Montag, 14. Mai 2012


     (2) Mormonismus” im Spiegel der deutschen Fachliteratur

Positive Fachartikel, die sich mit unserer Religion befassen sind selten, insbesondere in offiziellen Zeitschriften anderer Kirchen. Aber, es gibt sie.
So veröffentliche der finnische Theologe Heikki Räisänen, in der „Theologischen Literaturzeitschrift“ 109. Jahrgang von Februar 1984 einen Aufsatz mit dem Titel: „Joseph Smith und die Bibel“ (ISSN 0040-5671)
Er beschäftigt sich mit der Frage, wie - aus theologisch-großkirchlicher Sicht - die Korrekturen zu werten sind, die Joseph Smith an Bibeltexten vornahm.
Die Einschübe oder Textänderungen sind als Inspirierte Version bekannt. (Inspired Version)
Immer wieder attackieren  uns außenstehende Christen, Geistliche oder auch einfache Gläubige, Josph Smith hätte die Bibel geändert. Das ist zwar zutreffend, aber ehe jemand sich negativ äußert, möge zuvor bedenken wovon er redet. Heikki Räisänen sagt nach einer kurzen Einleitung:

Das Wort Gottes kann keine Widersprüche enthalten. Wo Joseph Smith Widersprüche entdeckt, gleicht er sie aus. Viele seiner Harmonisierungsmaßnahmen sind heute noch aus Werken großkirchlicher Fundamentalisten bekannt. Der Unterschied ist nur , dass Smith sich nicht mit einer harmonisierenden Auslegung begnügt, sondern den Bibeltext selbst verbessert.“

Räisänen benutzt tatsächlich den Begriff : "verbessert". Das ist zunächst verblüffend, denn, die Frage ob man die Bibel verbessern kann oder nicht, ist eigentlich mit einem klaren Nein zu beantworten. Hier wäre der Ansatz zu destruktiver Kritik gegeben, doch das Gegenteil ist der Fall. 
Um das zu belegen, greifen wir aus der Fülle der Fallbeispiele, die der finnische, evangelische Theologe bringt, einige heraus.  

Räisäner verweist beispielsweise auf den

theologisch wichtigen Widerspruch, der zwischen den Angaben des Exodus über den Umgang Moses (und anderer) mit Gott und der kühnen Behauptung von Joh: 1:18 besteht, niemand habe je Gott gesehen. Während großkirchliche Auslegung geneigt ist, die alttestamentlichen Aussagen abzuschwächen, geht Smith, dem die Diskrepanz nicht entgangen ist, den umgekehrten Weg und korrigiert den johanneischen Text. Joh 1: 19 lautet (in der Inspired Version von J. Smith) also: „Niemand hat Gott je gesehen, außer demjenigen, der über den Sohn Zeugnis abgelegt hat.“
... auch das klassische Problem des Gottesnamens, der lt. Exodus 6: 3 erst dem Mose offenbart wird, während er doch bereits in der Genesis gebräuchlichist, löst Joseph Smith... indem er aus dem Satzende eine rhetorische Frage macht: „and was not my name Jehova known unto them?“...

Einer der schwierigsten Anstöße für konservative Bibelauslegung ist die unerfüllte Naherwartung. Auch in diesem Fall vertritt Smith eine Deutung, die heute noch in großkirchlichen Konservativismus gang ind gäbe ist; der Unterschied ist wieder einmal der, dass er den Text selbst im Sinne der Auslegung ändert. Die Aussage, dieses Geschlecht werde nicht vergehen, bevor alles geschehen sein wird. Matth: 24: 34 wird verbessert: „This Generation, in which these things shall be shown forth, shall not pass away, until all I have told you shall be fulfilled“ demenstsprechend sagt Jesus (bei Joseph Smith) in Matth: 24: 42 nicht „ihr seht dies:“ sondern „meine Erwählten... werden sehen."

Der Rat, dass der Ehemann sein soll als hätte er keine Frau, wird auf die Missionslage durch den Zusatz bezogen: „for ye are called und chosen to do the Lords work“
Konsequenterweise wird festgehalten, dass Jesus nicht am Ende der Tage auf Erden erschienen ist, sondern in der Mitte der Zeit“ z.B. Genesis 6: 60 in der Inspired Version....
Die vielleicht auffälligste Neuerung von allen ist die, dass Smith die Menschheit vom Uranfang an über die Ankunft des Messias Jesus am genauesten unterrichtet sein läßt. Die künftige Heilsgeschichte ist ihr von den frühesten Tagen bekannt... Der mormonische Kommentator Matthews bemerkt dazu: Da die frühen Patriarchen das Evangelium hatten und seinen Vorschriften gehorchten, ist es offenbar, dass der Plan der Erlösung konstant ist und durch die Geschichte der Welt hindurch derselbe gewesen ist. „Dies ist nicht so offenbar in der King James Version!“

In der Tat nicht!

Bei aller Naivität der Lösung sollte zugestanden werden, dass Joseph Smith hier seinen Finger auf ein wirkliches Problem, auf einen heiklen Punkt in der Heilsgeschichte gelegt hat. Wie steht es eigentlich mit Gottes Plan, wenn mit Christus ein neuer Heilsweg eröffnet worden ist, von dem die Alten noch nichts wussten? War den früheren Generationen ein echter Heilsweg offen, etwa in der Form der Buße und der freudigen Annahme des göttlichen Gesetzes?

Wenn nicht, hat dann Gott nicht die alttestamentlichen Frommen irregeführt, indem er ihnen ein Gesetz gab, das das Leben verheißt (z.B. Lev 18: 5) und keinen Hinweis auf seine eigene Vorläufigkeit erhält?


Räisänen verweist dann auf den 1. Clemesbrief indem auch  von dort her Joseph Smiths Linie bestätigt wird:

Clemens versichert, Gott habe von Ewigkeit her alle Menschen auf dieselbe Weise gerechtfertigt, und zwar durch den Glauben... er habe von Geschlecht zu Geschlecht denjenigen Gelegenheit zur Buße gegeben, die sich ihm zuwenden wollten“

Mit der Kontinuität der Heilsgeschichte hängt es ferner zusammen, dass Smith die paulinische Rede vom Gestz als Ursache der Sünde oder von seiner sündenvermehrenden Funktion abschwächen muss.... auch diesmal befindet Joseph Smith sich in guter Gesellschaft....

Bei der Umgestaltung (einiger Passagen bei Paulus) bringt (Joseph)Smith ein erstaunliches Maß an Scharfsinn auf, mehrfach entsprechen seine Beobachtungen im großen denen moderner Exegeten...

Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass Joseph Smith durchgehend echte Probleme erkannt und sich darüber Gedanken gemacht hat... Wie durch ein Vergrößerungsglas lassen sich (bei Joseph Smith) die Mechanismen studieren, die in aller apologetischer Schriftauslegung am Werke sind; die zahlreichen Parallelen zum heutigen Fundamentalismus aber auch zur raffinierten Apologetik etwa der Kirchenväter sind hochinteressant...“
Räisänen fasst schließlich zusammen:

Mit diesen Beispielen aus den Werken Joseph Smiths, sowie aus der neueren Literatur über den Mormonismus hoffe ich hinreichend angedeutet zu haben, dass eine ernsthafte Beschäftigung mit den Werken des Mormonismus eine lohnende Aufgabe nicht nur für den Symboliker und den Religionswissenschaftler ist , sondern auch für den Exegeten und den Systematiker. Der um Fairnis bemühte Forscher kann ihnen den Wert als in ihrer Zeit und Umgebung als sinnvole Neuinterpretation der religiösen Tradition gar nicht so leicht absprechen…“

Prof. Gellinek sagt in seinem Buch „Christus in Amerika?“: „Mormonismus der einen Außenseiter zunächst etwas bange macht, entpuppt sich vielmehr, als mächtiger Schrittmacher des Christentums auf dem Wege zur Erleuchtung.“ Agenda Verlag, Münster, 1999 , S.141


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