Montag, 24. Juli 2017

Wie es in der DDR war. (1) von Gerd Skibbe


Trotz erzwungener Beteiligung an Fischveredlungsprojekten des Kooperationsverbandes “Qualitätsfisch der Mecklenburger Seenplatte” dem wir Neubrandenburger Binnenfischer pflichtgemäß anzugehören hatten, war uns gelungen trotz Überweisung von sechshunderttausend Mark, bis 1975 weitere achthunderttausend Mark anzusparen.
Diese Summe hätte ausgereicht, um ein mittleres Wirtschaftsgebäude hinzustellen, sowie zusätzlich eine neue Spundwand rammen zu lassen, die wir ebenfalls dringend benötigten.
Aber Geld ist nicht alles. Es floss nach der zweiten Agrarpreisreform reichlich. Nur wir konnten dafür nicht kaufen, was wir wünschten oder benötigten. Wir mussten unsere finanziellen Mittel in zwei Kategorien teilen.
Es gab dem Grunde nach verfügbares und nicht verfügbares Eigenkapital.
Wir hätten zehn Millionen auf dem Betriebskonto haben können, solange sie nicht in den Bilanzen der zuständigen Kreis- oder Bezirksverwaltungen vorkamen, entsprach ihr effektiver Wert Null. Das war seitens der Obrigkeit so gewollt.
Sämtliche auf dem Akkumulationsfonds geparkten betrieblichen Finanzen konnten erst nach und durch einen vor dem Finanzministerium der DDR zu verteidigenden Gesamtplan zum Zahlungsmittel befördert werden. Aus gutem Grund. Es handelte sich um Spielgeld mit Nullwert.
Statt wie früher für eine Tonne Kleine Maränen 1700,-Mark einzunehmen, erhielten wir nun über 9100,-Mark. Das war mehr als das Fünffache.
Anstelle von früher 3,50 Mark je Kilogramm Karpfen, bekamen wir 14,00 Mark und das unter Beibehaltung der Endverbraucherpreise (EVP), für den Kunden.
Selbstverständlich konnte das nicht gut gehen. Niemand dreht an der Preisschraube willkürlich und zugleich ungestraft.
Die DDR-Finanzwissenschaftler, die gehofft hatten ihre Agrar- und Industriepreisreform sei die rettende Idee, forcierten damit lediglich die bereits angelaufene, sich verselbständigende, sozialistische Inflation.
Wir erhielten jedenfalls, trotz unserer guten Finanzlage keine Baukapazitäten vom Rat des Bezirkes. Es gab zwar Versprechungen, weil wir so nicht weiterhausen konnten, aber eben keine Planziffer dafür.
Wir fertigten unsere Reusen und Fanggeschirre immer noch in derselben alten Bretterbude an, durch die der Wind pfiff.


Der Dachdecker und Bauingenieur Jürgen Krüger gab mir, als wir wieder einmal gemeinsam zur Nacht fischten, den guten Rat: „Baut doch nach §5, Landbauordnung.”
„Und das wäre?”
„Ihr baut in Eigeninitiative!” Beim Rat des Bezirkes wurde unser Antrag positiv gewertet. Sie gaben uns grünes Licht. Die Ratsleute freuten sich über jede Eigeninitiative.
Das war ja bekannt, einer der will, kann zehnmal mehr erreichen als der, den sie antreiben müssen.
Zunächst musste einem von uns der Hut aufgesetzt werden. Ich wollte ihn unbedingt haben und bekam ihn auch.
Dann berieten wir im Vorstand, wie viel Aale ich zur Beschleunigung des Vorhabens, Bau einer Betriebsstätte, zur freien Verfügung hätte.
Falls es partout nicht weiterginge, beabsichtigte ich mit Räucheraalen nachzuhelfen. Natürlich war das nicht ganz sauber. Andererseits wurde niemand betrogen, denn den Aalplan hatten wir erfüllt.
Rigoros wollte ich das kuriose Geschäft betreiben, allerdings in keinem Falle anders, als ausschließlich zugunsten des Betriebes. Ich wollte vom Sozialismus nicht betrogen werden, also betrog ich ihn auch nicht. „Hundert Kilo höchstens.“, sagte Reiner, der Vorsitzende. Mir schien ich käme mit fünfzig hin.
Schließlich sollten es zweihundert werden.
Das erste Problem bestand darin, dass ich niemanden fand, der umgehend die zum Zweck der Baugrunduntersuchung erforderlichen Bohrungen auf unserem Torfgelände ausführen würde. Wir vermuteten, wir stünden über ungefähr fünf Meter Torf, doch ob sich darunter eine tragfähige Sandlinse befand konnte niemand sagen.
Hier und da gab es Achselzucken. Keiner machte mir Hoffnung, dass er für uns bohren könnte. 
Dann ging ich zu einer Firma in der Katharinenstraße, Neubrandenburg. Wieder hing das Kinn des Zuständigen tief herunter. Das kannte ich schon. Sie waren allesamt ausgebucht.
Deshalb lamentierte ich nach Kräften: „Wir haben es satt in der Hütte am See zu sitzen und Wintertags zu frieren.”
„Andere Leute frieren mitunter auch!”
Mutig schoss ich hinterher: „Aber ich habe Räucheraale zu bieten!”
Kopfrucken. 
„Wie bitte?”
„Na, ja, wir fangen welche, wenigstens die Grünen...”

Der betreffende Brunnenbauchef schaute mich noch einmal an, und ich hielt dem argwöhnisch prüfenden Blick stand.
Kess lachte ich ihm ins runde Gesicht: „Für jeden Mann ein Kilo Räucheraale gratis.”
„Moment mal!”, lautete die nicht unfreundliche Erwiderung. „Ich muss mal in den Kalender sehen... tja da haben wir,... da hätten wir,... sagen wir nächste Woche...”
Sie bohrten von Hand, primitiv wie vor hundert Jahren und stellten fest, dass wir sogar über sechs Meter Torf bauen mussten. Die Bohrkerne mussten analysiert werden.
In einem Labor im Industrieviertel gab es ebenfalls freie Kapazitäten, weil ich Gutes bieten konnte.
Kein Problem die fünfundvierzig Stück, zehn Meter langen Stahlbeton-Rammpfähle zu kaufen. Rammkapazitäten standen uns desgleichen zur Verfügung, wenn auch nicht sofort.
Aber Steine ließen sich nicht auftreiben, jedenfalls nicht genug. 
In fünfzig Kilomter Entfernung in Eggesin durften wir sie selbst herstellen. Mit Hilfe einiger duftender Räucheraale erhielten wir fachliche Unterstützung. So ging es Schritt für Schritt voran. 

Auch die Eisenbieger mussten nicht überredet werden, da wir zur Ausführung der Flechtarbeit die Genehmigung erhielten, Fachleute für die Feierabendtätigkeit zu werben und sie leistungsgemäß zu entlohnen, wobei die Seitenblicke der Mitglieder der Feierabendbrigade schon im voraus in eine gewisse Richtung gingen, weil dort die Boote mit den Fächern für lebende Aale standen, verbunden mit einem gewissen Versprechen unsererseits. So weit so gut.
Niemand konnte uns jedoch für das Gießen des Fundamentes dreihundert Kubikmeter Beton am Stück liefern. Bis eine bundesdeutsche Firma fünf Monate später in unsere Stadt einen Großmischer lieferte. Die Probemischung gehörte uns.

Und nun ein Denkmal:
Wir fanden zu guter Letzt niemanden der uns die Dachbinder verkaufen konnte. Dreißig Festmeter Holz mussten her. Ich glaubte mit meiner Methode auch diese Hürde nehmen zu können.
„Glaube macht selig, backen macht mehlig!” den Kinderreim hörte ich bis zum Verdruss. An jenem Nachmittag im Spätherbst ’78 verließ ich das weiße Gebäude der Bezirksverwaltung am Friedrich-Engels-Ring mutlos. Weder wortreiche Überredung noch Betteln, noch meine massiven Bestechungsversuche hatten mir den ersehnten Erfolg beschert. Da trollte ich mich nun niedergeschlagen davon, besaß zwar die Nagelpläne und die Zeichnung für das planmäßig mit Eternitplatten zu deckende Dach, hatte Räucherdelikatessen und konnte mit alledem nichts anfangen.
Ärgerlich rollte ich meine Papiere zusammen und fluchte, weil ich mit leeren Händen dastand.
Vor Wut hätte ich explodieren können.
In diesem Augenblick sah ich einen stattlichen, mit geflochtenen Achselstücken geschmückten Forstmann auf mich zukommen.
Der kam mir gerade recht. Wie durch ein Zielfernrohr visierte ich ihn durch meine dreiviertelmeterlange Rolle an. Als er bis auf zwei Meter herangekommen war, fuhr ich ihn an: „Euch Förster müsste man samt und sonders erschießen!” 
Er stutzte. Er musterte mich. „Genosse, was hast du denn für Probleme?”
Und wie mitfühlend er das sagte! „Genosse!”
Zum ersten Mal, wie mir schien, verstand mich einer und litt mit mir.
„Ich muss spätestens im November das Dach auf unser neues Wirtschaftsgebäude setzen. Wir haben nach § 5 gebaut. Niemand in deinem Haus gibt mir ein Holzkontingent. Uns wird der Winter dazwischenkommen.”
„Wo kommst du her?”
So und so!
„Komm mal mit!”
Es war mir zumute, als wäre ich in die Kindertage zurückversetzt worden und Mutter hebt mich hilfeschreienden Knirps liebevoll vom kalten, nassen Fußboden auf.
Genosse Skibbe!
Wären alle Menschen der Welt so wie der da, mit seinen dicken Achselklappen...
Ich las das Schild an seiner Tür. Nur wenige Sekunden telefonierte er, der Oberlandforstmeister Siegfried Schreib, mit irgendjemand.
„Also dreißig Festmeter Lärche oder Fichte! Die kriegst du! Für deinen Betrieb allemal.”
Das war es, was die Besten unter den ‘Kommunisten’ wollten, Solidarität. „Wann bekomme ich das Holz?”
„Eingeschlagen ist es schon... muss nur noch gerückt werden.” Es läge da und da in den Tiefen der Neustrelitzer Forsten. „Du kannst die Stämme ab übermorgen abfahren lassen!”
„Wir fahren übermorgen nach Leningrad, Betriebsausflug.”
Er schmunzelte, statt mich auszuschimpfen.
Ich lachte innerlich, das war die Sorte Leute, die ich mochte.
„Wird dir die Zeit knapp, was? Muss ja noch geschnitten werden und noch genagelt, nich?”
Ich nickte ein bisschen hilflos, vielleicht tauschen sie. Er winkte ab. „Keine Experimente! Ich lasse dir die Stämme nach Zwiedorf ins Sägewerk schaffen!” Er setzte sich an einen anderen, mit Papieren übersäten Schreibtisch, schob den Aschenbecher beiseite, nahm einen Kalender zur Hand und schrieb etwas auf. „Hier hast du den Termin für den Schnitt.”
Mit Schrecken sah ich, das war die hohe Zeit für die Nachtfischerei auf Maränen.
Meine Reaktion fiel ihm auf.
Er fragte nicht lange. Nur ein kurzer Blick.
„Ich sehe schon. Diesmal fahrt ihr in den Kaukasus. Hier hast du einen neuen Termin fürs Sägewerk.”
„Dafür gebe ich dir fünf Kilogramm Räucheraale!”
Er schüttelte den geröteten, breiten Kopf. „Deinen Aal will ich nicht. Es war mir eine Freude, dir helfen zu können.”
„Ach was.”, wehrte er bescheiden ab, als ich ihn lobte und mich bedankte: „Sieh zu, dass du das Dach draufbekommst!”
Mitte Januar, einen Tag bevor der Winter richtig zuschlug, zogen wir in unseren durch Nachtspeicheröfen herrlich beheizten Neubau ein. Es gab im Sozialismus tatsächlich noch Freude.

Aber,  hätte niemand für uns gebohrt, wären wir immer noch aussichtslose Leute mit unerfüllbaren Wünschen geblieben, ja, wenn da nicht die Räucheraale gewesen wären.
Ein Hoch auf  die DDR, die mich nie wegen Bestechung belangte, obwohl es einige Spatzen gab, die das von den Dächern pfiffen.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen