Schritte durch zwei Diktaturen (1)
Gerd Skibbe
nach
meinem 1995 im Neustrelitzer Lenover-Verlag veröffentlichten Buch
"Konfession: Mormone" (hier in geänderter Fassung)
1932
zogen meine Eltern mit mir zweijährigem Knirps nach Wolgast in
Vorpommern. Nach langer Zeit des Prüfens ließ mein Vater Wilhelm
Skibbe sich noch im selben Jahr taufen. Er hatte ernsthaft nach mehr
Wahrheit getrachtet und bei den “Mormonen” gefunden was er
suchte, auch wenn ihn die ersten Vorträge, die er in der Gemeinde
Wobesde, Hinterpommern hörte, langweilten.
Rechts auf Vaters Schoß |
Das
Bild, das sich ihm in den ausgehenden 20ern bot, hatte ihn zu der
Erkenntnis geführt, dass die Parteien niemals halten konnten was sie
versprachen und dass das herkömmliche Christentum nichts weiter war,
als höchstens ein Zerrbild der ursprünglichen Kirche. – Und das
Schlimmste, ihre Repräsentanten waren außerstande das zu ändern!
Ihn
störte sehr, dass die feindlichen Armeen des 1. Weltkrieges sich
nahezu hundertprozentig aus Christen rekrutiert hatten. Das hielt er
für den Ausdruck von unheilbarer Entartung zumindest der
großkirchlichen Systeme. Christen mussten die anstehenden Probleme
besser lösen können, statt mordend aufeinander einzuschlagen.
Der
protestantische Verfasser des Jugendlexikons Religion,
rororo, Rowohlt 1988, Pastor
Hartwig Weber beschreibt Jahrzehnte später die Situation wie sie
damals wirklich war:
„Jubelnd begrüßten protestantische und katholische Theologen den
Ausbruch des Ersten Weltkrieges: ‘Hei wie es saust aus der Scheide!
Wie es funkelt im Maienmorgensonnenschein! Das gute deutsche Schwert,
nie entweiht, siegbewährt, segensmächtig. Gott hat dich uns in die
Hand gedrückt, wir halten dich umfangen wie eine Braut….komm
Schwert, du bist mir Offenbarung des Geistes... im Namen des Herrn
darfst du sie zerhauen.’ Die Soldaten sollten an der Front ‘im
Vertrauen auf den heiligen, gerechten Gott’ bis zum Letzten
kämpfen. ‘Wir kämpfen mit Gott und für seine Sache.’ Denn ‘es
ist von oben wie heiliger Geist über das deutsche Land gekommen ...
nie hat unser alter deutscher Gott seine Deutschen so gut und groß
gesehen... Nationalismus, Militarismus und Religion verbanden sich
miteinander. Die Kriegsbegeisterung überwältigte vor allem die
Protestanten... Ist Gott für uns, wer mag wider uns sein?“Dieses arroganten Geistes wegen mochte mein Vater es nicht, wenn Pastoren von der Kanzel herab zum Volk da unten sprachen. Außerdem verbreiteten sie Gefühlskälte und ihre Grundaussagen bissen sich. Allzu oft ließen sie die braun und schwarz uniformierten Männer mit ihren wehenden Fahnen hinein in die Gotteshäuser, während wenige andere sich solchen Zauber verbaten.
Mit
den Reden und Zielen der Kommunisten hatte Vater sich schon gar nicht
anfreunden können. Sie agierten in ähnlich rauem Geist. Sie
schrieen zuviel und zu laut.
Mutter
gehörte noch der römisch-katholischen Kirche an. Deshalb tauchte
auch bald ein Pfarrer der örtlichen Gemeinde bei uns daheim auf.
Der
Geistliche äußerte gegenüber meiner damals sehr kranken Mutter, es
mache ihn nicht gerade glücklich zu sehen, dass sie in Mischehe
lebte, zudem mit einem Mormonen. Wenn der Schäferhund, den der Herr
Pfarrer vor der Haustür angebunden zurückgelassen hatte, sich nicht
laut eingemischt hätte, wäre es vielleicht nicht zur Verschärfung
der Situation gekommen. Das unschuldige Tier bellte und knurrte, was
Vater nicht leiden konnte. Da sei die Tür, hatte er dem Mann im
seinem schwarzen Gewand recht barsch geantwortet, obwohl er kein Mann
für das Grobe war.
Der
Pfarrer lief polternd die Treppen hinunter. Das muss sich 1934
ereignet haben, ein Jahr nach der Machtergreifung durch Adolf Hitler.
Diese
Szene gehört zu meinen ältesten Erinnerungen.
Damals
gab es im 100-Kilometerumkreis lediglich die Gemeinden Stettin,
Demmin und Neubrandenburg. Sie zu erreichen war schwierig.
Spätestens
1936 kamen die ersten Mormonenmissionare in meiner Heimatstadt an.
Johannes
Reese, ein Freund meines Vaters, mochte die jungen Männer. Dennoch
protestierte er zunächst: “Wenn Sie missionieren wollen, dann
begeben Sie sich doch bitte nach Afrika! Europa ist seit rund tausend
Jahren bekehrt!”
Elder
Beatty, oder Holt, stellten ihm die Frage, ob er glaube, dass alle
Christen Christen sind. Das ließ ihn aufhorchen.
Ich erinnere mich daran, wie ich in diesem Jahr als sechsjähriger mit einem Hakenkreuzpapierfähnchen zu meinem Vater gelaufen kam. Auf der Wilhelmstraße war ich hinter den schneidigen, schwarzen SSlern mit ihrem klingenden Spielmannszug her gerannt. Gejauchzt hatte ich, weil der Tambourmajor seinen silberbeschlagenen, kordelbesetzten Stab zum Überschlag so wunderbar hoch in die Luft geworfen hatte. Mir kam es vor, als wäre die ganze Stadt darüber ebenso entzückt wie ich gewesen Als ich heimkam, noch erfüllt von dem rauschenden Erlebnis, sah ich Vater ungerührt wie ein Denkmal in der Ecke des Sofas sitzen, vertieft in seine große Bibel. Er schaute mich eine Weile an, schüttelte dann über mich und meine schöne bunte Fahne den großen, kahlen Kopf. Er winkte mich heran und nahm mir das gute Stück einfach weg. Das stimmte mich sehr traurig.
Wenig
später schlug er mich zum ersten und zum einzigen Mal; weil ich die
Ladentür unseres Hauswirtes, des Juden Eckdisch, aufgerissen und ihn
als “Saujuden” beschimpft hatte. Der dicke, sonst so joviale Mann
und Vater zweier erwachsener Kinder muss augenblicklich zu meinem
Vater gerannt sein: “Ihr Bengel hat mich beleidigt.” Vater legte
mich über sein Knie. Er zog seinen Filzpantoffel aus und schlug zu.
Es klatschte, tat aber nicht weh. Ein für allemal skandierte er die
wenigen Worte in mein Bewusstsein: “Alle Menschen sind Kinder
Gottes!”
Später
erfuhr ich durch meine Mutter, dass in jenen Wochen zwischen beiden
Männern ein sonderbares Gespräch stattgefunden hatte. Mein Vater
hätte ihn gewarnt: “Herr Eckdisch, verkaufen Sie ihre Häuser,
nehmen Sie ihr Geld und versuchen Sie nach Palästina zu gehen.
Kaufen Sie sich ein! Gehen Sie ins Land ihrer Väter. Sie müssen ja
doch dorthin auswandern. Lesen Sie, was der Prophet Hesekiel vor
zweieinhalbtausend Jahren vorausgesagt hat.” Er hielt seinem
Hauswirt die Bibel vor die Nase. “Da steht es geschrieben! ...
Siehe, ich will die Kinder Israel holen aus den Heiden, dahin sie
gezogen sind, und will sie allenthalben sammeln und will sie wieder
in ihr Land bringen...” (Hes.37,21). Er zeigte ihm andere
Schriftstellen, alle mit demselben Tenor. Doch all das beeindruckte
den gutmütig dreinschauenden, ältlichen Kaufmann wenig. Er winkte
ab.
Als
mein Vater sagte, der Mormonenprophet Joseph Smith hätte schon vor
einhundert Jahren gelehrt, der Zeitpunkt der Sammlung Israels stünde
unmittelbar bevor und er habe einen bedeutenden Juden, der Mormone
geworden war, Orson Hyde, 1838 nach Palästina geschickt, um das Land
zum Zwecke der Heimkehr der Juden zu segnen, da lächelte der
rundliche Mann nachsichtig: “Wissen Sie”, sagte er, “wir Juden
haben es doch gut hier in Deutschland!" Da verwies Vater ihn auf
Hitler und sein Programm. " Nein!" sträubte sich der Jude,
"wir haben bisher sämtliche Pogrome überstanden, wir überleben
auch Herrn Hitler.” Außerdem genieße er als deutschsprechender
Jude polnischer Nationalität Schutzstatus. Die Welt sei so
zivilisiert heutzutage.
Wahre
Prophetie und falsche Prognose standen scharf gegeneinander.
Einige
Monate später drang die schwarze SS ins Haus Wilhelmstraße 53 ein.
Binnen Sekunden brach der Damm. Es gab keinen Schutzstatus mehr,
sondern nur eine Anzahl Leute, die sich viel darauf zugute hielten
gehorsame Gefolgsleute ihres Führers zu sein. An ein Gesicht kann
ich mich erinnern und wie ich meine, sogar an seinen Namen. Der Mann
mit seiner schwarzen Schirmmütze und dem silbern blinkenden
Totenkopfsymbol schaute mich nur kurz und kalt an.
Die
Wolgaster SSler schoben die vier verängstigten Mitglieder der
Familie Eckdisch vor sich her. Der Lastkraftwagen stand wartend da.
Herr
Eckdisch sah noch einmal auf sein schönes, großes Haus.
Irgendwann
im Verlaufe der nächsten drei Jahre müssen die polnischen Juden in
einem Stadtteil Warschaus angekommen sein.
Denn
aus diesem Ghetto gelangte im Kriegswinter 1944/45 eine Postkarte vom
Sohn unseres ehemaligen Hauswirtes zu uns. Der Text lautete: “Vater
tot, Mutter tot, Lotte tot. Jakob.” Wie oft werden sie an die gut
gemeinten Worte des Mormonen Wilhelm Skibbe zurückgedacht haben.
Als
Mutter neunundzwanzig wurde, 1937, wurde sie von der
Universitäts-Frauenklinik Greifwald in eine Lungenheilstätte
eingewiesen.
Sie
litt an einer offenen Lungentuberkulose und die Röntgenaufnahmen
zeigten sieben bohnengroße Löcher im linken Lungenflügel. Als
einzig machbare Sofortlösung bot sich die Stilllegung der
erkrankten Organhälfte an.
Mein
Vater fürchtete das Schlimmste und so schickte er eine Karte nach
Demmin wo sich die nächsten Missionare befanden: Gebt meiner Frau
bitte einen Krankensegen.
Bruder
Latschkowski betrat das Zimmer in dem meine Mutter lag. Sie winkte
ihm zu. Er zuckte die Achseln. “Ich weiß nicht wer sie sind.”
Mutter
klärte ihn auf. “Ich habe sie im Traum gesehen.”
Als
Vater hinzukam bedankte er sich bei dem Elder. Aber der erwiderte,
von einer Postkarte wüsste er nichts. Er sei hergekommen, weil er
das dringende Gefühl gehabt hätte in dieses Haus gehen zu sollen
und nach Julianne Skibbe zu fragen.
Da
war allen Beteiligten klar, dass Gott ein Wunder geschehen lassen
würde. Nach der Segnung wurde Mutter abermals durchleuchtet. Als
dann die Fachärzte beieinander saßen um sie und sich auf den
Eingriff vorzubereiten, sah Mutter wie die klugen Männer ihre Köpfe
schüttelten. Sie verglichen die beiden Röntgenaufnahmen
miteinander.
“Ein
medizinisches Wunder! Wo sind die Entzündungsherde, wo die Löcher?”
Sie
und wir Kinder wurden noch jahrelang danach regelmäßig untersucht.
Mutter hatte in den folgenden 50 Lebensjahren nie wieder Probleme mit
ihrer Gesundheit.
Was
aus uns Kindern geworden wäre, wenn sie uns so früh verlassen
hätte, wage ich nicht auszudenken
Wenige
Jahre nach der Verhaftung der Familie Eckdisch erwogen meine Eltern
umzuziehen. Vater wählte wegen der besseren Geschäftslage die
Langestraße. Als er die Räume besichtigte, lernte er die
Mitbegründerin des Spartakusbundes Frau Martha Stolp kennen, die
dann für einige Jahre unsere Flurnachbarin wurde.
Schon
bald geriet er mit der Kommunistin in Streit.
Sie
warf ihm Unverantwortlichkeit vor, da Mutter, trotz ihrer gerade
überwundenen Tuberkuloseerkrankung, zum fünften Mal schwanger
geworden war. Frau Stolp, die Witwe eines Kunstmalers, ehemalige
Lyzeumslehrerin und präzise denkende Politikerin lebte mit ihrem
dreißigjährigen Sohn Fritz in äußerster Armut. Ihre Gesinnung war
stadtbekannt. Wahrscheinlich ließen die Nazis sie nur in Ruhe, weil
sie zu alt geworden war. An ihrem Sohn allerdings wollten und sollten
sie sich noch rächen. Beide waren furchtlose Leute, die jeden
Andersdenkenden, wenn sich dazu eine Gelegenheit bot, augenblicklich
attackierten. Sie sahen in Vater einen Opportunisten, sonst stünde
er längst auf ihrer Seite. Ein Kleinhandwerker wie er müsste mit
den Ausgebeuteten der Welt fühlen und müsste eigentlich wissen, wo
er hingehört. Sie lachten ihn aus, als er den Spieß umkehrte und
sagte, sie würden wie er Mormonen, wenn sie wüssten, was er weiß.
Da er niemals auch nur eine Stunde Griechischunterricht genossen
hatte und den Homer nicht kannte, weder Plato gelesen, noch jemals
andere Klassiker wie Marx und Hegel, hielten sie ihn für nicht
berechtigt, sich philosophisch zu äußern.
Erst
als Vater sagte, dass der Mensch ein Doppelwesen ist, Körper und
unsterblicher Geist, nahm Frau Stolp ihn ernst. Denn die Lehrerin
glaubte mit den alten Griechen an die Unsterblichkeit. Ihr Sohn wies
dies weit von sich. Er war überzeugt, weiter als seine Mutter
entwickelt zu sein. Er vertrat einen strikten Atheismus.
Die
Wortgefechte fanden häufig auf dem nahezu finsteren Flur des uralten
Wohnhauses statt.
Rosa
Luxemburg war die Frau, die Mutter und Sohn Stolp liebten. Mitunter
bekamen wir mit, wie sie mitten in der Nacht stritten. Sie zankten
sich ohne Rücksicht darauf, ob jemand sie hören konnte oder nicht.
Es ging meines Wissens um marxistische Glaubensfragen. Zumeist waren
beide Stolpes in der Argumentation sehr spitz. Mich konnten sie
meiner Frechheit wegen nicht leiden, ich sie auch nicht. Noch war ich
zu jung, um ein Nazi zu sein, aber ich befand mich auf dem Weg dahin.
In den Lesebüchern zeigte man mir, dass ein guter deutscher Junge
die Hakenkreuzfahne liebte. Das war für mich sowieso
selbstverständlich. Meine Eltern bemerkten zu spät, dass mich der
Zeitgeist langsam aber sicher für sich einnahm.
Häufig
kamen die Mormonenmissionare zu uns. Ich mochte sie, aber ihre Reden
interessierten mich nicht. Nicht selten schüttelten sie die Köpfe
über mich, vor allem wenn sie mich während der Versammlung, die sie
bei uns daheim abhielten, beobachteten. Ich wackelte nämlich mit den
Stühlen oder zappelte zumindest mit meinen unruhigen Beinen. Obwohl
die nobel gekleideten Amerikaner so gesittet dasitzen konnten, wusste
ich, dass sie selbst auch nicht “ohne” waren. Sie hatten meinen
Bruder Helmut, ein Würmchen von vielleicht fünfzehn Kilogramm
Nettogewicht, bei Abwesenheit meiner Mutter quer durch die gute Stube
geworfen. Geborene Basketballspieler fangen sicher. Aber wer konnte
das schon wissen?
Ich
höre immer noch Mutters Entsetzen: “Was macht Ihr da?” Was so
ähnlich klang, als würde sie gerufen haben: Seid ihr denn total
verrückt geworden?
So
etwas sagt man nicht zu Missionaren, selbst dann nicht wenn sie erst
zwanzigeinhalb und trotz gewisser zeitweiser Ernsthaftigkeit noch wie
die Kinder waren. (1)
In ihrer kleinen Mietwohnung bei der
Eisenwarenhändlerin Frau Spalding in der Wolgaster Langenstraße,
fotografierten sie sich gegenseitig. Einer lag mit dem Rücken auf
dem Federbett, mit verzerrtem Gesicht, bewaffnet mit einem großen,
spitzen Küchenmesser, weil sich über ihm, in einem
überdimensionalen Spinnennetz ein Pfannkuchen befand, dem sie mit
geknickten Hölzchen eine Anzahl Beine verpasst hatten. “Deutsche
Spinnen” schrieben sie auf die Rückseite des Bildes, das ich
selbst gesehen habe, und schickten es in die ferne Heimat in den
Felsengebirgen.
Es
gibt ein Foto auf dem die Missionare Rudolf Wächtler und Arno
Dzierzon zu sehen sind, die letzten die Hitler damals, 1941, seinem
Heer noch nicht einverleibt hatte. Es zeigt auch meinen Vater und
mich. Bis zum Hals hatten sie mich eingegraben und während sie den
sonnenerwärmten Strandsand über mich häuften, hörte ich ihnen
unwillkürlich zu. Mir prägten sich die Worte ein: “Wir hatten es
in unserem Vorherdasein satt, die Herrlichkeit Gottes zu sehen. Wir
konnten uns darüber nicht freuen.”
Einer
der beiden Elders musste es geäußert haben.
Ich
ahnte mehr als ich verarbeiten konnte. Die großartige Mormonenlehre
vom intelligenten Vorherdasein des Menschen vor Erschaffung des
Planeten Erde sollte mich später noch sehr beschäftigen.
Jahrzehnte
später –etwa 1985 – saß ich im Lesesaal der Berliner Bücherei,
gebeugt über einen Band des Handwörterbuches für Theologie und
Religionswissenschaft.
Ich
war ungemein überrascht, als ich unter dem Stichwort Origenes las:
“Im Urzustand waren alle Logika - alle Engel, Menschen, Dämonen -
körperlose Geister und als solche Götter, die dem Logos (- dem
Wort - dem Christus -) anhingen. Sie waren mit ihm durch den Heiligen
Geist verbunden und gaben sich mit ihm der unmittelbaren Schau des
Vaters hin. Erlahmung der geistigen Schwungkraft und Überdruss an
der Gottesschau führten zum Sündenfall… deshalb schuf Gott das
Weltall….”
Ich
saß überrascht und erfreut da und fand weitere 28 Punkte die nur
von Origenes und von den Mormonen geglaubt werden... Welche
Bestätigung meines Zeugnisses, welche Bekräftigung der Worte des
Herrn an Joseph Smith : "Suchet Weisheit aus den besten
Büchern..." Vor 1800 Jahren war das, was ich dort in einem
evangelischen Lenrbuch entdeckte, allgemeine Christenlehre gewesen!
Exakt
das waren des Missionars Worte! Ich fühlte mich wie elektrisiert.
Der
Satz: “An dem Tag, da Du Adam, davon isst, wirst Du sicherlich
sterben” bekam Sinn. Das Aus-der-Gegenwart-Gottes-getrieben-
werden, bedeutete “zu sterben”. Jakobs Lehren verdeutlichten mir
das: “Und weil der Mensch in den gefallenen Zustand geraten ist,
ist er aus der Gegenwart des Herrn ausgetilgt worden.” 2. Ne 9. 6
Das
war ja die Lösung für alle meine Probleme mit der Evolutionslehre!
Ich schlug mir die Hand vor den Kopf und las LuB 93, Vers 33. Da
stand es Schwarz auf Weiß: Der Mensch ist Geist! Deshalb wird im
Buch Mormon zweimal der Hinweis gegeben, dass das Gericht und die
Erlösung sich nur auf die Nachkommen der Familie Adams ( nicht der
Steinheimmenschen oder den Neandertaler) erstreckt…2. Ne. 9,21 +
Mormon 3,20
Aber
um diese Zusammenhänge zu sehen mussten erst einige Jahrzehnte der
Wahrheitssuche vergehen. Stets wenn ich dann darüber nachdachte,
nahm ich von innen her ein angenehmes Licht wahr und ich war
vernünftig genug, mich immer wieder daran zu erinnern.
Soweit
war ich aber 1941, als elfjähriger, längst noch nicht
Zunächst
entwickelte ich, durch den Drill in der sogenannten Deutschen Jugend
(DJ) ein nationalsozialistisches Bewusstsein. In Abwesenheit meines
Vaters, der es hasste in der Deutschen Wehrmacht dienen zu müssen,
wuchs ich zu einem dummgläubig überzeugten Hitlerjungen heran, der
sich über jede Sondermeldung freute. Mit den Nachrichtensprechern
jubelte ich häufig: Schon wieder hatte Großdeutschland eine
Schlacht gewonnen, schon wieder waren soundsoviele
Bruttoregistertonnen Schiffsmaterial versenkt worden! Von allen
Seiten leuchtete mir das blanke Heldentum entgegen. Aber, dass da in
jeder Sekunde hoffnungsvolle Menschen zu Krüppeln geschossen wurden,
dass Kinder wie ich verbrannten, Familienväter zu Tausenden
ertranken und junge, unschuldige Russen zu Zehntausenden
verhungerten, weil sie aus Gründen der Menschenverachtung nicht
verpflegt wurden, während ich mich begeisterte, kam mir damals nicht
in den Sinn. Deutschland, Deutschland über alles in der Welt!
Hartwig
WEBER sagt in seinem soeben erwähnten Lexikon unverblümt, wie sehr
seine Kirche in dieser Zeit, in der die Menschen dringender denn je
der Führung durch Gott bedurften, geirrt und gefehlt hat: "Der
Vertrauensrat der Deutschen Evangelischen Kirche gab gegenüber
Hitler der Hoffnung Ausdruck, „dass in ganz Europa unter Ihrer
Führung eine neue Ordnung erstehe und aller inneren Zersetzung,
aller Beschmutzung des Heiligsten, aller Schändung der
Gewissensfreiheit ein Ende gemacht werde ... Verschwörer gegen
Hitler wie Dietrich Bonhoefer und Jesuitenpater Alfred Delp blieben
Außenseiter, die man bewusst isolierte.“, S. 330
Mit
dreizehn verliebte ich mich zum ersten Mal. Sie stammte aus Hamburg
und hieß Evchen.
Meine
Gemütsverfassung musste meinem Vater, der gerade aus Russland auf
Urlaub heimgekommen war, irgendwie aufgefallen sein. Er sah auch,
dass ich im Begriff war, einen Entwicklungssprung zu machen.
Jedenfalls nahm er mich beiseite und ging mit mir eine Stunde lang in
den Wolgaster “Anlagen” spazieren. Er sprach sehr viel und
Einiges war mir, der Herzlichkeit wegen, die er mir so ungezwungen
entgegenbrachte, angenehm. Dann wechselten Ton und Inhalt seiner
Sätze. Er drang in mich: “Rühre nie eine Frau an, es sei denn,
sie ist Deine eigene. Merke es Dir gut! Entweder lebt man seine
Leidenschaften aus oder man wird glücklich.” Ich verstand kein
Wort. Er legte den Arm um meine Schulter und suchte meinen verwirrten
Blick. “Lasse die anderen Leute reden, was sie wollen. Was Dir
nicht gehört, darfst Du nicht anrühren. Es entzieht Dir die Kraft
zu sittlichem Handeln. Unrecht Gut gedeiht nicht! Es ist eines
Mormonen erste Pflicht, ehrlich zu sein. Sei vor allem zu Dir selbst
ehrlich. Vom Heucheln wird die Seele krank. Bitte Gott um Verstand
und Weisheit, um die Kraft zum Gutsein. Tue es. Vor allem tu es,
nachdem Du weißt, dass es richtig ist und kümmere Dich nicht darum,
was andere dazu sagen.”
Mit
seiner Aufforderung im Buch Mormon zu lesen, hatte ich am meisten
Probleme. Meine früheren Versuche, mehr als ein paar Zeilen zu
lesen, scheiterten. Ein langweiligeres Buch konnte ich mir bei bestem
Willen nicht vorstellen. Meine Welt lag zwar ebenfalls in Amerika,
doch die Helden meiner Wahl hießen Winnetou und Old Shatterhand und
nicht Nephi oder Ammon.
Zudem
hielt ich nichts von seiner Verinnerlichung, die mir insbesondere
dann lästig erschien, wenn ich von ihm genötigt wurde, an jedem
Morgen solange er auf Urlaub weilte, niederzuknien und seine nach
meinem Geschmack trockenen und zudem langen Gebete anzuhören. Er bat
Gott jedes Mal um Führung und Schutz durch seinen guten Geist in
diesen schweren Zeiten. Was sollten das für schwere Zeiten sein?
Uns, - jedenfalls uns von Bomben verschonten Wolgastern, - ging es
doch gut. Außer, dass es keine Schokolade gab. Die Deutschen hatten,
wie es für mich aussah, Russland zerschmettert und standen in
Frankreich auf sicherem Posten. Ein kurzer Ruck noch und dann lag uns
die ganze Welt, wie ein geprügelter Hund, zu Füßen. Vor uns, der
deutschen Jugend, breitete sich ein Paradies mit bunten Fahnen und
Hakenkreuzen aus. Mich ärgerte, dass er den Krieg ablehnte und mich
sogar belehrte, dass Deutschland den Krieg verlieren wird, weil es
böse Ziele verfolgte. Nach solchen Worten kam stiller Zorn in mir
hoch, der sich gegen ihn und meine unschuldige Mutter richtete.
Dennoch band mich, nachdem er wieder an die ihm verhasste Front
abgereist war, eine geheimnisvolle Macht an ihn. Als er wieder weit
fort von mir war, konnte ich es gelassener betrachten, dass er gesagt
hatte, er würde immer bewusst daneben schießen. Vielleicht wäre
ich sonst zu meinem Fähnleinführer gelaufen und hätte ihn als
Wehrkraftzersetzer verpetzt.
Ebenso
bitter empfand ich die Schreckensnacht vom 17. zum 18. August 1943.
Die Sirenen heulten uns aus dem Schlaf. Das Signal bedeutete: “Sucht
den Luftschutzkeller auf!”
Ich
drehte mich zur Seite und schlief schnell wieder ein. Wie oft schon
hatte uns der Alarm beunruhigt und danach war gar nichts passiert.
Wie immer flogen die feindlichen Bomber nur über unsere Köpfe
hinweg… Plötzlich dröhnten die Detonationen … Anschläge auf
mein Leben! Wir hasteten, Hemd und Hose fassend in den Keller.
Am
Morgen hörten wir, dass nicht Wolgast sondern Peenemünde von
mehreren hundert Flugzeugen der Typen Lancaster und Halifax
bombardiert worden war. Die Engländer hatten, wie wir viel später
erfuhren, entdeckt, dass Hitler hier Langstreckenraketen bauen ließ.
Mir
schien ich könnte über die Entfernung von sechs, sieben Kilometer
Luftlinie das Schreien der Kriegsgefangenen hören die von Phosphor
übergossen als lodernde Fackeln in den Maschen der Sperrzäune
hingen…
Beide
Ereignisse prägten mich. Sie machten mich ernsthaft und somit über
die Jahre reif.
Versammlungen fanden in Wolgast in den Jahren zwischen 1943 und 1945 nur an einem Wochentagabend statt. Unsere Missionare hatten niemanden gefunden, der sich taufen lassen wollte. Es schien, als wäre ihre Arbeit erfolglos gewesen. Anwesend waren in dieser FHV- Zusammenkunft die spätere Schwester Schult, meine Mutter und ich, wobei ich eher als Unruhestifter auffiel. Mitten in einer solchen Versammlung ertrotzte ich ihre Unterschrift, damit ich Segelflieger werden dürfte.
In
den ersten Wochen des Jahres 1945, als wir nur noch schlechte
Nachrichten hörten, wünschte ich mich durch nichts und niemanden
mehr aufhalten zu lassen, auch nicht durch die Lehren meiner Eltern.
Denn Vater befand sich in der Ferne, nun in Narvik, Norwegen. Ich
träumte davon, von allen Geboten frei zu sein, um bald mein junges
Leben genießen zu können. Während er, wie er immer wieder schrieb,
für uns betete.
Allerdings
sahen meine Vorstellungen von Übertretung noch ziemlich harmlos aus.
Denn schließlich war ich noch ein Kind. Dennoch begann ich
romantisch von schönen Mädchen zu träumen.
Da
wurden wir eines Nachmittags von unseren Hitler-Jugend-Führern zum
Einsatz und zur Unterstützung der Rote-Kreuz-Schwestern zum Bahnhof
Wolgaster Fähre beordert. Es wurde ein Verwundetenzug aus Swinemünde
erwartet. Ich sah in meiner Erinnerung immer noch die Bilder aus
einer der Deutschen Wochenschauen die elegante Verwundetenzüge
zeigten. Aber schon als sich die dunkle Silhouette der
funkenstiebenden Lok über der Mahlzower Anhöhe abzeichnete,
beschlich mich ein Gefühl des Jammers. Wir rannten den Waggons
entgegen. Es war noch nicht völlig dunkel geworden, sondern für
mich gerade hell genug, um schreckerfüllt die zerfetzten Viehwagen
zu sehen. Ich hörte trotz des Fauchens der Lok die Hilfeschreie der
Jungen. Plötzlich wurde mir das ganze Ausmaß des Elends des Krieges
bewusst. Meine Beine schlotterten. Ein Mann schrie: “Sie haben den
Zug beschossen. Ja! gerade jetzt kurz vor Zinnowitz.” Entweder sei
es eine Rotte Ratta, russische Jäger gewesen, die noch einmal voll
dazwischen gehalten hatten oder englische Spitfire. Und das, obwohl
von den Dächern das Rote Kreuz herauf geleuchtet haben musste. Als
die Tür, die sich unmittelbar vor mir befand, von einem hünenhaften
Waffen-SSler geöffnet wurde, schlug mir Gestank entgegen. Der erste
Mann, der vor mir lag, war wahrscheinlich tot. Ein zweiter tastete
sich mir entgegen, fiel mir um den Hals. Ein anderer rief: “Kamerad,
Kamerad!” Sein Kopf war bis auf den Mund umwickelt. Der Verband sah
schwarz aus. Ich konnte ihn auffangen. Mich durchströmte ein Gefühl
aus brennender Liebe und ohnmächtiger Wut. Wir legten ihn und die
anderen so schnell und so behutsam wie möglich auf einen der
bereitstehenden Karren.
Die
Stadt füllte sich Tag für Tag mehr mit Soldaten aller
Waffengattungen. Mir schien, ich hätte noch nie so viele
Uniformierte gesehen.
Mein
Gestellungsbefehl zum Volkssturm kam am Morgen des 22. April. Die
Russen hatten gerade bei Stettin die Oderlinie durchbrochen. In
meinem Wahn, den deutschen Sieg mittels der Wunderwaffe, für möglich
zu halten, wäre ich nur einen Monat zuvor noch töricht und sorglos
losgezogen. Die Goebbelspropaganda zeigte Wirkung. Aber nachdem ich
die blutjungen, verstümmelten Landser in meinen Armen gehalten,
ihren Jammer wie meinen eigenen empfunden hatte, war ich froh zu
sehen, dass meine kleine, energische Mutter die Faust auf den
Küchentisch schmetterte und beeindruckend laut ihr kategorisches:
“Nein!” herausdröhnte. Sie drückte ihr Kreuz durch und konnte
doch nicht das Angstflackern in ihren schönen grauen Augen
verbergen. Vor all diesen furchtbaren Erlebnissen hätte ich ihren
Befehl nicht respektiert. Nun aber war mir bange geworden. Die
Furcht, ich könnte wirklich vernichtet werden, hatte ein
schreckliches Gesicht bekommen.
In
einer der letzten Nächte unter deutscher Herrschaft, nachdem wir
weitere Schwer-und Schwerstverwundete ins Behelfslazarett Wolgast
gebracht hatten, erwischte ich meine Mutter dabei, wie sie Radio
London hörte. Sie stand gebeugt vor dem Volksempfänger. Sie hatte
sich eine grüne Wolldecke über den Kopf und das Radio gezogen. Ich
hörte das verräterisch dumpfe Bum-bum-bum-bum, auf welches uns die
Schulungsoffiziere und HJ Führer als untrügliches Kennzeichen eines
gefährlichen Lügensenders hingewiesen hatten. Darauf müssten wir
reagieren, indem wir entweder die Polizei oder sofort den
NSDAP-Ortsgruppenführer zu unterrichten hätten, egal wer es sei,
Vater oder Mutter.
In
meinem ersten Zorn fuhr ich sie hart an. Sie kam hoch und zischte
zurück. Sie wünsche nicht gestört zu werden. Die Decke lag noch
immer auf ihren schmalen Schultern, ihre weichen Haare waren
zerzaust, die helle Stirn drückte die ganze Kraft ihrer
Persönlichkeit aus. Ich war empört, wünschte sie anzuzeigen,
wollte hinlaufen um meine Pflicht als guter Deutscher zu tun. Lautes
Tosen war in mir, Strafe muss sein. Zu meinem ewigen Glück zögerte
mein besseres Ich. “Tue es nicht!”, kam mir in den Sinn. Ich
stutzte, da ich mich selbst so widersprüchlich wahrnahm. In meiner
Hilflosigkeit und Wut über den verlorenen Krieg warf ich die Türen
hinter mir ins Schloss. Ich konnte und wollte das schwarze Loch, in
das wir alle miteinander stürzten, nicht mehr sehen.
Wenige
Tage bevor die Russen einmarschierten sagte mir mein Klavierlehrer
Herr Reese nicht ganz unvermittelt: “Ich spüre, dass die
Mormonenkirche viel mehr hat als alle anderen.” Ich schaute auf
seine langen weichen Finger die auf den Tasten lagen, mit denen er
den letzten Akkord angeschlagen hatte.
Solche
Sätze bewirkten Nachdenklichkeit. Gleich bunten Steinchen belegten
sie in meinem sich täglich ändernden Mosaik einen Platz. Aber auch
wenn dieser Platz sich irgendwo an einer scheinbar weit entfernten
Stelle befand, der Stein blieb dort für immer liegen.
Später
erinnerte Mutter mich daran, dass ich noch am 29. April auf dem
Rathausturm zu Wolgast gesessen hätte um zu beobachten ob die Russen
schon in Sichtweite sind.
Wolgaster Rathaus |
Ich
sah diese Tatsache nicht als dramatisch an, schon eher, dass dies
eine Strafe für mich war, weil ich eine Stunde vorher einen der
Polizisten geärgert hatte.
Als
Mutter hörte, dass ich Nachtwache halte, stürzte sie zum Rathaus wo
die ratlosen Polizeibeamten in ihrem Revierbüro rauchend umhersaßen
und überlegten was sie tun sollten.
Gingen
sie zu früh weg um unterzutauchen, könnte die Feldgendarmerie sie
finden und standrechtlich erschießen… zögerten sie den Zeitpunkt
der Aufgabe zu weit hinaus werden die Russen sie gefangen nehmen und
nach Sibirien schicken.
“Wo
ist meine Sohn, Gerd?” Im dichten Tabaksqualm und bei spärlichstem
Licht erkannte sie Herrn Wallis, den Baptisten und Polizisten.
Der
Beamte den ich geärgert hatte und vor dem ich unrühmlich
weggelaufen war – und der hinter mir her geschossen hatte, wollte
sich rechtfertigen.
Sie
ließ sich auf gar nichts ein. Tapfer hat sie mich da herausgehauen.
Am
30. April 1945, um elf Uhr vormittags, explodierte, wie uns schien in
unmittelbaren Nähe, eine Luftmine ungeheuren Ausmaßes. Denn sie
warf uns, meinen Freund Richard und seine Schwester Gisela, - die
mich gerade zu einem Abenteuer eingeladen, - und mich selber zu
Boden. Angstzitternd presste ich mich völlig flach. Doch die
erwartete zweite Explosion blieb aus. “Mutter!” Die Angst, sie
könnte umgekommen sein, stachelte mich hoch. Wie ein Irrer warf ich
mich aus verzweifelter Sorge um sie und meine Geschwister gegen die
infolge des Luftdrucks verklemmte Eichentür. “Ich komme!” Ich
sah im Geiste unser nahe liegendes Wohnhaus, sah mich in den
schwelenden Trümmern wühlen, um sie und Helga und Helmut
herauszuholen. Infolge gemeinsamer Anstrengung sprang die Tür
endlich auf. Aufgeregt kam ich, nachdem ich mit fliegenden Beinen
durch die Kurze Gasse gerannt war, in der Langenstraße an. Unser
Haus Nummer 17 stand, wie die anderen Gebäude unversehrt.
Gott
sei Dank! Aber, was war es gewesen, wenn nicht eine Bombe? Jemand
lehnte aus dem Fenster und klärte uns auf: “Sie haben die große
Zugbrücke gesprengt!”
Ich
lebte, - meine Geschwister und meine Mutter lebten! Die beiden
letzten deutschen Wehrmachtssoldaten denen wir noch vor wenigen
Minuten nachgeschaut hatten, mussten um das militärische Geheimnis
der vorgesehenen Stunde und Minute für die Sprengung gewusst haben.
Das hatten sie uns natürlich nicht mitgeteilt. Militärische
Einheiten hatten die Hauptteile der großen Peenebrücke mit einer
Überportion Dynamik in die Luft gejagt. Weil die kommandierenden
Militärs hofften auf der Insel Usedom eine letzte stabile
Hauptkampflinie gegen die anstürmenden Russen aufbauen zu können,
Jeden
Augenblick mussten sie mit ihren Panzern und Kanonen angerollt
kommen.
Doch
meine Angstgefühle hielten nicht an. Ich konnte es außerdem nicht
ertragen, einfach nur zu warten. Ringsherum waren die großen
Schaufensterscheiben der Verkaufsläden zu Bruch gegangen. Neugierde
und plötzliche Lust, die letzte Stunde meiner Ungebundenheit
auszutoben, regte sich. Wolgast war plötzlich, wenn auch nur für
ein paar Minuten oder Stunden zur gesetzlosen Zone geworden.
Niemandsland. Es gab weder die Polizei noch die Wehrmacht mehr. Die
glassplittrigen Öffnungen der Lebensmittelläden und des
Konfektionsgeschäftes Gauger am Marktplatz luden mich zur
Selbstbedienung ein. Ich widersprach mir nicht und betrat den Bereich
für Herrenkleidung zur rechten Seite des Doppelgeschäftes
ungehemmt. Ich sah die magere Ausstattung des Ladens, aber auch
andere Leute die hier bereits eingedrungen waren. Im Begriff schamlos
loszulegen und zu klauen was nicht niet- und nagelfest war,
beeinflusste mich plötzlich ein schon früher erlebtes Gefühl, das
mir im Klartext sagte: Tue es nicht!
Das
lähmte und erstaunte mich - zunächst.
Es
strömten immer mehr Leute ins mittlerweile sperrangelweit geöffnete
Geschäft hinein. Sie kamen nicht nur durch die Fensterfront, sondern
auch durch die inzwischen aufgebrochenen Eingangstüren. Als ich mich
in diesen Menschen wieder sah, schien mir eine Weile ich sei
handlungsunfähig, weil ich wahrnahm, was ich für unmöglich
gehalten hätte. Frauen, vor allem die richtig erwachsenen, hatte ich
stets für Engel gehalten. Hatten die sich verirrt? In mir ruckten
die Gefühle hin und her.
Mir
kamen die Umherwirbelnden ein paar Sekunden wie tanzende Wahnsinnige
vor. Sie zankten sich. Wegen dieser wenigen grauen und dunklen
Anzüge, die da vereinzelt auf einer einzigen Stange hingen? Alles
raste, das Blut, die Gedanken, die Menschen. Mein Lebensgefühl war
unklar. Ich dachte vielerlei und widersprüchliches. All das ging
schnell vorbei, auch meine an sich vernünftigen Gedanken. Ich sagte
mir plötzlich, Jetzt ist Jetzt. Andererseits war ich sehr darauf
erpicht zu überleben.
Während
ich so wenigstens die Illusion eines neuen Hoffens für mich
behauptete, begaben sich andere Wolgaster, die ihren Pessimismus
nicht überwinden konnten, zum Peenestrom hinunter. Getrieben von
Verzweiflung und Aussichtslosigkeit, banden Mütter ihre Kinder an
sich und sprangen, mit Steinen beschwert, vom Kai ins Wasser.
Zwischenzeitlich
von einer Art frecher Furchtlosigkeit erfüllt nahm ich eine grünlich
schimmernde Hose, die vor mir lag und brachte sie wider besseres
Wissen eilig nach Hause. Dabei fühlte ich mich nicht ganz wohl. Mir
war ähnlich zumute wie damals, als ich über einen Zaun geklettert
war, um mir aus einem fremden Garten eine handvoll Äpfel zu holen
und dabei erwischt wurde. Diesmal hatte ich mich selbst ertappt.
Deshalb hängte ich mein Beutestück auf die Kellerluke, statt sie
nach oben in mein Zimmer zu bringen. Zugleich dachte ich: Bonbons
wären nicht schlecht! Seit zwei Jahren hatte ich keine Süßigkeiten
mehr gehabt. Ich rannte los, um mich einzureihen in die Menge junger
Frauen und meiner Altersgenossen, die im Kaufmann - Andersonladen auf
ein Kaffee- oder Schokoladenwunder hofften. Ich wusste noch nicht,
dass ein verletztes Gewissen mit Verkleinerung seines Potentials
reagiert. Ich benahm mich brutal, indem ich mich rücksichtslos zu
den Margarinewürfeln durchkämpfte, um die sich Frauen und Jungen
stritten. Direkt über meinem erhitzten Kopf jubelte plötzlich
jemand auf. Er hatte einen Pappeimer gefunden. Sie rissen ihm das
Gefäß aus der Hand. Kaffeebohnen prasselten zu Boden.
Einer
fing an, mit Gläsern zu werfen. Vielleicht aus Wut, weil sie nicht
Früchte, sondern Rote Beete enthielten. Die Fläche färbte sich
blutrot. Ein paar Bengel warfen das Zeug durch das offene Fenster auf
die Straße, machten ein höllisches Spektakel. Kaufmann Anderson kam
dazu. Ein kleiner Fünfziger mit Kahlkopf: “Meine Damen! Meine
Damen!” rief er händeringend, als er die Bescherung vor und in
seinem Geschäft sah. Eine der Frauen fuhr ihn an, sie sei nicht
seine Dame und schmetterte ihm eins der Weckgläser vor die Füße.
Der Besitzer, vom intensiv färbenden Saft blutrot bespritzt, rang
nach Luft. Aus dem Durcheinander brachte ich unbeschadet sechzehn
Stück Margarine heim und betrat daraufhin sofort wieder die Straße
und wandte mich, jetzt bereits bedenkenlos nochmals zur Linken. Da
sah ich meinen neunjährigen Bruder Helmut einen großen runden Käse
hangabwärts rollen. Beide kamen schnell auf mich zu. Bei dem in
unserer unmittelbaren Nachbarschaft ansässigen Grossisten Kriwitz
fündig geworden, waren die Plünderer mit sich selbst und ihrer
Beute beschäftigt. Mit Leichtigkeit hätten sie dem Bengel das
wagenradgroße Stück wegnehmen können. Das Bild prägte sich mir
für alle Zeiten ein. Der kleine blonde Wuschelkopf strahlte mich an.
Hier stimmte etwas nicht! Noch deutlicher als vor einer halben
Stunde, unmittelbar bevor ich zum ersten Mal die Hand ausreckte um
Verbotenes zu tun, sah ich deutlich, dass wir falsch handelten und
kommandierte im selben Atemzug, er solle das zurückbringen. “Das
ist Diebstahl!” schrie ich meinen erstaunt und froh zu mir
aufblickenden Bruder an. Für ihn war, was er tat, unbedeutender Jux.
In mir jedoch begann erstaunlicherweise die andere Gedankenkette
abzulaufen, so gewiss war ich, was ich von jetzt ab tun würde. Er
gehorchte mir unbekümmert. Ich half ihm und fasste den Entschluss
alles zurückzubringen, was ich schließlich tat.
Nur
Minuten später bog der erste Russe in die Langestraße ein. Er
schritt direkt auf mich zu. Die Pistole im Anschlag.
Jahrelang
hatte die Nazipropaganda uns Hitlerjungen das Bild von den russischen
Untermenschen vor Augen gestellt. Zudem hatte ich immer wieder die
Kolonnen dieser halbverhungerten in Lumpen umherlaufenden Russen
gesehen…
Wie
überrascht war ich nun, als der erste Kämpfer der Roten Armee auf
mich zugeschritten kam. Er hatte unerwarteterweise einen angenehmen
Gesichtsausdruck. Er hatte etwas von den Zügen meines Vaters an
sich. Ob ich es wollte oder nicht, es dachte in mir: ‘Da kommt ein
Held!” Er trug eine hochaufragende schwarze Lammfellmütze und
einen wehenden ebenfalls schwarzen Umhang. Obwohl die Pistole auf
mich gerichtet war, empfand ich nicht einen Augenblick lang Furcht.
Ich wunderte mich sehr. Auch er hätte Ursache zur Furcht gehabt.
Denn aus jedem Hauswinkel und Fenster meiner Heimatstadt konnte ein
Heckenschütze auf ihn zielen. Er ging ohne Hast, sich weder zur
Rechten noch zur Linken wendend, an mir vorbei und zog meine Blicke
und meine Verwirrung hinter sich her. Seinen Auftritt werde ich nie
vergessen. Noch wusste ich ja nicht, dass nicht die Uniform die Guten
und die Schlechten machte.
So
lernte ich binnen weniger Augenblicke die wichtigste Lektion meines
zweiten Lebens. Zu diesem sonderbaren Feind hatte ich mich
erstaunlicherweise hingezogen gefühlt. Ich hatte mich außerstande
gesehen, mich ihm gegenüber als überlegen zu betrachten. Im
Gegenteil! Ich sah, wie sehr ich mich geirrt hatte. Er war schon
längst aus meinem Blickfeld gewichen, als ich ihm immer noch
nachstarrte. So waren sie?
So
waren sie mehrheitlich leider nicht! Innerhalb der nächsten Stunden
strömten Hunderte völlig anders geartete Russen in die Stadt. Ganze
Heerscharen zügelloser Soldaten füllten die Straßen.
Weil
ich ihn aus dem Keller herausgelockt hatte, kam unser Altgeselle
Gottschalk, denn wir seit je “Leller” nannten, näher. Auch er
war zunächst erstaunt, dass ihn niemand belästigte. Doch er irrte
sich, wie so viele andere, die mit der fechtenden Truppe gute
Erfahrungen gemacht hatten. Ein Bursche in seiner olivgrünen dünnen
Militärbluse, kaum älter als ich, nestelte dem hilflosen,
rheumakrummen Mann mit größter Selbstverständlichkeit die goldene
Uhrkette ab. Dem Alten kullerten zwei dicke Tränentropfen herunter.
Hinkend und in sich hineinjammernd kehrte er auf seinen Stock
gestützt um. Was er verloren hatte, war so gut wie sein einziger
Besitz gewesen. Laut schreiende Frauen stürzten an uns vorbei.
Männer hetzten hinter ihnen her. Ein Offizier schoss in die Luft.
Vor der Menge entfesselter Marodeure und Vergewaltiger musste er
zurückweichen. Meine Verwirrung über alles was ich sah war so groß,
dass ich plötzlich bei der Begegnung mit einem älteren Offizier,
der in einer unerwartet anders aussehenden, grünen Uniform daherkam,
als Reflexbewegung den rechten Arm hochriss und laut und
gewohnheitsgemäß “Heil Hitler” sagte. Er bemerkte meinen
Schrecken, hätte sofort die Pistole ziehen und mich erschießen
können. Noch tobte der Krieg. Er hätte es als Provokation auffassen
können. Er schaute mich kopfschüttelnd an, geradezu väterlich
nachsichtig, lächelte, tippte gegen seine Stirn. Andere haben mir
später mit den Stiefelspitzen energisch in den Hintern getreten, nur
weil ich sie anblickte.
Als
der Beschuss von deutscher Seite einsetzte, flüchteten wir wieder in
den Keller. Da saßen wir zwei Tage und Nächte hintereinander im
Dunkeln auf Brettern und lauschten den Detonationen und
gelegentlichen Einschlägen, während die Frauen zugleich mit der
ihnen eigenen Angst nach oben horchten, ob die wilden Sieger in den
Hausflur stürzen und die Kellertreppe heruntergepoltert kämen, um
sich wütend über sie zu werfen. Neben mir nahm am dritten Tag eine
große junge Frau Platz, die, wie sie klagte, vor den ständigen
Vergewaltigungen geflohen war. In ihrer Verzweiflung hatte sie sich
erinnert, dass es in der Langenstraße 17 die Kommunistin Frau Stolp
gab. Sie hatte gehofft, von ihr beschützt zu werden. Aber diese
alte, gebildete Dame war wenige Tage zuvor schwer verunfallt und
verstorben.
Die
gejagte Frau wagte es nicht zurückzugehen. So saßen wir viele
Stunden abwartend in der Finsternis nebeneinander. Ich empfand es als
sehr angenehm, dass sie ihren hübschen Kopf auf meinen Schoß legte
und vor Erschöpfung einschlief. Als ich bemerkte, wie sie
hochschreckte streichelte ich ihre Wangen behutsam und sie ließ es
zu.
Mir
schien, dass in der dritten oder vierten Nacht der Beschuss abnahm
und beschloss nach oben in mein Bett zu gehen. Vaters Altgeselle
“Leller” hielt es genau so. Wir hörten zwar die Einschläge der
deutschen Artilleriegranaten, aber die kamen von weit her. So
schliefen wir schnell ein. Sobald das Schießen aufhörte, -
wahrscheinlich am achten Mai- betrat ich wieder die Straße. Überall
sah ich singende, betrunkene Soldaten. An einem der zahllosen, kreuz
und quer durch die Straßen der Stadt rollenden Panjewagen, mit ihren
typisch kleinen Kastenaufsätzen, hing eine Kuh die zur Erde gestürzt
war. Die beiden Russen bemerkten nicht, dass der Strick am Hals des
Tieres erbarmungslos ins Fleisch schnitt. Sie trieben ihre
stampfenden Pferde an und sangen ihren Jubel in die Welt. Das Rind
wurde gnadenlos geschleift. Ich sah die Blutspur der verstummten
Kreatur.
Sie
war das Symbol für die Grausamkeit des Krieges.
So
also sah er aus.
Viele
unter diesen Menschenmassen, die ich gesehen, trugen ihr rohes, vom
endlosen Leid und Morden verbildetes Gesicht. Aber aus dieser Menge
ragten einige hervor, Männer, die dem ersten ähnelten.
Einmal
hielt eine LKW-Kolonne mit aufmontierten Raketenwerfern -Stalinorgeln
- vor unserer Haustür. Mitten unter den Soldaten saß mein kleiner
Bruder, dem sie auf sein strohblondes Haar einen großen dunklen
Stahlhelm gesetzt hatten. Lachend wurde er herumgereicht und mit
Zwieback verwöhnt. Mit allerlei, anscheinend heiteren Ausdrücken
wiesen sie einander darauf hin, dass mein Bruder ein blaues und ein
braunes Auge hatte. Mir schien, dass sie sehr diszipliniert waren,
niemand sprang während der langen Wartezeit von der Pritsche
herunter, um in unserem Haus auf Raubzug zu gehen. Viele verfluchten
die Russen unterschiedslos. Das war ungerecht. Es gab einige
Soldaten, die sich in unserer Wohnstube ans Klavier setzten und
darauf zu spielen versuchten, doch sie benahmen sich gut. Ich konnte
nicht wissen, warum jemand so handelt oder anders. Ich selbst musste
erst noch lernen, mir ein Urteil über mich selbst zu bilden.
Ich
hatte den NS-Männern geglaubt, den Nachrichtensprechern, einem
Joseph Goebbels, meinem Führer Adolf Hitler und ich weiß nicht, wem
noch, bis zuletzt und über dieses Zuletzt hinaus. Es hatte sich
alles als mörderische Lüge und Hirngespinste erwiesen.