Dienstag, 2. Juli 2013

(3) "Wie der Tau vom Himmel träufelt"

Da ist kein anderer Weg zu mehr Glück als der, der Vergebung.

Jürgen wollte nichts als frei sein, verbaute sich jedoch schon mit seinem nicht ausbalanzierten Wesen immer wieder die Straße in die Unabhängigkeit.  Er verwickelte sich zu oft im sebstgestrickten Geflecht.
Er betreute unsere Landseen (zusammen 1 000 ha) und ich bewirtschaftete den Tollensesee mit der Lieps von doppelter Größe.
1.95 m groß behielt er stets die Übersicht, aber leider übersah er häufig, wo er selbst stand.
 
Horst Gruß  seinem um 20 Lebensjahre älteren, ihm unterstellten Kollegen zeigte er, eines blauen Frühlingsmorgens, den Platz für eine der modernen Reusen, die über eine Eingangsfläche von 16 qm verfügen - gegenüber den üblichen Fanggeräten dieser Art entsprach das einer Verzehnfachung, mit entsprechenden Massenfängen -.
Solche Fanggeschirre werden an acht Meter langen Pfählen an Seilen aufgezogen. Ein Gerät dieser Größe mitsamt Leitwehren aufzustellen verlangt einen recht anstrengenden bis zwei Stunden dauernden Einsatz eines Mannes.
 
 
Wikipedia: Drahtreuse
Horst war schnell und schaffte es binnen anderthalb Stunden. Jürgen selbst baute seine Fischfalle in hundert Metern Entfernung ein.
Als er das Werk von Horst sah, meckerte er in seiner grummelnden Art. Alles stünde krumm und schief und sowieso sei dies nicht der ihm zugewiesene Fangplatz: "Ausbauen!" kommandierte Jürgen.
 
"Warum sagst du mir nicht gleich, dass dir meine Arbeit nicht gefällt." In der Tat, es roch nach einer Schikane.
Horst nahm sich zusammen. Er ließ sich die gewisse Uferzone noch einmal zeigen,
Es gibt keinen Reusenfischer der es liebt ein Fanggeschirr dieser Art "auszubauen", etwas das normalerweise erst sechs Monate später im Herbst  passiert, bevor die Eisbedeckung einsetzt.
 
Bild: Fanggeräte der Binnenfischerei
Als Jürgen zwei Stunden später erneut mit bösem Gesicht angerudert kam und schon von Weitem zu schimpfen begann, drehte Horst seinen Kahn, stieß sich kräftig mir seinem Stakruder vom festen Seeboden ab und rammte den sich ihm schnell nahenden nörgelnden jungen Mann, in der Absicht ihn "über Bord" fallen zu lassen.
Das geschah nicht.
Dieser junge Möchtelmann wagte es, ihm dem Altgedienten beweisen zu wollen, wer auf dem Wasser das Sagen hat?
Über den Vorfall wuchs schließlich das Gras der Fastvergessenheit.
Nur eine Kleinigkeit, der berühmte Tropfen war es dann, der das Faß zum Überlaufen brachte.
Horst, an seinem Zigarillo saugend erkundigte sich bei seinem Brigadier (Vorarbeiter) Jürgen, wieviel Prozent am Aalfangsoll noch fehlten.
Die Frage war berechtigt.
 
Jürgen musste eigentlich punktgenau auf dem Laufenden sein, war es aber nicht. Horst hob sein lederbraunes Schmalgesicht und fragte nach. Da packte Jürgen zu. Seine Hände großflächig wie Bärentatzen, umschlossen den Hals seines Mitarbeiters, den er mit einem Ruck auf seine Augenhöhe zog.
 
Ich hatte den Fall zu behandeln weil ich in seiner Abwesenheit den Vorsitzenden vertrat.  Ich sprach Jürgen eine deutliche Missbilligung aus, sagte, dass dieser Angriff hätte tödliche Folgen haben können.
Das hat er mir nie vergeben, seine Autorität zu untergraben.
Er hasste meine Kirche ohnehin, weil er Kirchen überhaupt ablehnte ebenso verachtete er den jüdischen König David, der bloß mit seinen zweitausend Frauen prahlte, wie Brigham Young mit seinen siebenundzwanzig.
Zwanzig lange Jahre hatten wir miteinander auszukommen. Wir gingen uns  wo wir konnten aus dem Weg.
Immer wieder verursachte der Stolz Jürgens Ärger und bald kam es zu einer Sitzung der Vollversammlung der 18 Mitglieder.
 
Jürgen wurde aus der Genossenschaft ausgeschlossen. Eigentlich ein unerhörter Vorgang. Die Partei (SED) schaltete sich ein und gegen ein quasi eidesstattliches Versprechen seinerseits nötigten die "Staatsorgane" uns, den Mann wieder einzustellen.
 
Kurze Zeit später erfolgte der stille Umsturz des sozialistisch-kommunistischen Regimes.
 
Sechs Monate später verfügte unser kleines Unternehmen über 700 000 Deutsche Mark, über richtiges, statt Papiergeld. Denn mit der Währungsunion von Juni 1990 wurde auch unser Pseudoguthaben, (neben einem echten) das bis dahin auf der Basis von willkürlichen Preisanordnungen unaufhörlich angewachsen war, - das also aus Nullwerten bestand - , mit einem Faktor aufgewertet der sich in Zahlen nicht ausdrücken läßt. (Wieviel ist zehntausendmal Null?)
 
Immerhin wir dankten.

Ich konnte dennoch nicht verstehen, dass ein Sperrkonto wie ein übliches behandelt wurde.  (Hatte mir sowieso schon Ärger bereitet weil ich gleichzeitig CDU-Kreisvorsitzender war und in dieser Eigenschaft auf halboffzielle Anfrage von Seiten Herrn Dr. Dreggers, seines Zeichens Vorsitzender der CDU-CSU Bundestagsfraktion, darauf hinwies, dass es Betriebskonten gibt die keinen Realwert haben. Meine Dummheit wurde abgewinkt)
 
Inzwischen zum Vorsitzenden der Fischereigenossenschaft gewählt, rief ich alle Mitglieder zusammen: "Wir haben zwei Beschlüsse zu fassen: 1. ich schlage vor, dass wir einen Status wählen (als eingetragene Genossenschaft) in der alle die gleichen Rechte an Eigentum und Verwaltung haben, das verlangt eine namentliche Abstimmung.
 
Jawohl, wir bleiben und arbeiten auch zukünftig zusammen. Jeder unterschrieb, auch Jürgen.
 
2. "Daraus folgt, dass ihr zuzustimmen habt, dass wir einen Neubau errichten mit Fischräucherei, Verkauf und Restaurant"  direkt an der zum See verlaufenden Uferstraße!
 
Wieder Einstimmigkeit.
 
Eine Woche danach flatterten Kündigungsschreiben in unser Büro.
Eine Reihe Gemeinden (Dörfer) teilten uns mit, dass sie nun als Teil der Bundesrepublik Deutschland die Verfügungsgewalt über unsere Seen hätten und da wäre ein gewisser Pächter, dessen Namen sie mir nicht mitteilen wollten, mit dem sie Verträge geschlossen hätten."
Stempel Unterschrift.
 
Das ist Unrecht!
"Wir sind die staatlich eingesetzten Bewirtschafter!"
Mein Kontern half nicht. Es hieß: "Ja, das war zu Kommunistenzeiten der Fall!"
Ich fuhr, oder raste, mit meinem Plastetrabant in die betreffenden Dörfer und suchte die Bürgermeister auf und klagte: "In diese Seen haben wir investiert, mit Satzfischen und Wegebau, da sind geplante  Einnahmen die uns entgehen..."
 
"Nein!" wurde mir immer wieder versichert. Der "Einheitsvertrag" gäbe ihnen das Recht und sie bedürften der Pachtgelder.
 
Ein paar Tage danach kamen die Fänger zu mir, zeigten mir was ihnen in die Hände gefallen war. Sie hätten diese Stellnetze mitten in ihrem Fangbereich aufgefischt.
Da kam mir zum ersten Mal der Gedanke: "Jürgen!"
So war es.
Er hatte sich einen windigen und findigen Rechtsanwalt genommen und der hatte ihm geraten, sich abzunabeln von dem kommunistischen Kommandosystem... also von uns. Das kam nun durch Telefonate heraus.
 
Sofort berief ich die nächste Vollversammlung ein.
 
Jürgen leugnete nichts. Er sah sein Unrecht aber nicht ein.
 
Mit drei Gegenstimmen schlossen wir ihn erneut aus.
 
Wo wir nun in den fraglichen Seebereichen auftauchten, riefen die Bürgermeister die Polizei zur Hilfe.
Einmal mussten wir vor wütend gemachten Dorfbewohner flüchten. Es ging mit dem LKW über Stock und Stein um wenigstens den Fang zu retten.
Ich war ebenfalls dabei als die Uniformierten mein Fangboot und die Geräte beschlagnahmten.
Mein Protest wurde mit Achselzucken beantwortet.
"Die Boote bleiben an Land!"
"Aber wir haben den Kunden diese Fische zugesagt!"
Wieder dieses seelenlose Nein!
"Ich wünsche ihren Vorgesetzten zu sprechen."
Auf der Polizeiwache in Altentreptow war kein Vorgesetzter anwesend, aber eine uralte Schreibmaschine.
 
Hinterher, das erfuhr ich durch Indiskretionen, haben die Polizisten gefragt: "wer war denn der kleine Grauhaarige, der auf der Maschine wie ein Berserker herumgehauen hat. In zehn Minuten und ohne Tippfehler, eine ganzer Seite voll Protest und Protest."
 
Im selben Altentreptow hatte ich bald darauf  vor den Richtern des Amtsgerichtes zu erscheinen und verlor den von Jürgen angestrengten Prozess.
Sofort legte ich Berufung ein.
 
Obwohl die Landesfischereibehörde in Schwerin bekundete, dass wir auf der Basis von staatlich abgesegneten Bewirtschaftungsverträgen (anstelle von in Westdeutschland üblichen Pachtverträgen) operierten, sollte es dreieinhalb Jahre dauern bis das Ermittlungsverfahren wegen Fischwilderei gegen mich eingestellt wurde.
 
 
 In der Zwischenzeit erlitt Jürgen einen tödlichen Verkehrunfall.
 
War es wirklich ein Unfall oder eine Tat der Verzweiflung, denn im Berufungsprozess vor der Staatsanwaltschaft Neubrandenburg, hatte er seinen Vorteil schon Ende August 1990 verloren.
Ich hatte ihm noch zuvor gesagt: "Jürgen du hast zugestimmt, dass wir miteinander und nicht gegeneinander arbeiten wollen."
Er schmunzelte  leicht überheblich und zuversichtlich.
 
Vor der Neubrandenburger Staatsanwaltschaft hatte er gelogen.  Ich hätte ihm die Genehmigung erteilt auszusteigen und auf eigene Rechnung bestimmte Gewässer zu bewirtschaften...
Als ich bei dieser Behauptung mitten in die Vernehmung platzte: "Jürgen du weisst, dass du lügst!" packte mich mein Anwalt Herr Kurschuß am Jacket und zog mich herunter, zurück auf meinen Sitz:
"Du hast hier nur zu reden, wenn du an der Reihe bist, halte den Schnabel!"
Jedenfalls war die Sache klar.
 
Ich nickte Jürgen aus purer Höflichkeit noch einmal zu ehe ich den Gerichtssaal verließ.
Vier Wochen hätten wir auf den Rechtsbeschluss zu warten.
 
Der Richterspruch fiel aus wie ich erwartet hatte.
Am Abend nach Posteingang fuhr ich aufatmend nach Hause.
 
Erika, meine Frau sagte: "Ich glaube, dass Jürgen hier war. Ich sah nur noch seinen Rücken."
 
Eine Stunde später klopfte es an der Wohnungstür: Jürgen stand vor mir. Er streckte seine Rechte aus: "Ich bin gekommen dir zu deinem Sieg zu gratulieren!"
 
"Bist du verrückt geworden? Mein Sieg ist deine Niederlage."
"Das ist wahr, aber..." er stotterte, reckte seine rechte Bärenhand vor, beides etwas, das sonst selten vorkam: "ich habe eine Bitte!"
"Komm herein." Er schaute sich kurz um, sah aber keine Jesusbilder.
"Nimm Platz!"
"Gerd, nimmst du mich wieder auf?"
Ich vibrierte.
 
Er schaute an mir vorbei: "Was soll ich machen, wenn ich keine Seen bekomme?"
Mir war klar, er hatte sich enorm verschuldet, die Gerichtskosten, die Neuanschaffungen, die Kredite...
 
Zu meinem ewigen Gluck kam mir nicht eine Sekunde der Gedanke an meinen Triumph. Ja, er hatte nicht nur mich viele Male gekränkt, hatte oft quer geschossen.
 
Ich war weder wütend noch überrascht. Er hatte Recht, er war der geborene Fischer, mit angeborenem Fängerinstinkt. (Woher ich den ebenfalls hatte ist mir bis heute ein Rätsel)
Allerdings musste ich erst tief durchatmen, ehe ich den schnellen Entschluss fasste: "Ja, Jürgen, ich werde für dich sprechen, aber du brauchst neun Jastimmen und du weißt, mit wievielen Kollegen du dir Probleme auf den Hals gerissen hast."
 
Wir rechneten eine ganze Stunde lang. Es war an einem Freitag. Den ganzen Montag würde ich brauchen um diejenigen umzustimmen die zwar seine hervorragenden Fachfähigkeiten wertschätzten, aber nicht seine Star- Allüren.
"Du kommst am Dienstagnachmittag zu uns. Ich glaube wir haben eine Chance."
 
Am Dienstagmittag kam Werner Hansen, der undiplomatische Geradeaus-Mann, auf mich zu. Wie immer, wenn er erregt war, sah er ziemlich rot aus. "Ick hew dat all huert, ever hi is dod... rin in den Laster". Werner machte die entsprechenden Finger- und Armbewegungen.
Es traf mich.
Tot!
Aus!
Mir schien sofort, dass kein Zweifel daran war, er hatte das Lenkrad absichtlich herumgerissen um unter den Rädern des Lastkraftwagens einen schnellen Tod zu finden, ein Ende des Dilemmas.
 
Seine Frau nahm mein Beileid erstaunlich ruhig entgegen. Sie bat mich einzutreten.
 
"Jürgen hat mir die ganze Nacht von Freitag auf Sonnabend immer wieder dasselbe erzählt. Du würdest ihn wieder einstellen... Er kam aber nicht zur Ruhe, trotz aller Hoffnungen die du ihm gemacht hast. Er hatte wohl zuviel Schlaftabletten genommen, wollte noch zu den Eltern fahren... da ist es passiert... nein ich glaube nicht an Selbstmord, dafür liebte er mich und seine Söhne zu sehr."
 
Bei seiner Beerdigung wurde der Schlager gespielt: "Wenn bei Capri die rote Sonne im Meer versinkt ... ziehen die Fischer mit ihren Booten aufs Meer hinaus und sie legen im weiten Bogen die Netze aus."
Lange hallte die Melodie in mir nach.
Doch über den Schmerz den ich fühlte war ich eher glücklich.  Ich dachte dankbar daran, dass ich gelernt hatte zu vergeben.
Wie tief wäre ich gefallen, wenn ich mich nicht redlich zu seinen Gunsten bemüht und wenn ich ihm nicht vergeben hätte.

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