch lebendige Geschichte von Carranza, einem ehemaligen Sekretär des Erzbischofs Don Juan de Ribera, der seinen Treueeid gebrochen und erst vor einigen Wochen in effigie verbrannt worden sei.
An Stelle des Kopfes der Strohpuppe die ihn darstellen sollte sei ein Portrait des Exordenspriesters geheftet worden.
Der eifernde Mann mit den auffallenden X-beinen, erwiderte nun guten Mutes ziemlich laut: „Das hätte ich erleben wollen!“ Er wandte sich theatralisch auf dem Absatz seiner verbrauchten Schuhe um und tat so, als sei er erschrocken. Er wippte mit seinem Finger in die Luft. Wichtigtuerisch erklärte er: „Ich kenne euren Ketzer, und zwar persönlich. Ich bin ihm vor einigen Tagen in Frankreich begegnet.“ Dabei erhob er den Kopf, legte ihn in den Nacken, vom Scheitel bis zur Sohle ein Elitekatholik, und ein Angeber.
Andere Passanten blieben stehen und hörten zu. Auf die von ihm provozierte Nachfrage erwiderte der Reisende: „Ich habe mit ihm, nach einem waldensischen Götzendienst, dem ich beiwohnte eine Weile gesprochen.
Ich wollte sicher gehen. Dieser Mann glüht vor Hass auf uns! Er behauptet unsere Mutter Kirche sei die unchristlichste aller. Er sagte es direkt in meine Augen hinein: Rom und seine Kurie dient nicht Christus sondern dem Teufel Sol Invictus.“
Carranza habe ihm in aller Deutlichkeit erläutert: Seit dem vierten Jahrhundert herrsche auf dem Petersstuhl der Stellvertreter des Sol, dessen Geburtstag er zum Weihnachtsfest erhob!
„Euer Ketzer betonte, wie gutaussehend dieser mit einem Glorienschein gekrönte Romgott sei. Man könne ihn für einen Engel halten... Dieses Ketzers Spott biss mich.“
Ein älterer Franziskanermönch beugte sich vor, verwundert, geradezu entrüstet fauchte er: „Sie besuchten die Ketzer?“
„Ja, aus gutem Grund. Man muss doch seine Feinde erkennen, wenn man sie erledigen will. Ich bin ein Soldat der päpstlichen Garde mit Sonderauftrag. Mein Kurienkardinal will hören was in katholischen Landen geschieht. Er will wissen was ihr Spanier denkt und begehrt, was die Franzosen meinen.“
Das wirkte.
Sonderbeauftragter der Kurie!
Und der ging zu Fuß?
„Tarnung!“ lautete die Auskunft
Da erstarrten sogar die Selbstbewussten.
Ein weiterer Geistlicher der stehen geblieben war, neigte sein Haupt, denn er war hoch gewachsen. Der Reisende möge sich näher erklären. Das tat der auf diese Weise zu einem Bekenntnis aufgeforderte Soldat eines Kardinals: „Ich weiß, wovon ich rede. Vor zehn Jahren noch, vor meiner Buße war ich ein Waldenser und ein Waldenser war es, der vor Jahren meine Frau verführte und ein anderer der mein Geschäft ruinierte. Das werde ich ihnen nie vergeben. Sie sind tugendstolz, aber in Wahrheit Heuchler. Mich ekelt es, wenn sie sagen, sie seien die „perfecti“, weil ich sie kenne. Deshalb konvertierte ich und das wurde honoriert!“
Dieses Gespräch wurde in einem grauen Gebäude fortgesetzt.
Einer der beiden leitenden Inquisitoren der Landeshauptstadt, ein energischer Herr von kräftiger Statur, mit starken Falten quer über seinem Gesicht, schloss die Lider nachdem er diese Behauptungen vernahm. Er schaute einen Augenblick lang Beistand suchend himmelwärts.
Ein Papier konnte der angebliche Sonderbeauftragte nicht vorweisen. Er misstraute dem Pockennarbigen, denn Waldenser brechen ihre Ehen nicht. Streng schaute er dem Dahergereisten ins Gesicht. Der so Beäugte erwiderte furchtlos: „Doch!, es gibt die einen, wie die anderen. Und es gibt welche die, wie ich, bei ihnen böse Erfahrungen sammelten, Schmerzhaftes, das ihnen zugefügt wurde. Perfekt jedenfalls waren sie nie.“
Im Palais de Riberas sei man vielleicht an seiner Information interessiert.
In der Tat, dort nahm man die Aussagen des X-beinigen sehr ernst. Der schwächelnde, nun neunundsiebzigjährige Erzbischof de Ribera lebte auf, als ihm berichtet wurde, es gebe neue Botschaft betreffs des Verräters Carranza.
Der ehemalige Büßer, im Sonderdienst der Kurie war stolz vor einem ehemaligen Vizekönig Vortrag halten zu dürfen.
Wie er das Aussehen des flüchtigen Verräters beschreiben würde.
„Stattlich, dunkelblondes Haar, langes Gesicht, gesunde Zähne, kurzer Hals, keine Querfalten auf der Stirn, blaugraue Augen, gewölbte Lippen... vielleicht mit speziellem Dialekt.“ Der stichelnde Herr aus Turin wackelte ein wenig mit den Fingern, mehr fiel ihm nicht ein.
Doch Don Juan de Ribera genügte das. Er pustete wie ein Junger: „Ja, - ja, ja. Das ist er.“ Er hob den hageren Kopf, dachte anscheinend scharf nach: „In Màlaga! Ja, in Màlaga, da war dieser...“
„Ordensbruder Perez!“ ergänzte ein betresster Bediensteter geflissentlich, der sich genau erinnern konnte.
Nichts anderes hätte das umdüsterte Gemüt des Erzbischofs so aufrühren und aktivieren können: „Sofort! Schickt ihm die Nachricht. Ich befehle die sofortige Suche nach Dr. Jòse Carranza und seine Inhaftierung. Er ist unser gefährlichster Feind, ein abscheulicher Verächter der heiligen Mutter Kirche, ein Antichrist vom Scheitel bis zur Sohle. Der böseste, dem ich je in die Augen sah und der mir ins Gesicht, mit der frechen Behauptung, hineinlog er sei ein Christ. Eilt Brüder, ehe er wieder im Nichts verschwindet! Ich erwarte euren Bericht.“
Man eilte.
Und zum ersten Mal seit langer Zeit genoss er, in der berechtigten Hoffnung auf Erfolg, anschließend seine Gemüsesuppe. Erzbischof Don Juan de Ribera war zutiefst davon überzeugt, dass sein Zorn dem lieben Gott gefiel.
Umgehend, noch am Morgen des 02. April 1610, teilte die Inquisitionsbehörde zu Valencia, dem heiligen Oficio zu Málaga in einem Eilbrief mit, ihr Verdacht hätte sich bestätigt: „Der flüchtige Ordenspriester Dr. Jòse Carranza begab sich, vermutlich als Anführer einer Bande kriegerischer Jugendliche, auf Frankreichkurs.“
Nunmehr stünde fest, er habe sich im März im französischen Pyrenäendorf C., aufgehalten, einem Ort der unter Beobachtung stand. Er nahm dort zu rigiden Einpeitschern der Katharer und Vaudois Kontakt auf. Er hätte den dortigen Rebellen Segen gespendet und ungeniert Spanien und Rom den Untergang versprochen: „Unser Informant will erfahren haben, dass Carranza sich wahrscheinlich auf den Weg nach Marseille machen wird. Seiner kränkelnden Frau wegen, wird er per Schiff dorthin gehen um sie im Haus eines Freundes zu pflegen: „Wir vermuten, dass er eine Rebellenarmee rekrutieren wird, sobald er bei den, von den Himmelsscharen verdammten, Calvinisten Vertrauen gewinnt. Das Zeug dazu hat er. Das würde zu seinem von Gott verfluchten Charakter passen.“
Daraus folge: Jede Möglichkeit ist in Betracht zu ziehen. Auch die Passagierlisten der Reeder zu Marseille und Umgebung ab März sind zu kontrollieren - falls es welche gibt! Umfragen halten. Bilder erneuern und umher zeigen.
Erzbischof de Ribera beglückte der mannhafte Entschluss des heiligen Oficios zu Valencia: „Eminenz, wir versprechen ihnen, Sie werden den Verräter lebend auf dem Scheiterhaufen sehen.“
Wir hoffen, - so schrieben sie ans Dominikanerkloster zu Màlaga - ihr setzt unseren bewährten Bruder Fernando Perez erneut auf die Spur. Er wird ihn, klug geworden durch traurige Erfahrung, hierher lebend überführen. Der Herrgott sei mit euch. Und wenn ihr das Unterste nach oben kehren müsst. Tut es. Geld spielt keine Rolle!“
Dominikanermönch Fernando Perez wurde in die Kammer des Abtes gerufen.
Mund und Ohren gespitzt vernahm er, was er gehofft und nicht mehr geglaubt hatte. Er bedankte sich wortreich und eifrig, weil ihm mit warmen Worten abermals das Vertrauen der wahren Herren Spaniens zugesprochen wurde. Bescheiden bat der Mann mit dem wachsenden Kropf darum, dass ihm zwei des Französischen mächtige Mitbrüder des heiligen Oficios zur Seite gestellt würden, sowie geheimer militärischer Schutz.
Gewährt! Allerdings erst ab Marseille.
Das hörte der Beauftragte mit unbändiger Freude, weil er die Schande, versagt zu haben nun abwaschen wird, und obenauf hieß es zu seinen Gunsten verbindlich: Auch das Büro zu Màlaga werde das Gesamtvorhaben finanziell unterstützen.
Das hieß, diesmal muss er nicht darben, während er sich auf den weiten Weg ins Ungewisse macht.
Diesmal wird niemand seiner Kutsche eine Falle stellen.
Noch standen die Schreckensbilder lebhaft vor Perez Augen. Jene, die nur wenige Stunden vor dem entscheidenden, leider missglückten, Zugriff zu Stande kamen, damals im Herbst des Vorjahres: Wie Würfel in einem Becher wurden sie zu Viert in der kleinen Behausung der rasenden Kutsche brutal durcheinander gerüttelt, und dann war es aus, das bereits fast gewonnene große, Siegspiel. Auf einen Schlag. Es war damals so, als hätte der Blitz des Beelzebubs, zugunsten seiner Verbrecherbande dreingeschlagen.
Ein Ordensbruder, sowie zwei altgediente französische Haudegen der Kavallerie würden ihn fortan, ab Marseille, auf dieser Mission begleiten. Wie ihre Augäpfel werden sie ihn behüten.
Nun verfügte Fernando Perez über die dazu erforderlichen Mittel, dem Vorhaben zum Triumpf der Gerechtigkeit und der geliebten Kirche zu verhelfen.
Es war einfach empörend was sich gegenwärtig in der gesamten Welt zutrug. Roms Widersacher gewannen an Boden. Diesen Trend zu stoppen oder wenigsten einen kleinen Beitrag dazu zu leisten war ihm ein Herzensanliegen.
Wie versprochen wurde Bruder Perez eine erhebliche Summe Bargeld ausgehändigt, und ein Empfehlungsschreiben, sowie ein Wechsel, ausgestellt auf den Abt des hochgerühmten Dominikanerklosters Saint Victor, zu Marseille, die zu überreichen wären.
Perez wurden zwei Karten gezeigt. So sah es aus, das wunderbare Gebäude, das er aufsuchen sollte: Hoch gebaut mit seinen ins Auge fallenden Zackenkronen. Wegen der Glaubenskraft seiner Äbte und Mönche stünde der Konvent, immer noch trotzig wie ein Bollwerk gegen die Antikatholiken Spaniens, Frankreichs, ja der ganzen ins Wanken geratenen Welt, des Nordens Europas. Es leuchtete der christlichen Welt des Mittelmeeres als Symbol der nie endenden Überlegenheit der heiligen Sache Roms. Noch sei das verdorbene französische Imperium, samt den englischen und deutschen Reichen nicht für immer an den Zweigehörnten verloren.
Alle Gebete, die in der Klosterkrypta zu Ehren der allein selig machenden Mutter Kirche gesprochen werden, würden von der schwarzen Madonna wie seit eh und je erhört. Fernando möge sich darauf freuen, vor der, in ihr grünes Festgewand gekleideten, Himmelskönigin, Worte der Dankbarkeit zu sprechen und seine Bitte um Erfolg vorzutragen.
Dreimal allerdings bläuten die verantwortlichen Brüder ihm noch ein: Wegen des vom Calvinismus verseuchten Südfrankreich wäre die Festsetzung eines Übeltäters auf französischem Boden, und dann die Überführung ihrer Beute nach Valencia, nicht ungefährlich. Wenn es schief gehen sollte, sei den Soldaten erlaubt den Übeltäter zu töten. Das sei verzeihlicher Tyrannenmord.
Gott sei mit euch, ihr Helden des allein wahren Glaubens: So wird es allen ergehen die ihre Hand gegen das Heiligtum erheben. Nichts anderes, als ein Sieg der ecclesia triumphans, war denkbar, und zugleich ihr höchstes Ziel.
Das heilige Oficio halte es für geraten, den festgesetzten Ketzer per Schiff nach Valencia zu schaffen.
Am 8. Apriltag 1610 machte sich der Dominikaner Fernando Perez mit seinen Papieren und einem kleinen Reisebeutel auf den Weg, per Schiff, nach Marseille.
Dass er zeitweise der Versuchung ausgesetzt war, an schöne liebesbedürftige Französinnen zu denken, hielt Perez für einen zusätzlichen Anreiz – und, für ausnahmsweise verzeihlich. Sollte er erfolgreich sein, würde Gott ihm nachsehen einmal, nur ein einziges Mal zuzugreifen. Nur einmal möchte er ein ganzer Mann sein, einer der danach heftig Buße tun wird um Vergebung zu erlangen. Er sagte sich, auch Dominikaner sind nur Menschen.
Bruder Fernando schaute hinauf zu den Wolken als er vom wankenden, knarrenden Steg den ersten Schritt aufs blank gescheuerte Schiffsdeck des großen, schwarzen Zweimasters setzte. Erfreut und bewusst roch er den Duft des Meeres. Allen Ernstes meinte er, jetzt, nach den schrecklichen Enttäuschungen, hätte er mehr Gespür für die Eingebungen des Heiligen Geistes. Waren die sanft schwebenden Gebilde dort oben, die er in Gestalt einer Taube sah, nicht bereits ein erstes Anzeichen für die Gunst des Allmächtigen?
Der Kapitän ein älterer, kleiner, runder Mann hielt den Kopf hin als der, in seine neue Ordenstracht gekleidete, Dominikanermönch ihn grüßte. Fernando spendete ihm die Gunst und den Segen des Himmels und fügte selbstbewusst und aus Vorfreude hinzu: „Sie haben eine große Mission erfüllt, el señor Kapitän, wenn Sie uns in Marseille gesund an Land setzen.“
Die bunte Fahne am Schiffsmast wehte wacker, wie dereinst die Flagge seines Ordens auf der Kutsche. Diese Symbole verhießen ihm erneut die volle Erfüllung all seiner Träume: Möge ihm dann die Ehre zuteil werden, zu Valencia den Flammenstoß zu entzünden in dessen funkensprühendem Zentrum der Feind der Menschheit Dr. Jòse Carranza stehen wird. Diesmal entkommt er uns nicht.
Im Geiste genoss Fernando Perez was er in Farbe voraussah.
Dr. Jòse Carranzas Fischerhaus
Carranza wurde begleitet von Jimena und Ahmed, sowie seinen Freunden. Sie standen aufgeregt an der Reeling ihres kleinen Segelbootes, auf dem sie zuvor richtig durchgerüttelt wurden weil es stürmisch war. Bewundernd sahen sie die von kahlem Gelände umgebenen Höhenzüge der Großstadt und die Pracht der Bürgerhäuser hinter dem Kai. So landeten sie am 10. April 1610 an ihrem vorläufigen Endziel, wo nahezu zeitgleich ein spanischer Getreidesegler, den Fähnchen nach zu urteilen, aus Valencia kommend, eintraf.
Dort wird er, zum Glück, über genügend finanzielle Mittel verfügen.
Im Vertrauen darauf vermochte Carranza umgehend der Gruppe für ein paar Tage eine billige Unterkunft zu verschaffen. Vor allem musste Jimena vorläufig das Bett hüten. Sie fieberte und trank Ahmeds Tee, der aber nicht anschlug. Niemand konnte ihr sagen woran sie erkrankt war. Dennoch machte ihr Ehemann sich auf den nicht so weiten Weg. Er sei ja binnen zwei Stunden zurück.
Der etwa fünfundvierzigjährige Reeder Henry Ballarde saß auf einer braunen Bank, vor seinem beige-farbenen Wohnhaus, Pfeife rauchend, als plötzlich sein spanischer Freund und ein großer dunkelhäutiger Mann auf ihn zuschritten. Ballarde erhob sich, strich seinen ansehnlichen Bauch, dann kratzte er den Hinterkopf und strich über seinen angegrauten Schnurrbart. Teils erfreut, war er dennoch besorgt, als wollte er feststellen: Sie fanden ihre Frau also doch nicht?
Dann allerdings entdeckte er das Leuchten im Gesicht seines alten Freundes: „Bringen Sie gute Nachrichten?“
Dr. Carranza nickte und Ballarde breitete die Arme aus. Er reichte auch dem Äthiopier die Hand. Der Geste des behäbigen Mannes folgend betraten sie gemeinsam dessen nur äußerlich bescheiden erscheinendes Heim.
Seit seinem ersten Besuch als angeblicher Rompilger, vor nunmehr zehn Jahren und nun als erfolgreicher Heimkehrer aus Tunis, setzte Dr. Carranza seine Schritte zuversichtlich.
Ballarde hängte sich ein in den Arm Jòses, als sie den Korridor auf einem braunen Bastteppich entlang gingen. Jòse möge ihm berichten. Sie gingen ins vordere Büro. Dr. Carranza fasste sich kurz, obwohl seine Geschichte mehr als dramatisch war. Der Schiffseigner stöhnte auf: „Mein Gott, sie hatten mehr als nur einen Schutzengel!“ Eine ganze Stunde verging über das Frage - Antwortspiel. Da erst schlug der Gastgeber die flache Hand auf die nur leicht gefaltete Stirn: „Zu Tisch, meine Herren!“ Sich erhebend klatschte und tätschelte er anerkennend den kräftigen Rücken Chicos.
Die beiden erwachsen wirkenden, hellblonden Töchter des Gastgebers arbeiteten an der Seite ihrer schlanken, freundlichen Mutter in der Küche: „Emmi, stelle dir vor, es ging gut aus! Gott sei es gedankt. Ja, ich habe viel an Sie gedacht und manchmal betete ich für ihr Glück!“
„Ich auch!“ ergänzte Emilie, die Hausfrau. Die Mädchen senkten errötend ihre Köpfe, hatten auch sie...?
Die sich anschließende Beratung ergab ebenfalls Gutes. Er werde Chico und Ali anbieten in seiner kleinen Werft zu arbeiten. Dem Bootsführer und dem geflohenen Berber könne er versprechen, sich bei Freunden für sie einzusetzen. Wahrscheinlich könnten sie vorläufig als Hafenarbeiter ihren Unterhalt verdienen.
Und was ihn beträfe: In Klosternähe in unmittelbarer Nachbarschaft zu den Dominikanern Marseilles befände sich ein leeres verwahrlostes, schilfgedecktes Fischerhaus, das in seinem Besitz sei und eigentlich schon abgeschrieben. Wenn Jòse das wohnlich herrichten wolle, dann könnte er dort mit seiner kleinen Familie einziehen: Geschenkt, vorausgesetzt Carranza helfe ihm gelegentlich am Schreibtisch!
Und wieder fragten Jimena und er sich, warum ihnen bislang in diesem Land der Mäßigkeit fast ein Übermaß an Güte zuteil wurde.
Reeder Henry Ballarde ermutigte sie: „Vielleicht sieht alles nach ein paar Arbeitstagen schon viel wohnlicher aus. Und ich meine, ihr Sohn Ahmed sollte sich so schnell wie möglich in die Register der Universität eintragen lassen. Unsere Arztausbildung ist wohl die Beste in ganz Europa.“
So hatte Carranza bis zum 14. April nicht nur das Finanzielle geregelt und dabei angenehm überrascht festgestellt, dass der Goldpreis sich einigermaßen in der Waage hielt.
Knapp zwei Wochen brauchten die Carranzas um aus einer Hütte ein wahres Kleinod zu schaffen.
Jimena hatte sich erholt und die aus Lehm bestehende Vorderfront weiß gestrichen , sowie hier und da mit schönen bunten Blumenmalereien versehen. Vergleichbares gab es sehr selten.
So war ihr Gemüt beschaffen. Sie lebte zum ersten Mal in Harmonie mit ihren eigentlichen Wünschen. Sie hatten ja nie zuvor so eng Tag und Nacht zusammengelebt, obwohl sie dreizehn Jahre miteinander verheiratet waren. Jòse erwies sich als perfekter Ehemann, als Kavalier der ihre Wünsche höher setzte, als die eigenen. Er war das, was sie wollte. Das half ihr wieder richtig auf die Beine zu kommen. Und es war auch umgekehrt: Alles was sie tat oder sagte, empfand er als ermutigend und angenehm. Ohne sich dessen bewusst zu sein, handelten sie so, wie ein banales und zugleich weises orientalisches Rezept für eine glückliche Ehe vorschreibt: Man liebt einander und sagt und beweist es dem anderen - täglich.
In den beiden Wochen der Schwerarbeit waren an nahezu jedem Morgen, immer um etwa zehn Uhr, zwei Männer, manchmal drei Dominikaner, aus den sozusagen nebenan gelegenen Toren des weltberühmten Klosters Saint Victor daher gekommen. Sie wurden gelegentlich von zwei Reitern begrüßt die sie begleiteten. Hin und wieder winkten sie den in kleiner Steinwurfentfernung am Fischerhaus arbeitenden beiden Männern zu, einem vollbärtigen, langhaarigen Kräftigen und seinem gleichstarken Knecht einen tiefschwarzen Hünen. Gelegentlich nickten sie auch Jimena zu, immer sehr freundlich, wenn sie im kleinen Vorgarten etwas pflanzte oder den Garten wässerte. … Forts. folgt
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Konstantin
der Massenmörder wurde mit Hilfe gewisser Kollaborateure, was er wünschte.
„Jimena,
das Problem besteht darin, dass die Menschen seines Wirkungsbereiches nicht
erkennen durften, dass die höchsten Kirchenmänner „Christus, Christus“ sagten
und Sol Invictus dienten. Zehn Prozent gaben
sie fortan Christus und den Rest Sol, wenn auch irrtümlich. Deshalb hauen sie
drauf, deshalb brennen die Scheiterhaufen, deshalb die Prachtbauten und der
Kardinalspurpur. Von daher die Arroganz der Päpste, die sich nicht schämen ihre
Füße küssen zu lassen.“
Michael Servet kritisierte scharf was er miterlebte,
diesen konstantinischen Hang der Päpste, gottgleich aufzutreten. Er sah
„wie der König
von Spanien, - der Welt mächtigster Herr - Karl V., von Papst Clemens VII.
zum Kaiser des Heiligen Römischen Reiches gekrönt wurde. Der Papst wurde auf
einem Thron einher getragen. Als er den König empfing, küsste der ihm den Fuß. Servet schrieb später: „Mit diesen
meinen Augen habe ich den Papst, gesehen, im Festzug getragen auf den Schultern
von Prinzen . . ., und das ganze Volk bezeugte ihm auf den
Plätzen kniend seine Verehrung.“ (5) Michael Servet — Die einsame
Suche nach der Wahrheit, Erwachet! 2006
„Das war Blasphemie! Zehn Prozent Christus und der Rest Sol
Invictus! Ich befürchte, dass sich das nie ändern wird, solange bezahlte Funktionäre
mit ihrem Kreuz auf der Brust und dem Christusschild auf der Stirn das Sagen
haben. (6)
Pfarrer und Hochschullehrer Weber „Jugendlexikon
Religion“: „...jubelnd begrüßten katholische und
protestantische Geistliche den Ausbruch des Ersten Weltkrieges … Hei wie es
saust aus der Scheide! Wie es funkelt im Maienmorgensonnenschein! Das gute deutsche Schwert, nie
entweiht, siegbewährt, segensmächtig. Gott hat dich uns in die Hand gedrückt,
wir halten dich umfangen wie eine Braut...komm Schwert, du bist mir Offenbarung
des Geistes... im Namen des Herrn darfst
du sie zerhauen.“
An Chico gewandt: „Weißt du, dass König
Heinrich IV., Sols Vormachtstreben zum Trotz, das Kunststück fertig brachte
diesem Land, nach endlosen Jahrzehnten des gegenseitigen Todschlags Frieden und
gewisse Glaubensfreiheit zu stiften?
Stell dir vor, er muss gerade im
heiratsfähigen Alter gewesen sein. In seiner Hochzeitsnacht zum 24. August
1572, entkam er nur durch Zufall dem ihm von fanatischen Katholiken bestimmten
Tod.“
Auf Jimenas Nachfrage erklärte Carranza, dass
man schätzt, dass dreitausend Hochzeitsgäste in der Nacht rings um den
Regierungspalast, weil sie anders glaubten, erdolcht und abgeschlachtet wurden:
„Die Angreifer hatten weiße Kreuze, auf ihre Kleidung oder Stirnen
gemalt. Wer kein Kreuz trug war Todfeind und damit verloren, denn die
Untergebenen Heinrichs gingen waffenlos.“
Kein anderes Ereignis grub sich so tief und folgenreich
ins Gedächtnis aller ein.
Während sie unentwegt daher schritten,
erzählte Carranza, dass Servets umfangreiche Kritik
am derzeitigen „Christentum“ ihm des Genick brechen sollte, und Luthers
Freund Melanchthon lobte die Mörder.“
Servet glaubte an die Notwendigkeit der
Wiederherstellung des originalen Evangeliums, die alleine durch den
auferstandenen Christus erfolgen kann.
Ich bin derselben Überzeugung.
Von den Bergen blies ein frischer Wind. Sie
rasteten und ruhten auf einer trockenen Wiese auf frisch gemähtem Gras.
„Chico, Du bist frei, in diesem Land des
Unbekannten. Du darfst denken, glauben und tun was dir beliebt, nur darüber zu
reden, was du mitgehört hast, würde ich dir nicht raten. Mir bist du zu wertvoll,
gleichgültig was du meinst, denn ich brauche deine Hilfe zum Besten. Mir
schwebt stets eine Schule vor Augen, die wir errichten könnten, wenn wir das
Privileg dazu vom französischen König erhalten. Ich sehe dich als den Mann der
den Bau überwacht, und nicht nur das. Solltest du dich meiner Denkweise
anschließen, würde mich das freuen, doch würde das zur Unzeit bekannt, könnte
dich das die Freiheit kosten.“
Dann sprach er noch einmal anerkennend über
den Franzosenkönig.
Heinrich sei aus politischer Klugheit zum
Kreuz Roms gekrochen. Um rechtmäßiger Monarch Frankreichs zu werden musste er
einlenken: „Nichts bestimmte Heinrichs Denken fortan mehr als die Versöhnung.
Er brachte es fertig. Er stellte, vor ungefähr zehn Jahren, die Feinde gleich.
Man nennt dieses filigrane Werk, den Frieden zu Nantes.“ Er setze alle Hoffnung darauf, dass der König
ihrem Ansinnen zustimmen werde, eine Schule der Toleranz für die
Spanienflüchtlinge zu bauen, in der sie die neue Sprache lernen.
Trotz dieser Schilderung seiner künftigen
Aufgaben malte Chico sich Vorstellungen die nicht realistisch sein konnten.
Doch er war entschlossen seinem Freund unter allen Umständen eine Stütze
zu sein. Er würde sein Leben geben um ihn zu schützen.
„Noch eins,“, sagte Carranza: „Ich schimpfe
auf die Religion derer die uns beistehen sollen, nicht aus Streitsucht. Ich
kann nach dem was ich erlebte nicht anders, als Engstirnigkeit zu
verabscheuen. Sowohl die Katholiken wie die Protestanten sind farbenblind. Im
Wichtigsten kennen sie keinen Spaß, das bunte Menschsein, mögen sie nicht. Sie
bevorzugen Schwarz.“
Er verhielt den Schritt, schaute seinem Mann
des Vertrauens direkt in die Augen: „Ich, übrigens sobald ich dich anschaue
ebenfalls!“
Chico der den Witz verstand, bog sich vor Lachen.
„Ahmed vernahm damals wahrscheinlich eher zufällig, mehr
Unverdauliches, als mir heute lieb ist. Was ich weiß, versteht kaum
jemand.“
Die Tunesier Ali, Jemen der Bootsbesitzer und
Aben der Berber plauderten ebenfalls und Jimena sorgte sich ein wenig.
Sie lieferten sich sowieso dem Ungewissen aus.
Darauf wies sie hin, als es ihr passend erschien.
Ihr Mann nickte: „Deshalb werde ich mich weiter
um sie kümmern, denn das haben sie verdient. Ohne sie wäre das Unternehmen
„Befreiung“ niemals gelungen.“
Vor allem Chico, seinem Freund dem
fünfunddreißigjährigen Ehrenmann, verdankte er fast alles.
Damit sie sich jedoch keine Flausen in den
Schädel setzten, hatte er ihnen gleich am zweiten Tage ihrer abenteuerlichen
Seereise gesagt, was ihnen ungefähr bevorstand und womit sie rechnen durften.
Jeder erhielte von ihm, sobald sie in Marseille anlangten - aus dem beim Reeder
Ballarde gehorteten Schatz - den Wert von vierzig Gramm Gold in französischer
oder spanischer Währung. Der Bootsmann bekäme das Doppelte, Chico das Dreifache,
plus der Summe seiner Auslagen. Damit würde Carranza nur etwas mehr als zehn
Pozent seines Barvermögens hergeben und sie dennoch, wie er hoffte, zufrieden
stellen. Das bestätigten sie denn auch per Handschlag und mit Kopfnicken.
Herrlich anzusehen waren für sie die vielen
weißen Häuser der kleinen Dörfer mit ihren grauen, gelegentlich roten oder
gelben Dächern. Das satte Grün der Bäume und die verschiedenen Tupfer der
Dauerblüher ergaben ein malerisch schönes Bild, des französischen
Grenzgebietes.
Dass sie sich jedoch statt unter die
Hugenotten zu mischen, demnächst in Katharergebiete begeben würden, blieb ihnen
ausnahmslos noch verborgen.
Sie sollten sich in Gegenden hineinbewegen, in
denen seit sechs Jahrhunderten Krieg herrschte, ein Krieg allerdings der auch
längere Ruhephasen kannte, ein Krieg des katholischen Rom und des romhörigen
Madrid gegen Leute die wie keine andere Glaubensgruppe, dem Urchristlichen auffallend
nahe standen.
Der Marsch ins Landesinnere stand unter
guten Vorzeichen. Wo immer sie hinkamen wurden sie, von den Häuslern mit dem
Notwendigsten versehen. Überwiegend beglichen mit dem letzten Geld Chicos, des
dunkelfarbigen Äthiopiers, der am Schlusstag den letzten Silberrealen hingab.
Und das wiederum war Ausdruck seines Glaubens an den Exordenspriester.
Die schlichten Menschen der Pyrenäen zeigten
sich beeindruckt vom starken Wesen und dabei bescheidenen Auftreten Dr.
Carranzas, wenn er sie um Brot und Rat bat. So verbreitete sich das Gerücht,
dass der Mann mit dem spanischen Akzent ein nobler sei, wahrscheinlich ein
Friedensbote im Auftrag des Nachbarlandes, Spanien.
Wenn es nur so wäre.
Alle sehnten sich nach dauerhaftem Frieden.
Hüben wie drüben litten sie unter der Ungewissheit, ob der gerade von Spanien
ausgerufene zeitlich begrenzte Waffenstillstand, der auch ihre Gegend
betraf, zu echtem Frieden führt, oder ob die Mordlust der Soldateska nur
eine Erschöpfungspause einlegte. Manchmal wussten die Eingeborenen nicht wer
vor ihnen auftauchte. Truppen unter der Regie der Kirche, oder Freischärler die
als Diebesbanden das Land verunsicherten. Immer noch zogen einzelne
desertierende, geschlagene Soldatengruppen, mit ihrem Raubgut bestückt, von
Flandern nach Spanien zurück, quer durch dünn besiedelten Gebiete Frankreichs
in Richtung Katalonien. Und neue Marodeure suchten umgekehrt ihren Weg nach
Norden Richtung Niederlande, da ginge es bald wieder weiter. Pure Habgier
verleitete sie dazu den für ihre Unabhängigkeit von Spanien kämpfenden
Holländern, die „Moneten abzuknöpfen“.
Eins wussten die Bürger dieses Landes
anscheinend allesamt: Frankreich rüstete sich weiter gegen Spanien auf, um das
Rad des Geschehens unbedingt ins Mittelalter zurück zu drehen.
Über diesem Spannungsfeld lag dennoch für
alle, auch für die Spanienflüchtlinge, eine gewisse Chance und die ruhte
letztlich in den Gunsterweisungen König Heinrich IV. Sie hielten ihn hoch
in Ehren, weil er, wo er konnte seine Truppen hinschickte um in seinem
Herrschaftsbereich Frieden zu stiften.
Er war ihre große Hoffnung.
Er, der gesagt hatte: „Jedem Bauern wünsche
ich sein sonntägliches Suppenhuhn im Topf“, verbreitete Optimismus.
Er war der große Hoffnungsträger Dr.
Carranzas.
Der
hohe Rat
In diesen Frühlingstagen des Jahres 1610,
saßen drei sehr unterschiedliche Männer in der gut eingerichteten Mietwohnung
des etwa dreißigjährigen François Ravaillac, zusammen. Ravaillac ein
Hochschullehrer, wohnte im Zentrum von Paris. Dort redeten sie ebenfalls
über einen Plan. Der baute sich allerdings entschieden gegen Dr. Carranzas
Wünsche auf.
Wo das Leben zu ihren ungeduldigen Füßen, wie
üblich brodelte, erwog vor allem Ravaillac Einzelheiten seines
Attentatversuches. Das wäre dann der achtzehnte, wenn er richtig zählte, aber
der erste der den Franzosenkönig vom Diesseits in die jenseitige Hölle schmettert,
wo er, gemäß katholischem Denken, hingehört, dieser Erzfeind religiöser
Einheit.
Er, Ravaillac, wird sein Leben dransetzen das Schicksal
zu wenden.
Dort wo man an den Ufern der Seine, in
gepflegten Lustgärten leichtfertig flanierte, fuhr er sein schweres Geschütz
auf.
Er verachtete die verrückte Welt, die, was
auch geschieht, dem Amusement zugewandt blieb, als könne das gerade im herrlichen
Frühling dieses Landes der Mitte nicht anders sein. Na und?, fragten die
meisten, falls es wieder zum Krieg kommt, dieser Krieg wird sich fernab austoben.
Soll man etwa wegen ein paar tausend jungen Männern die ins Gras beißen werden,
auf die kleinen Freuden verzichten? Im Gegenteil, man liebt, weil man lebt und
je gefährlicher es wird, umso mehr.
Die Gedanken dieser besonnenen Herren,
zumindest die des Monsigneur Ravaillac, wollten radikal verwirklicht werden. Es
ging in diesem Kreis einfach gesagt darum, klar zu stellen, dass die Umstände
und das wahre, das römischpäpstliche, Menschenrecht dringend danach verlangten
sofort zur Tat zu schreiten.
Die beiden Jesuiten krausten die Stirn.
Zu diesem Thema trugen beide, wie sich zeigen
sollte, jeweils zwei entgegengesetzte Meinungen in sich, dieses Einerseits und
Andererseits, das jeder aus eigenem Erleben kennt.
Mit anderen Worten gesagt, sie waren nicht
sicher. Die Mutter Kirche müsse das Schiff durch stürmische See navigieren.
Ihre Aufgabe bestand darin das Schiff zu retten, nicht einen einzelnen
Menschen.
Der gebürtige Wiener Jesuit Leopold, etwa in
seinem fünfzigsten Lebensjahr stehend, ein eher unauffälliger Man mit Glatze, schöpfte tief Atemluft, als er
sich wieder über die auf dem Tisch liegenden Papiere beugte.
Zutreffender gesagt, er krümmte sich, um kein
eindeutiges Ja zum Plan des François Ravaillac zu sagen, obwohl er es wohl
gerne möchte: „Wenn wir in Betracht ziehen, dass König Heinrich die
ketzerischen Hugenotten auf dieselbe Stufe hob wie die Unsrigen, wenn wir
weiterhin bestätigt sehen, dass er ein unersättlicher Hurenbock ist, schlimmer,
dass er den Krieg mit den Spaniern und den Deutschen sucht um Herr des Westens
und des Bösen zu werden, dann müssten ihm sehr bald unüberwindbare Felsbrocken
vor seine elenden Füße geworden werden.“
Bruder Leopold legte eine Kunstpause ein:
„Aber zum Königsmord möchte ich aus Gewissensgründen nicht unbedingt raten ...
wenngleich ich es wünschen würde, wenn ich die Spätfolgen positiv sehen
könnte.“ Schweigend
und nachdenklich, wie Generäle vor der Schlacht betrachteten sie die
große Landkarte der Mitte Europas. Zerfetzt
und anfällig für schwer beherrschbare Konflikte, lag der Flickenteppich da.
Jedes Fitzelchen Land wurde von eigensinnigen Tyrannen beherrscht die sich
Fürsten und Herren nannten. Uneiniger als diese Kleinstaaten der
Möchtegerneregenten, konnte die Welt nicht sein. Nur in einem Punkt stimmten
die Protestanten überein, und das hielt sie zusammen: Sie wünschten den Tod des
Papsttums.
Deshalb saßen die drei nachdenklichen Männer in
Ravaillacs Wohnung beieinander. Es ging schließlich um die
Restaurierung der alten bewährten Herrschaft des Stellvertreter Christi auf
Erden. Es ging um die Rückführung irregeleiteter Seelen, und sei es mit Hilfe
einer angemessen großen Peitsche. Andernfalls fällt die Welt in Scherben, eben
das, was dem heiligen römischen Reich deutscher Nation soeben widerfuhr. Das
durften die besorgten Gläubigen der römischen Kirche nicht zulassen.
„Nun ja“, sagte Jesuit Leopold: „Wir
fragen uns schon lange, ob es einen friedlichen Ausweg aus diesem Dilemma gibt,
oder ob wir die Option Krieg - den Angriffskrieg - ernsthaft in Betracht ziehen
müssen. Gott alleine weiß es.“
François Ravaillac runzelte die Stirn. Das
Gesülze ging ihm auf die Nerven. Er wollte hören, dass die Jesuiten ohne Wenn
und Aber hinter ihm stehen.
Bruder Leopold kratzte sein Kinn: „Der Papst
muss sich schlimmste Beleidigungen anhören und kann im Augenblick nichts
dagegen tun. Sie
wollen die heilige Messe abschaffen und den Stuhl Petri demontieren und wir sehen
uns im Augenblick noch ratlos. Ehrlich gesagt. Wir Mitglieder der Gesellschaft
Jesu stemmen uns gegen Gotteslästerung. Eins aber ist gewiss: Wir brauchen
Männer wie Sie!“
François Ravaillac strich über seinen
gepflegten Spitzbart bevor er beschloss, die für ihn leider schwammige Stellungnahme
der beiden Mitglieder der Gesellschaft Jesu, dennoch als Ermutigung zur
Ausführung seines Planes aufzufassen. Erneut legte er den Finger seiner Rechten
auf die Landkarte und das hinter Köln liegende Herzogtum Jülich. In der Tat,
François Ravaillac wusste gut Bescheid, denn seine lauschenden Freunde im
Louvre berichteten ihm regelmäßig. „Gestern vernahm ich, dass wegen des
Machtwechsels zu Jülich der gesamte Artilleriepark morgen aus den Pariser
Arsenalen in Richtung Rhein verlegt werden soll. Heinrich will dort seine Macht
sichern. Er riskiert den Krieg. Wir wissen, dass er plant zur Hauptarmee nach
Chalons an der Marne abzureisen, um den Oberbefehl gegen unsere Armee der katholischen Liga zu übernehmen.“
„Ja, wir hörten davon!“
Ravaillac schaute den Jesuiten verdutzt an.
Erstens wegen der Seelenruhe Bruder Leopolds bei dieser gefährlichen Lage und zweitens,
dass sie ihm nicht die Schulter klopften.
Bruder Leopold glättete seine wenigen Haare
die sein sonst kahles Haupt bedecken sollten: „Heinrich verspricht sich große
Geschäfte mit den Briten und den Niederländern. Wir wissen genug. Gott sei mit
dir François!“
Mit schmutzigen Details hätten sie jedoch
nichts zu schaffen.
Schließlich schloss Jesuit Leopold: „Sollte
Heinrich sterben, dann war es Gottes Wille.“
Die beiden Herren verließen die Wohnung Ravaillacs
anscheinend guten Gewissens.
Er aber trank vor Erregung gleich zwei Gläser
Rotwein hintereinander, als könnte das süffige Zeug seine letzten Bedenken
herunterspülen.
François Ravaillac streichelte das kostbare
Erbstück, seinen Dolch, küsste ihn: „Sogar die protestantische Union wird es
mir eines Tages danken. Ich werde das Signal setzen. Wenn mir das gelingt, dann
wäre sie nicht nur aufgeschoben, sondern wahrscheinlich sogar verhütet, die
mörderischste aller Schlachten im Glaubenskrieg. Fällt Heinrich, sind die anderen
Ketzer gewarnt. Dieser eine scharfe Schnitt muss sein: Heißt es in der
Bibel doch:
Es ist besser,
dass ein Falschprophet und Gotteslästerer stirbt, als
dass das ganze Volk zugrunde geht! (7) Johannes: 18: 14
Im
neuen Daheim
Jimena hinkte, nachdem sie, einige Tage zuvor,
bei einer notwendigen Rast, einen zu großen Sprung von der Bord ans Ufer
wagte und unsanft auf einem Stein landete.
Er flüsterte halb zufrieden und halb
sorgenvoll Ahmeds wegen: „ Oft ist der Kummer nur der andere Teil unseres
Glückes.“
Unmittelbar vor der ersten Hütte des
französischen Pyrenäendorf P., ihrem Zielort - am Nachmittag des 24. März 1610,
- hörten sie , von einer Dörflerin die ihre Ziegen hütete, vom Sorgensohn. Und
das erschrak beide, aber im Guten. Er ginge einem beliebten Hausarzt,
seit mehreren Wochen, zur Hand. Beide seien gerade auf dem Weg um in einem
Nachbarort, einer Hebamme beizustehen. „Da ist eine schwierige Geburt!“ wurde
ihnen gesagt.
Überaus erstaunt und erfreut hörten die Carranzas
mehr Angenehmes von ihrem Ahmed.
Jòses um zehn Jahre jüngere Ehefrau, die sich
von den Schrecken ihrer Befreiung aus tunesischer Gefangenschaft gut erholt
hatte, wog den Kopf: „Dein Sohn ist wie sein Vater. Unentwegt seid ihr aufs Tun
und Lernen aus. Zum Glück!“
Zum Gegenteil seiner Befürchtungen.
Das beglückte ihn. Großartig, dass sein Ahmed
sich, wie es nun unerwartet schien, endgültig für den Arztberuf entschieden
hatte. Mehr als das. Menschen die andern aus ihrer Not und dem Schmerz heraus
helfen wollten, gewannen immer, ob ihr Wirken sie materiell reich machte oder
nicht.
Der massiv gebaute Bergbauer Juan Carlos, der
sich gerade zwischen dem bunten, kleinen Federvieh auf dem Hof befand, und
ihnen Futter streute, sah unerwartet das ein wenig mitgenommene Ehepaar, in
ihren ausgeblichenen Kleidern, sowie deren vier Begleiter. Er rief sein lautes
„Willkommen!“ in beiden Sprachen.
Selbstverständlich, da er die beiden, Hand in
Hand schreitend, nun nahe vor sich sah, erinnerte Juan Carlos sich an Jòse
Carranza als den ungeduldigen Gelehrten, der von seinen Bedenken getrieben den
Sohn zurückließ: „Gratulation zur Befreiung ihrer Frau!“
Liebevoll schüttelte er mit seinen
Arbeiterpranken die Rechte des Doktors. Der etwa fünfzigjährige Bauer schaute
aus einem faltenreichen Gesicht. Er schöpfte tief Luft, so dass man sehen konnte
wie sich seine grau behaarte Brust unter dem offen stehenden Hemd hob. Er
bekannte: „Ich habe, ehrlich gesagt, stets gezweifelt, das es gut ausgeht.
Zurückzukehren nach Spanien um seine dort in der Falle sitzende Ehefrau
herauszuholen, zumal ihr Ehemann dort sehr wahrscheinlich steckbrieflich
gesucht wird. Das war schon mehr als nur ein Wagnis. Umso mehr erfreut es
mich ihren Erfolg zu sehen. Tretet ein ihr Rebellen, ins Haus eines
Rebellenfreundes.“
Die Einladung galt natürlich auch den
Tunesiern Chico, Ali und den beiden anderen, Aben und Jemen, die sich
mittlerweile viel von einem Leben in Europa versprachen und doch noch nicht
wussten, dass es im Leben immer auf und ab geht, wie das bewegte Meer. Nie sind
wir lange oben, nie im Tal für immer.
Für die meisten Tunesier galt Frankreich als
Paradies, doch auch dieses Gute wird selbstverständlich seinen Preis fordern.
Noch ehe die Gruppe der Einladung zu Tisch
folgte legte Dr. Carranza dem etwa gleichgroßen, charakterstarken Mann die Hand
auf die Schulter und blickte ihm freundlich ins Gesicht: „Meine Frau Jimena war
zu diesem Zeitpunkt bereits als Gefangene und Ausgewiesene unterwegs. In Tunis
angekommen ist sie in ein Araberhaus gesperrt worden! Mein Glück war, dass ich
auf diesen Umstand durch zwei Briefe, die ich unglaublicher Weise auf direktem
Weg erhielt, aufmerksam gemacht wurde. Und es gab Zufälle und tapfere
Leute. Eine lange Geschichte.“
Er wies mit dem Kopf hinüber zum Äthiopier
Chico, der gerade auf einem Grünstreifen zwischen zwei noch kahlen Obstbaumreihen
stand und mit einem breiten Lächeln zurück nickte: „Ohne ihn, stünde ich heute
nicht vor ihrer wunderbar geöffneten Haustür!“
„Unglaublich!“ stöhnte der Gastgeber: „Ich bin
gespannt. In Tunis haben sie ihre Jimena aus einem Harem herausgeholt?“
Jòse lachte. Vor vier Wochen erst, war ihm
nicht nach Lachen zumute gewesen.
Jimena atmete auf. Diesen Empfang hatte
sie sich so nicht vorgestellt. Aber so ist es. Mit unserer Erwartungshaltung
liegen wir nicht selten schief.
Sie bedankte sich. Der freundliche Bergbauer mit
den Riesenhänden erwiderte ihr: „Ich kenne ihren Mann besser als Sie denken!“
Mit diesen Worten schlug er dem Doktor derbe auf die Schulter: „Nur er weiß
noch nicht, dass er es in unserem Fall mit verdammten Katharern zu tun hat!“
„Sagen Sie bloß!“ staunte Carranza erfreut,
dann fügte er heiter hinzu: „Ich kenne euch besser als ihr meint, lieber
Freund. Ihr seid die vor Gott Berühmten! „Selig sind, die um der Gerechtigkeit willen verfolgt
werden; denn ihrer ist das Himmelreich. Selig seid ihr, wenn euch die Menschen
um meinetwillen schmähen und verfolgen und allerlei Böses gegen euch reden und
dabei lügen.“ (6) Matth. 5: 10-12
„Das jedenfalls, nach sie uns verleumdeten,
hoffen wir!“
„Die Truppen des Vatikans führen einen
asymmetrischen Krieg gegen euch!“
Erst auf der Türschwelle stehend befanden sich
die Herren bereits mitten in einer hochpolitischen Diskussion: „Nie gehört,
„asymmetrisch“?, fragte der Gastgeber.
„Die sind bewaffnet und ihr erwartet eure
Mörder mit bloßen Händen!“
„Na, ja, immer haben wir uns auch nicht wie
die Lämmer abschlachten lassen. Manchmal, wenn unsere Kinder in Todesangst
schrien, nahmen wir Äxte und Sicheln und trugen Bratpfannen als Schilde.“
Sie wurden gleich zu Tisch gebeten.
Infolge der Berichte des muslimischen
Waffenschmiedes Francisco, - eines anderen Freundes des Doktors, der zur Nacht
erst von einer Reise zurückkäme - sähe er sich völlig im Bilde, sagte der Juan
Carlos.
An manchen längst vergangenen Abenden am
gedeckten Tisch musste der Klingenschmied, erzählen was er wusste. Immerhin
gehörte er derselben Widerstandsarmee der bedrängten Maurisken an, wie Vater
Carranza. Sie waren Kriegskameraden gewesen, geschlagene und gedemütigte.
Brutale Söldner hier wie da, und so die
verlorenen Schlachten. Hier wie da standen die Verteidiger ihrer Heimat, vor
einer seelenlos metzelnden Übermacht, denen stets Kreuzflaggen voran wehten.
„Sie, lieber Pilger, kämpfen wie wir, für
dieselbe Sache.
Dieses Wort des Bergbauern Juan Carlos tat Dr.
Carranza wohl: Um die Freiheit des Geistes ging es.
Die hier um den Tisch Versammelten bekannten
ihrem Glauben gemäß Waldenser, (oder Vaudois, oder Katharer) zu sein.
Nachdem sich alle bereits zu Bett begeben
hatten, auch Jimena, legte Bauer Juan Carlos noch einmal die grobe Rechte auf
die Schulter Carranzas: „Ist da ein Plan, was Sie als Nächstes unternehmen
werden?“
Die Antwort wartete er nicht ab: „Ich würde
gerne sehen, Sie nähmen in der Nähe Neuland unter den Pflug.“
Jòse blinzelte ins Kaminfeuer und nickte: „Wir
möchten uns auf jeden Fall nützlich machen. Meine Absicht ist, sobald wie
möglich nach Paris aufzubrechen: König Heinrich soll durch uns erfahren, dass
wir Maurenflüchtlinge zwar in noch unwegsamen Gelände siedeln möchten um dort
Schulen und Straßen zu bauen, aber unser Ziel geht weiter: Wir bieten dem
König an im Grenzbereich einen militärischen Block gegen eventuelle spanische
Übergriffe zu bilden. Stimmt er uns zu, dann ziehen wir zehntausende an,
überwiegend Muslime, und ob Sie, lieber Freund, das wollen?“ Er wandte den
Blick in die hellen Augen des Hausherrn: „Ich glaube nicht.“
„Ihre Geradlinigkeit gefällt mir! Schlafen Sie
gut Doktor!“ Jòse sah ihm das Bedauern an. Da wandte Juan Carlos sich noch
einmal um: „Bringt sie her die zehntausende! Sie wären unser Schild und Schwert
für uns!“
Carranza wusste sehr wohl, dass der
mehrhundertjährige Krieg der Kirche gegen die unbeugsamen Katharer längst noch
nicht beendet worden war. Wie der Bauer ihn schon gewarnt hatte, zu jeder Zeit
und aus allen Klüften konnten die Kreuzträger herausstürmen und zuschlagen, wie
sie es seit dem dritten Innozenz – mit Kanon 3, des ungeheuerlichen 4.
Laterankonzils von 1215 - taten. Da stand es in ihren wohl bekannten,
grauenvollen Akten nieder geschrieben, Wort für Wort:
„Weltliche Mächte, die sich an der
Ausrottung derer nicht beteiligten, die seitens des Papsttums als Ketzer
betrachtet wurden, werden nach Mahnung exkommuniziert. Nach Ablauf eines Jahres
werden ihre Vasallen und Lehnsnehmer von ihrem Treueid entbunden und der Papst
gibt ihre Ländereien zur Besetzung durch kirchentreue Christen frei.
Wer an den Ketzerkreuzügen teilnimmt,
genießt dieselben Privilegien wie ein Jerusalemfahrer. Wer hingegen den
Ketzereien anhängt, wer sie verteidigt, in Schutz nimmt oder begünstigt,
verfällt der Exkommunikation. Nach Ablauf eines Jahres verliert er seine Rechtsfähigkeit,
wird von der Erbfolge ausgeschlossen, Richter verlieren ihre
Juris-diktionsgewalt, Kleriker ihre Ämter und Pfründen ...“
Was Kanon 3 forderte, das taten die
Banditen aller Farben des Kreuzes, im Namen des Friedefürsten, allzu
gerne. Er versprach ihnen Gewinn. Sol sprach sie heilig.
Jimena half schon am frühen Morgen in der
Küche. Ihr Jòse hatte sie zur halben Nacht noch unterrichtet. Flüsternd neben
ihr liegend sprach er über Einzelheiten. Roms
erneuerte Anti-Ketzer-Befehle mussten immer noch gnadenlos ausgeführt werden.
Angeraten war es für sie nicht, sich länger als unbedingt notwendig in dieser
Gegend aufzuhalten.
Sie strahlte trotzdem über das ganze, schöne
Gesicht, weil sie erlebte, dass sie dort zuhause war, wo Ehrliche sie
anlächelten.
Ihr fiel es schwer sich vorzustellen, dass
hier vor erst wenigen Monaten ein Massaker unter den freundlichen Katharern
angerichtet wurde, wodurch die Dorfbevölkerung halbiert wurde. Wer nicht
schnell genug laufen konnte starb.
Am Morgentisch wurde sie befragt, wie sie sich
als Gefangene in einem Araberhaus gefühlt hätte. Alle starrten sie, in diesem
Augenblick, an.
Sogar die Löffel für die Milchsuppe hielten
die sechs oder sieben Mitarbeiter des Carloshofes, für eine Weile still. Jimena
erzählte kurz und schmucklos, wie sie erst im Herbst vergangenen Jahres, aus ihrem
sicher geglaubten Haus in Alborya, in der Provinz Valencia herausgeholt und
unter furchtbaren Flüchen angeblicher Christen, in Gesellschaft anderer Opfer,
zum nächsten Hafen getrieben wurde. Sie betonte aber auch, sie sei zwar in
Tunis als Rechtlose angekommen, dort aber nicht versklavt, sondern nur
verpflichtet worden...
Nächst Jòse, ihrem Ehemann, der sich
entschlossen auf den nicht ungefährlichen Weg gemacht hatte, war Chico, der
farbige Riese, ihr Retter. Das möchte sie in dieser Runde gerne noch einmal
laut sagen. Er war es der die Idee ihrer gewaltsamen Befreiung verwirklichte:
„Das Haus meines Araberherren musste brennen! Eine Alternative dazu gab es
nicht.“ Das sähe sie jetzt, nachträglich deutlich, obwohl sie über das
Geschehen immer noch nicht glücklich sein konnte: „Denn meine muslimische
Familie behandelte mich gut.“
Sie ließ die Frage im Raum stehen, ob ihr Jòse
dasselbe aus eigenem Antrieb gewagt hätte?
Jimena schaute ihn an.
Dr. Carranza gab zu, dass er nichts
ausgerichtet hätte: „Ehrlich gesagt, auf den Gedanken ein Haus in Brand zu
setzen, wäre ich nicht gekommen. Ich hätte mich aus Verzweiflung betrunken und
dann wäre ich wahrscheinlich ausgerastet und hätte unverzeihliche Fehler
begangen.“
Man hätte meinen sollen, dem dunkelhäutigen
Mann würde das viele Lob zu Kopf steigen. Das war nicht der Fall. Dr. Carranza
wusste auch warum Chico bescheiden blieb.
Er hatte seine Frau durch einen Akt des
Leichtsinns, im Rausch seiner vermeintlichen Stärke an einen Sklavenjäger
verloren...
Der Doktor lobte aber auch die anderen Helfer
namentlich.
Er forderte sie auf sich zu erheben, wenn er
erwähnte welchen Anteil sie jeweils an Jimenas Rettung hatten. Er erklärte, wie
riskant es für den im brennenden Haus lebenden Berber Aben gewesen sei, ihr
kleines Gefängnis aufzubrechen. Alis Schlauheit erwähnte er, des Fischers Jemen
Entschlossenheit sein Schicksal aufs Spiel zu setzen. Alles hätte auch ganz
anders ausgehen können.
Da standen die vier und waren für ein paar Minuten
selig, Anerkennung zu finden. Köstliche Momente für alle, auch weil die Güte
der Katharer das zuließ.
Nie wieder, und würde er alt wie Methusalem,
betonte Carranza, wird er vergessen wie Chico die Pechfackeln entzündete, wie
geschickt er sie durch das eiserne Gitterwerk warf..., womit er ein Gesetz
brach, zugunsten eines Höheren.
Es gab am zweiten Abend - und damit schon
wieder unmittelbar vor ihrem Aufbruch nach Marseille - ein richtiges Festmahl.
Waffenschmied Francisco war zurückgekommen und begrüßte seinen Doktor laut und
herzlich.
Die ganze Gruppe um Jimena und Jòse umrundete
erneut denselben riesigen Küchentisch. Es roch nach Pasteten und Hühnersuppe,
nach Gebratenem und Obst. Es war zugleich ein Empfangs- wie ein
vorweggenommenes Abschiedsfest.
Dann trat Ahmed spätabends ein, unversehens
und ziemlich nach langem, schnellen Marsch. Er war schon vorinformiert worden.
Hausbedienstete hatten es ihm zugeraunt, als er des Bergbauern Wohnhaus betrat:
Jimena und der Vater befänden sich hinter der nächsten Tür.
Welch ein Ereignis, auch für ihn. Mit
strahlendem Lächeln schritt der noch höher gewachsene Medizinstudent auf seinen
leicht angetrunkenen Vater zu und umarmte ihn kurz und betont männlich. Stolz
berichtete er, dass es seinem Mentor gelungen sei, einem Babymädchen und der
sehr jungen Mutter das Leben zu retten. Ebenso in einem weiteren Fall, kurz
danach.
Jimena erhob sich ebenfalls von ihrem Sitz.
Sie stand ein wenig scheu und angespannt hinter ihren beiden Männern. Wird
Ahmed sie, die ungeliebte Stiefmutter, der er zu Valencia jahrelang das Leben
zur Hölle gemacht hatte ebenfalls umschließen. Wird er sie nun akzeptieren?
Sie bebte vor kaum verhohlener Erregung. Ahmed
bedeutete ihr mehr als je zuvor, - und er tat es.
Er drückte Jimena fest an sich und sagte nur:
„Danke!“
Er schaute sie an, sehr gereift, geläutert
durch die Schicksalsschläge und ein klein wenig steif.
Sie setzte sich wieder, ganz in sich gekehrt.
Dass es das je geben würde, hätte sie vor noch einigen Wochen für unmöglich
gehalten.
Zwei Öllämpchen wurden angezündet.
Als sie fast heruntergebrannt waren endete für
alle ein guter Tag. Aufgefordert vom Bergbauern sprach die füllige freundliche
Hausfrau das Nachtgebet. Mit ihren Worten kam zum Vorschein, dass ihr Mann,
Juan Carlos, der Präsident der örtlichen Katharergemeinde war.
Jòse ruckte zusammen, obwohl er nun doch eine
leichte Vorahnung hatte: Alle Achtung, Mon Seigneur Präsident.
Zu guter Letzt lud Juan Carlos die große
Familie Carranza ein, noch ein paar Tage zu bleiben, ehe sie sich auf den
weiten Weg machten. Er lade jeden ein am kommenden Sonntag an einem
Gottesdienst seiner Freunde teilzunehmen.
Eine Katharergemeinde
Fest stand von Anfang an, dieser
Einladung würde, außer den drei Carranzas, allenfalls Chico folgen. Der
begleitete seinen Doktor nach wie vor, wie dessen Schatten.
Sie gingen hin, und das sollte
weitreichende Folgen haben.
Im schmucklosen Versammlungsraum gab
es weder Kreuze, noch einen Altar.
Jòse stellte das eben sowohl erstaunt
wie befriedigt fest. Gerade die Abwesenheit dieser beiden Elemente war Teil der
Bestätigung, dass die Katharer zu den
wenigen Bewahrern des urchristlichen Glaubens und Geistes gehörten. In den
sonntäglichen Zusammenkünften früher Christen kamen weder Altäre noch Kreuze
vor.
Wie ihre Glaubensväter legten sie kaum
Wert auf Äußerlichkeiten, außer, dass sie sich festlich kleideten. Gespannt was
nun folgte konzentrierte Carranza sich auf jedes Wort, jedes Detail.
Es gab eine etwas langatmige Schriftlesung.
Die etwa achtzig Anwesenden sangen in
Harmonie zweistimmig die Trotz-Hymne der Waldenser und Katharer: „Wir danken dir Gott für der Berge Kraft,
die uns schützten und bewahrten. In des stolzen Gebirges Hort hast du Israel
geführet, gabst ihm der Freiheit Pfand.“
Der zweite Vers des Liedes
erschütterte Jimena:
„Von der
Hand des Unterdrückers litten wir und trugen schwer, du warst unsre Macht in
Schwäche.“
Die Atmosphäre war es. Die Sänger lebten
im Bewusstsein, dass es urplötzlich wieder auf sie zukommen wird: Roms Drache starrte
unbeirrt wuterfüllt, auf sie herunter.
Der behäbige Präsident erzählte in ruhigem Ton, dass erst zwei
Generationen seit dem Erlass von Mérindol vergangen seien, und,
dass einer seiner Nachbarn im Besitz soliden Beweismaterials ist. Darunter
befände sich eine beglaubigte Abschrift von 1540. Sie belegte die Verwüstung eines
Waldenserdorfes von den Truppen des Barons Meynier von Oppède. Er selbst besitze
nur eine einfache Kopie davon.
„Das Massaker erstreckte sich über den
gesamten Luberon und fordert über 2000 Opfer. 700 Waldenser wurden auf die
Galeeren geschickt.“ (7) Geschichte der Waldenser - Musée protestant
Bauer Carlos fügte hinzu, dass kein
Galeerensträfling länger als fünf Jahre dienen konnte, dann würde auch den
letzten der Tod der Erschöpfung ereilen.
Präsident Carlos sagte – und dabei hob
er seine Stimme: „Aus Unmenschen sollen Gute werden. Kirche muss deshalb Schule
der Tugend sein.“ Andernfalls könnte sie
aus purem Gold bestehen und wäre doch nicht mehr als des Teufels hässliche
Braut.
Sie, die Katharer, dürften nie
vergessen perfekt zu werden. „Die Perfecti“ nannten ihre Feinde sie höhnisch.
Doch ohne ideale Menschen, gibt es
keine ideale Welt.
Carlos stellte Dr. Carranza seiner
Gemeinde nun offiziell vor, dessen Geschichte sich längst in der Gegend
herumgesprochen hatte.
Diese Zusammenkunft war auf ihn
gemünzt, das war klar. Sie wünschten, dass er Katharer wird. Sie umwarben ihn.
Er könnte tausende Beschützer anziehen.
Das war es. Sie hofften, weil sie
bangten. Seit Menschengedenken klammerten sie sich an jeden Strohhalm.
Welche Ehre für ihn.
Der Präsident gab ihm das Wort.
Dr. Carranza war überrascht. Er blieb
an seinem Platz.
Lediglich, dass er sich erhob.
Er musste zunächst aus innerer
Bewegtheit schweigen. Sein Herz schlug hart, denn was im Luberon und auf den
Galeeren des Grauens geschah sah er deutlich!
Eine unsichtbare Hand glitt über
seinen Kopf, als streichele ihn seine längst verstorbene Mutter. Für Dr.
Carranza galt es geradezu sprichwörtlich: „Nie haben Katharer sich an ihren
Verfolgern gerächt. Sie blieben mitfühlende Menschen unter der Hand der Teufel
der Gewalt.“
Dr. Carranza dankte dafür, dass ihm
das Wort erteilt wurde und sagte mit wenigen Worten, dass er überzeugt sei, das
letztlich die Wahrheit der Liebe siegen wird und eben nicht der Arm der
Brutalität. Er hatte es wiederholt gehört und gelesen, die Katharer haben
diejenigen, die sie misshandelten und dann hier und da, als Gefangene in ihre
Hände fielen, trotz deren Grausamkeiten immer gut behandelt.
Er endete mit den Worten: „Ihr dürft
stolz darauf sein, dass ihr in allen Stürmen durch die eure Eltern gehen
mussten, eure Toleranz bewahrt habt. Ihr
wurdet geschlagen, aber ihr habt nicht zurückgeschlagen.“
Juan Carlos sprach dem Redner seine
Dankbarkeit aus, der nur gut zwei Minuten in Anspruch genommen hatte.
Er, der wie ein Denkmal stand, räusperte
sich. Er müsse das Lob des Dr. Carranza redlichkeitshalber korrigieren. In
herbem Ton setzte er hinzu: „Wir schlugen nur dann zurück, wenn sie uns
umzingelt hatten, wenn uns nur die Wahl blieb auszubrechen oder zu sterben.
Einer meiner Urväter gehörte zu denen, die, unweit von diesem Platz, um 1400,
während einer Andacht von päpstlichen Soldaten in ihrer Felsenhöhle eingemauert
wurden. Unserer Vorfahren einzige Schuld bestand darin, dass sie ihrer
Erkenntnis die Treue hielten. Manchmal legen unsere dort eine Blume hin, zur
ewigen Erinnerung.“
Jimena aber erschauderte, als sie das
hörte. Sie war regelrecht erstarrt. Die
vielen sonst so lebhaften Gesichter derer um sie herum blieben fast reglos.
Nun erhoben sich alle Anwesenden, auch
die Kinder. Sie standen ehrfurchtsvoll schweigend.
Unmöglich schien ihr, sich vorzustellen
was inseits der kleinen von Unmenschen umzingelten Felsenkirche geschah. Sie
fragte sich mit Herzklopfen, was sie erlebt hätte, wäre sie dabei gewesen, als
der letzte Funke des Tageslichtes für die Eingemauerten erlosch. Was geschah
danach, im tiefsten Schwarz, dieses Riesensarges?
Und was war außerhalb? Schlugen sich
die Täter tatsächlich einander anerkennend auf die Schultern? Konnten sie
wirklich glauben, sie dürften sich freuen, ihnen sei ja für jede Teilnahme an
solchen „Kreuzzügen“ ein völliger Ablass zugesichert worden? Kann es sein, dass Papst auf Papst, die
Stirn hatten den Massenmord zu fordern?
Konnte es Christenprediger geben denen
nicht das Gewissen schlug, solcher unheiligen Macht zu dienen?
Ihr Jòse flüsterte, als er sah wie
bleich sie geworden war: „Das Hegemonialstreben hat der Teufel erfunden.“
Nach der denkwürdigen Zusammenkunft der
Katharer-gemeinde blieben draußen viele Paare und Freunde beieinander um zu
plaudern. Es war ein schöner Märzmorgen. Von den Bergkuppen, bis weit hinunter
lag Schnee. Die Sonne schien, Schafe und Kühe grasten unfern von ihnen auf
sattgrünen Weiden. Die heimkehrenden Menschen bewegten sich ruhig. Wunderbar
war die Harmonie der Natur.
Ahmed hatte sich zu einigen etwa
Gleichaltrigen hinzu gesellt.
Jimena und ihr Doktor standen noch
neben der Familie des Juan Carlos, umgeben von vielen Freunden, die dem
spanischen Ehepaar unbedingt Gutes zum Abschied sagen wollten. In diesem Moment
schritt ein Gast der Rebellen-gemeinde auf sie zu. Ein pockennarbiger, etwa
vierzig Jahre alter freundlich lächelnder Mann aus Turin, wie er sich
vorstellte, schüttelte deren Hände. Er sprach sowohl spanisch wie französisch
und gab vor, er sei ein Waldenser auf dem Weg Freunde in Valencia zu besuchen.
Das hätte den Exordenspriester
hellhörig machen sollen.
Doch von der Herzlichkeit des Fremden geblendet
freute er sich zu hören, dass es auch im fernen Umfeld Valencias noch gut
versteckt Waldenser oder Katharer gab.
Eigentlich war das unglaublich und es
schien dennoch wahr zu sein.
Dann kam die Frage von den Lippen des
Turiners, ob Dr. Carranza ebenfalls den Katharern angehöre. Eigentlich war die
Frage bereits beantwortet worden.
„Nein, noch nicht, aber soweit wie ich
sehen kann, decken sich die meisten Ansichten dieser großartigen Leute
weitgehend mit meinen persönlichen Überzeugungen, die ich in den
zurückliegenden Jahren erwarb.“
Jedenfalls alles was er über die Ansichten
und Praktiken der Katharer wusste sprach
sehr für sie.
„In einer Bibliothek zu Marseille liegt ein Almanach und
da steht ein positives Werturteil des
berühmten Bernhard von Clairvaux geschrieben. Bernhard verfasste es
fünfzig oder sechzig Jahre vor dem Mordurteil des dritten Innozenz:
„... Es kann nichts Christlicheres geben, als diese Häretiker... Ihre Worte
stimmen mit ihren Taten überein. Ein Waldenser betrügt niemanden, er bedrückt
niemanden, seine Wangen sind bleich vom Fasten, er isst nicht das Brot des
Müßiggangs, seine Hände arbeiten für seinen Lebensunterhalt.“ (8) Henry, Charles Lea „Geschichte
der Inquisition im Mittelalter Bd. 1, S. 112
Der Turiner Wanderer, der dies
ungerührt hinnahm, wurde ebenfalls zu Tisch gebeten. Die Hausfrau machte eine
entsprechende Geste und sagte: „Ihr könnt es euch daheim gemütlich machen.“
So entwickelte sich am gemeinsamen
Mittagstisch, zwischen Gesang und Schriftlesung, ein langes Gespräch zwischen
beiden Männern, da sie nebeneinander saßen. Dr. Carranza, der dem Fragenden blind
anvertraute, und seinen Namen preisgab, musste dem Turiner schließlich auf
dessen Nachfrage erzählen wie einem ehemaligen Priester zumute ist, als Feind
Roms und Madrids aktiv in eine unsichere Zukunft zu gehen.
Carranza schwärmte von der momentanen
Freiheit die sie allesamt vor allem König Heinrich IV. zu verdanken hätten: „Wir
planen diesem großartigen Land zu dienen. Wir betrachten die Erlaubnis König
Heinrichs, durch sein Land zu ziehen, als Einladung. Wohin sonst sollten wir
gehen?“ (9) Rochau „Die Moriscos in Spanien“,
Leipzig 1853, sowie Sarah Maislinger „Die spanische Inquisition und die
Morisken“
Carranza fügte hinzu, dass er
allerdings beunruhigt sei, dass die französische Regierung bislang nicht im
Stande war, auch die Freiheit in diesen fernab liegenden Tälern zu
gewährleisten.
Das großflächige pockennarbige Gesicht
seines Gegenüber und dessen stahlgraue Augen prägten sich in Jòse Carranzas
Gedächtnis ein. Er wünschte dem „guten“ Mann Gottes Segen und die Erfüllung
seiner besten Wünsche.
„Viel Glück im Land der Freiheit!“ gab
der Besucher abschließend zurück. Und da lag nichts unter diesem Ton das ihn
verriet. Lediglich seine Neugierde schien befriedigt, und so schritt er zwei
Stunden später auf seinen Xbeinen, als harmloser Besucher davon. Jòse schaute
ihm nach und winkte noch freundlich. Und immer noch schien die Sonne über den
Gerechten und den Ungerechten. Sie lächelte allen huldvoll zu.
Carranza hatte in der folgenden Nacht
einen sonderbaren Traum. Er sah einen riesigen, Zähne starrenden Fisch, der das
Maul weit aufsperrend auf ihn zu schwamm. Ihm schien eine Stimme ermahne ihn,
künftig vorsichtiger zu sein.
Aber vor dem Hintergrund des
freundlichen Gesichtes seiner Majestät Heinrich IV., des Schutzengels aller
Glaubensverfolgten Frankreichs verlor das Maul des Verderbens an Bedeutung:
Lang lebe der König!
Der
x-beinige Mann in Valencia
Was nun geschah, sollte der Doktor
bald erfahren: Als der Turiner Spanienpilger an seinem Ziel angekommen war, fragte
er den erstbesten Bürger jenseits der Torres de Serranos, - des Nordtores Valencias,
- der ihm begegnete, ob ihm der Name Dr. Jòse Carranza ein Begriff sei.
Umgehend hörte der pockennarbige, angebliche
Waldenser die immer noch lebendige Geschichte von Carranza, einem ehemaligen Sekretär
des Erzbischofs Don Juan de Ribera, der seinen Treueeid gebrochen und erst vor
einigen Wochen in effigie verbrannt worden sei.
An Stelle des Kopfes der Strohpuppe
die ihn darstellen sollte sei ein Portrait des Exordenspriesters geheftet
worden.
Der eifernde Mann mit den auffallenden
X-beinen, erwiderte nun guten Mutes ziemlich laut: „Das hätte ich erleben
wollen!“ Er wandte sich theatralisch auf dem Absatz seiner verbrauchten Schuhe um
und tat so, als sei er erschrocken. Er wippte mit seinem Finger in die Luft.
Wichtigtuerisch erklärte er: „Ich kenne euren Ketzer, und zwar persönlich. Ich
bin ihm vor einigen Tagen in Frankreich
begegnet.“ Dabei erhob er den Kopf, legte ihn in den Nacken, vom
Scheitel bis zur Sohle ein Elitekatholik, und ein Angeber.
Andere Passanten blieben stehen und
hörten zu. Auf die von ihm provozierte Nachfrage erwiderte der Reisende: „Ich
habe mit ihm, nach einem waldensischen Götzendienst, dem ich beiwohnte eine
Weile gesprochen.
Ich wollte sicher gehen. Dieser Mann
glüht vor Hass auf uns! Er behauptet unsere Mutter Kirche sei die
unchristlichste aller. Er sagte es direkt in meine Augen hinein: Rom und seine
Kurie dient nicht Christus sondern dem Teufel Sol Invictus.“
Carranza habe ihm in aller
Deutlichkeit erläutert: Seit dem vierten Jahrhundert herrsche auf dem
Petersstuhl der Stellvertreter des Sol, dessen Geburtstag er zum Weihnachtsfest
erhob!
„Euer Ketzer betonte, wie gutaussehend
dieser mit einem Glorienschein gekrönte Romgott sei. Man könne ihn für einen
Engel halten... Dieses Ketzers Spott biss mich.“
Ein älterer Franziskanermönch beugte sich
vor, verwundert, geradezu entrüstet fauchte er: „Sie besuchten die Ketzer?“
„Ja, aus gutem Grund. Man muss doch
seine Feinde erkennen, wenn man sie erledigen will. Ich bin ein Soldat der päpstlichen
Garde mit Sonderauftrag. Mein Kurienkardinal will hören was in katholischen
Landen geschieht. Er will wissen was ihr Spanier denkt und begehrt, was die Franzosen
meinen.“
Das wirkte.
Sonderbeauftragter der Kurie!
Und der ging zu Fuß?
„Tarnung!“ lautete die Auskunft
Da erstarrten sogar die
Selbstbewussten.
Ein weiterer Geistlicher der stehen
geblieben war, neigte sein Haupt, denn er war hoch gewachsen. Der Reisende möge
sich näher erklären. Das tat der auf diese Weise zu einem Bekenntnis aufgeforderte
Soldat eines Kardinals: „Ich weiß, wovon
ich rede. Vor zehn Jahren noch, vor meiner Buße war ich ein Waldenser und ein
Waldenser war es, der vor Jahren meine Frau verführte und ein anderer der mein
Geschäft ruinierte. Das werde ich ihnen nie vergeben. Sie sind tugendstolz,
aber in Wahrheit Heuchler. Mich ekelt es, wenn sie sagen, sie seien die „perfecti“,
weil ich sie kenne. Deshalb konvertierte ich und das wurde honoriert!“
Dieses Gespräch wurde in einem grauen
Gebäude fortgesetzt.
Einer der beiden leitenden Inquisitoren
der Landeshauptstadt, ein energischer Herr von kräftiger Statur, mit starken
Falten quer über seinem Gesicht, schloss die Lider nachdem er diese
Behauptungen vernahm. Er schaute einen Augenblick lang Beistand suchend
himmelwärts.
Ein Papier konnte der angebliche
Sonderbeauftragte nicht vorweisen. Er misstraute dem Pockennarbigen, denn
Waldenser brechen ihre Ehen nicht. Streng schaute er dem Dahergereisten ins Gesicht. Der so Beäugte
erwiderte furchtlos: „Doch!, es gibt die
einen, wie die anderen. Und es gibt welche die, wie ich, bei ihnen böse
Erfahrungen sammelten, Schmerzhaftes, das ihnen zugefügt wurde. Perfekt
jedenfalls waren sie nie.“
Im Palais de Riberas sei man vielleicht
an seiner Information interessiert.
In der Tat, dort nahm man die Aussagen
des X-beinigen sehr ernst. Der schwächelnde, nun neunundsiebzigjährige
Erzbischof de Ribera lebte auf, als ihm berichtet wurde, es gebe neue Botschaft
betreffs des Verräters Carranza.
Der ehemalige Büßer, im Sonderdienst der
Kurie war stolz vor einem ehemaligen Vizekönig Vortrag halten zu dürfen.
Wie er das Aussehen des flüchtigen
Verräters beschreiben würde.
„Stattlich, dunkelblondes Haar, langes
Gesicht, gesunde Zähne, kurzer Hals, keine Querfalten auf der Stirn, blaugraue
Augen, gewölbte Lippen... vielleicht mit speziellem Dialekt.“ Der stichelnde Herr
aus Turin wackelte ein wenig mit den Fingern, mehr fiel ihm nicht ein.
Doch Don Juan de Ribera genügte das.
Er pustete wie ein Junger: „Ja, - ja, ja. Das ist er.“ Er hob den hageren Kopf,
dachte anscheinend scharf nach: „In Màlaga! Ja, in Màlaga, da war dieser...“
„Ordensbruder Perez!“ ergänzte ein betresster
Bediensteter geflissentlich, der sich genau erinnern konnte.
Nichts anderes hätte das umdüsterte
Gemüt des Erzbischofs so aufrühren und aktivieren können: „Sofort! Schickt ihm
die Nachricht. Ich befehle die sofortige Suche nach Dr. Jòse Carranza und seine
Inhaftierung. Er ist unser gefährlichster Feind, ein abscheulicher Verächter der
heiligen Mutter Kirche, ein Antichrist vom Scheitel bis zur Sohle. Der böseste,
dem ich je in die Augen sah und der mir ins Gesicht, mit der frechen
Behauptung, hineinlog er sei ein Christ. Eilt Brüder, ehe er wieder im Nichts
verschwindet! Ich erwarte euren Bericht.“
Man eilte.
Und zum ersten Mal seit langer Zeit
genoss er, in der berechtigten Hoffnung auf Erfolg, anschließend seine
Gemüsesuppe. Erzbischof Don Juan de Ribera war zutiefst davon überzeugt, dass
sein Zorn dem lieben Gott gefiel.
Umgehend, noch am Morgen des 02. April
1610, teilte die Inquisitionsbehörde zu Valencia, dem heiligen Oficio zu Málaga
in einem Eilbrief mit, ihr Verdacht hätte sich bestätigt: „Der flüchtige
Ordenspriester Dr. Jòse Carranza begab sich, vermutlich als Anführer einer
Bande kriegerischer Jugendliche, auf Frankreichkurs.“
Nunmehr stünde fest, er habe sich im
März im französischen Pyrenäendorf C., aufgehalten, einem Ort der unter
Beobachtung stand. Er nahm dort zu rigiden Einpeitschern der Katharer und Vaudois
Kontakt auf. Er hätte den dortigen Rebellen Segen gespendet und ungeniert
Spanien und Rom den Untergang versprochen: „Unser Informant will erfahren haben,
dass Carranza sich wahrscheinlich auf den Weg nach Marseille machen wird.
Seiner kränkelnden Frau wegen, wird er per Schiff dorthin gehen um sie im Haus
eines Freundes zu pflegen: „Wir vermuten, dass er eine Rebellenarmee
rekrutieren wird, sobald er bei den, von den Himmelsscharen verdammten,
Calvinisten Vertrauen gewinnt. Das Zeug dazu hat er. Das würde zu seinem von
Gott verfluchten Charakter passen.“
Daraus folge: Jede Möglichkeit ist in
Betracht zu ziehen. Auch die Passagierlisten der Reeder zu Marseille und
Umgebung ab März sind zu kontrollieren -
falls es welche gibt! Umfragen halten. Bilder erneuern und umher zeigen.
Erzbischof de Ribera beglückte der mannhafte
Entschluss des heiligen Oficios zu Valencia: „Eminenz, wir versprechen ihnen, Sie
werden den Verräter lebend auf dem Scheiterhaufen sehen.“
Wir hoffen, - so schrieben sie ans
Dominikanerkloster zu Màlaga - ihr setzt unseren bewährten Bruder Fernando
Perez erneut auf die Spur. Er wird ihn, klug geworden durch traurige
Erfahrung, hierher lebend überführen. Der Herrgott sei mit euch. Und wenn ihr
das Unterste nach oben kehren müsst. Tut es. Geld spielt keine Rolle!“
Dominikanermönch Fernando Perez wurde in
die Kammer des Abtes gerufen.
Mund und Ohren gespitzt vernahm er,
was er gehofft und nicht mehr geglaubt hatte. Er bedankte sich wortreich und
eifrig, weil ihm mit warmen Worten abermals das Vertrauen der wahren Herren
Spaniens zugesprochen wurde. Bescheiden bat der Mann mit dem wachsenden Kropf
darum, dass ihm zwei des Französischen mächtige
Mitbrüder des heiligen Oficios zur Seite gestellt würden, sowie geheimer
militärischer Schutz.
Gewährt! Allerdings erst ab Marseille.
Das hörte der Beauftragte mit
unbändiger Freude, weil er die Schande, versagt zu haben nun abwaschen wird, und
obenauf hieß es zu seinen Gunsten verbindlich: Auch das Büro zu Màlaga werde
das Gesamtvorhaben finanziell unterstützen.
Das hieß, diesmal muss er nicht
darben, während er sich auf den weiten Weg ins Ungewisse macht.
Diesmal wird niemand seiner Kutsche
eine Falle stellen.
Noch standen die Schreckensbilder
lebhaft vor Perez Augen. Jene, die nur wenige Stunden vor dem entscheidenden,
leider missglückten, Zugriff zu Stande kamen, damals im Herbst des Vorjahres:
Wie Würfel in einem Becher wurden sie zu
Viert in der kleinen Behausung der rasenden Kutsche brutal durcheinander
gerüttelt, und dann war es aus, das bereits fast gewonnene große, Siegspiel. Auf
einen Schlag. Es war damals so, als hätte der Blitz des Beelzebubs, zugunsten
seiner Verbrecherbande dreingeschlagen.
Ein Ordensbruder, sowie zwei
altgediente französische Haudegen der Kavallerie
würden ihn fortan, ab Marseille, auf dieser Mission begleiten. Wie ihre
Augäpfel werden sie ihn behüten.
Nun verfügte Fernando Perez über die
dazu erforderlichen Mittel, dem Vorhaben zum Triumpf der Gerechtigkeit und der
geliebten Kirche zu verhelfen.
Es war einfach empörend was sich
gegenwärtig in der gesamten Welt zutrug. Roms Widersacher gewannen an Boden.
Diesen Trend zu stoppen oder wenigsten einen kleinen Beitrag dazu zu leisten
war ihm ein Herzensanliegen.
Wie versprochen wurde Bruder Perez
eine erhebliche Summe Bargeld ausgehändigt, und ein Empfehlungsschreiben, sowie
ein Wechsel, ausgestellt auf den Abt des hochgerühmten Dominikanerklosters
Saint Victor, zu Marseille, die zu überreichen wären.
Perez wurden zwei Karten gezeigt. So
sah es aus, das wunderbare Gebäude, das er aufsuchen sollte: Hoch gebaut mit
seinen ins Auge fallenden Zackenkronen. Wegen der Glaubenskraft seiner Äbte und
Mönche stünde der Konvent, immer noch trotzig wie ein Bollwerk gegen die Antikatholiken
Spaniens, Frankreichs, ja der ganzen ins Wanken geratenen Welt, des Nordens
Europas. Es leuchtete der christlichen
Welt des Mittelmeeres als Symbol der nie endenden Überlegenheit der heiligen
Sache Roms. Noch sei das verdorbene französische Imperium, samt den englischen
und deutschen Reichen nicht für immer an den Zweigehörnten verloren.
Alle Gebete, die in der Klosterkrypta
zu Ehren der allein selig machenden Mutter Kirche gesprochen werden, würden von
der schwarzen Madonna wie seit eh und je
erhört. Fernando möge sich darauf freuen, vor der, in ihr grünes
Festgewand gekleideten, Himmelskönigin, Worte der Dankbarkeit zu sprechen und
seine Bitte um Erfolg vorzutragen.
Dreimal allerdings bläuten die
verantwortlichen Brüder ihm noch ein: Wegen des vom Calvinismus verseuchten
Südfrankreich wäre die Festsetzung eines
Übeltäters auf französischem Boden, und dann die Überführung ihrer Beute
nach Valencia, nicht ungefährlich. Wenn es schief gehen sollte, sei den
Soldaten erlaubt den Übeltäter zu töten. Das sei verzeihlicher Tyrannenmord.
Gott sei mit euch, ihr Helden des
allein wahren Glaubens: So wird es allen ergehen die ihre Hand gegen das
Heiligtum erheben. Nichts anderes, als ein Sieg der ecclesia triumphans, war denkbar, und
zugleich ihr höchstes Ziel.
Das heilige Oficio halte es für
geraten, den festgesetzten Ketzer per Schiff nach Valencia zu schaffen.
Am 8. Apriltag 1610 machte sich der
Dominikaner Fernando Perez mit seinen Papieren und einem kleinen Reisebeutel auf
den Weg, per Schiff, nach Marseille.
Dass er zeitweise der Versuchung
ausgesetzt war, an schöne liebesbedürftige Französinnen zu denken, hielt Perez
für einen zusätzlichen Anreiz – und, für ausnahmsweise verzeihlich. Sollte er
erfolgreich sein, würde Gott ihm nachsehen einmal, nur ein einziges Mal zuzugreifen.
Nur einmal möchte er ein ganzer Mann sein, einer der danach heftig Buße tun
wird um Vergebung zu erlangen. Er sagte sich, auch Dominikaner sind nur
Menschen.
Bruder Fernando schaute hinauf zu den
Wolken als er vom wankenden, knarrenden Steg den ersten Schritt aufs blank
gescheuerte Schiffsdeck des großen, schwarzen Zweimasters setzte. Erfreut und
bewusst roch er den Duft des Meeres. Allen Ernstes meinte er, jetzt, nach den
schrecklichen Enttäuschungen, hätte er mehr Gespür für die Eingebungen des
Heiligen Geistes. Waren die sanft schwebenden Gebilde dort oben, die er in
Gestalt einer Taube sah, nicht bereits ein erstes Anzeichen für die Gunst des
Allmächtigen?
Der
Kapitän ein älterer, kleiner, runder Mann hielt den Kopf hin als der, in seine
neue Ordenstracht gekleidete, Dominikanermönch ihn grüßte. Fernando spendete
ihm die Gunst und den Segen des Himmels und fügte selbstbewusst und aus
Vorfreude hinzu: „Sie haben eine große Mission erfüllt, el señor Kapitän, wenn Sie uns in Marseille gesund an Land
setzen.“
Die bunte Fahne am Schiffsmast wehte
wacker, wie dereinst die Flagge seines Ordens auf der Kutsche. Diese Symbole verhießen
ihm erneut die volle Erfüllung all seiner Träume: Möge ihm dann die Ehre zuteil
werden, zu Valencia den Flammenstoß zu entzünden in dessen funkensprühendem
Zentrum der Feind der Menschheit Dr. Jòse Carranza stehen wird. Diesmal
entkommt er uns nicht.
Im Geiste genoss Fernando Perez was er
in Farbe voraussah.
Dr. Jòse Carranzas Fischerhaus
Carranza wurde begleitet von Jimena
und Ahmed, sowie seinen Freunden. Sie standen aufgeregt an der Reeling ihres
kleinen Segelbootes, auf dem sie zuvor richtig durchgerüttelt wurden weil es
stürmisch war. Bewundernd sahen sie die von kahlem Gelände umgebenen Höhenzüge
der Großstadt und die Pracht der Bürgerhäuser hinter dem Kai. So landeten sie am 10. April 1610 an ihrem
vorläufigen Endziel, wo nahezu zeitgleich ein spanischer Getreidesegler, den
Fähnchen nach zu urteilen, aus Valencia kommend, eintraf.
Dort wird er, zum Glück, über genügend
finanzielle Mittel verfügen.
Im Vertrauen darauf vermochte Carranza
umgehend der Gruppe für ein paar Tage eine billige Unterkunft zu verschaffen.
Vor allem musste Jimena vorläufig das Bett hüten. Sie fieberte und trank Ahmeds
Tee, der aber nicht anschlug. Niemand konnte ihr sagen woran sie erkrankt war.
Dennoch machte ihr Ehemann sich auf den nicht so weiten Weg. Er sei ja binnen
zwei Stunden zurück.
Der etwa fünfundvierzigjährige Reeder Henry
Ballarde saß auf einer braunen Bank, vor seinem beige-farbenen Wohnhaus, Pfeife
rauchend, als plötzlich sein spanischer Freund und ein großer dunkelhäutiger
Mann auf ihn zuschritten. Ballarde erhob sich, strich seinen ansehnlichen
Bauch, dann kratzte er den Hinterkopf und strich über seinen angegrauten
Schnurrbart. Teils erfreut, war er dennoch besorgt, als wollte er feststellen:
Sie fanden ihre Frau also doch nicht?
Dann allerdings entdeckte er das
Leuchten im Gesicht seines alten Freundes: „Bringen Sie gute Nachrichten?“
Dr. Carranza nickte und Ballarde breitete
die Arme aus. Er reichte auch dem Äthiopier die Hand. Der Geste des behäbigen
Mannes folgend betraten sie gemeinsam dessen nur äußerlich bescheiden
erscheinendes Heim.
Seit seinem ersten Besuch als
angeblicher Rompilger, vor nunmehr zehn Jahren und nun als erfolgreicher Heimkehrer
aus Tunis, setzte Dr. Carranza seine Schritte zuversichtlich.
Ballarde hängte sich ein in den Arm
Jòses, als sie den Korridor auf einem braunen Bastteppich entlang gingen. Jòse
möge ihm berichten. Sie gingen ins vordere Büro. Dr. Carranza fasste sich kurz,
obwohl seine Geschichte mehr als dramatisch war. Der Schiffseigner stöhnte auf:
„Mein Gott, sie hatten mehr als nur einen Schutzengel!“ Eine ganze Stunde
verging über das Frage - Antwortspiel. Da erst schlug der Gastgeber die flache
Hand auf die nur leicht gefaltete Stirn: „Zu Tisch, meine Herren!“ Sich
erhebend klatschte und tätschelte er anerkennend den kräftigen Rücken Chicos.
Die beiden erwachsen wirkenden, hellblonden
Töchter des Gastgebers arbeiteten an der Seite ihrer schlanken, freundlichen
Mutter in der Küche: „Emmi, stelle dir vor, es ging gut aus! Gott sei es
gedankt. Ja, ich habe viel an Sie gedacht und manchmal betete ich für ihr
Glück!“
„Ich auch!“ ergänzte Emilie, die
Hausfrau. Die Mädchen senkten errötend ihre Köpfe, hatten auch sie...?
Die sich anschließende Beratung ergab
ebenfalls Gutes. Er werde Chico und Ali anbieten in seiner kleinen Werft zu arbeiten.
Dem Bootsführer und dem geflohenen Berber könne er versprechen, sich bei
Freunden für sie einzusetzen. Wahrscheinlich könnten sie vorläufig als
Hafenarbeiter ihren Unterhalt verdienen.
Und was ihn beträfe: In Klosternähe in
unmittelbarer Nachbarschaft zu den Dominikanern Marseilles befände sich ein
leeres verwahrlostes, schilfgedecktes Fischerhaus, das in seinem Besitz sei und
eigentlich schon abgeschrieben. Wenn Jòse das wohnlich herrichten wolle, dann
könnte er dort mit seiner kleinen Familie einziehen: Geschenkt, vorausgesetzt
Carranza helfe ihm gelegentlich am Schreibtisch!
Und wieder fragten Jimena und er sich,
warum ihnen bislang in diesem Land der
Mäßigkeit fast ein Übermaß an Güte zuteil wurde.
Reeder Henry Ballarde ermutigte sie: „Vielleicht
sieht alles nach ein paar Arbeitstagen schon viel wohnlicher aus. Und ich
meine, ihr Sohn Ahmed sollte sich so schnell wie möglich in die Register der
Universität eintragen lassen. Unsere Arztausbildung ist wohl die Beste in ganz
Europa.“
So hatte Carranza bis zum 14. April nicht
nur das Finanzielle geregelt und dabei angenehm überrascht festgestellt, dass
der Goldpreis sich einigermaßen in der Waage hielt.
Knapp zwei Wochen brauchten die
Carranzas um aus einer Hütte ein wahres Kleinod zu schaffen.
Jimena hatte sich erholt und die aus
Lehm bestehende Vorderfront weiß gestrichen , sowie hier und da mit schönen bunten
Blumenmalereien versehen. Vergleichbares gab es sehr selten.
So war ihr Gemüt beschaffen. Sie lebte
zum ersten Mal in Harmonie mit ihren eigentlichen Wünschen. Sie hatten ja nie
zuvor so eng Tag und Nacht zusammengelebt, obwohl sie dreizehn Jahre
miteinander verheiratet waren. Jòse
erwies sich als perfekter Ehemann, als Kavalier der ihre Wünsche höher setzte,
als die eigenen. Er war das, was sie wollte. Das half ihr wieder richtig auf die
Beine zu kommen. Und es war auch umgekehrt: Alles was sie tat oder sagte,
empfand er als ermutigend und angenehm. Ohne sich dessen bewusst zu sein,
handelten sie so, wie ein banales und zugleich weises orientalisches Rezept für
eine glückliche Ehe vorschreibt: Man liebt einander und sagt und beweist es dem
anderen - täglich.
In den beiden Wochen der Schwerarbeit waren
an nahezu jedem Morgen, immer um etwa zehn Uhr, zwei Männer, manchmal drei
Dominikaner, aus den sozusagen nebenan gelegenen Toren des weltberühmten
Klosters Saint Victor daher gekommen. Sie wurden gelegentlich von zwei Reitern
begrüßt die sie begleiteten. Hin und wieder winkten sie den in kleiner
Steinwurfentfernung am Fischerhaus arbeitenden beiden Männern zu, einem
vollbärtigen, langhaarigen Kräftigen und seinem gleichstarken Knecht einen
tiefschwarzen Hünen. Gelegentlich nickten sie auch Jimena zu, immer sehr freundlich,
wenn sie im kleinen Vorgarten etwas pflanzte oder den Garten wässerte. … Forts. folgt
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