Dienstag, 20. März 2012

Schritte durch zwei Diktaturen (4)


Zu den herausragenden Besucherpersönlichkeiten gehörte Theodore Burton, ein Mitglied des ersten Rates der Siebziger. Ein brillanter Kopf, ein Hochschullehrer.

Er trug dazu bei, dass wir stärker denn je begriffen, dass die Systematik des Mormonismus wesentlich genauer als die der Bibel ist. Die innere Uneinheitlichkeit der Glaubensaussagen der Bibel, die selbst nach dem Selbstzeugnis zumindest der evangelischen Theologen, nahezu jede Deutungsvariante zulässt, gewinnt durch mormonischen Einfluss an Prägnanz.

Theodore Burton hielt uns im November 1962 einen bemerkenswerten Vortrag über das Gesetz der Adoption in der Kirche, nämlich wie wir gemäß Johannes 1, 12 und nach Mosia 5, 7 Kinder Christi werden können… Der Bezug den er zu KP Mose 6, zwischen den Versen 59 und 63 herstellte empfanden wir allesamt als sehr einleuchtend und bedeutend.

Es fiel mir wie Schuppen von den Augen. Ähnliches lehrte keine andere Kirche.
Und da ihr durch Wasser (nämlich jenes Wasser in dem der Embryo im Mutterleib heranwächst, völlig von diesem Medium umgeben) und Blut (nämlich das Opfer der Mütter im Gebärvorgang) und Geist (nämlich jenem Geist der aus der Präexistenz kommt) , den ich geschaffen habe, in die Welt geboren und aus Staub zu einer lebenden Seele geworden seid, so müsst ihr in das Himmelreich von neuem geboren werden, nämlich aus Wasser (dem Wasser der Taufe durch Untertauchung) und aus dem Geist ( der Gabe des Heiligen Geistes), und müsst durch Blut gesäubert werden, nämlich das Blut meines Einziggezeugten…..”

diese Harmonie der Lehre über mehrere kanonische Bücher hinweg ist sehr bemerkenswert.

Damals lernte ich Jochen Appel kennen, Mitarbeiter der Bezirksmordkommission. Er fuhr später so oft wie ihm möglich war mit mir als Hobbyfischer auf den See zum Fischfang hinaus. Für ihn wäre es besser gewesen er hätte mich niemals kennen gelernt.

Denn unsere Beziehung endete mit seinem Selbstmord meinetwegen. Nachdem wir zueinander Vertrauen gefasst hatten, erzählte Jochen mir mehr über seine Arbeit und ich gab meinerseits zu erkennen, warum ich schließlich als Fischer arbeitete. Ganz gegen meine Gewohnheit erzählte ich ihm eines Tages einen der in Frageform gepackten politischen Witze, die damals schnell jedermann Allgemeingut wurden. Unglücklicherweise plauderte er ihn einige Wochen später an denkbar unpassendster Stelle aus. Als Offiziersanwärter auf der Polizeischule zu Gera hätte er besser den Mund gehalten. Die gefährliche Spottfrage lautete “Was ist der Unterschied zwischen Walter Ulbricht und einer Rakete? Antwort: Da ist keiner! Beide werden von Moskau aus ferngesteuert!”

Vierzig angehende Polizeioffiziere hörten es, während sie auf einem LPG-Acker den Bauern halfen die Zuckerrübensaat auszudünnen. Gelacht hätten sie allesamt und mehrheitlich der Sache keine Bedeutung beigemessen. Schließlich gab es schlimmere Anspielungen. Diese zum Beispiel: Auf die Frage welche Lieblingskomponisten er habe, hätte Chrustschow geantwortet: "Liszt, Händel und G(K)rieg!"

Einer seiner Mitschüler zeigte ihn an. Augenblicklich wurde Jochen zum diensthabenden Offizier beordert. Der Mann wies ihn scharf zurecht: “Genosse Appel, von einem künftigen Offizier der Volkspolizei erwarten wir ein klares Bekenntnis zur Arbeiter- und Bauernregierung! Wer hat ihnen diesen Schwachsinn erzählt?”

Meines Freundes Versuch, sich auf eine ihm unbekannte Person herauszureden misslang. Sie sahen seinen Augen an, dass er log. Meinen Namen hätte er nennen müssen, um die Inquisitoren zufrieden zu stellen.
Jochen sah natürlich die Folgen voraus, falls er reden würde.

Er hätte für einige Minuten ernstlich geschwankt. Denn es ging um nichts Geringeres als um seine berufliche Zukunft. Allerdings stand auch meine Zukunft und die meiner Familie auf dem Spiel. Bis zu fünf Jahre Zuchthaus hätten mich erwartet. Ob Erika das überstanden hätte?

Er dagegen wäre für den Freundesverrat sofort belohnt worden und zwar mit jener Beförderung die der Petzer tatsächlich erhielt.

Ich saß in trügerischer Sicherheit. Als Jochen mir nur wenige Tage später völlig rückhaltlos mitteilte was sich ereignet hatte, stockte mein Herzschlag. In breitem mecklenburgischem Plattdeutsch beruhigte er mich jedoch: “Jung, ick künn die nich veroden!” Er hätte mich immer wieder vor sich gesehen, wie ich während der Fahrt auf dem See in meinem Boot sitze und in der Bibel lese. (Dabei las ich auf dem See viel häufiger Feuchtwanger.) Er hätte es einfach nicht übers Herz gebracht.

Sie verhörten ihn gnadenlos. Sie drohten und schickten ihn weg von der Schule. Nun war er gebranntmarkt. Mit welchen Gedanken und Gefühlen wird mein Freund, der sich entschieden hatte mich nicht zu verraten, heimgefahren sein? Den Aufstieg so nahe vor sich, auch den finanziellen Vorteil, zerrann seine Hoffnung wie Eis in der Sonne. Mit wie viel Bitterkeit wird er die Ahnung empfunden haben, dass diese dumme Geschichte für ihn noch längst nicht zu Ende war?

Ich aber empfand große Dankbarkeit.

Auch für andere Mitglieder in unserm Lande wäre ein Prozess gegen mich nicht gut gewesen. Denn diejenigen die mich überwachten wussten natürlich wie sehr wir durch diese “amerikanische” Kirche miteinander verbunden waren. Einmal verplauderte sich ein MfS-Offizier, der gelegentlich mit uns auf den See hinausfuhr. Er sagte etwas, das er nur aus meinen Briefen wissen konnte. Das veranlasste mich noch vorsichtiger zu sein.

Die Furcht der führenden Parteipolitiker vor grundsätzlich Andersdenkenden war erheblich größer, als ihre stets zur Schau gestellte Zuversicht. Deshalb bauten sie ihren nach innen gerichteten Überwachungsapparat ständig weiter aus.

Andererseits wussten die Psychologen unter den führenden SED Politikern, dass man allerdings Ventile gegen den Überdruck schaffen muss.

Deshalb gab es sogar im Fernsehen der DDR politische Satire. Nur, die war wohldosiert und wohlkontrolliert.

Jeden Satz, den ich in den nächsten Monaten und Jahren sagte oder schrieb, wog ich vorher sorgfältig ab.

Alle Bürger des Landes, besonders aber die in ihren Kirchen aktiven Leute, lebten unentwegt auf offener Schaubühne. Aber gerade diese scharfe Beobachtung unserer Lebensweise sollte sich mehr als ein Jahrzehnt später für unsere Kirche in der DDR als vorteilhaft erweisen.

Erst Jahre nach der Wende erfuhr ich die ganze Wahrheit.

Sie verhörten Jochen noch monatelang. Nachts holten sie ihn aus dem Schlaf. Ich in meiner Naivität ahnte nichts von alledem. Seine unerbittlichen Gegenspieler quälten ihn bis er zusammenbrach und den Freitod wählte. Er ertränkte sich.

Er hätte nur einmal meinen Namen preisgeben müssen….

Immer wieder stehe ich betroffen vor seinem Grab über dessen Gedenkstein ein weiße Birke Schatten spendet.

Jochen, Gott wird es Dir vergelten!


Nachdem ich einige Weiterbildungslehrgänge gut abgeschlossen hatte, zog mich H. Göck, freundschaftlich beiseite. Er nahm sein Mitspracherecht als Ehrenmitglied unserer Genossenschaft manchmal sehr intensiv wahr. Er bot mir im Beisein seiner Frau an, ich könne Vorsitzender des Fischereiunternehmens werden. Wir saßen an jenem sehr frühen Morgen gemeinsam an einem Tisch des Fahrgastschiffes “Fritz Reuter”, das uns nach einem langen, schönen Betriebsfest von Prillwitz abholte und nun heimbrachte. Die Sonne ging gerade auf, der Wasserspiegel rötete sich. Der Motor des Bootes schnurrte beruhigend.

H.G. legte mir seinen Arm freundschaftlich um die Schulter: “Du kannst doch mehr, als bloß Fische zu fangen. Warum sperrst Du Dich? Hör' doch auf, Dich und uns zu quälen. Setze Dich über Deine Bedenken hinweg. Komm zu uns in die Partei!” Es war mir nicht unangenehm, so umworben zu sein. Es schmeichelte mir. Doch im Grunde hatte ich diese Szene hundertmal im Geiste vorweggenommen und mir eingebläut, unter allen Umständen Nein zu sagen. Ich möchte nie in die Verlegenheit kommen und vor der Partei lobhudeln müssen.

Da mein Entschluss längst gefallen war, konnte ich ebenso ungezwungen freundlich wie er erwidern, dass ich sein Angebot nicht annehmen werde. “Ich bin ein durch und durch überzeugter Mormone und das heißt, ich glaube an Gott und lehne den Grundsatz der Diktatur ab, wer sie auch ausübt! Aus dieser Ablehnung habe ich nie ein Hehl gemacht! Wie kann ich mit solcher Einstellung der SED beitreten?”

Aufstöhnend lehnte er sich zurück und entzog mir seinen Arm. Ein paar Sekunden lang schaute er mich groß an: “Überlege Dir gründlich, was Du tun willst. Noch bist Du jung.”

Erika war von Herzen froh, dass ich mich nicht darauf einließ. Wie so oft tröstete sie mich und ihr Trost tat mir gut. Wir fuhren anderntags mit unseren beiden Söhnen Hartmut und Matthias nach Berlin in den Tierpark und genossen die ganze Schönheit der Natur, die uns mit leuchtenden Farben umgab. Wir besaßen eine AK 8 und ich filmte die schönsten Szenen, denn wir gingen und saßen zwischen vielen lachenden Kindern. Ein riesiger Pfau schlug sein Gefieder zum blaugrünen Rad. Wir fanden, dass wir auch ohne gesellschaftlichen Aufstieg glücklich waren. Gerade die Kontraste machten mir deutlich, was ich besaß.

Während die Kinder auf dem Spielplatz umhertollten, tauschten wir unsere Gedanken aus. Unsere Absicht war, in der Kirche Gottes fest zu bleiben.

etwa 1964, Hartmut jetzt Bischof in Berwick-Ward, Packenham-stake, Melbourne, an Mutters Hand.
Matthias jetzt Distriktpräsident in Mecklenburg



Im Januar 1965 wurde ich zum Distriktpräsidenten Mecklenburgs berufen, nachdem ich zuvor in vielen Organisationen der Kirche gedient hatte. Wir zählten damals nur dreihundert eingetragene Mitglieder, die über das sehr große Land im Norden der DDR verstreut, in sechs kleinen Zweigen wohnten.

Mein Vater, zu dieser Zeit Zweigpräsident in Wolgast. Er nahm sich im November dieses Jahres in einer Phase tiefer Depression das Leben. Wahrscheinlich waren das die Spätfolgen seines Kindheitstraumas und die Folge seiner für ihn unerträglichen Monate der Gefangenschaft

Psychiater hätten ihm helfen können, möglicherweise schon ein Medikament. Das lehnte er rigoros ab. Danach gab es nur noch mich. Ich wäre der einzige Mensch gewesen, der es hätte verhindern können. Keiner wusste so deutlich wie ich, dass es nur ein scheinbarer Widerspruch war, - eine fixe Idee - die ihn zu zerbrechen drohte.

Aber das wurde mir erst klar, nachdem das Unglück passiert war.

Ich haderte mit Gott und mit mir. Soweit hätte es nicht kommen dürfen. Wäre ich doch häufiger nach Wolgast gefahren um ihn zu besuchen. Hätte ich doch länger Urlaub genommen. Hätte ich doch mehr mit ihm gesprochen. Denn ich verstand den Ansatz seiner niederdrückenden Gedanken. Mein Verständnis für ihn riss ihn zeitweise heraus aus dem Kreis seiner eher unbegründeten Selbstanklagen und Ängste. Es tat ihm sichtlich gut, statt in der Stube sitzend und liegend zu grübeln, mit mir spazieren zu gehen und über ihn zu reden.

Meine Fehleinschätzung, er benötige mich nicht länger, hatte dieses vermeidbare Ende mitverschuldet.

Beladen mit dieser Last besuchte ich damals die Abendschule, um mich auf ein Fachschulstudium vorzubereiten.

Es war anstrengend, die Gedanken nicht immer wieder abschweifen zu lassen.

Vor mir saß ein junger Feldwebel. Er kam aus methodistischem Elternhaus. “Das muss aber keiner wissen!” sagte er. Mich wunderte seine Schamhaftigkeit. Mich ärgerte, dass der große, kluge und gutaussehende junge Mann den Kopf einzog, wenn das Gespräch sich diesem Punkt auch nur näherte. Da beschloss ich eines Tages, vor allen Anwesenden unserer Vorbereitungsklasse, bei nächst passender (oder nicht passender) Gelegenheit eine Diskussion zur Berechtigung des Glaubens an Gott auszulösen.

Schneller als ich dachte, wurde aus dem Funken ein Feuer. Unser Physiklehrer sprang sofort auf meine provokatorisch gestellte Frage an, ob es heute etwa ein Verbrechen sei, seine Kinder religiös zu erziehen.

Selbstverständlich ist das ein Verbrechen!”

Damit hatte er sich schon verstrickt.

Die Altgedienten der NVA, die in ihren Offiziersuniformen dasaßen, wandten sich zunächst in scharfer Form gegen meine Ansichten. Aber als ich sie daran erinnerte, dass Walter Ulbricht zum Meinungsstreit aufgefordert habe, und da sie vermutlich nicht traurig darüber waren, dass der Unterricht und damit die fällige Klassenarbeit verzögert wurde, ging es gleich zwei Stunden lang hoch und heiß her. Mein Anliegen war, herauszufinden, ob ich meiner eigenen Logik trauen durfte. Und nebenher wünschte ich dem Methodisten zuzusichern, dass sein Glaube, zumindest sein Glaubensansatz, doch in Ordnung war. In Hauptmann Honolka fand ich meinen schärfsten Kontrahenten. Er zielte genauer als die meisten meiner früheren Gegenspieler. Ich verteidigte zunächst nur die Richtigkeit der Morallehre Christi. Dann kamen wir zum Thema Schöpfergott.

Der martialisch aussehende Honolka sagte, dass die Evolutionslehre schon längst keinen Spielraum für Glauben an Gott mehr zulässt. Jede Verteidigung von Glaubenspositionen sei chancenlos.

Unmittelbar vorher hatte ich aber das Buch des katholischen Evolutionsforscher Freiherr von Hüne “Phylogenie der niederen Tetrapoden” gelesen. Mein sonst in der Kirche inaktiver Bruder Helmut hatte mich dankenswerterweise darauf hingewiesen. Das Wissen um diese Zusammenhänge half mir sehr, des Physiklehrers und Honolkas Hauptargumente abzuschmettern.

Der Hauptmann drehte sich zu mir um. Tiefe Falten kerbten sein Gesicht. Er war sehr beeindruckt.

Mir bot sich die Möglichkeit ihn freundschaftlich zu attackieren. Ich warb mit aller Kraft um Akzeptanz und sprach eindringlich von der allgemein vorherrschenden Leichtfertigkeit mit der gerade die „fortschrittlichsten“ Leute über bewährte Prinzipien wie Wahrhaftigkeit, Selbstbeherrschung und Güte, wie über ein Nichts hinwegschritten.

Nach und nach kamen wir zu mehr Ruhe. Dann stellte ich die Frage:

Wer sagt uns denn, dass wir im Weltall die einzigen Intelligenzen sind? Meine Kirche lehrt, dass viele Planeten bis in die entferntesten Galaxien bewohnt sind.”

Das sei meine persönliche Interpretation, fuhr Honolka erneut auf. “Nein!”-

Ich konnte beweisen, dass es Teil unserer festgeschriebenen Religion war. (K.P. Mose 1)

Wir glauben einfach, dass allem Sein ein Plan zugrunde liegt, und dessen Ziel ist der ewige Fortschritt.”

Zufälligerweise wurde damals in der Presse die Möglichkeit erwogen, ob einige der Signale die Astrophysiker aus dem Weltraum empfangen hatten, intelligenten Ursprungs sein könnten. Das half mir weiter.

Auf diesem Umweg gelang es mir, ihren Blick darauf lenken, dass der Atheismus nur eine erst etwa einhundertjährige Modeerscheinung war. Das zeige sich in der Selbstverständlichkeit, mit der er vertreten werde. Das zeige sich in der Leichtigkeit mit der er geglaubt wird. Es kostet keinerlei Mühe, mit der Einstellung zu leben, dass es keinen Gott gibt. Aber jeder weiß, dass die Entwicklung nach vorn und nach oben Anstrengung und Kraft erfordert.

Mit dem letzten Satz stimmten sie überein.

Wir kamen einander immer näher, als sie sahen, dass wir gemeinsam glaubten, es sei richtig sich zum Guten anzustrengen und zu erwarten, dass solches Bemühen uns auf eine höhere Stufe auch der Freiheit führen wird. Ich konnte weitere Argumente ins Feld führen die sie nachdenklich stimmten.

Dieser rasche Wechsel aus Widerspruch und Übereinstimmungen bewirkte , dass uns die zwei Stunden wie Minuten vorkamen.

Physiklehrer Lasse fasste zusammen: “Genossen, ich habe nicht geglaubt, dass es eine so überzeugende Religion geben könnte. Ich kann nichts dagegen sagen. Oder seid Ihr anderer Meinung?”

Immer wieder in den folgenden Jahren und Jahrzehnten sprachen mich ehemalige Klassenschüler an. Sie hätten nichts vergessen.

Ja, es war vor allem der Geist, die Atmosphäre gewesen, die sie so tief beeindruckt hatte.

Ausgerechnet der Exkatholik Honolka, der nebenbei gesagt, mit seiner straff am Leib sitzenden Kleidung eine gute Figur abgab, setzte sich nach dem Gespräch neben mich. Er schlug mir mit der flachen Hand aufs Knie und lachte. “Was Du gesagt hast, war eigentlich verrückt. Einfach zu behaupten, dass Gott der Vater der Evolution ist! Das hat mir noch keiner gesagt. Damit könnte ich leben – und wie Du Das gesagt hast…” Sein noch junges, wen auch stark gefurchtes Gesicht blieb mir für immer in Erinnerung.

Ich ging an diesem späten Novemberabend nachdenklich nach Hause. Hatte ich zuviel behauptet?

Beruhigend kamen mir plötzlich die Worte aus dem Prolog des Johannesevangeliums in den Sinn: “Im Anfang war das Wort (Jesus, der Gesetzgeber per Wort), und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort. Dasselbe war im Anfang bei Gott. Alle Dinge sind durch ihn gemacht und ohne dasselbe ist nichts gemacht, was gemacht ist.” 1,1-3. Die Sterne glitzerten. Ich hob den Kopf und hatte ein Gefühl großer Dankbarkeit, obwohl ich im Grunde tief traurig war. Denn ich dachte an meinen verstorbenen Vater. Dennoch spürte ich etwas Erhabenes und hatte das sichere und tröstliche Gefühl, ich würde ihn wieder sehen. Ich war ihm immer verbunden gewesen, ich liebte die Lehren die er mir übermittelt hatte, denn sie machten mich frei und reich.


Nur wenige Wochen später eröffnete mir Fritz Biederstaedt, einer meiner Fischerkollegen, fünfundzwanzig Jahre älter als ich und ein Erzfeind der Kommunisten, völlig unerwartet, er würde jetzt in die SED eintreten. Er habe sich für die letzten zwanzig Jahre seines Lebens noch viel vorgenommen. Strahlend optimistisch behauptete er, noch könne er sein Leben genießen. Er verband das eine mit dem anderen. Es sprudelte nur so heraus aus ihm. Rückhaltlos versicherte er mir, seine innere Einstellung habe sich allerdings nicht geändert. Nach wie vordem hasse er den Kommunismus, er verachte den ganzen politischen Quatsch. Aber noch an diesem Abend werde er sich von der Parteisekretärin Helene Göck umarmen lassen. Sein unbedingter Wille war, das Falsche zu tun. Er schimpfte an diesem Morgen unentwegt auf Ulbricht und dessen Politik der Kälte.

Ich hielt ihm vor: “Fritz, wenn Du so denkst, dann kannst Du doch nicht in seine Partei eintreten!”

Doch,” widersprach er und zwar auf Plattdeutsch: “Wenn Du wat warn wisst, denn mößt Du dat!” Unglaublich verworfen war diese geknickte Kurve, die er mir als Kreis beschrieb. Ich fragte mich und ihn, was er, der Sechzigjährige denn noch werden möchte. Was konnte er mehr sein als ein Mann, der bei seiner Ehre und bei der Wahrheit blieb? Fritz fasste seine Sichel fester, mit der er die zähen Rohrhalme, die auf den Neubrandenburger Torfwiesen in Massen herangewachsen waren, fast einzeln abschnitt. Seine hochschäftigen Lederstiefel patschten im schwarzen Sumpf. Er kam nahe zu mir heran. Seine braunen Augen funkelten. Es war ein Ausdruck, als wollte er niedermähen, was seinen Aufstieg behindern könnte. Ich werde nie vergessen, wie wir uns inmitten dieser von uns selbst geschaffenen Wände aus zehntausenden Rohrhalmen gegenüberstanden und die unmöglichsten Gedanken gegeneinander stellten. Nur der blaue Himmel war unser Zeuge. Dann sagte er plötzlich mit dem charmantesten Lächeln der Welt: “So dumm bist Du doch nicht, mich nicht zu verstehen!" Mich schauten diese großen Augen wieder friedlich an. Sie vermittelten diese sonderbare Mischung von Wissen aus bitterer Lebenserfahrung, Spott und immer noch jungenhafter Unbekümmertheit, die ihm stets zu eigen gewesen war. Wir sahen es beide nicht, dieses Gespenst, den Todesengel, der schon lauernd hinter ihm stand. Wir ahnten gar nichts. 146 Lebenstage lagen noch vor ihm. Doch der kühne Mann, der übermütig seine eigene Einsicht niedergerungen hatte, hoffte noch etwas erlangen zu können, das seiner neuen Meinung nach, ohne Parteimitgliedschaft scheinbar in unerreichbarer Ferne liegen bleiben würde.

Ich wusste, was er meinte, aber es war mir fremd.

links im Arbeibeitsboot, etwa 1978. Kleine Maräne geräuchert gelten als besondere Delikatesse manchmal fingen wir sie tonnenweise, die wenigsten steckten in den Maschen

unsere kleine ´"Armada" vielleicht  200 unterschiedlichste Zuschauer fuhren in den vielen Jahren mit mir aufs herrliche Wasser des Tollensesees, darunter nicht wenige "Mormonen"



Stets befand ich mich in der beneidenswerten Situation meinen Sport berufsmäßig ausüben zu dürfen, ich betrachtete es immer als eine Segnung, mein Kopf war frei.


Auch an der Fischereiingenieurschule in Hubertushöhe, die ich dann einige Jahre lang besuchte, bestätigten mir später einige Mitstudenten, zumeist schon ältere Jahrgänge, sie wären der Partei beigetreten, weil man nichts erreichen kann wenn man sich quer stellt.

Alle Herzen, auch die der Genossen, fühlten mit den Tschechen als während unserer Studienzeit der Prager Frühling kam. Alle freuten sich darüber, dass Alexander Dubcek die Grenzen nach Österreich durchlässiger machte.

Begeistert verfolgten wir den Demokratisierungsprozess in der Tschechoslowakei. Die bedeutenden Literaten des Landes und Bürgerrechtler hatten mit Duldung der Regierung Dubcek ein Manifest zur Konstituierung eines Gremiums verbreitet, das für die Respektierung der Menschenrechte in der CSSR eintrat. Diese Charta 77 rückte immer mehr in unser Blickfeld. Mit ungeteilter Zustimmung und Staunen verfolgten wir die Entwicklung zur Verwirklichung von mehr Bürgerrechten, sozusagen vor unserer Haustür. Unerwartet für nicht wenige wurde der Wunsch nach mehr Freiheiten, plötzlich auch in der DDR immer lauter. War das ein akzeptables Sozialismus-Modell, da sich da vor unseren Augen und Ohren entpuppte? Kam nach dem endlos grauen Morgen endlich ein neuer Tag herauf? Würden auch wir wieder reisen dürfen wohin wir wollten? Dürften auch wir wieder frei und ohne Furcht vor unberechenbarer Schikane sagen, was wir dachten?

Wer die Hoffnung schon aufgegeben hatte, erhob wieder den Kopf.

Demgegenüber stellte sich den empörten Machthabern des Kreml die Frage: Was tun? Die aus ihrer Sicht einzig denkbare Antwort. lautete:

Mit Gewalt einschreiten! Natürlich schraken nicht wenige linientreue Mitdenker vor den daraus resultierenden Fragen zurück. Kann man es nach Ungarn noch einmal wagen? Darf man, mitten in Europa, vor den scharfen Augen der Weltöffentlichkeit, die Panzer gegen ein friedliebendes Volk auffahren lassen? Was würden die eigenen Genossen dazu sagen?

Bis auf den heutigen Tag wissen wir nicht, wie viele Kommunisten eine militärische Intervention wünschten. Sehr wenige, vermute ich. Ich glaube, dass nur die “Arbeiterführer” in den Hauptstädten Moskau, Berlin und Sofia Extremisten waren. Ihr Problem bestand darin, einen Ansatzpunkt für ihren gewaltigen Hebel finden zu müssen.

Ihr Militär wird ihnen gehorchen, so wie die Jesuiten ihrem General, auch wenn ihr Weiß unleugbares Schwarz ist.

Das hatten sie ihren Offizieren und Mannschaften in unendlich vielen Schulungen beigebracht nicht zu fragen wenn die Partei ruft.

Da kam den Strategen die rettende Idee. Ein Hilferuf aus Prag musste her!

Gedacht, getan. Mit ihren eigenen Leuten initiierten sie diesen Schrei nach internationaler "Unterstützung" gegen die Konterrevolution. Knapp einhundert Arbeiter und Angestellte von Fünftausend, - weniger als zwei Prozent der Beschäftigten der SKODA-Werke, -ließen sich herbei, den vorbereiteten Aufruf zu unterzeichnen. Es war nicht möglich, irgendwo im Lande mehr Zustimmung zu erhalten. Doch das reichte ihnen aus. Zwei Prozent zu gemeinsamem Tun Entschlossene holen allemal, wenn sie wollen, den Teufel aus der Hölle und setzen ihn auf den Thron.

Mehr Personen unterschrieben jenen Aufruf, den "Neues Deutschland" anderntags veröffentlichte, nicht. Diese Menge reichte aus. Obwohl das tschechoslowakische Parlament in Permanenz tagte, um Moskau und der Welt zu signalisieren, dass die Regierung allezeit handlungsfähig war, wurden die sowjetischen Luftlandedivisionen einschließlich ihrer schweren Technik in die bereitgestellten Maschinen beordert. Während die Prager Reformer weiterhin ihre Friedfertigkeit beteuerten und ihre Gutwilligkeit unter Beweis stellten, setzten die Aggressoren ihre Kampfeinheiten in Marsch und flogen zehntausende, auf blinden Gehorsam dressierte Elitesoldaten ins Operationsgebiet Prag. Vorneweg zwei fliegende Radarstationen die sich den Einlass durch die Lüge verschafft hatten, sie hätten einen Motorschaden und bitten auf dem Prager Flugplatz um Landeerlaubnis. Nun waren die Aggressoren im Stande, den anfliegenden Tross ohne Hilfe des Towers einweisen zu lassen. Ihr Ziel war die sofortige Entmachtung der einzigen (reform)-kommunistischen Regierung der Welt, die wirklich vom Willen des Volkes getragen wurde. Der tschechoslowakische Rundfunk berichtete unter unserer aller banger Anteilnahme bis zuletzt. Der Nachrichtensprecherin letzten Worte, die wir live miterlebten, lauteten zu unserem Entsetzen: “Wir hören sie kommen!”

Das haben wir, die sich um die Erfüllung des Wunsches nach mehr Freiheit sehnenden, den Kommunisten nie verziehen, dass sie so mit uns umsprangen.


Mir war immer unverständlich geblieben, dass es nach diesen Ereignissen noch weitere Eintritte, von Leuten meiner Generation, in die SED gab. Wahrscheinlich ist der Grund dafür ganz simpel. Wir neigen eher dazu, das Bewusstsein von der Existenz des Bösen zu verdrängen, als es überwinden zu wollen.

Manchmal leben wir, als wenn wir Eintagsfliegen wären
1971, nachdem wir einen in mehrfacher Hinsicht missglückten 5-Tage-Betriebsausflug nach Moskau unternommen hatten, sollte H. Göcks ganzer über die Jahre angestauter Ärger und Zorn über mich hereinbrechen. Die Unglückskette negativer Ereignisse begann mit der Landung und der sich anschließenden Fahrt. Von Scheremetjewo 1 fuhren wir in einem Bus quer durch Moskau nach Ostankino in unser Hotel. Wie in einem Spezialfilm erhielten wir Einblicke in eine Unzahl Wohnungen und sahen so die Winzigkeit der unverhüllten, von sehr schlichten Lampen erleuchten Stuben, die durchweg kleiner als unsere waren. Ein Tisch, ein Wohnzimmerschrank, vier Stühle, ein Fernsehgerät. Das war es: vierzehn, sechzehn Quadratmeter Fläche.

Diese elenden Massenquartiere sollen der Gipfel der kommunistischen Errungenschaften sein?

Selbstverständlich verglich ich alles mit Nauvoo, der Stadt Josephs.

Der ganze riesige Unterschied zwischen Kommunismus und Mormonismus lag für mich auf der Hand.

Am nächsten Tag sahen wir außerdem diese Behausungen in den tempelartigen Hausriesen an der graubraunen Moskwa, in denen jeder Einzelne in der Menschenmasse unweigerlich versinken musste. War dies der ganze Ertrag von zwei Generationen Kampf und Blut und Tränen?

Bereits am zweiten Tag unserer Anwesenheit erhielten wir die Information, dass wir am nächsten Tag abreisen müssten. Moskau richte gerade einen internationalen Ärztekongress aus und wir müssten doch einsehen ... es fehlten Hotelbetten und Verpflegungskapazitäten. Unglücklicherweise saß ich am Tag der erheblich vorverlegten Rückreise während des Frühstücks neben einem Holländer, den ich am Vortag kennen gelernt hatte. “Dann müssen sie eben streiken!” sagte er in dem Augenblick, als einer meiner jüngeren Kollegen, mein Neufeind, den ich gerade wegen unkluger Äußerungen erworben hatte, an unserem Tisch vorüberging. Ich bemerkte, dass er es gehört hatte. Denn er warf mir einen jener scharfen Blicke zu, die er verteilte, wenn ihm eine Laus über die Leber gelaufen war. Er ging sofort zu unserem selbsternannten Reiseleiter H. Göck und teilte ihm mit, dass ich mit einem Westmenschen über einen Streik in der DDR gesprochen hätte. Ich sah, dass sie nebeneinander standen und miteinander tuschelten, während sie zu mir herüberschielten. H. Göck ließ sich jedoch zunächst noch nichts anmerken, obwohl es wahrscheinlich augenblicklich in ihm hochkochte. Dabei hatte er sich so viel Positives von dieser Reise versprochen. Er hoffte, dass wir und ich von seinem Moskau begeistert sein würden. Er fraß den Ärger vorläufig in sich hinein. Ich musste ihm ja bald über den Weg laufen, wenn wir erst wieder daheim angelangt waren,... Statt sich also gleich über meine Verwegenheit aufzuregen, gab er bekannt, dass wir noch im interessanten, in großer Höhe befindlichen Restaurant des Fernsehens Ostankino die im Reiseprogramm vorgesehene Mahlzeit einnehmen dürften. Im sausenden Fahrstuhl erreichten wir es und saßen wirklich anerkennend staunend da, weil wir uns in dieser Zeit mindestens einmal um die Achse des 500 m hohen Sendeturmes drehten. Ein großes Kompliment an die Ingenieure! Anschließend ging es noch schnell zum Roten Platz. Vorbei an einer kilometerlangen Menschenschlange wurden wir bevorzugt zum Leninmausoleum geleitet und eingelassen. Ich glaubte schon einigermaßen glimpflich davon gekommen zu sein und bedauerte nur, dass sie Stalins balsamierten Leichnam von hier weggeschafft und an der Kremlmauer beigesetzt hatten. Den Generalissimus hätte ich gern gesehen. Aber dieser Lenin, der dort lag, reichte mir dann. Wider besseres Wissen empfand ich immer noch gewisse Bewunderung für die Leistung dieses genialen Staatsmannes, dem es tatsächlich gelungen war, die Welt auf den Kopf zu stellen. Aber als ich die zurechtgemachte Mumie in ihrem gläsernen Sarkophag daliegen sah, war es aus mit meiner Restsympathie für Wladimir Iljitsch Uljanow. Denn ich sah einen unbeugsamen asiatischen Despoten. (Den die Deutschen, 1917, in einem verplombten Sonderwaggon aus der Schweiz nach Russland schaffen ließen, weil sie sich von ihm eine Vergrößerung des russischen Chaos zu Gunsten der entkräfteten deutschen Ostfront versprachen.)

Mir lag es völlig fern, einen Mann zu verunglimpfen, den Millionen wie einen Gott verehrten, und hielt meine Zunge im Zaum. Doch ich wusste etwas für mich. Soll er ruhen und mögen sie ihn lieben. Ich möchte damit nie etwas zu tun haben. Für mich stand fest: Die Ideen aus harten Köpfen der Diktatoren werden eine liebebedürftige Welt niemals befriedigen können.

Um dem Unheil zu begegnen, das sie in die Welt bringen würden, war Joseph Smith von Gott berufen worden. Ich zitierte für mich und Erika die Verse in Lehre und Bündnisse Abschnitt 1, Verse 16 und 17.

Kaum wieder in Neubrandenburg angelangt, ließ der mehr denn je erzürnte Mann Hermann Göck alle Genossenschaftler antreten. Wir gehorchten und versammelten uns zum angesetzten Termin im “Kulturraum”. Im langen Gesicht Göcks sah man die weißroten Flecke der Erregung. Zunächst grummelte es nur verhalten aus seiner erregten Seelentiefe hervor, indem er zum “Einschießen” zunächst einen anderen beschimpfte, Hermann Witte, das Woldegker Original. Ein Mensch, der selten ein Blatt vor den Mund nahm, der das Fischereihandwerk übrigens in einem Mormonenhaushalt erlernt hatte und der mancherlei Insiderwissen hatte, genug um mich gelegentlich zu verspotten. Ich bemerkte natürlich, dass H. Göck eigentlich mich meinte, indem er auf meinen Kollegen einschlug. Deshalb forderte ich ihn schließlich auf, doch unverblümt zu sagen, was ihn wirklich bedrückt. Ich hatte ein gutes Gewissen. Diese Ermutigung muss ihn noch mehr gereizt haben. Es brach mit elementarer Gewalt aus ihm heraus. Der Vulkankegel flog krachend weg. Hemmungslos schrie er mich an. Drei, vier Minuten lang spuckte er glühende Lava: “Beleidigung der Sowjetmenschen und Du willst streiken, Provokation, Arroganz ... Wenn Du ... dann rausschmeißen aus der Genossenschaft, Diffamierung, Boykotthetze ... Reiseverbot ... für ewige Zeiten ... nie wieder SU ... Verbrechen! Millionen haben ihr Leben verloren! Einsperren! ... endlose Opfer ... verbrannte Erde und Du, Du ...” es machte wenig Sinn, es sei denn, ich hätte in der Rüstkammer des Kreml zwischen den Vitrinen, in denen wir den Zarenschatz bewundern konnten, eine Bombe verstecken wollen, und wäre dabei ertappt worden. Mir war nicht gerade wohl zumute, denn er fühlte sich verletzt. Jede Kränkung, die ich ihm jemals zugefügt hatte, musste ihm auf recht schmerzhafte Weise wieder ins Bewusstsein gedrungen sein.

Da schrie ich zurück, ebenso laut wie er, als wären wir beide schwerhörig und meine Kollegen dreihundert Meter weit weg. “Ich kenne Deine unzuverlässigen Informanten!” Ich nannte meinen Neufeind beim Namen, der aus Krankheitsgründen an diesem Schicksalstag, zu meinem Glück, nicht anwesend war. Bebend vor Erregung stieß ich aus, dass ich mir verbitte, mit mir in diesem Ton zu reden. Ich nannte ihm auch den zweiten Namen, den eines bekannten Neubrandenburger Mannes, des einzigen, demgegenüber ich mich nach der Rückkehr wegen der mitleiderregenden Armut kritisch geäußert hatte. In der wüsten Schimpfrede H. Göcks waren mir nämlich genau die Wortelemente aufgefallen, die ich nur einmal und zwar diesem Zweiten gegenüber zum Ausdruck gebracht hatte. Die Erwähnung der Namen beider Männer, vor allem des Zweiten, verfehlte seine Wirkung nicht, und sofort fasste ich nach und stellte richtig, was richtig zu stellen war. “Ich habe nicht über einen Streik in der DDR gesprochen, weil ... aber ich bin maßlos enttäuscht, wenn das, was wir gesehen haben, das ganze Ergebnis von sechzig Jahren Kommunismus ist. Mir tun all diese zahllosen durch willkürliche Eingriffe zerstörten Familien leid, es tut mir weh, zu sehen, dass in Kriegs- und Friedenszeiten Abermillionen für ein Nichts an Verbesserung ihr Leben hingeben mussten. Eben weil ich dies in Bildern vor mir sehe, vielleicht deutlicher als Du, - ob Du das glaubst oder nicht. Bei allem, was wir heute wissen, frage ich mich und Dich : Wofür? Dafür?”

Unsere Männer hatten längst die Köpfe eingezogen.

Ja, der verfluchte Krieg!” hob er wieder an, irgendwie beruhigt zunächst, doch ich drosch ihm dazwischen: “Der dreimal verfluchte Krieg ist doch nicht schuld daran, dass in der Weltmetropole Moskau die Menschen überwiegend beengt wohnen. Das ist geplant!” Es ging hastig hin und her. Mal schlug er mich, mal ich ihn. Jedoch, als er ebenso mattgekämpft wie ich aufgab, und nachdem er davon gegangen war, schlugen mir die Männer auf die Schulter: dem hätte ich es aber gegeben.

Äußerlich erschien ich wahrscheinlich ruhig. Doch meine Knie zitterten, mein Gemüt bebte nach. Ich hatte Angst. Denn die Macht und der größere Zorn waren auf seiner Seite. Mir wäre ein Burgfriede viel lieber gewesen, doch das konnte ich auf mir nicht sitzen lassen. Zu solchen maßlosen Beleidigungen und Drohungen, ich wäre ein Feind der einfachen Menschen, hätte er sich nicht hinreißen lassen dürfen. Über diese Provokation hatte ich mich vergessen.

Die Angst der Ungewissheit blieb aber eine Weile bei mir. Die Frage stand, was er gegen mich unternehmen würde.

Wenige Wochen später sah ich H. Göck zufällig wieder. Er ging gebeugt. Ich sah schon von weitem, das etwas passiert sein musste. Er kam aus Richtung des Krankenhauses in der Külzstraße. Ich wich ihm nicht aus, ging auf ihn zu, sprach ihn an. Unter den Blättern und hängenden Zweigen einer schon herbstlich gefärbten Birke blieben wir stehen. Seine Frau läge im Koma. Die innere Erschütterung zeichnete sein Gesicht. Er war gebrochen. Unerwartet muss ihn die Erkenntnis getroffen haben, dass seiner Macht unübersehbare Grenzen gesetzt sind. Er tat mir aufrichtig leid. Es war auch ihm, denke ich, angenehm, dass wir es einander nicht länger nachtrugen.
Fünf Männer im arbeitsfähigen Alter waren wir, Henry Burkhardt der Missionspräsident, Gottlieb Richter, sein 2. Ratgeber und drei Distriktpräsidenten, Lothar Ebisch, Walter Schiele und ich, - mehr Nichtrentner durften nicht nach München fahren um an der 3. Gebietsgeneralkonferenz der Kirche im Sommer 1973 teilzunehmen.

Wir hörten Präsident H.B.Lee und den Tabernakelchor!

Es war großartig. Es erinnerte mich an jene große Konferenz in Berlin 1938 mit Heber J. Grant. Da erklang damals eine jubelnde Fanfare von der Nachbarloge unserer Tribüne. Unten saßen die Missionarinnen auf dem Podium. An sie kann ich mich erinnern, weil einige von ihnen schluchzend weinten. Als achtjähriger konnte ich damals noch nicht verstehen warum man bei einem freudigen Ereignis Tränen vergießen muss.

Um Haaresbreite wäre ich in München nicht dabei gewesen.

Zehn Stunden vor der Abfahrt mit dem letztmöglichen Zug wusste ich noch nicht, ob die Regierung grünes Licht geben würde. Kurz vor Mitternacht ruderte ich vom schwarzen See zum nächsten Telefon in einer Gaststätte. So erfuhr ich gerade noch rechtzeitig, dass ich reisen darf.

Bei der Rückreise wurden wir kontrolliert. Die ostdeutsche Zöllnerin fand mein kleines Liederheft, schlug es auf und las den Titel “Mehr Heiligkeit gib mir”. Ihre Augen rollten. Sie blinzelte mich leicht spöttisch fragend an. Ich zuckte mit den Achseln und dachte in ihr angenehmes Gesicht hinein: nun ja, wir bemühen uns!

Sie fragte wortlos zurück: und worüber haben sie Sechs sich noch eben, kurz bevor ich eintrat, so köstlich amüsiert?

Wir hatten Spaß miteinander!”

Lothar hatte einen politischen Witz erzählt…Das musste sie nicht wissen. Hätten wir erwidern sollen, wir freuen uns wieder in den Käfig zu kommen?Besonders in den Tagen des Sommers 1974 als wir unseren Betriebsausflug ins Land der Magyaren unternahmen, erinnerte ich mich erneut der traurigen Vergangenheit dieses Landes. Das tragische Schicksal des damaligen Ministerpräsidenten Imre Nagy und die Bilder von seiner von russischen Panzern überrollten Hauptstadt Budapest bewegten uns immer noch. Diese fernen Ereignisse gehörten nicht nur für mich zum Schlimmsten was die Kommunisten jemals verbrochen hatten.

Achtzehn Jahre lagen die Ereignisse zurück und sie waren, wie es schien, bereits in Vergessenheit geraten.

Irgendwann, an diesem heißen Spätsommertag 1974, langten wir Touristen am Budapester Platz der Nationen an. Dort hielt uns unsere Dolmetscherin, - eine temperamentvolle, charmante und auffallend gut gekleidete Fünfzigerin, - in recht geschwindem Deutsch einen Kurzvortrag zu den zwölf deutsch-österreichisch-ungarischen Kaisern und Herrschern, deren Statuen dort aufgestellt worden waren. Ehrlich gesagt, sie hatte den Vortrag heruntergeleiert. Ich stellte eine Nachfrage, weil mich der Kaiser Matthias interessierte, hätte er doch die politische Weichenstellung, die dann bedauerlicherweise zum 30-jährigen Krieg führte, auch anders vornehmen können. Der ganze Jammer wäre vermeidbar gewesen.

Wütend fuhr mich die Dame an, die sich selber als Dolly vorgestellt hatte: “Passen Sie nächstes mal gefälligst auf! Ich habe ihnen die Frage längst beantwortet!” Sich auf den Hochhacken ihrer schicken Schuhe abdrehend, stürzte sie auf unseren himmelblauen Bus zu. Ich war schneller. Ihre Mimik warnte mich, sie anzureden. Ihr war ja anzusehen, was sie dachte. Es war unter ihrer Würde, einfachen Fischern, statt Hochschullehrern oder Künstlern zur Verfügung stehen zu müssen. Nicht der nichtvorhandene Geruch, der unserem Berufsstand anhaften sollte, sondern eher ihre Vorstellung davon war es, was sie möglicherweise als so unangenehm empfand. Glaubte sie im Ernst, dass sie mich durch ihre rigorose Unhöflichkeit abschrecken könnte?

Da fehlt aber der dreizehnten Nationalheld!” sagte ich. Sie stutzte. Ihr Atem stockte. Sie zog die Lider hoch. “Und der wäre?”

Imre Nagy!” erwiderte ich.

Um Gottes willen!” Ihr Gesichtsausdruck änderte sich. Sie griff haltsuchend nach meinem Ärmel, schaute sich um und sah mir angsterfüllt und zugleich mit einem schönen Aufleuchten ihrer grauen Augen erstaunt an. Zum Glück befand sich niemand in der Nähe, der das gehört haben konnte.

Die Redaktion!” flüsterte sie. Die Redaktion, das war ihre Umschreibung für Leute des ungarischen Staatssicherheitsdienstes oder solcher die ihm zuarbeiteten. Wenn das einer der Redakteure gehört hätte! Kaum war ich in den Bus eingestiegen und hatte neben Erika Platz genommen, kam sie zu uns. “Darf ich mich nach dem Befinden Ihrer Gattin erkundigen? Sitzen Sie bequem? Kann ich etwas für Sie tun?” In mir lachte es vergnügt. Im Traum wäre ihr nicht eingefallen, einen einfachen Fischer und seine Fischerin so zuvorkommend zu behandeln. Aber so unverhofft einem deutschen Gesinnungsgenossen zu begegnen, nun da doch alles längst Geschichte war, zu einer Zeit, da kaum noch die nachgeborenen Ungarn daran zurückdachten, das hatte sie überwältigt.

Ich verzog, hoffe ich, keine Miene. “Vielen Dank, alles OK.” erwiderte ich und tat viel bescheidener, als ich in Wahrheit war, und nickte ihr zu. Innerlich jubelte ich: Na also, hatten wir doch dieselbe Wellenlänge.

Am Programm des Abschiedsabends nahm ich allein und nur für eine Stunde teil, weil es Erika bei der unglaublichen Hitze schlecht ging. Als unsere Dolmetscherin Frau Dolly bemerkte, dass ich aufbrach, winkte sie ein Blumenmädchen heran, kaufte schneller als ich begreifen konnte einen Rosenstrauß und gab ihn mir mit besten Genesungswünschen für meine liebe Ehefrau mit auf den Weg.

Nein, wir hatten Imre Nagy nicht vergessen, auch nicht Alexander Dubcek, weder die Niederschlagung des Budapester noch des Prager Aufstandes, nichts von alledem, was die Machthaber so gern vergessen machen möchten.

Für mich war es der kleine Mann, der die “Königreiche erzittern machte und der das Haus seiner Gefangenen nie öffnete”. Er stand hinter diesem Modell und Schicksal, dass er allen Nationen zugedacht hatte.

Jedenfalls gab es sie, diese schwarze Allmacht, die uns bis in die Nachtträume hinein begleitete und verfolgte. Es gab diese furchtbaren Pläne in den Schubladen der Moskauer Militärs, den Gegner auf seinem eigenen Territorium zu schlagen.

(Wie sich nach der Wende zeigen sollte, setzten die Russen auf den durch Westeuropa führenden Transit-LKW-Routen häufig Panzerfahrer ein, damit die sich schon, en passant, ein Bild vom künftigen Operationsgebiet verschaffen konnten.)

Im Sommer 78 wurde ich von meinem Zweigpräsidenten aufgefordert, Gustav Briel zu besuchen. Er hatte sich als alter Mann der Kirche angeschlossen und wohnte nun wieder, nach fünfzigjähriger Abwesenheit, in Penzlin. Er war aus Westdeutschland in seine Heimatstadt zurückgekehrt, hatte hier noch einmal geheiratet.

Wir sahen, dass Bruder Briel seiner siebzigjährigen Frau und erst recht seiner steinalten Schwiegermutter nicht gewachsen war. Die Uralte saß im Ohrensessel und jedes Mal, wenn ich den Mund aufmachte erwiderte sie: “Wissen Sie nicht, dass es ungehörig ist, das Wort zu nehmen bevor die Dame des Hauses es Ihnen erteilt?”

Wir wurden extrem scharf abgewiesen.

Die wortgewandte Uralte starb.

Danach unternahm ich zwei oder drei weitere Versuche um mit Briels ins Gespräch zu kommen. Doch wie zuvor, wies mich Frau Briel stets brüsk zurück. “Da ist die Tür!”

Die Mormonen seien eine furchtbare Sekte. Sie wünsche keine Diskussion.

Bruder Briel neigte sich bekümmert, geleitete mich die Treppe hinunter und bat: “Bitte, kommen Sie nie wieder!"

Aber selten zuvor hatte mich eine Aufgabe mehr gereizt. Eines Tages kam ich von einer Fischereitagung aus Waren, musste also auf dem Weg nach Neubrandenburg durch Penzlin fahren. Ungefähr zehn Kilometer vor dem Ortsschild habe ich - ich denke die Art war ziemlich ungebührlich - im Auto laut gerufen: “Lieber Vater im Himmel. Ich bitte dich und bestehe darauf, mir zu helfen, eine Tür in Penzlin zu öffnen.” Jedes Detail erwähnte ich, Namen und Vornamen meiner Seelenfeindin, die Straße, die Hausnummer, die Umstände und konzentrierte meine ganze Gedankenkraft auf dieses Ziel. Vor dem Wohnhaus, in der Bahnhofstraße 19, angekommen, stieg ich aus meinem Trabant und nahm die Stufen, zwar hoffnungsvoll, doch nicht ganz so hastig wie sonst. Ich klopfte. Sie öffnete. Ihr Gesicht sprach Bände. Durch den kleinen Spalt sah ich ein Bild in ihrem Zimmer. Sie folgte meiner Blickrichtung. Sie schaute mich an. Sie hätte ja fragen können: “Warum stecken Sie Ihre dämliche Nase immer in fremde Angelegenheiten?” Aber zu meiner Verwunderung hörte ich: “Das ist mein erster Mann. Kommen Sie herein!”

In den nächsten zwei Stunden erfuhr ich alles, was in dieser Sache für mich zu wissen wichtig war. Der Mann mit der Pickelhaube, den sie als junges Mädchen geliebt hatte, war eine Woche nach der Eheschließung im letzten Jahr des Ersten Weltkrieges an der Westfront gefallen. Auf den zweiten Jugendfreund, Gustav Briel, hatte sie fünfzig Jahre gewartet. Kaum erneut verheiratet, bemerkte sie, dass sie ihn mit einer furchtbaren Organisation teilen sollte, deren Anliegen war, ihn eines Tages ganz von ihrer Seite zu reißen. Lehre und Struktur der Sekte seien dementsprechend beschaffen. Alle die sich den Mormonen anvertrauten, würden total vereinnahmt.

Ich konnte nicht anders, als manchmal verstehend und einmal sogar zustimmend zu nicken, was sie wiederum verwunderte.

Das sei zwar so. Dieses Ganz-oder-gar-nicht Prinzip wirkte. Nur, es bedeutete nicht, dass sie in seinem Leben dadurch einen geringeren Platz einnehmen würde. Denn die wichtigste Aufgabe jedes Mitglieds meiner Kirche war und ist treu zu seinem Ehepartner zu stehen, gleichgültig ob der die Glaubensansichten teilt oder nicht.

Im Wesentlichen irrte sie sich natürlich. Aber wer weiß, wessen mehr oder weniger tendenziöse Bücher sie über Mormonen gelesen hatte? Aus ihrer Perspektive gesehen, stellte sich die meines Wissens beste Philosophie der Weltgeschichte als Ungeheuerlichkeit dar.

Warum weigerte ihr Mann sich ihr alles über die Zeremonien im Mormonentempel zu erzählen? Warum trug er Unterkleidung mit Zeichen? Was verschwieg er ihr?

Um mich korrekt zu verhalten musste ich weit ausholen…

Als ich heimfuhr, war mir klar, dass ich nicht nur ihr Ohr sondern ein bisschen die Zuneigung einer nicht unbedeutenden Frau gefunden hatte. Sie war zu Beginn der dreißiger Jahre Lyzeumsdirektorin gewesen und verfügte über eine wunderbare Beredsamkeit. Ich hatte ihr versprechen müssen, wiederzukommen.

Von da an besuchte ich sie und ihren Mann monatlich mindestens einmal. Immer wurden es Vier-, Fünfstundenrunden. (Meine Söhne als meine Heimlehrerpartner erledigten in dieser Zeit jeweils ihre Hausaufgaben oder Korrespondenz mit ihren Freundinnen.)

Jahrelang ging es gut, immer besser.

Eines Tages erklärte sich mich für ihren Freund.

Ich war, ehrlich gesagt, stolz solche Freundin zu haben.

Denn die eine Szene stand mir so lebhaft vor Augen, wie sie im Sommer 1945, damals noch als Frau und Parteigenossin Pfaffenberg vor der Warener Entnazifizierungskommission und als Nummer einhundertundsechsundvierzig auftrat.

Na, Frau Pfaffenberg, Sie haben also auch der Nazipartei beitreten müssen!”

Ich bitte mir aus, nicht in diesem Ton mit mir zu reden. Ich war eine überzeugte Nationalsozialistin! Ich, Martha Pfaffenberg habe gewusst, was ich tat. Der Führer war mein Ideal. War, meine Herren habe ich gesagt! Das merken sie sich bitte!” Das muss sie recht laut und mit dem ganzen Nachdruck ihrer starken Persönlichkeit gesagt haben.

Alle schläfrig vor sich hin dösenden Mitglieder der Kommission seien plötzlich hochgeschreckt und hätten sie mit geweiteten Augen angestarrt.

Jawohl, ich war Hitlers treue Parteigängerin solange, bis er gegen die Juden vorging. Ich war sehr wohl für die Verweisung bestimmter Juden in ihre Grenzen, aber niemals für ihre Verfolgung. Als ich das sah, habe ich dem Führer mein Parteibuch vor die Füße geschmissen.”

Die sich vor den untersuchenden Herren aufreckende Frau muss ihnen Hochachtung abgenötigt haben, um so mehr, da sie so häufig auf Waschlappen stießen, die jammervoll beklagten, sie hätten keine andere Wahl gehabt und seien wider Willen der Hitlerpartei beigetreten. Der Vorsitzende allerdings ließ sich wenig beeindrucken.

Ja, und? Man weiß, dass Sie bis zuletzt Mitglied der NSDAP waren.”

Meine Herren, ich schulde ihnen gar nichts. Aber wenn sie wie ich einen gefährdeten Vater gehabt hätten...”

Der Gauleiter Pommerns Swede-Coburg, hatte ihren 1938 erfolgten Parteiaustritt nicht anerkannt und gedroht, man könne sich dann an ihren Vater halten. Eine Lyzeumsdirektorin durfte die Partei nicht verlassen. Diese Androhung von Sippenhaftung brach ihren Mut. Aber sie habe sich seit 1938 als Nichtmitglied betrachtet, daran lasse sie nicht rütteln, gleichgültig ob die Fakten für oder gegen sie sprächen.



Mir erzählte sie, wie sie ihren Glauben an Gott in den Hitlerjahren verlor. Was sie bewegte, war nicht so sehr das Unheil an sich, das Gott zuließ und das schließlich nur feige Menschen einander zufügt hatten, sondern es war die Zänkerei unter den beiden Ortsgeistlichen. Wann immer sie selbst als dritte Partei im selben Wohnhaus Zeuge der gehässigen Auseinandersetzungen unter Theologen wurde, verlor sie Glaubenssubstanz. Bis nur noch ein Rest von Religion in ihr übrig geblieben sei. Wörtlich fügte sie hinzu: “Heute glaube ich nur noch zehn Prozent von dem, was mit traditionellem christlichem Denken zu tun hat.”


Für mich schrieb und sang sie. Sie hatte an den Mormonen fast nichts mehr auszusetzen.

Bis ihr Ehemann, - nicht ich - einen Schritt weiter ging, als sie nachzugeben bereit gewesen war. (Sie vergaß niemals irgend etwas, das für sie von Belang war.)

In seiner Naivität hatte er seiner Frau begeistert erzählt wie gut es ihm getan hatte wieder eine Versammlung unserer Kirche besucht zu haben. Er beichtete ihr, dass er an jedem Tag in der Vergangenheit innerlich auf der Seite seiner Kirche gestanden hätte, auch damals als sie es ihm untersagte.

Das verkraftete sie nicht. Sie fühlte sich überfahren. Die Erregung über die Entdeckung, von mir überlistet worden zu sein, raubte ihr den Schlaf. Sie beorderte mich nach Penzlin.

Unser mühevoll gemeinsam errichtetes Haus der Übereinstimmung riss sie mutwillig ein, indem sie ihrem Mann und mir verbot noch irgendeinen Satz zu wechseln. Sie verbot mir endgültig ihr Haus zu betreten.

Zum ersten und letzten Mal seit Beginn der Jahre unserer Freundschaft erwies sie sich wieder vom Scheitel bis zur Sohle als die unflexible alte Oberlehrerin die sie stets gewesen war.

Dabei hatte meine Seelenfreundin Martha Briel immer gezählt wie viele Menschen zu ihrer Beerdigung kommen würden. Sie war damit nie weit gekommen, wie sie mir schon früher anvertraut hatte. Ihr harter, schnurgerader Charakter hatte sämtliche Menschen mit ihren scheinbar windschiefen Ansichten längst für immer beiseite gestoßen. Sogar ihr Bruder mied ihren Umgang.

Zu erneutem Betteln fehlte mir die Lust.

Zu den schönsten Entdeckungen, die ich je machte, gehört die Sixtinische Madonna. Ausgerechnet Alpatow, ein sowjetischer Kunsthistoriker, bestätigte was ich jedes Mal fühlte wenn ich in Dresden vor diesem Gemälde stand und das war nicht selten der Fall denn mindesten vierzehn Jahre lang fuhr ich wenigstens sechsmal im Jahr nach Dresden zu Beratungen mit der Missionspräsidentschaft oder zu Konferenzen. In seinem Buch: “Die Dresdener Galerie” schrieb Alpatow wörtlich : “Einige Bilder der Dresdener Galerie, von reiner Inspiration geprägte und vollendet ausgeführte Werke, dürfen in vollem Umfang zum Höchsten der Kunst, zum Erhabenen, gerechnet werden. Dazu gehört vor allem die “Sixtinische Madonna.”


Bild Wikipedia "Schaut euch die Köpfe im Hintergrund an, das seid Ihr!"

Man müsse sie mit eigenen Augen gesehen haben, sagte schon Gogol. Im vorigen Jahrhundert hielt man das Gemälde für das sehenswerteste Bild der Dresdener Galerie, und manche Besucher kamen nur seinetwegen. Alpatow fährt fort: “Seitdem hat sich der allgemeine Geschmack stark verändert, man neigt eher zu einer Geringschätzung des Werkes. Es erfordert eine gewisse Anstrengung vom modernen Menschen, um seinen eigentlichen Wert erfahren zu können.”

Das war mir klar, der allgemeine Geschmack, oder anders gesagt, die grundsätzliche Denkweise hat sich seither wirklich sehr verändert. Nicht mehr die Kraft hinter den Dingen, sondern die Oberflächen sind wichtig geworden. Dennoch ist auch das tiefer Liegende immer noch da und auffindbar.

Mir nahm es den Atem, den Ausdruck des Kindergesichtes zu sehen. Wie ist das möglich, fragte ich mich, dass einige Gramm Farben, von einem Künstler auf ein Stück Leinwand übertragen, solch tiefen Eindruck in mir hinterließen?

Wie konnte es sein, dass es mich mit Glück erfüllte? Immerhin sind es insgesamt nur ein paar Quadratdezimeter Ölfarbe und diese Augen nur ein bisschen Umbra.

Zugleich aber wusste ich, dass Raffaels Gemälde allen Inhalt des uralten, ursprünglichen Evangeliums Jesu Christi wiedergibt. Es sind nicht nur die zornigernsten Augen eines besonderen Kindes, wie bewundernswert auch die Kunst solcher Darstellung an sich schon sein mag, sondern die Dramatik dieses Augenblickes, den derjenige wieder erkennt, in dem unerwartet etwas Vergessenes heraufsteigt. Milliarden, die bereits über die Erde gegangen sind, und weitere Milliarden, die erst noch aufgerufen werden, um ihren Platz in einem der für sie bereiteten Körper einzunehmen, erleben diesen im Raffaelbild dargestellten entscheidenden Augenblick und Kreuzpunkt in der Weltgeschichte aus ihrer Sphäre heraus. Raffael zeigt dieses uferlose Meer von Geistwesen, die zuschauen. Kopf an Kopf. Dicht aneinander gedrängt erleben sie - wir sind es!- den Beginn des wichtigsten Lebenslaufes. Raffael zeigt Jesus, und er zeigt uns. Wir schauen zu. Wir sind es, die wissen, dass er uns aus dem Loch herausholen wird in das wir stürzen werden. Er kann uns von der Krankheit heilen, die wir uns wünschen. Mit brennender Neugierde konnten wir kaum den interessantesten Teil unseres ewigen Seins erwarten: die Selbständigkeit. Wie Kindern erging es uns, die alt genug geworden sind, um eine eigene Familie zu gründen, wie die Fasterwachsenen, die den allzu zähen Zeitfluss kaum mehr ruhig und mit Geduld ertragen konnten. Wir drängten fort aus einem unerträglich schönen Zuhause, hinaus in die Welt der unendlichen Möglichkeiten, in der wir uns selbst verwirklichen wollten. Wir “hatten es satt uns nur der Gottesschau” hinzugeben.

Nun da wir, aus weisem Grund, im großen Vergessen leben, vermag uns die Botschaft Raffaels sehr viel weiter zu helfen. Sie besagt: Ihr seid nicht nur von dieser Welt!

Diese Botschaft ist der andere Teil der Software, ohne den der Mensch als fehlprogrammiert erscheint.

Aus der Präexistenz trägt die schöne Maria Jesus durch den Vorhang von der unsichtbaren in die sichtbare Welt.

Von daher rührt die Tiefe des Eindruckes. Bereits das Kind Jesus scheint um das Vertrauen und den Glauben - und den Unglauben - vieler Milliarden zu wissen. Von daher wahrscheinlich auch sein unkindlicher Zorn darüber, dass wir es ihm oft so schwer machen. Wir werden eben nicht tun, was er uns zu tun rät, und ihm schließlich die Schuld an unserem Elend zuweisen.

Die beglückende Inspiration all das wahrzunehmen bedeutete mir viel, ohne sie wäre jedes Mosaiksteinchen meiner Erkenntnis farblos geblieben.

Mir wurde klar, dass Menschen gewisse Gründe dafür haben, nicht denken zu wollen, dass wir Doppelwesen sind. Aber was änderte das an der Tatsache, dass wir ein Dasein hatten, bevor wir geboren wurden? Schmälerte der Zweifel daran die Größe der visionären Erkenntnis Raffaels?

Auch Jesaja spricht davon: “Denn uns ist ein Kind geboren, ein Sohn ist uns gegeben, und die Herrschaft ist auf seiner Schulter und er heißt Wunder, Rat, Kraft, Held, Ewig-Vater, Friedefürst”

Nephi, der bekannteste Chronist des Buches Mormon muss ca. 600 v.Chr. dasselbe Bild, deutlich wie Raffael, ebenfalls in einer Vision gesehen haben: “... ich redete mit ihm, wie eben ein Mensch redet; denn ich sah, dass er menschliche Gestalt hatte. Und doch wusste ich, dass es der Geist des Herrn war, und er sprach mit mir wie ein Mensch mit einem anderen ... und er sprach zu mir: Schau! Und ich schaute, um ihn zu betrachten, aber ich sah ihn nicht; denn er hatte sich aus meiner Gegenwart entfernt ... und ich sah die große Stadt Jerusalem ... ich erblickte die Stadt Nazareth und in der Stadt Nazareth erblickte ich eine Jungfrau, die war überaus schön und weiß ... ich sah den Himmel offen und ein Engel kam herab und trat vor mich hin und fragte, Nephi was siehst du? Und ich sprach zu ihm: eine Jungfrau, überaus schön und anmutig, mehr als andere Jungfrauen. Und er sprach zu mir: Kennst du die Herablassung Gottes? Und ich sprach zu ihm: ich weiß, dass er seine Kinder liebt; aber die Bedeutung von alledem weiß ich nicht. Und er sprach zu mir: Siehe die Jungfrau, die du siehst, ist die Mutter des Sohnes Gottes nach der Weise des Fleisches ... und ich schaute und sah wieder die Jungfrau, und sie trug auf den Armen ein Kind." (1. Nephi 11, 11-20)

Alpatow hat Recht, es erfordert eine gewisse Anstrengung vom modernen Menschen, das Bild verstehen zu können. Denn das Nichtverstehenkönnen solcher Visionen führt zur Geringschätzung.

Ich wusste, dass ich nur fleißig suchen musste, um noch mehr zu finden. Denn ich hatte den berühmten Ariadnefaden. Den hatte mir Joseph Smith gegeben und er hatte ihn durch Offenbarung empfangen.



Nie hat Joseph Smith gesagt, er hätte das Mittel, das aus dem Labyrinth führt, selbst gemacht. Wenn er das behauptet hätte, wäre er ein angesehener Mann geworden. Zu sagen, es sei ihm von Gott geoffenbart worden, sollte ihm das Genick brechen.

So sind wir nun einmal, das leichter Verständliche ziehen wir allemal vor.



1982 erlaubte mir die DDR-Regierung, die Einladung meiner Kirche anzunehmen um an der 152.Generalkonferenz in Utah teilzunehmen und drei Wochen dort bleiben zu dürfen. Ich trug nun schon seit fast achtzehn Jahren für die wenigen hundert Mormonen in Mecklenburg gewisse Verantwortung.

Der wiederum für mich zuständige Abschnittsbevollmächtigte der Volkspolizei kam in meinen Betrieb und stellte, wie ich später erfuhr, noch Nachfragen an den Vorsitzenden der Fischereigenossenschaft Reinhardt Lüdtke, dessen Stellvertreter ich seit langem war. Das konnte ich selbst nicht glauben, dass sie mich und meine Frau nach Amerika reisen lassen würden. Es stellte sich denn auch zum Schluss heraus, dass Erika leider nicht mitfliegen durfte. Ihr Flugticket war bereits bezahlt, die Hotelplätze für die Konferenztage bestellt. Nichts da. Die Ehefrau blieb zurück, als Faustpfand. Dabei wären wir zur Not zu Fuß über die Behringstraße zu unseren Kindern zurückgekommen.

Noch als ich bereits in der auf dem Schönefelder Flugplatz stehenden KML Maschine saß, dachte ich, es könnte immer noch ein Aufruf kommen: 'Herr Skibbe, bitte nochmals zur Passkontrolle. Bedauerlicherweise ist uns ein Versehen unterlaufen. Sie müssen noch etwas klären.' Aber dieser Aufruf kam nicht, unglaublicherweise rollte das Flugzeug mit mir zum Startplatz.

Wir flogen fast über Neubrandenburg hinweg. Da bei KML Maschinen die Tür zum Cockpit offen steht, versuchte ich einen Blick auf die Armaturen zu werfen. Der Kopilot lud mich ein, näher zu kommen und erklärte mir geduldig, was ich zu wissen wünschte. In Amsterdam hatten wir Zwischenaufenthalt. Schon das war überwältigend für mich. (Ebenso die Summe von zweihundert Mark für ein Bett im Hiltonhotel des Amsterdamer Flughafens.)

Zum Glück musste ich die nicht zahlen. Ich bekam allerdings vor der Weiterreise von meinem Missionspräsidenten Henry Burkhardt einhundert Dollar ausgehändigt. Mein Taschengeld! Von wegen. Ich schwor mir, es unangetastet in die DDR zurück zu bringen. Mineralwasser für vier Westmark? Lieber trank ich klares Leitungswasser.

Nachdem ich meine Füße bewusst auf amerikanischen Boden setzte, lief ich zwei Stunden lang neugierig auf die Gerüche der neuen Welt im Flughafenbereich Chicagos umher. Schrieb dann - ein echt naiver DDR Bürger- in mein Reisetagebuch: “Amerika ist faszinierend! Vielleicht aber nur, weil alles neu ist. Doch schon allein dieser Umgang miteinander! Das Verhältnis des Verkäufers zum Kunden. Er wird angelächelt, der kleine Mann, obwohl er nur kritisch prüft, statt zu kaufen. Da wird in den noch nicht gekauften Magazinen ganz ungeniert geblättert, alles wird angefasst, Bonbons werden auf Eignung und Konsistenz hin befummelt und zum Schluss bleibt der ganze Kram liegen, aber die Damen und Herren Ladenbetreiber verlieren weder Hoffnung noch die Geduld...”

Als wir am späten Nachmittag der Sonne hinterher fliegen, etwas langsamer als die Erde sich dreht und es ganz allmählich zu dunkeln anfängt, sehe ich aus elf Kilometern Höhe die unendlichen Weiten Nebraskas unter mir dahingleiten. Ob das da unten der Platte-River ist, an dem die Mormonenpioniere vor fast anderthalb Jahrhunderten mit ihren Planwagen ihrem unbekannten Ziel, das irgendwo in den Felsengebirgen liegen sollte, entgegen gezogen sind? Über sechzigtausend Mormonen haben bis zur Fertigstellung der Eisenbahn die Prärien zu Fuß überquert. Die ersten 1846, nachdem rabiate Andersdenkende die ersten vierzehntausend zwangen, ihre eigenhändig errichtete Stadt Nauvoo in Illinois zu verlassen. Mitten im Winter.

Was für ein Stoff für kommende Generationen von Dokumentaristen und Filmemachern.

Zumeist zogen sie in Gruppen bis zu zweihundert oder dreihundert nach Westen. Ich denke an die Martin- und die Williegruppe, die 1856 mit selbstgebauten Handkarren die Strecke von Iowa nach Salt Lake City zu überwinden hatten. Mein Flugzeug wird dafür zweieinhalb Stunden benötigen, und während ich eine Mahlzeit zu mir nehme, überqueren wir ebenso leicht wie ahnungslos ein Gebiet, in dem sich, vor einhundertundsechsundzwanzig Jahren die erschütterndsten Tragödien abgespielt haben. Denn zweihundertzweiundzwanzig Mitglieder der Kirche, die in jenem Jahr auf dem letzten Teil der Strecke von Schneestürmen und Wagenzusammenbrüchen heimgesucht wurden, sollten nie ankommen.



Einige meiner Freunde, die im Verlaufe der Zeit ausgewandert waren, holten mich vom Flugplatz in Salt Lake City ab, darunter waren Edith und Walter Rohloff sowie Siegfried, ebenfalls ein Exneubrandenburger, der nun erfolgreich ein Delikatesswarengeschäft betrieb.

Von den drei Wochen hast Du fast vierzehn Tage für Dich. Was wünschst Du zu sehen? Wollen wir nach Kalifornien fliegen zum Meeresangeln?” Ich wünschte natürlich vor allem zur kircheneigenen Brigham -Young - Universität nach Provo zu gehen, um mit Professor Hugh Nibley zu reden, einem deutschsprechenden Altsprachler, von dem ich eine Anzahl, allerdings nur kurze Aufsätze, gelesen hatte. Mich interessierten seine Ansichten zu einer Reihe spezieller Fragen. Über den Norddeutschen Rundfunk war wieder einmal eine negative Information über uns verbreitet worden. Drei Mormonenstudenten hätten in ihren Studien herausgefunden, dass die in "Köstliche Perle" veröffentlichten Faksimiles aus dem ägyptischen Totenbuch von Joseph Smith aus dessen genereller Unfähigkeit heraus falsch interpretiert worden seien. Der siebzigjährige Nibley, ein nicht sehr großer, fast dürrer Mann, sprang behende auf, als ich ihm die Angelegenheit vorstellte. In einem dreihundertseitigen Buch hätte er zu dieser Thematik grundsätzlich Stellung genommen. Sämtliche verfügbaren Belege hätte er darin der Öffentlichkeit unterbreitet. Es sei nicht wahr. Nicht irgendwelche drei Studenten hätten gegen die offizielle Version angeschrieben, sondern ein Hochschullehrer für Anglistik, der wegen Ehebruch in einem Ausschlussverfahren der Kirche steckte und sich so abzureagieren versuchte. Nibley erläuterte mir, dass die Ägyptologen ohnehin herausgefunden hätten, dass es zum Faksimile Nummer eins in "Köstliche Perle", eine Unzahl unterschiedlicher Interpretationen gäbe. Das sei die Art der alten Ägypter gewesen, gewisse Dinge im religiösen Bereich mehrdeutig darzustellen. “Sehen Sie mal,” sagte er “für uns ist doch wichtig zu wissen, dass Gott ein Gott der Offenbarung ist. Immer wieder hat er zu bestimmten Menschen gesprochen, Konfuzius, Buddha, Lehi. Und genau das behaupten die alten Ägypter und die Hebräer, auch Joseph Smith und wir mit ihm. Deshalb besteht in den ältesten Überlieferungen ein Grundkonsens.”

Nibley, der den mit mir vereinbarten Termin zunächst buchstäblich verschlafen hatte, wurde immer munterer. Sein schmaler, langer Kopf ruckte hin und her. Er wies mich auf den ältesten, enträtselten, den Shabakostein hin, der bereits von der Notwendigkeit des Erlösungsplanes Gottes spricht. “Sehen sie mal”, erklärte er, ging an die Tafel und nahm Kreide in die Hand. “Die Kernlehren verschiedener Religionen Asiens, Afrikas und Amerikas bestätigen einander tatsächlich. Ganz besonders weist die Religion der alten Ägypter auf den gemeinsamen Ursprung aller Religionen hin. Sie reden alle vom Schöpfergott und alle verlangen, dass wir Gott verehren sollen, indem wir seine Gebote halten. Den Weihrauch braucht er nicht, nicht die Liturgien, sondern unser Herz und Verstand soll sich ihm zuwenden. Das vierte Gebot von den berühmten zehn wird bereits im ägyptischen Papyrus Eber erwähnt, einem der ältesten Schriftdokumente überhaupt: 'Schön ist es, wenn ein Sohn seines Vaters Rede wohlaufnimmt, Gott wird ihm dafür ein langes Leben gewähren.' Das sei ein deutlicher Beweis, dass das Evangelium viel älter ist, als bisher angenommen wird.

Im Buch Abraham, das Joseph Smith nicht unumstritten übersetzte, heißt es in 1, 26”

Dr. Nibley zitierte aus dem Gedächtnis : “(der erste) Pharao, der ein rechtschaffener Mann war, begründete sein Königreich und richtete sein Volk weise und gerecht, alle seine Tage, und er trachtete ernsthaft danach, die Ordnung nachzuahmen, die von den Vätern in den ersten Generationen aufgestellt worden war, in den Tagen der ersten patriarchalischen Regierung...”

Nibley fuhr fort: “Diese Aussage, von Joseph Smith formuliert, kann in ihrer Bedeutung nicht überschätzt werden! Dieser Text hat nicht nur für den Insider große praktische Bedeutung, weil er zeigt, dass viele Religionen und ihre Tempelkulte, sowie das Freimaurertum (wie schon Schikaneder und Mozart in der “Zauberflöte” zeigten) im Altägyptischen wurzeln. Damit sei zugleich klar, dass es falsch ist zu behaupten, die mormonischen Tempelrituale seien dem Freimaurertum entlehnt. Denn die erheblichen Unterschiede legten, den Schluss nahe, dass das verloren gegangene Original einen vorägyptischen Ursprung hat. Das sei von größter Bedeutung, etwas, das leider mitunter sogar vorsätzlich übersehen werde.”

Nibley sagte mir, die Allgemeinattacken auf den Mormonentempel werden von der Mehrzahl der großkirchlichen und der jüdischen Tempelforscher nicht geteilt.

Zwei volle Stunden hatte sich der Vielbeschäftigte für mich Zeit genommen.

Mit dankbarem Gefühl verließ ich sein Büro.

Ich sah mich in Salt Lake City gründlich um. Wir fuhren auch zum Immigrationscanyon. In der Nähe stand ein Denkmal, mit dem die hiesigen Mormonen aller Siedler und Pioniere gedachten, die auf dem Oregontrail zunächst bis hierher kamen oder wie ihre Glaubensgenossen im unwirtlichen Land blieben, um es urbar zu machen.

Mein Blick glitt über viele tausend Einfamilienhäuser der Millionenstadt und es fiel mir schwer, mir vorzustellen, wie es damals war, bevor die ersten Siedler das Wasser aus den Bergen herableiteten, um den harten, dürren Boden aufzuweichen, damit sie ihn bestellen konnten.

Am meisten zog mich der Tempelplatz in Salt Lake City an. Mir sagte die Atmosphäre dort sehr zu. Ich dachte nur, hoffentlich gibt es das und diese freundlichen Menschen noch in tausend Jahren!

In der Vorfreude auf die Teilnahme am Organ Recitals, das um die Mittagsstunde herum täglich im Tabernakel stattfindet, hegte ich meine Gedanken. Ja, ich rief meine Moskauer Eindrücke wieder herauf. Während des Konzertes verglich ich wieder einmal alles. Keine Frage wer das Original hatte.

Wenn es doch möglich wäre, gute Musik in überzeugende Worte zu übersetzen.

Schade, Erika,” schrieb ich in mein Tagebuch: “dass Du es nicht miterleben konntest. Plötzlich umströmte uns Zuhörer eine wunderbare Tonflut. Schöne Akkorde rauschten auf uns zu. Es folgte ihnen ein behutsames Streicheln und Zufriedenstellen der Seele nur durch Töne. Präludium und Fuge in G-Dur von Johann Sebastian Bach. Ihr folgte Henri Mulets Toccata in F-Moll, dann noch einmal Bach: “Christus lag in den Banden des Todes”. Dreißig Minuten lang hörst Du inmitten der Felsengebirge des wilden amerikanischen Westens himmlische Musik. Du fragst Dich, wie es möglich ist, dass Du Mensch, der du unausgesetzt und oft mit gewaltigem Aufwand nach mehr Glück trachtet, das Schöne und Gute so billig bekommen kannst….Wir strömten ins Grüne, der Himmel strahlte im schönsten Blau, die Sonne schien. Es ist unvorstellbar, dass es Menschen gibt, die andere Menschen hassen.”

Am nächsten Morgen stand mein Exneubrandenburger Siegfried mit seinem Landrover vor Walters Tür im Schnee, der in der Nacht auf die gelbleuchtenden Forsythiensträucher gefallen ist. Er will mit mir nach Brighton gehen, auf die Skifahrerpiste für Anfänger. Als Kind hatte ich schon einmal, in Wolgast, auf primitiven Brettern gestanden und natürlich war ich Wintertags noch nie im Gebirge gewesen. “Das macht nichts”, ermutigte Siegfried mich. “Wir borgen uns die richtige Ausrüstung und Du wirst schon sehen, wenn uns der Lift hinaufgefahren hat, dann rutscht Du wie von selbst ins Tal runter." Recht hatte er. Meine glatten Untersätze fuhren, als es soweit war, von allein los und nahmen mich mit. Ich brauchte bloß aufpassen, nicht umzukippen. Vorher allerdings hätte er mir erklären müssen, wie man, wenn das Tempo zunimmt, wieder anhält. Plötzlich sah ich nämlich eine Gruppe Kinder und Jugendlicher vor mir. Als ich dann wieder auf meinen Beinen stand, übte ich für den Ernstfall. Denn beim nächsten Mal bot sich wahrscheinlich nicht wieder eine Schneewehe als Gelegenheit an, da kopfüber reinzusegeln.

Ich sah mich auch in den Gemeinden um. Mich störten die auffallend vielen kleineren Kinder und die von ihnen verbreitete Unruhe nicht. Das wird zu Christi Zeiten kaum anders gewesen sein. Wenn er sprach, wird er die Mütter nicht angefahren haben, dass sie ihre Kleinen gefälligst stumm zu stellen hätten. Im Gegenteil! Wie Matthäus so anschaulich mitteilt, winkte er die Kinder zu sich heran.

Drei Tage vor Beginn der Konferenz zog ich ins Hotel Utah um, das lag näher an den Tagungsstätten. In einer vom Präsidenten des Rates der Zwölf, Ezra Taft Benson, geleiteten Schulung für Regionalrepräsentanten der Kirche, an der Henry Burkhardt, mein Missionspräsident und ich als Gäste teilnahmen erfuhren wir, dass Erhebungen ergeben hätten, dass die Belastungen für aktive Mormonenfamilien bis fünfzig Prozent ihres Budgets betragen würden. Das sei nicht in Ordnung. Das Gesetz der Kirche laute: zehn Prozent, nicht mehr. Einmal im Monat sollten die Mitglieder der Kirche fasten und den Gegenwert des Ersparten zum Zweck der Linderung von Not über den Zehnten hinaus opfern. Außerdem würden sie ihre Kinder weiterhin auf eigene Kosten “auf Mission” schicken. Das sei mehr als genug, sie dürften fortan nicht mehr aufgefordert werden, sich an der Bildung anderer Fonds zu beteiligen. Ab sofort übernehme die Kirche die volle Finanzierung für den Neubau von Kapellen und der Sporteinrichtungen, sowie deren Unterhaltung. Links neben mir saß Dieter Berndt, er ist an der TU in Berlin Lehrer, ein Fachmann für Verpackungstechnik, rechts der Bürgermeister von Las Vegas.

Wir gingen vom Kirchenverwaltungsgebäude zu Tisch ins Löwenhaus, in dem einst Brigham Young mit seiner Großfamilie gewohnt hatte. Deshalb die ungewöhnliche Anzahl Fenster und die vielen Zimmer. Mit einem Philippini, der in Köln Wirtschaft studiert hatte, kam ich ins Gespräch. Es sei weltweit dasselbe, wer zu dieser Kirche gehöre, der engagiere sich voll und ganz - oder gar nicht. Es gäbe etwa fünfzig Prozent heiße und fünfzig Prozent kalte Mormonen. Halbherzigkeit sei fast nie anzutreffen. Wer komme mache richtig mit. Die andere Hälfte Mormonen stehe leider nur in den Büchern.

Anderntags befanden wir uns im bescheidenen Büro Präsident Monsons. Als er uns hereinkommen sah, erhob er sich zur fast Zweimeterturmhöhe, kam hinter seinem Schreibtisch hervor, reichte uns die Hand. Schon nach wenigen Worten fragte er, welchen Wunsch ich hätte. Ich war überrascht. Ich war doch nicht als Bittsteller hergekommen, sondern freute mich, dass er sich für Henry Burkhardt und für mich eine halbe Stunde Zeit genommen hatte.

Mein Blick fiel auf die Totenmaske des Propheten Joseph Smith. Wie elektrisiert sah ich das erstarrte, junge und bartlos glatte Gesicht eines der bedeutendsten Männer der letzten zweihundert Jahre zu meiner Rechten. Unwillkürlich fragte ich mich, warum halten dich so viele für einen Lügner?

Es gibt keine dritte Möglichkeit! Entweder hatte er und weitere elf die golden aussehenden Platten in Händen gehalten oder nicht. Entweder logen die zwölf Männer oder sie hatten die Wahrheit gesagt

Mir fiel ein, ich könnte Thomas S. Monson bitten, der Einladung nachzukommen, die Hermann Kant, der Präsident des Schriftstellerverbandes der DDR, erst vor kurzem an ihn ausgesprochen hatte, nachdem er in Salt Lake City als willkommener Gast an einer Tagung der Generalkonferenz teilgenommen hatte. Unser Gastgeber, dessen Herz für die in Altenheimen lebenden Witwen schlägt, nickte zustimmend. Er rief seine Sekretärin herein. Einen Augenblick lang erschien mir alles unwirklich zu sein. Henry Burkhardt und ich gehörten hier nicht her.

Wir sind ein Stück Unnormalität. Immerhin erhebt der östliche Moloch auf uns Besitzeransprüche. Wir gehören denen, die immer sagten “Unsere Menschen”. Sie haben uns erlaubt, hierher zu reisen. Sie hätten die Macht gehabt, es uns zu untersagen. Irgendwie äußerte ich das, denn ich dachte an Erika.

Thomas S. Monson schüttelte abwehrend den Kopf. So verbissen sollte ich es nicht sehen. Die Kirche arbeite daran, dass unsere Bedingungen sich bessern sollen. Ich konnte es nicht glauben, und ahnte nicht im Mindesten, wie weit diese Arbeit schon gediehen war.

Während des Rückfluges erfuhr ich von Henry Burkhardt, dass in Freiberg in der DDR ein Tempel gebaut werden soll. Das sagte er mir, mitten über dem Atlantik. Es sei eine noch vertrauliche Information. Er hatte mich geweckt, um mir den unglaublich gefärbten Himmel zu zeigen. Es war ein paar Minuten vor Sonnenaufgang. Aus einem tiefviolett schimmernden Himmel kam makellos von links vorn die schnell wachsende Helligkeit wie ein Bühnenlicht hervor, denn wir flogen der Sonne mit zehnfacher Autogeschwindigkeit entgegen. Seine Mitteilung war in der Tat eine große, wunderbare Überraschung. Das widersprach all meinen Erfahrungen. Danach war an Schlaf nicht mehr zu denken. Das hieß, die Vorgespräche zwischen amerikanischen Kirchenautoritäten und der kommunistischen Honneckerregierung konnten nur positiv verlaufen sein. Mein erster Gedanke war: Honecker und Günter Mittag brauchen Geld. Mein zweiter: wegen fünf oder acht Millionen Dollar setzen die sich doch keine Laus in den Pelz!

Meine Logik geriet ins Wanken.

Bald darauf, während einer Konferenz in Leipzig, vernahmen wir es als offizielle Ankündigung. Meine Verwunderung blieb groß. Ich hätte eher gewettet, dass die Kommunisten versuchen würden, den Einfluss meiner “amerikanischen” Kirche zurückzudrängen.

Warum sie es zuließen, sollte ich noch erfahren.

In Utah hatte ich ein Stück vom neuen, besseren Land gesehen, das noch längst nicht perfekt war, jedoch die Potenzen zur besten Entwicklung in sich trug. (Allerdings, und das hörte ich verschiedentlich, Utah ist nicht Amerika. Die Slums der Industriestädte, das dazu gehörige Elend gibt es hier nicht - hoffentlich wird es sie wenigstens im Einflussbereich meiner Kirche nie geben! Anderes wäre mir undenkbar. Natürlich müssen wir aufpassen. Wo immer ein hohes Niveau durch Fleiß und Wertschätzung erreicht wurde, muss es durch dieselben Tugenden pausenlos verteidigt werden. Es ist keine Zeit sich auf alte Verdienste zurückzuziehen. Nichts bleibt, wie es ist, selbst die Liebe nicht, es sei denn wir schaffen sie immer wieder.

(Nicht einmal bergab läuft jede Karre von allein.)

Einmal hatte ich mich mit dem Auto verfahren und war ins Mormonenstädtchen Orem abgebogen. Da wusste ich noch nicht, dass dieser Ort ein oder zweimal offiziell als wohnenswerteste Stadt ausgezeichnet worden war.

Allerdings, wer in dieses Blumenstraßenparadies hineingeboren wird und niemals etwas wie das Leipzig der ausgehenden achtziger Jahre hautnah erlebt hatte, der konnte es wahrscheinlich nicht schätzen. Das wird wohl das ewige Problem bleiben, dass niemand von uns weiß, was er besaß, bevor er es verlor.

Das meinte wahrscheinlich Hartmut, unser ältester Sohn, als er mir eines Tages sagte: nach seinem Abitur hätte er sich sieben lange Jahre, außerhalb der elterlichen Obhut, fremde Ideen um die Ohren pfeifen lassen. Jetzt erst wüsste er, wie wertvoll sein Zuhause gewesen war und wie viel es ihm bedeutete zu wissen, dass sein Hinterland - seine Familie – fest zu ihm steht. Erst diente er drei Jahre um seinen Studienplatz in der Armee, dann studierte er im damaligen Karl-Marx-Stadt Maschinenbau und Schweißtechnik. Fast gegen Ende der “elternlosen” Zeit (ich werde es nie vergessen, es war auf dem Weg zwischen Freienhufen und Dresden) fragte ich ihn: “Na Hartmut, was hältst du nun von unserer gemeinsamen Kirche?”

Es ist das Beste, das wir haben können.” sagte er. Eine Antwort, die mich tief bewegte und befriedigte. Sofort nach Abschluss der Fachprüfungen hätte er den Ordner mit der Überschrift “Wissenschaftlicher Kommunismus”, weil absolut unbrauchbar, in den Müllcontainer geworfen. Ich hatte bis dahin meine Sorgen und Bedenken gehabt, da ich davon überzeugt war, dass er den Druck der verschiedenen Versuchungen ähnlich wie ich gespürt haben musste. Auch er hatte, wie ich, sein eigenes Zeugnis von der Echtheit und Lebendigkeit des Mormonismus empfangen und wie ich hatte er den Wunsch, einer so wunderbaren Sache zu dienen, die alle Voraussetzungen dazu mitbringt, die unterschiedlichsten Menschen zu einer großen harmonischen Familie zusammenzubringen. Eine Aufgabe, die zu lösen sich die Kommunisten vorgenommen, aber nie würden zu Ende ausführen können, weil ihre Losung “Proletarier aller Länder vereinigt euch” zumindest einen bedeutenden Teil Mitmenschen zu Todfeinden erklärte. Wir aber hörten in unseren Zusammenkünften immer wieder, dass alle Menschen Kinder Gottes sind. Deshalb war und ist jedes Engagement, auch das politische, heilig oder unheilig, je nachdem ob wir in erster Linie nur uns selbst dienen oder auch den Mitmenschen, die uns nicht mögen.


Im Herbst 1983, ein Jahr nach meiner Entlassung als Distriktpräsident wurden Klaus Nikol und ich als Pfahlmissionare berufen. Nachdem ich ihn angesprochen hatte, lud Pastor Fritz Rabe uns ein, vor seiner Jugendgruppe der Gemeinde St. Michael, in Neubrandenburg einen Lichtbildervortrag über meine Amerikareise nach Utah zu halten.

Der Abend begann damit, dass Herr Rabe - wie ich später erfuhr - ein Zirkular seiner Synode zur Hand nahm, das er anscheinend soeben erhalten hatte, wodurch sich die offizielle Eröffnung um einige Minuten verschob. In dem Schreiben wurde ihm mitgeteilt, dass Kontakte zu Mormonen nicht gepflegt werden sollten. Ich saß nahe bei ihm und fand eine gewisse Bewegung in seinen Zügen, konnte aber nicht ahnen, dass es Klaus Nikol und mich betraf.

Eigentlich hätte er uns, gemäß der empfangenen Weisung, sofort des Saales verweisen müssen. Aber wir durften reden. Das war sein Wagnis. Immerhin standen wir namentlich für eine gefährliche Sekte. Er nahm es mutig auf sich. Er ließ sich mehr von seinem eigenen Gefühl leiten, als von einer Direktive. Wir zeigten als erstes Bild den Mormonentabernakelchor. Er sang für uns Luthers berühmtes Lied “Ein feste Burg ist unser Gott”.

Herr Pastor Rabe sah bald ein, dass wir keine Sektierer waren.

Auf die Frage, wodurch wir uns von anderen Christen unterscheiden, zitierte Klaus Nikol Joseph Smith im Wortlaut: “In den religiösen Ansichten sind wir von anderen Kirchen nicht so sehr verschieden, dass wir nicht ein und dieselbe Liebe in uns aufsaugen könnten. Einer der großen Leitsätze des Mormonismus ist der, dass wir die Wahrheit annehmen, mag sie kommen, woher sie will. Die Christen sollen aufhören, miteinander zu zanken und zu streiten, sie sollten vielmehr untereinander Einigkeit und Freundschaft pflegen.”

Ist das Originalton Joseph Smith?” wollte Pastor Rabe wissen. “Ja! Wort für Wort.” Das konnte ich bestätigen. Anschließend kam es zu einer heftigen Diskussion. Zwei angehende Diakone schimpften lautstark auf das Buch Mormon. “Es ist Unrecht irgendein Buch neben die Bibel zu stellen.” Als angeblich letzter Autor des Buches der Bücher hätte Johannes der Offenbarer verboten, diesem gewaltigen Werk noch ein Wort hinzuzufügen.

Welch ein Missverständnis!

Ich nahm meine Bibel und zeigte sie den jungen Leuten. “Wie viel davon akzeptieren gläubige Juden?” Sie schauten verdutzt herüber.

Einer der beide Diakone antwortete richtig: “Sie anerkennen nur das Alte Testament als Heilige Schrift.”

Also ist das Neue Testament in jüdischen Augen eine unzulässige Erweiterung der Sammlung! Bedeutet dieser jüdisch bestimmte Standpunkt, dass er richtig ist?”

Pastor Rabe ließ uns gewähren, obwohl er sich nicht sehr wohl fühlte, denn er ahnte, dass wir noch mehr strittige Tatsachen in den Raum stellen würden. Auch ihm war klar, dass das Neue Testament nicht chronologisch angeordnet ist. Deshalb nickte er nachdenklich, als wir die entsprechende Frage stellten. Den beiden Diakonen war es unbequem, zu denken wie wir. Mit heftigen Äußerungen zeigten sie, dass sie davon ausgingen, dass Joseph Smith ein Betrüger war.

Wir entgegneten: “Selbstverständlich muss die Frage nach der Möglichkeit, dass das Buch Mormon ein Fantasieprodukt Joseph Smiths ist, offen gehalten werden.” Nur, wenn man sich schon vor der Prüfung eines Problems negativ entscheidet, dann schließt das die Vernunft aus. Kaum hatten wir diese Erwiderung formuliert, tosten sie wieder los.

Erst als sich der Pastor erneut einschaltete, dämpften die beiden angriffslustigen jungen Männer ihren Ton. Er verabschiedete uns freundlich. Es war ihm peinlich, dass die beiden Hitzköpfe so grob argumentiert hatten.

Überraschend besuchten die beiden Angreifer mich anderntags. Im folgenden Gespräch bekannten sie von sich aus, dass es ihnen zu anstrengend wäre, wie die Mormonen zu leben. Deshalb hätten sie dagegen gesprochen. Ihre Befürchtung war die, dass wir ihnen ihre Lebensfreude stehlen wollten, nämlich das Vergnügen mit den leichtfertigen Mädchen…

Diese Offenheit verblüffte mich. Ich erwiderte, niemand darf sie nötigen, jemals etwas annehmen zu sollen, das sie nicht haben wollten. Bedauerlicherweise kannte ich damals noch nicht den Wortlaut der Aussagen des berühmten amerikanischen Baptistenpredigers Martin Luther King, die unbeabsichtigt mit dem Tenor des Buches Mormon übereinstimmten. Wahrscheinlich hätte es ihnen geholfen zu begreifen, dass es nicht um irgendeinen Grad von Religionseifer geht, sondern um Grundwahrheiten. Martin Luther King hatte es auf seine Weise gesagt: “Gott hat absolute moralische Gesetze in sein Weltall eingebaut. Wir können sie nicht ändern. Wenn wir sie übertreten, werden sie uns zerbrechen.”

Diese auf drei Sätze komprimierte Philosophie entsprach der kompletten Morallehre des Mormonismus.

Wenig später traf ich Pastor Rabe auf der Straße wieder. Wir gingen ein paar Schritte gemeinsam. Er sagte ungefähr: “Wenn ich Sie beide nicht persönlich näher kennen gelernt hätte und ebenso Ihre Glaubenssätze, wäre ich wie alle anderen (Pastoren) derselben Überzeugung geblieben, dass Mormonen nicht ungefährliche Fanatiker sind.”

Da ahnten wir beide noch nicht, dass ihm sein Wohlverhalten mir gegenüber noch viel Ärger einbringen sollte….



Jetzt, Ende 2003, treten wir beide regelmäßig im Selbermacherradio Neubrandeburg 88.0 gemeinsam auf als Gesprächspartner zum Thema : Werteverfall oder Wertewandel? Genannt: das Monatsgespräch.



Im Sommer 1985 war es soweit. Der erste Mormonentempel auf deutschem Boden wurde der Öffentlichkeit präsentiert. Vierzehn Tage offenes Haus. Viele Mitglieder stellten sich zu Verfügung, um die Tausende, die kommen würden, in Empfang zu nehmen und ihre Fragen zu beantworten. Auch ich hatte für diesen Zweck eine Woche Urlaub eingeplant. Eine Stunde vor Öffnung des Geländes sagte Holger Bellmann, der für diesen Teil der Startphase verantwortliche Kirchenmann (ein Uhrmacher), zu mir: “Gerd, sei so gut, schließe das große Tor auf.” Ich nahm den Schlüssel, ging aus dem Gemeindehaus am weißleuchtenden Tempel vorbei und sah erstaunt, dass sich im Verlaufe der zwei Stunden unserer internen Vorbereitung die Menschenmenge von zwanzig bis auf mehrere Hundert vergrößert hatte. Zwei junge Frauen mit dunklen Augen, vornan standen, schauten mich offen ausforschend an. Ich verstand ihre Blicke als berechtigte Neugierde: Wer seid ihr? Was ist das hier? Was werdet ihr uns zeigen und sagen? Glaubt ihr wirklich daran? Seid ihr echt? Was ist das für ein Ding, das mit Erlaubnis der Partei hier hingestellt wurde? Seid ihr sozialistische Christen? Will die SED etwa umschwenken? Will Honnecker damit die anderen Christen ärgern? Wie viel hat es euch gekostet? Dass dieses schöne Haus hier, wie ein Blickfang, auf einem Hügel steht, ist total unverständlich.

Vierzehn Tage lang ging das so, täglich länger als zehn Stunden. Immer wieder stellten die Besucher diese Fragen, zuckten mit den Achseln, bewunderten das ebenso schlichte wie schöne Gesamtbild. Fast einhunderttausend Menschen sollten zu uns kommen, jeder noch mit seinen persönlichen Anmerkungen, auf die wir eingingen soweit uns das möglich war. Wir versuchten uns im Geist führen zu lassen. Es ging uns selbstverständlich darum, jedem präzise und kurz zu antworten. Wir fassten sie in Gruppen zu fünfzig zusammen. Manchmal befand ich mich aber auch mit einhundert oder mehr Gästen in der Kapelle. Jeder unserer Sprecher spürte, wie die Blicke der Besucher in sie drangen. Es war diese eine Grundanfrage an uns: Könnte es sein, dass ihr nicht lügt?

Es hatte schon so viele bunt schillernde Seifenblasen gegeben.

Die meisten Menschen, die sich positiv äußerten, befanden, dass sie modernere, religiös motivierte Ansichten als unsere noch nie gehört hatten. Allerdings war, was sie vorfanden, eigentlich nicht modern. Alles, was wir lehrten, war uralt. Schon vor mehr als zweitausend Jahren hatte Benjamin im Buch Mormon gesagt: dass kein Mensch denken soll, er sei mehr als ein anderer, Mosia 23,7 - dass niemand bleiben kann, wie er ist, sondern sich zum Guten entwickeln muss, - oder es war die alte Weisheit, dass niemand in Unwissenheit selig werden kann.

Oft ließ ich sie aus bereitliegenden Bücher Mormon vorlesen.

Nach sechs Stunden pausenlosen Sprechens fühlte ich mich ausgelaugt. Mein Freund Wolfgang Zwirner aus Dresden, ein Unibliothekar, war in der Lage, zehn Stunden zu reden. Die häufigst gestellte Frage lautete: Was unterscheidet Ihre Kirche von den anderen?

Wie kann man darauf in drei Sätzen antworten?

Ich sagte es immer wieder: “Wir sind einhundertprozentig eine Laienkirche! Und: Wenn wir denn überhaupt ein Symbol haben, ist es nicht das Kreuz, sondern der Bienenkorb!”



Dass das Kreuz in den ersten dreihundert Jahren des Christentums in den Gemeinden der Gläubigen nicht vorkam, ist bekannt, aber dass dieses Kreuz das Zeichen für Zwangschristianisierung, Inquisition und Ausrottung von Millionen Indianern ist, darf niemand vergessen.

In diesen drei Punkten erwiesen sich tatsächlich die folgenreichsten Differenzen.

Noch ein Satz zum Thema Ehrenamtlichkeit. Bei aller Toleranz, wenn eines Menschen Einkommen oder sogar seine Existenz in irgendeiner Weise von seiner Religion abhängt, dann führt das unweigerlich zu Verwerfungen.

Weitere Unterschiede sind, dass wir Tempel haben und dass wir auch an das Buch Mormon als Heilige Schrift glauben. Aber gemessen an den Konsequenzen, waren es in der Tat die drei erstgenannten Punkte.

Dass wir nicht in der Tradition des Kreuzes stehen provozierte fast immer die sofortige Rückfrage: Ja, sind Sie dann überhaupt Christen? Da es als unhöflich gilt, eine Frage mit einer Gegenfrage zu beantworten, durfte ich leider nicht erwidern: Sind das Christen gewesen, die unter dem Kreuz, in den sieben Kreuzzügen, zuerst die Juden in Europa angriffen, dann Jerusalem und schließlich das christliche Konstantinopel zerstört haben? So verkürzt hätte es ohnehin Verwirrung angerichtet und zu dem Trugschluss verleitet, wir stünden anderen christlichen Gruppen und Bekenntnissen feindselig gegenüber. Also beschränkte ich mich darauf zu sagen: Wie andere Christen bemühen wir uns, die Gebote Christi zu halten.

Am Abend meines dritten Tages sagte mir ein kleiner Mann mit intelligentem Gesichtsausdruck: “Klipp und klar gesprochen, wenn ich eine Bombe hätte, würde ich sie unter ihren hübschen, weißen Tempel legen!” Er wandte sich ziemlich hochmütig ab und sprach mit anderen Leuten. Mein Freund Lothar Ebisch trat an mich heran und flüsterte mir zu. “Egal, was er sagt, ärgere dich nicht. Ich kenne ihn. Er ist ein MfS-Spitzel.”

Aber mir hat er gesagt, er sei ein Pastor ...”

Lothar erwiderte achselzuckend: “Ich weiß, ich kenne ihn! Es gibt solche und andere.”

Kurz darauf kam ein rötlichblonder Student, der ebenfalls Gäste mit sich gebracht hatte. Heftig mit den Armen rudernd und laut redete auf seine Gruppe ein. “Mormonen sind die Pest! Sie haben den Uteindianern das Land Utah geraubt. In Kriegen haben sie gemordet und alles verbrämt mit ihrer Heuchelei.”

Ich sah das zornige Funkeln in den grünen Augen dieses weit über die geschichtlichen Tatsachen hinausschießenden Gerechtigkeitsfanatikers und sprach den Mann an. Er fuhr mir über den Mund. Ob das etwa nicht stimme. Ich erwiderte: “Es hat vielleicht brunnenvergiftende Juden gegeben, aber man kann doch nicht sagen, die Juden waren Brunnenvergifter. So nicht. Es hat Mormonen gegeben, die zur Flinte gegriffen und aus welchen Gründen auch immer, Indianer erschossen und sogar schweres Unrecht begangen haben. Sie sind von der Kirche ausgeschlossen worden.”

Er starrte mich an und wies mich zurecht. Er wüsste davon mehr als ich. Er zog seine Leute mit sich. Sie beachteten mich nicht. Sie verschwanden in der Menge Menschen, die uns umgaben und von denen wir uns lediglich durch das Namensschild am Revers unterschieden.

Wir erlebten es immer wieder, dass sich uns unbekannte Besucher in größerem Rahmen als Erklärer versuchten. Ein Busfahrer, der zum dritten oder vierten Mal da war, “erklärte” seinen Fahrgästen Haarsträubendes über uns.

Ich weiß nicht, inwiefern wir selber für gewisse Gerüchte mitverantwortlich sind. Am Tag darauf, spät am Abend, als der Besucherstrom erheblich nachgelassen hatte, kam Dietmar Hirsch, ein etwa dreißigjähriger Zwickauer, auf mich zu und erzählte mir, dass er Zeuge einer Diskussion zwischen einem Geistlichen und einem uns freundlich gesonnenen SED-Mann geworden war. Vor dem Taufbecken habe sich ein Streitgespräch entwickelt. Der Theologe meinte, das sei antiquiert, so hätten die Christen in den ersten Jahrhunderten getauft. Nur die ältesten italienischen Basiliken und Baptisterien wie San Giovanni in Fonte in Neapel oder das Baptisterium in Ravenna wiesen noch solche Becken auf. Dort seien tatsächlich die Taufen durch Untertauchen des Täuflings vorgenommen worden, aber mit dem Aufhören der Erwachsenentaufe hätte man später auf den Bau von Baptisterien verzichtet. Dietmar Hirsch konnte und wollte nicht verstehen, wie eine durch Christus bestätigte oder von ihm eingesetzte Verordnung je unmodern werden könnte. Der Theologe entrüstete sich. Da schaltete sich unerwartet der Mann mit dem SED-Abzeichen ein: “Herr Pastor, ich bin kein Mormone und will auch keiner werden, und sie mögen glauben und denken, was sie wollen, aber wenn etwas überaltert ist, dann ist es ihre evangelische Kirche. Sie hatten mehr als vierhundert Jahre lang die Gelegenheit, die Welt zu verändern. Die katholische Kirche hatte dazu fast zweitausend Jahre Zeit gehabt. Was haben sie nach vorne bewegt? Sehen sie sich dagegen Geschichte und Organisation der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage an. Sachlich gesehen, ist den Großkirchen allein aufgrund der vergleichsweise schwach ausgebildeten und zudem erstarrten Strukturen nicht zuzutrauen, dass sie den kommenden Herausforderungen, die der Fortschritt eben mit sich bringt, gewachsen sein werden. Sie werden es erleben. Was zu Martin Luthers Zeiten angemessen und ausreichend war, ist heute unpassend. Die Mormonenkirche dagegen ist perfekt gegliedert und auf Mitarbeit sozusagen sämtlicher ihr angehörenden Menschen zugeschnitten, und was noch wichtiger ist, sie hat die dazu passende Lehre, - eine Soziallehre von Rang.” Ihm sei klar, vorausgesetzt es gibt einen Gott, dass Mormonismus die Religion der Zukunft sein wird.

Daraufhin habe sein nun völlig verärgerter Gesprächspartner spitz zurückgefragt, woher er das wisse. “Das will ich Ihnen gern sagen, mein Herr. Als die Entscheidung darüber anstand, ob das Zentralkomitee der SED der Errichtung eines solchen Gemeindezentrums zustimmen sollte oder nicht, habe ich im Auftrage der Regierung der DDR meine Diplomarbeit über Lehre und Organisation dieser Kirche geschrieben.”

Damit endete das Gespräch. Der Unterschied zwischen beiden Männern bestand darin, dass einer urteilsfähig war.

Vielen Leuten, die mehr wissen wollten erklärte ich an Hand eines Tafelbildes, dass die urchristliche Theologie und Kirche zwischen dem dritten und dem sechsten Jahrhundert völlig umgestaltet wurde. Liturgien, sowie Messgewänder und andere Neuerungen kamen auf.



Jeder Christ sollte wissen, dass Kaiser Konstantin “der Große”, der Mörder seines Schwagers Licinius, seines Sohnes Krispus und seiner Ehefrau Fausta, die Kirche in seinem Sinn veränderte. Konstantin degradierte die Kirche zu einem Instrument seiner Weltbeherrschungspläne… Damit schaffte er die Alte Kirche ab!

Es ist einfach nicht wahr, dass Konstantin sich im Jahre 312 bekehrte, wie die Christen heute noch behaupten, … Was das bedeutet muss man bedenken. Er, der Mörder seiner Ehefrau Fausta, der Mörder seines Sohnes Krispus hat sich zum Eckstein gemacht.

Auch wenn es zahllose Christen gab und gibt, die auf diesen falschen Eckstein den Namen Jesus Christus geschrieben haben. Jesus war es nicht.



In seiner Habilitationsschrift 1954 „Konstantins religiöse Entwicklung” Heidelberg - Uni Greifswald, führt der evangelische Theologe Heinz Kraft zu diesem Thema folgendes aus:

Seite 65: Am 21. 7. 315 hielt K. seinen feierlichen Einzug nach Rom zur Feier der Dezennalien. „Das Fest wurde mit der üblichen Pracht begangen, das Volk beschenkt und große Spiele abgehalten. Zu dieser Feier war der die Schlacht am Ponte molle verherrlichende Triumphbogen vom Senat errichtet worden. Sein Bilderschmuck nimmt vom Christentum Konstantins keine Notiz (!), sondern feiert den Sonnengott als Beschützer des Kaisers... Dass es der Sonnengott ist der hier als Gott des Kaisers gezeigt wird hat L‘Orange erwiesen....“

S. 76: „Wahrscheinlich hielt Konstantin alle (Gottesnamen) für richtig - oder alle falsch. Im unmittelbaren Zusammenhang mit Konstantins Erwählungsglauben steht die Behauptung der Macht Gottes.... Konstantin baut seine persönliche Erfahrung in eine allgemeine und natürliche Theologie ein, die er für lehrbar und einsehbar hält.

Sein politische Handeln wird dadurch Heilsgeschichte. Es ist kaum zu entscheiden, ob K. diese Gedanken selbst entwickelt hat. Sie tauchen ungefähr gleichzeitig auf (ca. 314) bei ihm, in Eusebs Kirchengeschichte und bei Laktanz auf. Man wird die Erklärung am besten in der allgemeinen Dankbarkeit der Christen für das Ende der Verfolgung und das Christentum des Kaisers suchen.

S. 79: „... hinzu tritt jetzt noch dies: die Kirche verkörpert das künftige, immanent messianische Reich, das Gott aufrichten will. Auch diese Gedanken Konstantins basieren wieder auf seinem Grunddogma, dem Glauben an seine (Konstantins) Erwählung und Berufung. Er (Konstantin) ist das Werkzeug, mittels dessen diese Pläne verwirklicht werden, dazu ausgesandt, die zerstörerische Ordnung wieder aufzurichten und der Kirche den Weg zu bereiten; darum wird seine Berufung durch Erfolge beglaubigt...“

S. 81: „In den Spekulationen K. , nach denen Gottes natürliche Offenbarung vollkommene Erkenntnis vermittelt, besteht eigentlich kein Bedürfnis nach der übernatürlichen Offenbarung. So wenig K. in den früheren Briefen Christi Namen genannt hat, so wenig tut er es hier ...“

S. 86: „Im übrigen haben sich die früher erkannten Merkmale von Konstantins Kirchenbegriff nicht geändert. Ebenso wenig, wie Konstantin Christus erwähnt, ist die Kirche auf Christus bezogen. Sie ist bei Beginn der Schöpfung von Gott gefordert; der Sohn erneuert nur...

S. 87 „Konstantins beide Aufgaben, der Sieg des Christentums und die Ordnung des Staatswesens, gehören für ihn eng zusammen... nicht anders als Konstantin waren Aurelian, Diokletian und Maximin bestrebt gewesen, ‚die auf Gott gerichtete Gesinnung aller Völker zu einer Gemeinschaft aller Völker zu einer Gemeinschaft zu vereinigen.‘ Das Ziel, das sich Konstantin hier gesetzt hatte, ist nicht eigentümlich christlich; es ist vielmehr in einem Zusammenhang mit der Reichsidee und des spätantiken Monotheismus zu sehen...“

S. 89: „Der Staat den Konstantin entstehen sieht, ist ein Kirchenstaat, geführt von Priestern, mit dem von Gott berufenen und damit priesterlichen Herrschern an der Spitze. Nach dem ihm vorschwebenden Bild dieses Staatswesens formt er sich sein Reich, seine Kirche.

S. 99: „Der eigentliche Zweck des Konzils (zu Nicea) lag aber anderswo. Konstantin hatte eine neue Idee von der Kirche, die er verwirklichen wollte: Die Diener Gottes , die Kleriker unterstützen den Kaiser, den Knecht Gottes dabei, das gottgewollte Friedensreich herbeizuführen. Das Konzil ist ein repräsentativer Staatsakt, aber der Staat, der sich ihm darstellt, ist die von Konstantin geführte Kirche, das Reich der Zukunft... Konstantins Erfolge sind unmittelbar die Erfolge der Kirche...



Auf diese Weise hat er sich im Jahre des Konzils zu Nicäa 325 (327) an die Stelle von Jesus gesetzt.

Nichts anderes taten Lenin, Stalin, Mao, Pol Pot, Hitler…, Konstantins Gesinnungsgenossen.


Weil es diesen Abfall von Christus gab musste die Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage wiederhergestellt werden. Denn es lohnte sich nicht, einen “neuen Flicken auf ein altes Kleid zu setzen”… oder “neuen Most in alte Schläuche zu füllen.”

Jeder Christ möge wissen, dass Konstantins Briefe teilweise “christlich” zurechtgemacht, zurechtgelogen, d.h. gefälscht wurden

Kein Wunder, dass es zur totalen Entartung des Christentums im Mittelalter kam.



An einem Sonnentag, Monate nach der Zeit des “Offenen Hauses”, sah ich einen gut angezogenen, nachdenklich vor sich hinsinnenden Mann auf dem Freiberger Tempelplatz. Er saß auf einer der verstreut aufgestellten Bänke im Grünen. Ich ging auf ihn zu, grüßte ihn. Er mochte um die Fünfzig gewesen sein. Er schaute mich sonderbar an. Ich spürte die Ablehnung, hatte aber das Gefühl, dass ich ihn ansprechen sollte, ob er eine Frage hätte.

Kühl und entschieden erwiderte er: “Nein!” Er schaute mich nochmals an: “Alles, was ich zu Ihrem Thema zu fragen hatte, ist schon beantwortet worden.” Ich wusste, dass etwas nicht stimmt.

Was sollte ich machen? Er wünschte, nicht behelligt zu werden. Es störte mich nur, dass da ein Mensch war, der unbefriedigt und mit den von mir vermuteten Vorurteilen weggehen würde. Doch ich hatte kein Mittel. Nach einer halben Stunde, als ich zurückkam, saß er immer noch da. Ich nahm allen Mut zusammen, entschuldigte mich und bat ihn, mir nicht übel zu nehmen, dass ich ihn nochmals anzusprechen wage.

Ich habe ihnen doch gesagt, dass ich bestens informiert bin.”

Ich fühlte, dass er nicht aus der Quelle getrunken haben konnte. Was er denn erfahren habe. Er ließ sich auf meine zugegebenermaßen unverschämt nachdrängende Rückfrage tatsächlich ein und begann zu erzählen.

Ich wusste nicht, ob ich lachen oder weinen sollte. Nahezu alles was dieser kluge Mann über unsere Kirche sagte, war falsch. Es war noch unzutreffender als das von den europaweit bekannten und beliebten Brüdern Schreiber in ihrem Buch “Mysten, Maurer und Mormonen” zusammengestotterte Nichts auf ganzen zwei von vierhundert Seiten. Nahezu jeder Satz strotzte vor Lügen. War beides das Ergebnis bewusster Fehlinformation?

Als mein allmählich auftauender Gesprächspartner sagte, er sei ein Universitätslehrer aus Köln, ein Naturwissenschaftler, bat ich ihn mir zu erlauben, ihm drei Sätze aus dem Offenbarungsbuch des Propheten Joseph Smith vorzulesen.

Etwas gequält erwiderte er: “Aber bitte nur drei Sätze.”

Ich schlug Lehre und Bündnisse auf, Abschnitt 88, Vers 67: “Wenn euer Auge nur auf die Herrlichkeit Gottes ausgerichtet ist, so wird euer ganzer Körper mit Licht erfüllt werden und es wird in euch keine Finsternis sein; und wer ganz mit Licht erfüllt ist, begreift alle Dinge. Darum heiligt euch, damit euer Sinn nur auf Gott gerichtet ist, dann werden die Tage kommen da ihr ihn sehen werdet ...”

Noch einmal bitte!” sagte der Mann. Er schaute weit an mir vorbei.

Ich las es noch einmal vor.

Noch einen anderen Vers, bitte.”

Lasst niemanden euer Lehrer oder geistlicher Diener sein, außer es sei ein Mann Gottes, der auf seinen Pfaden wandelt und seine Gebote hält.”

Aus welchem Buch haben Sie nun vorgelesen?”

Aus dem Buch Mormon Mosia, 23,14.”

Er erhob sich, schaute mir eine Weile ins Gesicht. Er forschte mich ungeniert aus, aber es war mir nicht unangenehm. Wahrscheinlich fragte er sich, wer ich sein mochte. Ich bemerkte, dass sein Blick sich wieder meinem schwarzen Ledereinband zuwandte. “Lesen sie selbst!” forderte ich ihn auf. “Hier sind zwei Sätze aus den Briefen, die der Gefangene Joseph Smith aus dem Libertygefängnis geschrieben hat.” Er las es tatsächlich. Es handelte sich um die Worte: “Die Rechte des Priestertums sind untrennbar mit den Himmelskräften verbunden und können nur nach den Grundsätzen der Rechtschaffenheit beherrscht und gebraucht werden….doch wenn wir versuchen unsere Sünden zu verdecken oder unseren Stolz und eitlen Ehrgeiz zu befriedigen, oder wenn wir auch nur im geringsten Maß von Unrecht irgendwelche Gewalt, Herrschaft oder Nötigung auf die Seele der Menschenkinder ausüben – siehe dann ziehen sich die Himmel zurück, der Geist des Herrn ist betrübt, und wenn er weggenommen wird, dann ist es mit dem Priestertum oder der Vollmacht des Betreffenden zu Ende.”

Sein Kopf kam wieder hoch.

Er dachte eine Weile nach. Tief durchatmend schloss er mit der Bemerkung: “Ich werde mich von meiner Informationsquelle abwenden!” Es klang wie das Zerreißen von festem Papier.

Tun Sie das, mein Herr. Ich danke ihnen, dass Sie mir zugehört haben.”

Ich danke Ihnen!” Leider habe ich nie wieder von ihm gehört. Aber vielleicht kommt dieser Tag noch…und sei es in der Ewigkeit.



Kurz vor Weihnachten 1986 erlitt ich einen leichten Schlaganfall. Meiner Meinung nach hatte er verschiedene Ursachen. Jürgen, einer unserer jungen Meister stand wieder einmal mit aller Schärfe gegen mich. Während ich eine Tagung unserer 18köpfigen Fischerei-Genossenschaft leitete kam es zu einem bedrohlich ausufernden Streitgespräch zwischen ihm und einem anderen Mitglied der Genossenschaft. Beide hielten ihre lauten Unverschämtheiten wahrscheinlich für den Ausdruck schönster Aufrichtigkeit. Mir dröhnten die Ohren, aber nicht nur mir. Die beiden germanischen Recken gingen aufeinander los. (Was ebenfalls seine uralten Ursachen hatte) Ich erhob mich sofort und begab mich unvorsichtigerweise zwischen die Streithähne. Augenblicklich fuhr mir eine unsichtbare Hand an die Gurgel. Nie zuvor hatte ich gewusst, dass Hass auch materiell fühlbar ist. Ich hatte das Gefühl, dass sich rings um meinen Körper nasse, kalte Watte legte. Ich spürte die Spannung zwischen den beiden Erzfeinden als lähmende Kälte. Wie schwarzer Schnee lag der Hass auf meiner nackten Haut. Erschrocken zog ich mich zurück. Minuten später brach ich zusammen. Als sie mich am Boden liegen sahen, hörten sie auf, gegeneinander zu wüten.

Ein Krankenwagen musste kommen und mit ihm eine Ärztin. Sie verluden mich, denn ich war außerstande, die Bewegung meiner Beine zu koordinieren. Ich war auch nicht imstande, meine Augenlider zu öffnen.

Die Diagnose, die ich zwei Stunden später unter dem anerkennenden Auflachen eines der untersuchenden Ärzte selbst stellte, lautete: Blockade des Stammhirnes.

Tagelang drehte sich, nach dem ersten Umfallen, das Karussell um mich herum, und zwar jedes Mal, wenn ich versuchte, meinen Kopf zu drehen. Herr von Suchodolitz, mein behandelnder Arzt, meinte, mein Gefäßsystem sei infolge jahrzehntelanger falscher Ernährungsweise und auch altersbedingt nicht mehr das Beste und schon ziemlich starr. Deshalb erzielten die Medikamente, die er anwenden ließ, die erwünschte Wirkung nur allmählich. Am fünften Tag war ich, entgegen der ersten Voraussage immer noch nicht fähig, die Augen zu öffnen. Den Weg zur Toilette bahnte ich mir nur mühsam, indem ich mit den Händen an den Wänden des Krankenhausflures unsicher entlang rutschte. Allmählich bekam ich es mit der Angst zu tun. Da dachte ich daran, dass ich “gesegnet” werden könnte.

Erika bat umgehend meine beiden Söhne Hartmut und Matthias ins Neubrandenburger Krankenhaus. Matthias sagte später, er hätte geahnt, dass ich um diese heilige Handlung bitten würde. Ihm sei Bange gewesen. Was sollte und durfte er mir verheißen?

Aber sofort als ich meine Hände auf Deinen Kopf legte, erhielt ich Gewissheit. Du sollst wieder vollständig gesund werden.”

So war es. Obwohl die Fachärzte mir gesagt hatten, ich würde nie wieder Auto fahren können habe ich seither - unfallfrei- mehr als eine halbe Million Kilometer zurückgelegt, davon mindestens zehn Prozent im dichtesten Stadtverkehr.



Ich war fasziniert, als ich in jenem Jahr in einer Veröffentlichung die Auffassung eines marxistischen Philosophen und Natur-Wissenschaftlers in Bezug auf die Weltwerdung las. Er sagte: “Es muss außer dieser unendlich großen Energie auf unendlich kleinem Raum, unmittelbar vor dem Urknall, noch etwas gegeben haben, nämlich, das Gesetzespaket.”

Da fügte sich alles vor mir zu einem Anlass unendlicher Bewunderung. Gott gab eine Reihe Gesetze und das Resultat ist die Schönheit der Natur.



Im darauf folgenden Sommer zelteten die Kampfschwimmer auf einer Halbinsel des Sees. Sie übten das spurlose Tauchen mit speziellen Atemgeräten, denn ihr eventueller Kampfauftrag könnte eines Tages lauten: In Kiel sind zwei Kreuzer der Bundeswehr zu versenken! So bemerkten wir sie mitunter auch an windstillen Tagen nicht, bis sie unmittelbar neben uns auftauchten. Einmal kamen vier, fünf Männer in ihren schwarzen Neoprenanzügen hoch und umringten mich plötzlich, weil sie sich fast lautlos auf den Kutter, der neben mir verankert worden war, hinaufgehievt hatten, um das Garneinholen in der letzten, der interessantesten Phase der Zugnetzfischerei mitzuerleben. Meine Partner im gegenüberliegenden Boot hatten sie eher als ich bemerkt. Einer von ihnen, Hermann Witte, das Woldegker Original, sah sofort seine Gelegenheit gekommen, einen seiner unangebrachten Witze zu reißen. Durch nichts anderes als durch ihre Gegenwart dazu motiviert, forderte er mich auf, das Beten zum lieben Gott nicht zu vergessen, wenn ich am nächsten Tag auf die nächste große Reise ginge. Augenblicklich stand ich dadurch im Brennpunkt der Aufmerksamkeit. Der Chef der Tauchertruppe, fiel aus allen Wolken und bis sofort an. “Sag bloß, dass du glaubst und betest?” Ich wandte mich um und fragte ihn augenzwinkernd, ob er etwa nicht glaube. Natürlich nicht.

Natürlich doch! Du glaubst an Karl Marx, an Wladimir Iljitsch Lenin.” Seine Genossen lachten. Er stimmte mit einem konzilianten Lächeln und einem durch die Zähne gezischten “teils, teils” zu. Aber er würde seine “Götter” wenigstens nicht anbeten.

Weißt, Du,” erwiderte ich, “ich habe Männer erlebt, die auf Knien vor einer Schönheit lagen und unentwegt bettelten erhört zu werden.”

Wieder lachten sie.

Das übliche Hin und Her kam auf. Da hoben sie aber alle die Köpfe, als sie hörten ich sei Mormone. Nach der Errichtung des Freiberger Tempels gab es in der DDR kaum noch Menschen, die mit diesem exotisch anmutenden Begriff gar nichts anzufangen wussten. Zwar war keiner von ihnen auf dem Gelände des der Öffentlichkeit zugänglichen Gebäudekomplexes gewesen, doch sie waren einigermaßen im Bilde. Nun sollte ich nur noch schnell antworten, was die Basis und was der Kern meines Glaubens ist. Die Begegnung mit mir wäre, wenn ich schnell geantwortet hätte, für sie nur eine kleine Episode unter vielen gewesen. Sie hätten es abgehakt wie einen Rechenvorgang, nachdem man den Fehler gefunden hatte. Ich wollte nicht zulassen, abgehakt zu werden. Ich dachte, wenn ihr wüsstet, wie ungeheuer breit der Strom Mormonismus ist, wie tief er geht. Ihr ahnt es nicht. Aber ihr sollt ihn noch zu spüren bekommen, angenehm wie Wärme und kraftvoll wie Wasser, das in einen trockenen Holzkeil eindringt, dessen osmotische Kräfte imstande sind, Felsen zu zerreißen. Mit ihm ist es wie mit dem Golfstrom, der weltverändernd durch den Atlantik fließt.

Ich fragte den Chef der Truppe, ob er der Meinung sei, ich könne ihm in fünf Minuten eine ganze Weltanschauung unterbreiten. “Gut, morgen nehme ich mir zehn Minuten Zeit, mehr brauchen wir wirklich nicht.”

Der nächste Morgen kam. Ich sah sie schon von weitem, mit ihren schwarzen Schutzanzügen, auf dem “Rhäser Eck” stehen. Wir halfen ihnen, die Geräte auf den Kutter zu laden und binnen Sekunden fand ich mich wieder von lauter fröhlichen Gesichtern umringt, acht an der Zahl. Wir standen auf den federnden Schweffbrettern, die als Abdeckung über den großen Wasserkammern lagen. Wir sollten sie bis zur gut zwei Kilometer entfernten Fischerinsel mitnehmen. Sie würden zurückschwimmen. Das waren knapp fünfzehn Minuten, die sie mir gaben. Sie waren gespannt, wie ich auf die Argumente eingehen würde, die mir ihr Chef blitzschnell um die Ohren schlagen würde. “Otschen karascho!” hob Manfred an. “Wir haben schon die ersten Schritte erlernt, den Menschen in vitro hervorzubringen, bald können wir noch mehr. Wo ist da noch Platz für Gott ?”

Mir fiel ein, ihn zu fragen, was der Mensch denn dann sei, falls er noch ein paar Schritte weiter kommt und in der Retorte aus anorganischer Materie Leben zu schaffen vermag. Er schaute mich verdutzt an. Seine Freunde lachten schon, bloß er begriff es nicht. Ein kleinerer, untersetzter Mann dolmetschte: “Manfred! die Frage des Fischers lautet: Gibt es keinen Schöpfergott, weil es Schöpfergötter gibt?”

Manfred blieb an Bord, bei mir, während seine Männer ins Wasser sprangen und unter der Wasseroberfläche, von ihrem kleinen Kompass geleitet, in Richtung Zeltlager zurückschwammen.

Meine Kollegen hoben und entleerten in der Zwischenzeit die Reusen auf der Lieps, während wir uns unterhielten. Ich steuerte dabei zeitweise das Motorboot und machte mich nützlich. Manfred hatte sich längst des schwarzen Taucheranzuges entledigt und saß in seiner Badehose, mit einem Hemd bekleidet in der Sonne. “Nun erzähl mir mal, wie’s kam, dass Du so quer zu uns stehst.” Für ihn sei interessant zu hören, wann und warum ausgerechnet ich unter so vielen Normalen ausgeschert bin.

Als ich ihm die Joseph- Smith-Geschichte erzählte, wog er den Kopf. Er lachte aber nicht. Da war auch nichts zu lachen. Auch wenn er nicht alles verstünde, was ich als glaubwürdig angenommen hätte, er sagte, es sei ihm sonderbarerweise nicht unangenehm. Nur, ich käme ihm vor wie ein Lindenbaum der mitten in einer Pappelallee dasteht.

Dann erzählte er von sich selber. Es gab in seinem Leben nie einen Anlass außer der Reihe zu tanzen. Sein Kurs sei klar, sein Lebensweg war bisher geradlinig verlaufen. Abitur, Studium der Medizin, Mitglied der SED. Militärakademie. Ein Arbeiterkind.

Natürlich, es hat alles mit unserer Herkunft zu tun, gab ich zu: “Aber mir war es nicht vorausbestimmt, den Ansichten meines Vaters folgen zu müssen. Wer hätte mich hindern wollen, für immer den Kurs zu wechseln?”

Es sei eine lebenslängliche Auseinandersetzung, ein nicht einfacher Prozess der Wahrheitsaneignung gewesen, versuchte ich zu erklären. “Nachdem ich mich in meinem fünfzehnten Lebensjahr mit zwei Fragen konfrontiert sah, bahnten mir die möglichen Antworten ihren Weg wie von allein. Die erste Anfrage war an meine nationalsozialistischen Vorgesetzten gerichtet und spätere an einige SED-Genossen. Sie lautete: ‘warum habt Ihr versucht, zuerst Euch selbst und dann mich zu täuschen?’ Meine zweite Frage stellte sich mir aus der ersten: warum gerade die Menschen, die mir bewiesen hatten, wie leicht sie sich täuschen ließen, so energisch vertraten, dass Joseph Smith ein Lügner war.”

Seine mausgrauen Augen musterten mich, während ich bemüht war herauszustellen, dass ich nie ein Sonderling sein wollte: “Ich habe nichts anderes gesehen und gewünscht als Du, Manfred. Mit der Einschränkung, dass ich Ursache hatte, anders als du nach Gott zu suchen und ich habe nicht nur gesucht, sondern gefunden.”

Er brachte, wie das bei solchen Gesprächen fast immer üblich war die Evolutionslehre ins Spiel.

Ich hatte gerade “Das Ur-Gen” von Nobelpreisträger M. Eigen gelesen.

Eigen spricht von der gezielten, der ‘gerichteten’ Evolution. Das muss man sich auf der Zunge zergehen lassen, dass gerichtete Evolution etwas anderes ist als die Evolution schlechthin. Wer hat sie denn ausgerichtet? Das ist doch die große Frage!”

Ja, glaubst du denn an die Evolutionslehre und an Gott?”

Wir sind Kinder Gottes und Kinder der Erde. Nur wenn wir diese beiden einfachen Tatsachen zugleich im Auge haben, dann minimieren sich die Widersprüche, die zwischen den unterschiedlichen Grundaussagen bestehen. Die materiellen Körper von Pflanzen, Tieren und Menschen entstanden schrittweise, im Rahmen der gottgewollten Evolution. (Und vielleicht, vielleicht entstanden sie sogar mit unserer persönlichen Mithilfe, unter der Anleitung des ewigen Gottes.) Sobald die menschlichen Körper dem Vorbild entsprachen, begann die Kette der Inkarnation unseres Seele, - unseres Geistes, - dieser Geist ist aber auf keinen Fall das Ergebnis von Evolution!”

Aber wer kann das wirklich glauben?” rief er aus.

Ich räumte ein, trotz bester Anleitung und Belehrung auch erst verhältnismäßig spät erkannt zu haben, dass Gott ausschließlich per Naturgesetz arbeitet und dass sein Gesetz mit dem Naturgesetz identisch ist.

Dann wäre Deiner Meinung nach Evolution lediglich eine Arbeitsmethode Gottes!” folgerte er.

Ja! - Aber vergiss bitte nicht, dass für einen Mormonen gilt, dass der Mensch Geist ist! Und in der Präexistenz gab es keinen Kampf ums Dasein. Es gibt unterschiedliche Definitionen für den Begriff Mensch. Das hat schon eine Menge Verwirrung gestiftet. Für Dich, Manfred, gilt, dass der Körper der Mensch ist, für uns Mormonen ist dieser Körper nur das Haus, ein Zelt, eine Hütte, höchstens noch ein Tempel. Für uns ist 'der Mensch' das Unsterbliche in ihm. Wir haben also eine Bezeichnung für den Inhalt, die ihr Materialisten nur dem Gefäß gebt.”

Er war tolerant genug, mich gewähren zu lassen und so fuhr ich fort. Ihn und mich fragte ich, ob wir denn alle miteinander blind sind, solche technische Genauigkeit und Muster an Schönheit und perfekten Handlungsweisen in jedem einzelnen der vielen hunderttausenden Geschöpfe unterschiedlichster Art eher dem Zufall und nur den Prinzipien der Auslese zuzuschreiben, als sie voller Ehrfurcht und Dankbarkeit einer planenden Gottheit anzurechnen. “So viele Zufälle zusammengenommen gibt es nicht!”

Mit absoluter Präzision errichtet die Biene aus dem Wachs, das ihr Körper nur bei fünfunddreißig Grad Celsius ausschwitzen kann, ganze Zimmerfluchten. Jeder Bau- und Maschineningenieur würde erblassen, wenn er ohne Hilfsmittel, dazu noch in der Nacht, vor einem ähnlichen Unterfangen stünde. Mit der Mikrometerschraube kann man die Räume, die eine x-beliebige Arbeiterin baut, prüfen und wird feststellen, dass nicht nur die Sechsecke haargenau stimmen, sondern dass die Dicke jeder Zellwand der Normalbiene dreiundsiebzig Tausendstelmillimeter beträgt, während die Wand einer Drohnenzelle vierundneunzig Tausendstelmillimeter zu messen hat. Beide mit einer Abweichung von maximal zwei Tausendstelmillimeter.

Das wurde so festgelegt. Aber was für eine Glanzleistung ist es, solche Instinkthandlung als höchst komplizierte Software im Hirn einer Biene zu installieren, geschweige denn sie erst niederzuschreiben.”

Die großartige Häuserbauerin wird, nach dem zwanzigsten Lebenstag Sammlerin. Vorher aber musste das Programm 'Bauen' ebenso wie zuvor das Programm 'Pflegen' definitiv gelöscht und das neue aufgerufen werden. Keine andere Biene hätte sie lehren können, was sie tun muss, wenn sie eine reiche Nektarquelle findet, dass sie nach der Heimkehr im Stock genau so und nicht anders zu tanzen hat und wie sie den Rund- und Schwänzeltanz einer anderen lesen und verstehen kann, um die Information: Ein Rapsfeld in fünfhundert Meter Entfernung in fünfundvierzig Grad Abweichung von der Sonnenrichtung horizontal rechts umzusetzen.

Natürlich kann man den 'Programmierer' Gott hinwegdeuten und auf millionenlange Entwicklungsjahre verweisen. Nur, meinen Kopf hat das ganze schlaue Gerede nie überzeugen können. Selbstverständlich gab es vor Jahrmillionen schon Foraminiferen und andere Wurzelfüßer als Vorstufen für höhere Lebewesen, aber es gibt sie auch heute noch, auf den Punkt dieselben Foraminiferen. Gott baut eben jedes Neue auf der Basis des Alten. So ist es auch in seiner Philosophie:

Alles Neue, wenn es siegreich sein will, kann nur auf dem Grund der bewährten alten Wahrheit stehen. So hängt die ganze Welt zusammen. Alles Leben ist untereinander verwandt. Es hat einen gemeinsamen Vater.

Meiner Meinung nach wäre es dennoch eine Katastrophe, wenn wir auf wissenschaftlichem Weg Beweise für die Existenz eines allmächtigen Schöpfers fänden!”

Er schüttelte sich plötzlich. Das Letzte hätte ich nicht sagen dürfen. Jetzt bräche ich die Logik übers Knie. “Keineswegs! Du kennst sie doch auch, unsere persönliche Schwäche und Vorliebe, mit dem Strom zu schwimmen und fein säuberlich aufzupassen, ob sie alle mit uns sind. Es gibt genügend Leute, die Tag und Nacht nicht zur Ruhe kommen können, bevor der letzte Widerständler nicht zu Kreuz gekrochen ist.” Dafür standen mir deutlich ein paar passende Beispiele vor Augen.

Einmal, an einem Elternabend, hatte ich während Hartmuts Schulzeit fast mit Schulterschluss neben einem Offizier der NVA gesessen. Es ging um Fragen der Berufsausbildung, darum, dass Erich Honnecker und die SED darauf bestanden, dass wir mehr Klempner und Heizungsmonteure benötigten. Zufällig wollte niemand aus der "9R" eine der erwähnten Ausbildungslaufbahnen einschlagen. Ich sah wie der linientreue Mann zu zittern anfing. Er bebte vor Empörung.

Das war es, was ich meinte.

Gnade dem, der es wagen würde, sich dem Gebot des Höchsten zu widersetzen, wenn unverrückbar feststünde, dass es sein Gebot ist. Wir hätten in den meisten unserer Nachbarn scharfäugige Inquisitoren, die jeden kleinen Fehler, den wir dann begehen würden, mit ungeheurer Konsequenz verfolgen würden. Wir wären, wenn wir endgültig von Gott wüssten, außer unserem dadurch um ein vielfaches verschärften eigenen Gewissens der erbarmungslosen Kritik derer ausgesetzt, die sich gar nicht tief genug unter den Pantoffel eines Diktators bücken können. Dann aber lohnte es sich nicht mehr zu leben.

Zum Glück sei Gott kein diktatorischer Regent. “Er lässt uns Spielraum.”

Woher ich das wüsste.

Wäre Gott ein Diktator, hätte er uns längst unterworfen.”

Alle Akteure, ob sie sichtbar oder noch unsichtbar sind, ziehen ihre Spuren hinter sich her. Ich habe immer nur gefunden, dass wir völlig frei entscheiden können und genau das ist für mich seine Absicht. Er will uns auf ein höheres Niveau heben, aber nicht dahin prügeln.



Wir legten eine längere Pause ein. Ich dachte schon, Manfred wünsche das Thema nicht noch einmal aufzugreifen. Wir glitten über das sich leicht aufrauende Wasser der Lieps. Von Süden wehte ein angenehmer Wind.

So weit so gut.” befand Manfred unvermutet, nur passe meine Theorie überhaupt nicht zur christlichen Praxis.

Die Spuren im Sand der Geschichte die er gesehen hätte, zeigten ihm nur das Elend und die Millionen Leichen der im Namen des Kreuzes Christi ermordeten Menschen.

Wo hat das Christentum jemals Gutes ausgerichtet? Nur Blut und Tränen!”

Damit kam er genau auf mein Hauptthema zu sprechen…

Der Rest des Tages verging uns im Nu.

Ich hielt nach meinen rudernden Kollegen Ausschau. Sie hoben die letzte Reuse. Ich sah die Menge zappelnder Fische, die sie ins Schweff schütteten, und meine Gedanken schweiften zurück.



Wir fuhren gemächlich zurück, redeten noch, drehten mit unserem wellenaufwerfenden Stahlkutter noch eine zusätzliche Runde auf dem Tollensesee. Die Sonne stand bereits im Südwesten. Meine beiden Kollegen schliefen, erschöpft nach der anstrengenden Tagesarbeit. Sie lagen lang ausgestreckt auf den Brettern der großen Schweffdeckel. Manfred machte sich fertig für den Landgang, schüttelte zum Abschied meine Hand. Er schaute mich sehr freundlich an: “Ich hätte nicht geglaubt, dass es solche Sichtweise gibt! Aber es hat mir großen Spaß gemacht. Es war schön gewesen mit Dir.” Er schüttelte den Kopf und lachte: “Ja, so positiv!”

So gingen wir als Freunde auseinander. Im darauf folgenden Sommer 1988 war er zu meinem Bedauern nicht mehr dabei. Die Kampfschwimmer kamen zu uns heran, sprachen mit uns, fragten mich auch, was ich mit ihrem Manfred geredet hätte. In Berlin sei er von einer Bibliothek in die andere gerannt und hätte wie ein Besessener gelesen.

Schade, dass ich nie wieder von ihm hörte.



Wenig später wurden Bruder Bernd Schröder, Berlin, Gemeinde Friedrichshain und ich eingeladen in Märkisch Buchholz vor angehenden Baptistenpredigern einen Vortrag zum Thema “Mormonen” zu halten. Der Griechischprofessor gewährte uns viel Spielraum und stellte die üblichen Fragen. Zum freundlichen Abschied übergab er uns die Theologische Literaturzeitung Nr.2, Februar 1984 .

Darin stand vornan der Aufsatz “Joseph Smith und die Bibel”. Autor Räisänen führt aus, dass Joseph Smith den Wortlaut der Bibel zwar partiell verändert habe, aber nicht aus dem Grund, die Texte für seine Zwecke zurechtbiegen zu wollen, was ihm häufig unterstellt werde.

Räisänen sagt z.B. “... Bei der Umgestaltung des Passus Römer 7,25 bringt Joseph Smith ein erstaunliches Maß an Scharfsinn auf; mehrfach entsprechen seine Beobachtungen im großen denen moderner Exegeten ... der Versschluss, der vom Dienst am Gesetz der Sünde mit dem Fleisch redet - ein Stein des Anstoßes auch für die moderne Exegese - fällt bei J. Smith aus! ... als ein weiteres kleines Beispiel dafür, wie Joseph Smith nicht ohne einen gewissen Erfolg versucht hat, einen dunklen Gedankengang zurechtzurücken, sei seine Behandlung von Römer 3,1-8 erwähnt. C.H.DODD bezeichnet die Paulusargumentation als “dunkel und schwach”. Die logische Antwort - vor der Paulus zurückschrickt - auf die Frage nach dem Vorzug der Juden (Römer 3,1) wäre gewesen: 'Gar nichts!' Dass Paulus hier seine eigene Logik durchkreuzt, scheint J. Smith ebenfalls empfunden zu haben. Er bringt die Antwort zur Übereinstimmung mit 2,29: 'But he who is a Jew from the heart, I say hath much every way ...'

Zusammenfassend lässt sich feststellen”, so Räisänen:" dass Joseph Smith durchgehend echte Probleme erkannt und sich darüber Gedanken gemacht hat ... wie durch ein Vergrößerungsglas lassen sich hier auch die Mechanismen studieren, die in aller apologetischen Schriftauslegung am Werke sind; die zahlreiche Parallelen zum heutigen Fundamentalismus aber auch zur raffinierten Apologetik etwa der Kirchenväter sind hochinteressant ...” Räisänen sagt, dass moderne großkirchliche Exegese durchaus die Frage zuläßt ob der Urtext richtig überliefert worden sei. Er schließt nach weiteren Darlegungen mit folgenden, beachtenswerten Worten:

Mit diesen Beispielen aus den Werken Joseph Smiths, sowie aus der neueren Literatur über den Mormonismus hoffe ich hinreichend angedeutet zu haben, dass eine ernsthafte Beschäftigung mit diesen Werken eine lohnende Aufgabe, nicht nur für den Symboliker und den Religionswissenschaftler, sondern auch für den Exegeten und den Systematiker darstellt ...”

Dass Außenseiter so positiv über Joseph Smith redeten war sehr selten Es bewegte uns sehr. Später übergab ich Douglas Tobler von der BYU eine Kopie dieses Aufsatzes.

Bernd Schröder und ich wurden in der Wendezeit abermals eingeladen zu den Studenten zu sprechen.

Wir wurden nicht mehr beaufsichtigt, sondern durften frei sprechen was immer wir wollten. So wählten wir das uns besonders am Herzen liegende Thema “Abfall und Wiederherstellung.”

Bernd sagte hinterher, nachdem wir jedem angehenden Baptistenprediger, männlich und weiblich, ein Buch Mormon geschenkt hatten: “Soviel Neues und soviel Lebendigkeit haben die hier lange nicht gehört und erlebt.”



Die SED-Führung erlaubte ab März 1989, dass die zwanzigjährigen DDR- Mormonen von der Kirche als Missionare berufen und sogar ins “kapitalistische” Ausland auf Mission geschickt werden durften. Einige der Berufenen kannte ich. Sie erhielten einen grünen Pass, wie ihn die DDR-Diplomaten bekamen.

Und ab sofort gestatteten sie die Arbeit US-amerikanischer Mormonenmissionare in der DDR. Der Preis dafür war, zu bekennen, dass wir Mormonen mit dem Sozialismus leben konnten.

Uns blieb ja ohnehin nichts weiter übrig, wir mussten mit dem Sozialismus leben.

Natürlich mischten wir uns nicht in die DDR-Politik ein, weil der Bereich, in dem wir uns bemühten, Menschen zusammenzubringen, “nicht von dieser Welt” war und ist. - wie Jesus schon in einer Grundsatzbemerkung gegenüber Pilatus äußerte - Joh.18,36

Der Verdacht unserer Kritiker, es sei ein Staatsvertrag geschlossen worden, griff viel zu hoch. Praktisch konnte die Kirche unter allen Bedingungen existieren, außer in der Illegalität.



Diese im Herbst 1988 gefassten Politbürobeschlüsse passten überhaupt nicht in mein Bilderbuch.

Fühlten sich die Sozialisten so stark oder schon zu schwach, um dem Begehren unserer Führungsspitze noch länger zu widerstehen? War es die Altersschwäche der Greise im Hause des Zentralkomitees der Partei, die sie so milde und unerwartet nachsichtig machte? Oder wünschte Erich Honnecker, über den Umweg der Mormonenkirche eine Einladung in die USA zu erhalten?

Richtig ist, dass ihnen von uns keine politische Gefahr drohte, jedenfalls keine unmittelbare.

War dies für sie eine Möglichkeit, einer stets wachen Weltöffentlichkeit zu beweisen: Seht, wir sind nicht die Buhmänner, für die ihr uns haltet? Niemals, auch das stand fest, würde sich das Mormonentum zu einer Massenbewegung auswachsen. Dafür verlangt diese Kirche von ihren Mitgliedern einfach zuviel Selbstverleugnung, zumindest aber einen hohen Grad an Selbstdiziplinierung.

Die DDR-Politiker hatten die Resultate gesehen. Das jedenfalls führte der stellvertretende Staatssekretär für Kirchenfragen Herr Kalb anlässlich der Einweihungsfeierlichkeiten des Freibergtempels deutlich aus: “Wir haben gesehen, dass Mormonen nicht in Eigentumsdelikte verwickelt waren, es gab fast nie Ehescheidungen bei Ihnen. Ihre jungen Männer tranken während ihrer Armeezeit nie Alkohol, das allein war für uns sehr erstaunlich. Das sind Menschen, die wir hervorzubringen wünschten. Die Früchte waren gut.”

Waren es diese Ergebnisse, die uns in den letzten DDR-Jahren und Monaten praktisch einen Sonderstatus einbrachten?

Sie vermuteten richtig. Unsere Aufgabe bestand in der Hauptsache darin, an uns selbst zu unserer persönlichen Selbstvervollkommnung zu arbeiten, gleichgültig wie weit wir damit kamen.

Das ist ja das Geheimnis des Buches Mormon, wenn Du es gründlich liest ermutigt es Dich ununterbrochen das Richtige zu wählen und zu allen Menschen gut und ehrlich zu sein.

Unmittelbar vor den Maiwahlen 89 hatten nicht wenige DDR-Bürger das Gefühl, dass die Mächtigen in der Honeckerregierung sich zum letzten Mal eines glatten “Sieges” erfreuen würden.

Das geistige Leben in der DDR war seit Bekanntwerden der Gorbatschowideen höchst widersprüchlich geworden.

Wir lasen zwischen den Pressezeilen täglich die Wahrheit: Das kommunistische System krankte sehr.

Andererseits war allein der vage Gedanke, dass Moskau und die Altpolitikerriege in Wandlitz jemals ihre militärisch bestens fundierte Macht freiwillig aufgeben würden unvorstellbar.

Dennoch lag etwas in der Frühlingsluft. Viel mehr Menschen als je zuvor hatten Westverwandte besuchen dürfen und alle kamen mit den Eindrücken zurück, die ein bunt schillerndes Schlaraffenland einem Bewohner eines kränkelnden Grau-in-grau-Staates vermitteln musste. So geht es nicht weiter, sagten die erschütterten Heimkehrer mehrheitlich. Es gab kaum noch Schokoladen, kaum gute Bonbons, es mangelte mehr denn je an Effizienz der Wirtschaft. Das Lebensmittelnormalangebot fanden wir nur noch in den so genannten Delikatläden, während sich die Lücken in den HO-Kaufhallen, auf jedem Regal breiter machten, - mit Ausnahme der Alkoholpalette. Peinlich wirkte die westliche Perfektion, die allabendlich ebenso wie Chinas Studentenrevolte in die kleinste Stube hineinflimmerten. Egon Krenz hätte damals nie nach Peking reisen dürfen, und wenn schon, dann hätte er danach etwas Kluges sagen und tun müssen - oder schweigen. Aber er war auch nur einer jener Leute, die meinten, ihr bloßes Wort könnte die Gesetze der Welt außer Kraft setzen.

Ich hatte fast bis zum Schluss der Entwicklung gedacht, nur eine die ganze Menschheit vernichtende Feuersbrunst könnte diesem Eispalast jemals irgend etwas anhaben. Während sein atemberaubend schnelles und lautloses Zerbröseln bewies, wie schnell die Masse unter der Einwirkung des Tauwetters morsch geworden war. Wobei der Dauerfrost der Stalindiktatur erst die Erschaffung dieses sehr künstlichen Apparates und Staatsgebildes ermöglicht hatte.

Nun schlug das Wetter um. Die Sonne der Vernunft wollte sich durchsetzen, ausgelöst durch ein paar Männer um Gorbatschow.

Vielleicht hatte Gorbatschow dieses Ausmaß der Folgen von Erwärmung des Ostwindes nicht vorhergesehen. Wahrscheinlich dachte er, es geht auch ohne Schärfe. Zwei lichthelle Sätze, die er auf der neunzehnten Unionsparteikonferenz der KPdSU, schon im Juni 1988 formulierte, hätte er nie und nimmer sagen dürfen, wenn sein Wunsch gewesen wäre, an der Macht zu bleiben. Möglicherweise hatte er diese Schlüsselworte lange zuvor bedacht und war sich des Risikos der automatisch wirkenden Konsequenzen stärker bewusst, als wir denken. Danach musste der erstarrte Block aufweichen.

Der erste dieser seiner beiden Sätze der Vernunft - die ich mit großem Respekt und Staunen las - begann mit den Worten: “Bei der Rückkehr zu Wahrheit und Gerechtigkeit...” und der zweite lautete schlicht und einfach: “Eine Schlüsselposition innerhalb des neuen Denkens nimmt die Konzeption der Entscheidungsfreiheit ein ...” (ND vom 29. Juni 88, S.5)

Mögen ihn andere deshalb verdammen, ich bin überzeugt, Gorbatschow wusste, was er tat, als er auf diese Weise Hand ans Allerheiligste der Diktatur legte, indem er Unwahrheit und Willkür entmachtete.

Nachdem er in seinem Riesenland immer wieder unerwartet in den Staatsbetrieben auftauchte, wusste er allerdings, wie laut die Alarmglocken schrillten. Überall logen die Statistiken und die Menschen, die sie machten.

Sie hatten weder das Korn geerntet, noch die Baumwolle auf den Feldern der südlichen Unionsrepubliken, wie gemeldet wurde und die Bekenntnisse zum Kommunismus kamen sehr selten aus ehrlichen Herzen.

Der Rest war nur die Folge davon.



An dem Tage, als die Ost-CDU in Presseerklärungen bekannt gab, dass sie sich aus der SED-Vormundschaft lösen wolle, an jenem 30. Oktober 1989, bin ich ihr demonstrativ beigetreten. Nicht weil ich es den “Genossen Kommunisten” nun aber geben wollte, sondern mein Wunsch war beizutragen, dass wir durch beste Mittel und Schritt für Schritt behutsam, zu einer freiheitlich demokratischen Grundordnung gelangen. Mir waren diese lauten Aufmärsche in Leipzig und andernorts, die von Leuten getragen wurden, die meiner Meinung nach allzu viel zu schnell einforderten, unheimlich. Ich gehörte zu den Pessimisten. Ich gebe zu, mir schien, dass wir bereits viel erreicht hatten. Wir älteren Mormonen genossen die neue Religionsfreiheit seit 1985 zunehmend.

Auch deshalb marschierte ich zunächst nicht mit. Ich dachte ohnehin das Schlimmste. Unserer Hauptbuchhalterin, die zu den ersten Umstürzlern in Neubrandenburg gehörte sagte ich: “Ihr reißt den ganzen Bau ein, hoffentlich stürzen Euch die Balken nicht auf den Kopf.” Ich wurde jedoch eines Besseren belehrt. Die Führer der Kommunisten ließen die Kanonen in den Arsenalen.

Das hätte auch anders kommen können.

Wie nahe wir an einer Katastrophe vorbeigeschrammt sind, werden wir wohl erst später wissen.

Ich sah diese Scharen von Parteigruppenorganisatoren und Parteisekretäre der Betriebe durch den Neubrandenburger Kulturpark zur Stadthalle eilen. Alle waren an jenem 30. Oktober auf höchste erregt. Die Parole der kommenden zehn Tage bis zum neunten November hieß für sie: Schadensbegrenzung.

Doch da war nichts mehr zu retten.

Von der evangelischen Neubrandenburger St. Johanniskirche aus zogen tausende Oppositionelle, nach Feierabend, durch die Straßen der Innenstadt zum Karl-Marx-Platz. Sie gingen mutig unter rotbunten Plakaten mit regimefeindlichen Sprüchen

Mitten durch das Gewühl dieser rebellierenden Menschenmassen sah ich zwei unserer zwanzigjährigen Missionare schreiten, Elder Craig und Elder Scofield. Beide gingen in hellen Mänteln, beide wie es mir vorkam ziemlich unbeeindruckt von dem für uns gewaltigen Umschwung.

Die bewundernswerten, evangelischen Frauen der Leipziger Nikolai-Kirche hatten diesen Aufruhr in Gang gesetzt. Das müssen wir alle, die Demokratie lieben, dankbar anerkennen. Ihr verwegener Mut, als erste offen demonstrierend auf die Straße zu gehen, war der Beginn.



Steinharte Männer die mir gegenüber wiederholt wörtlich beteuert hatten linientreue Kommunisten zu sein und die noch vor Tagen gewillt waren für die rote Fahne zu sterben, erwachten am 31. Oktober als Demokraten. Wunder über Wunder passierten.

Aber reichte das schon aus, um von einer Wende zum Guten reden zu können?

Noch Anfang Oktober hatte mir der Abteilungsleiter für Land- und Forstwirtschaft vom Rat des Bezirkes eine Auszeichnungsreise zugesprochen, einen Flug nach Sotschi am Schwarzen Meer mit einwöchigem Hotelaufenthalt. (Für Aktivitäten zur Planerfüllung im Fischfang). Ich nahm dankbar an.

Erikas Anteil allerdings mussten wir selbst bezahlen. Wir flogen am 5. Dezember von Dresden ab. In unserem sehr modernen, wunderschön am Fuße der kaukasischen Berge gelegenen Hotel in Dagomir, in dem riesige, auf Westbesucher eingestellte, Restaurantanteile völlig leer standen, waren wir von den sich überstürzenden Ereignissen in der Heimat abgeschnitten. Die Informationen flossen spärlich. Auf einer großen Wandtafel vor dem Speisesaal fanden wir mitunter die Kernsätze der letzten Nachrichten aus der DDR (noch lange nicht aus Deutschland). Wir waren eine Gruppe von fünfzig Leuten, allesamt lange Jahre in der Landwirtschaft tätig gewesene Leiter von Kollektiven. Ich wunderte mich über die einhelligen und stürmischen Freudensäußerungen, wenn sie es einander vorlasen: “Der erst am 18. Oktober als Generalsekretär der SED bestätigte Egon Krenz von Hans Modrow gestürzt!” Sie jubelten, als hätten wir miteinander einen Lottofünfer gewonnen. Dabei waren die meisten von ihnen doch immer noch des Mannes Egon Krenz Genossen. Mich freute es auch, nur ich fragte mich besorgt, wer und was am Ende der Überraschungskette stehen wird.

Denn im blitzsauberen Botanischen Garten des sich riesig ausdehnenden Kurortes, hatte ich tags zuvor eine der beiden Dolmetscherinnen angesprochen. Sie ging bereitwillig auf meine teilweise indiskret gestellten Fragen ein: “Ja. Gorbatschow hat den Offizieren erlaubt, ihren Dienst zu quittieren. Aber, es nahmen nicht, wie die Parteiführung erhoffte, die älteren Herrschaften ihren Hut, sondern die jungen, eher pazifistisch eingestellten Männer verließen die Rote Armee.” Ihr Bruder war ebenfalls davon gegangen. Von ihm wusste sie, dass es sich so verhielt. Die jungen Tauben flogen weg, die alten Falken blieben. Diese wichtige, einleuchtende Aussage einer klugen und ehrlichen Russin sollte mich noch bestimmen, wenig später eine wichtige Entscheidung von gewisser politischer Tragweite zu fällen.

Nachdem wir wohlbehalten heimgekehrt waren, fand eine Mitgliederversammlung der CDU Neubrandenburg statt. In dieser Zusammenkunft traf ich zum ersten Mal die jungen Katholiken Rainer Prachtl, Paul Krüger, Ralf Kohl, Günter Jeschke und andere, die wichtige Aufgabenträger in der neuen Demokratie werden sollten.

Ich begann meine durch die Vorjahre geprägten Ansichten in Zeitungsartikeln und in Ansprachen auszudrücken, sagte es immer wieder, dass Glaube ohne Vernunft Fanatiker und Vernunft ohne Glaube Automaten hervorbringen wird. Meine Hoffnung dagegen lautete immer noch, dass Glaube und Vernunft Künstler macht, nicht nur Lebenskünstler, wenn sie ihren Idealen und ihrer Liebe treu bleiben.

Als ich mir 1954 eine neue Bibel gekauft hatte, suchte ich mir aus den Texten ein Motto aus und schrieb es, weil ich es als schöne Aufforderung verstand, in die Einbandseite: “Tue deinen Mund auf für die Stummen und führe die Sache derer, die verlassen sind.” (Sprüche 31,8)

So versuchte ich, meinen Glauben auch in die Politik einzubringen. Für mich waren Politik und Religion seit eh und je eine Einheit. Für mich war Wahrheit das, was sich wie Gold nie änderte. Sätze wie Shakespeare Polonius im Hamlet sagen lässt: “Sei ehrlich zu dir selbst und daraus folgt wie Tag der Nacht, du kannst nicht falsch sein gegen irgendwen.”

Eines Tages, Ende Januar 1990, traf ich auf der Straße, vor dem Krankenhaus in der Pfaffenstraße, zufällig auch Pastor F. Rabe von St. Michael wieder und teilte ihm mit, dass ich mich entschlossen hätte, soviel ich kann, beizutragen die Demokratie fest zu machen. Er kannte meine Ansichten, die ich in der Zeitung "Demokrat" in einem Artikel über Glaube und Vernunft beschrieben hatte. Er teilte sie und lud mich deshalb ein, anlässlich des Friedensgebetes am 12 Februar 1990, in der Neubrandenburger Johanniskirche zu sprechen. Er stellte mir ein Thema aus dem 97. Psalm. Ich schaute ihn natürlich fragend an. “Was werden deine Amtsbrüder dazu sagen? Ein Mormone spricht in einer evangelischen Kirche?” Er zuckte mit den Achseln: “Das haben wir doch gerade abgeschafft, dass Menschen ausgegrenzt werden.”

Der Chefpastor von St. Johannis, Herr Martins, soll sehr geschluckt haben, als er hörte: ein Mormone wird in seiner Kirche reden.

Auch er kannte mich seit vielen Jahren. Wir hatten einmal in den frühen achtziger Jahren, in seinem Amtszimmer, in der Großen Wollweberstraße, eine längere Unterhaltung zum Thema evangelische Rechfertigungslehre gehabt. Wie nahezu alle anderen Gespräche, die ich mit Geistlichen der Großkirchen gesucht hatte, war auch dieses freundschaftlich verlaufen. Deshalb war ich so überrascht gewesen, als Herr Pastor mir damals abschließend mitteilte, er stünde mir für ein weiteres Gespräch nicht wieder zur Verfügung. Wovor fürchtet er sich, fragte ich mich.

Meine Absicht war, vom Mut und der Glaubenstreue eines polnischen Katholiken zu reden. Solange ich seine Geschichte kannte, bewunderte ich den Franziskanerpater Maximilian Kolbe.

Bevor ich ans Mikrofon in der Johanniskirche trat, sagte F. Rabe zu mir: “Achte auf den Nachhall!”

Ich sprach denn auch in Intervallen, was mir ganz ungewohnt war: “Einer der Männer, die uns auf wunderbare Weise vorgelebt haben, wie stark Glaube sein kann, ist der Franziskanerabt Maximilian Kolbe. Am Abend des 12. Mai 1941 schlossen sich die eisernen Tore des Konzentrationslagers Auschwitz hinter ihm. Er nahm nichts als seine große, von seiner Religion bestimmte Menschlichkeit mit sich. Er sollte dieses Tor nie wieder als freier Mann verlassen. Wenige Woche nach seiner Inhaftierung gelang einem Polen die Flucht. Die Führer der SS-Verwaltung schäumten vor Wut. Sie erklärten, sie würden jeden zehnten Polen des Blocks, in dem Pater Kolbe lag, erschießen. Als der Lagerkommandant mit dem tödlichen Auszählen bis Frantisek Wlodarski kam, einem Familienvater, der entsetzt aufschrie, trat Maximilian Kolbe vor, nahm die Häftlingsmütze vom Kopf und sagte: Ich werde für ihn sterben. Der schockierte SS-Offizier akzeptierte. Er nahm sich vor, diesen Mann auf ausgesucht grausame Weise sterben zu lassen. Sie quälten ihn mehrere Tage lang allmählich zu Tode. Wo Maximilian Kolbe hätte verzweifelt und zerschmettert am Boden liegen müssen, da richtete er sich auf. Aus seinem Mund kam keine der Klagen, die wir sooft hören und die ausdrücken: Wenn es einen gerechten Gott gäbe, dann würde er das Elend nicht zulassen. Er wusste mehr. Er hatte erfahren, dass Gott sichtbares Leid mit unsichtbarer Freude zudecken will. Die rohen SS-Männer konnten das nicht fassen. Und manchmal können auch wir es nicht verstehen, denn wir sind Menschen, die fast immer nur bis auf die Oberfläche blicken können, tiefer nur selten.

Wir dürfen leben! Machen wir das Beste für uns und unsere Nächsten daraus.”

Pastor R. nickte mir zu, als ich mich wieder hinsetzte. Damit war unsere Freundschaft beschlossen. Ich gab ihm später ein Buch Mormon und er erwiderte, als wir irgendwann danach darauf zu sprechen kamen: “Mir sind die Texte des Buches Mormon nicht unsympathisch.”

In vier Wochen sollte ich, an derselben Stelle, die nächste Ansprache halten.

Das tat ich gerne und es brachte mir die Herzen einiger Neubrandenburger näher.

Meine teilweise sebstgewählten Pflichten nahmen, zumal ich noch jeden Tag zum Fischen hinausfuhr, meine ganze Kraft in Anspruch.

Kurz nachdem mich die Parteitagsteilnehmer zum stellvertretenden CDU Kreissekretär gewählt hatten, musste ich eine wichtige Entscheidung treffen. Da meine Vorgesetzte, Frau Benz, in Friedland wohnte, fiel mir nämlich zeitweise die Aufgabe zu, unsere politische Arbeit in Neubrandenburg zu leiten.

Einen oder zwei Tage vor Gründonnerstag 1990 erhielt ich die Information, dass Dr. Alfred Dregger, der Vorsitzende der CDU/CSU Bundestagsfraktion, am 20. April öffentlich auf dem Neubrandenburger Marktplatz zu reden wünschte. Am selben Tag machte mich während einer Tagung des örtlichen “Runden Tisches” in einem Korridorgespräch ein führendes SED/PDS-Mitglied auf die Möglichkeit eines Aufmarsches der fanatischen Linken der Stadt aufmerksam. Er hielt es für eine Dummheit, die sie durchaus begehen könnten, wenn sich dazu denn nur ein entsprechender Anlass fände. Freilich, je mehr Zeit ins Land ginge, umso geringer würde die Neigung, sich gegen das Unvermeidliche zu sträuben. Aber noch waren gewiss nicht alle Messen gesungen. Heftig drängte sich mir deshalb die Frage auf, ob der ungeschützte Auftritt des als “Rechtsaußen” der deutschen Bundespolitik geltende Herr Dr. Dregger diesen “Anlass” darstellen könnte?

Dass er selber solche Frage nie in Betracht ziehen würde, war mir klar. Allerdings stand sein Einverständnis in diesem Fall meiner Überzeugung nach nicht zur Debatte. Ich stellte mir nur vor, da würden zweihundert oder mehr SED-treue Genossen unter vielleicht fünfzig entrollten roten Fahnen aufmarschieren, um ein Signal zu geben.

Was dann?

Was könnte sich daraus entwickeln? Diese Vision von flatternden roten Fahnen beschäftigte mich erheblich. Im Gegensatz zu meinen Gesprächspartnern aus dem Konrad-Adenauer-Haus, war ich nicht der Meinung, dass ein letztes Aufbäumen der immer noch im Lande unter Waffen stehenden NVA auszuschließen sei. Es gab immer noch genügend Oberste, die ihre Machtinsignien selbst gegen alle Vernunft, gemäß ihrem noch in Kraft stehenden Fahneneid, verteidigen könnten, wenn sie ein rotes Signal dazu auffordern würde.

Ich schloss eben von mir auf andere. Ein Trugschluss? Ich weiß es bis heute nicht.

Mir schien damals, es sei leichtsinnig, solche Erhebung der Linken auszuschließen, zumal der zwanzigste April Adolf Hitlers Geburtstag war. Ein Umstand, an den niemand im Büro des Herrn Dr. Dregger auch nur im Traum gedacht hatte, den aber ein gewiefter Propagandist hätte durchaus auf die Tagesordnung setzen können.

Schließlich teilte ich Frau Zamzow, der Leiterin der Neubrandenburger CDU-Geschäftsstelle mit, sie möge das Büro des Herrn Dr. Dregger informieren, dass sein öffentlicher Auftritt in unserer Stadt, aus Sicherheitsgründen nicht erwünscht ist.

Da sie meine Argumente nicht verstand, wurde ich grob, worüber sie sich wunderte, und wahrscheinlich aus Ärger über mich im Stillen beschloss, meine Ansicht Herrn Dr. Dregger nicht mitzuteilen. Die sofort einberufene Kreisvorstandssitzung der CDU ergab, dass der spätere Oberbürgermeister Peter Bolick und weitere Mitglieder der Beratungsrunde meine Beurteilung der Situation mehrheitlich teilten. Warum sollten wir ein Risiko eingehen? Nur weil wir Dr. Dreggers Unmut fürchteten? Unser Beschlusstext ging seinem Büro am 18. April zu. Anderntags kam sein Stab mit den Plakaten ins damalige CDU-Haus in der Schwedenstraße. Ich bestand auf Änderung einiger Details. Natürlich waren Dr. Dreggers Mitarbeiter entsetzt. Einer, den ich immer noch deutlich vor mir sehe, ein großer, junger Mann schaute mich an, als wäre ich ein arroganter Idiot.

Er erhob sich abrupt und verließ mit allen Anzeichen von Empörung das Geschäftszimmer. Morgens am 20. April bat mich Dr. Dregger zu einem Vieraugengespräch. Ich sagte, was ich dachte und befürchtete. Wir gingen, im Beisein seiner Sekretärin, in Richtung des Sportplatzes am Badeweg und umrundeten debattierend die Tribünen. Er war sehr beherrscht, aber sehr wütend auf mich. Ich konnte nicht anders denken als zuvor und ließ mich auf nichts weiter ein. Wahrscheinlich hielt er mich für einen verkappten Roten. Es hat Leute gegeben, die ihn darauf hinwiesen, dass ich, wenn nicht das eine, auf jeden Fall das andere war, nämlich ein sektiererischer Mensch, ein Mormone.

Da muss es ihm eiskalt über den Rücken gelaufen sein.

Vielleicht hasste er mich deshalb doppelt. Aber das war unverdient. Obwohl ich mit einigen seiner politischen Auffassungen nicht übereinging, stand ich nicht gegen ihn. Es gab keinen anderen Beweggrund, ihn nicht auf dem Marktplatz sprechen zu lassen, als den genannten. Es lag mir und uns völlig fern, ihn demütigen zu wollen. Leider musste ich ihm außerdem noch den Beschluss des Rates der Neubrandenburger Geistlichkeit mitteilen, der kurioserweise in meiner Gegenwart, in einem Saal im Kindergarten der Katholischen Kirche, erneuert formuliert wurde. Herr Dr.Dregger möge in der Gedenkstätte für die Opfer der Nazibarbarei und der kommunistischer Gewaltherrschaft, Fünfeichen, kein Kreuz errichten, dies sei ihre Sache und bereits mit Termin für die Ausrichtung eines Gebetsgottesdienstes geplant.

Ich an seiner Stelle hätte mich ebenfalls beleidigt gefühlt. So gut wie mir möglich, unterbreitete ich ihm die Stellungnahmen. Bei der CDU-Presse muss es ein Foto geben, das uns gemeinsam im Bereich des Vorgartens des damaligen Neubrandenburger CDU-Hauses zeigt. Er lächelte in die Kamera hinein, aber ich wusste, wie bitter seine Gefühle waren. Schließlich sprach er in der Stadthalle vor einem für ihn enttäuschend kleinen Publikum.

Einige Monate später, wurde ich eingeladen, mit Vertretern anderer Parteien bei der Umvereidigung der Mannschaften und Offiziere des Fliegerhorstes Trollenhagen auf der Bühne vor einer Freifläche des Flugplatzes zu stehen. Ungefähr siebenhundert Uniformierte standen vor uns angetreten. Da dachte ich es wieder, du würdest dich erneut so entscheiden, gegen Dr. Dreggers Wunsch, auch wenn du heute weißt, sie wären mit ihren roten Fahnen nicht gekommen und diese NVA-Soldaten hätten nicht losgeschlagen. Damals hat dir deine Logik geboten, so zu handeln. Schließlich bin ich der CDU beigetreten unter der Voraussetzung, dass es allezeit Gültigkeit hat, was in ihrem Grundsatzprogramm niedergeschrieben steht: “Der Mensch steht in der Verantwortung vor seinem Gewissen und damit nach christlichem Verständnis vor Gott.”

In öffentlichen und privaten Diskussionen vertrat ich damals immer noch, natürlich wirkungslos, dass ich von einer blitzschnellen Vereinigung mit der Bundesrepublik nichts halte. Meiner Überzeugung nach war es falsch, uns etwas organisch anders Gewachsenes überstülpen zu lassen.

Aber außer dem verständlichen Trachten großer Bevölkerungsteile nach der harten Mark gab es einige Unerbittlichkeiten der Politik, die ein geradezu überstürztes Handeln verlangten. Wie es sich nun im Nachhinein darstellt, war es sehr wahrscheinlich nur für eine winzige Zeitspanne lang möglich gewesen, uns, die hoffnungslos Dahintreibenden, hineinzuhieven in den riesigen Dampfer. Schiffbrüchige haben kein Recht, Forderungen zu stellen, wie sie geborgen zu werden wünschen. Das Wie und Wann bestimmen die Retter. Das musste ich akzeptieren.

Natürlich war auch ich froh, dass ich mit dem neuen Geld viel anfangen konnte. Doch das Beste, das nun auf uns kam, war die gewonnene Geistesfreiheit, und so ist meine Dankbarkeit heute noch groß.



Anfang Juli 1990, wurde ich zum Vorsitzenden der Fischereigenossenschaft gewählt. Für mich war selbstverständlich, dass wir die Genossenschaft erhalten und niemanden in die Arbeitslosigkeit schicken wollten. Meine erste Amtshandlung bestand folglich darin, bestätigen zu lassen, dass wir lediglich fünfzehn Prozent der aufgesparten Geldmittel, die uns nun frei zur Verfügung standen, verteilen und den Rest darauf verwenden sollten, einen Neubau in der Schillerstraße zu errichten. Es war erforderlich, ein Haus zur Be- und Verarbeitung, für die Installierung einer Räucherei und einer modernen Verkaufseinrichtung innerhalb eines Komplexes bauen zu lassen. Dies würde bedeuten, dass wir uns nun etwa in Höhe von 600 TDM verschulden würden. Alle stimmten zu, auch Jürgen, mein Feind.

Diese scheinbare Kleinigkeit sollte die letzte Etappe unseres fast zwanzigjährigen Zwistes einleiten. Ich musste davon ausgehen, dass er wusste, was eine Zustimmung zur Verschuldung bedeutete. Die namentliche Abstimmung band ihn ans Unternehmen, zumindest durfte er keine Schritte gegen uns planen.

Doch bereits wenige Tage später erfuhr ich, dass eine namentlich noch unbekannte Person im Begriff war, uns um wichtige Gewässer durch Privatanpachtung zu bringen. Das Jürgen diese Person war, konnte und wollte ich nicht glauben. Er hatte kein Sterbenswörtchen von dieser Absicht verlauten lassen. Er war nicht gekommen, um uns zu fragen, ob wir damit einverstanden wären, dass er uns zu seinem Vorteil Wirtschaftsflächen entzieht. Also beschloss ich, es zu ignorieren. Das war falsch, es war ein großer Fehler, mein Fehler. Es war ein Irrtum, der verhängnisvolle Folgen haben sollte. Vier Wochen vergingen. Ich ging trotz der Warnungen unbeirrt weiterhin vom ungebrochenen Willen aller meiner Kollegen aus, die Fischereigenossenschaft erhalten zu wollen. Wer wollte die dreißig Quadratkilometer Wasserfläche auch in Einzelregie übernehmen, nachdem wir solange erfolgreich und gleichberechtigt zusammengearbeitet hatten? Mir war sozusagen automatisch der Auftrag zugefallen, die Umbildung der Produktionsgenossenschaft in eine eingetragene Genossenschaft voranzutreiben, in eine für alle Beteiligten rechtlich akzeptable Struktur, in der alle meine Kollegen zugleich Unternehmer und Bewirtschafter sein würden. Außerdem hatte unser Architekt, Herr Robert Brenndörfer, ja nur auf das Ergebnis der Abstimmung gewartet und war sofort gestartet. Die Diskussionen, die der Planung vorausgehen mussten, lagen seit Juni im wesentlichen hinter uns. Es kam noch ein Faktor hinzu. Da wir unser neues Haus über sechs Meter tiefen Torfschichten bauen wollten, bedurfte es einer Pfahlgründung. Der Platz für den Neubau war schon vor Jahresfrist beplant worden, zu einem anderen Zweck, doch es waren vor Ort schon eine ganze Anzahl dementsprechend langer und teurer Stahlbetonpfähle eingeschlagen worden. Für den neuen Grundriss stand die Rammtruppe bereits auf Abruf bereit. Nie wieder würden wir so günstige Konditionen bekommen. Es gab in der Tat kein Zurück mehr. Da flatterte eine zweites und eine drittes Kündigungsschreiben auf meinen Tisch. Erst waren es die Gewässer um den Kastorfer See, dann die Möllner Seen und nun untersagten uns die damals teilweise noch sehr unerfahrenen und selbstherrlich agierenden Bürgermeister das Fischen auf den Plather Seen.

Wer war dieser Konkurrent?

Sofortige telefonische Nachfragen rüttelten mich endgültig. Ich fuhr nach Rosenow fand das Amt besetzt und stand wenig später vor Herrn K., dem Leiter des Gemeindeverbandes. Ein energischer, bärtiger Fünfziger saß hinter seinem Schreibtisch. Seine Brillengläser funkelten, mein Ärger nicht weniger. Ich trug ihm mein Anliegen vor und wurde scharf abgewiesen. Die Entscheidung der Gemeindevertreter zugunsten unseres Kollegen Jürgen sei definitiv gefallen. Und er müsse mir mal klar ins Gesicht sagen, die Zeit für meine stalinistische Genossenschaft sei abgelaufen.

Ich schnappte wie ein Fisch in schlechtem Wasser nach Luft.

Ich bin wie Sie Neupolitiker, ich verbitte mir diese aggressiven Bemerkungen.” Ein Wort gab das andere. Die Fronten verhärteten sich. Es half alles nichts. Ich kam mir vor wie ein geprügelter Hund. und fand mich schnell draußen vor der Tür. Mit gewiss überhöhtem Tempo raste ich nach Hause und stieß auf dem Flur unseres Wirtschaftsgebäudes auf einen Kollegen: “Da drinnen”, sagte er und wies mit dem Daumen über die Schulter. Ich ahnte, wer da drinnen saß und stieß die Tür zum Lagerraum mit einem Ruck auf.

Feind Jürgen und mein Vorgänger im Amt, Reinhard Lüdtke, berieten miteinander. Reinhard, zumeist gutmütig und hilfsbereit, war gerade dabei, Jürgen zu erklären, dass er wahrscheinlich nicht damit rechnen könne, von mir einen Vorschuß für die fälligen Pachten für die neuerworbenen, uns entwendeten, Gewässer zu erhalten.

Mir platzte der Kragen.

Umgehend berief ich eine Mitgliedervollversammlung ein. Alle folgten meiner Aufforderung, ohne zu murren. Sie ahnten, was auf dem Spiele stand. Ich musste Jürgen zur Rede stellen, ihn anklagen und ihm drohen. Falls er sich nicht augenblicklich einverstanden erklärte, die gegen uns gerichteten Gewässerpachtungen rückgängig zu machen hätte das seinen sofortigen Ausschluss aus der Genossenschaft zur Folge.

Er konnte und wollte nicht einsehen. Jetzt nahm das Verhängnis seinen Lauf. Erregt gab ich ihm nur ein paar Stunden Bedenkzeit.

Er lenkte nicht ein. Und so schlossen wir ihn ohne Gegenstimme, bei Stimmenthaltung nur seiner beiden engsten Mitarbeiter, aus. Wütend erhob er sich zur Manneshöhe, wollte etwas sagen, sackte aber lautlos zusammen, weil ihm offensichtlich schlagartig bewusst wurde, dass ein schwerwiegender Unrechtsakt weder durch Aufbäumen noch durch anderes Imponiergehabe aus der Welt geschafft werden kann.

Draußen erst, als ich ihn eine Stunde später wieder sah, sagte er: “Wir sehen uns vor Gericht wieder.”

Vom Gericht bekam er in erster Instanz sogar Recht. Das war mir unverständlich. Wir wurden mit schlechter Begründung von der Bewirtschaftung überlebenswichtiger Seenflächen bis auf Weiteres ausgeschlossen. Unser Verweisen auf den Artikel 9 im Einheitsvertrag wurde mit Gegenargumenten des Richters in Altentreptow abgeschmettert. Selbstverständlich gingen wir in Berufung. Die nächste Instanz war das Bezirksgericht Neubrandenburg.

Viel Zeit verging. Nervosität kam auf. Ging es in der neuen Demokratie darum, dass die Gerichte uns ihre Unabhängigkeit vom Staat beweisen wollten? Woher sollten wir die Pachtverträge nehmen, zu deren Abschluss die rechtlichen Voraussetzungen auf beiden Seiten fehlten?

Wiederholt wurde mir mitgeteilt, das sei nicht das Problem der Juristen, sondern unser.

Jürgen hatte sich einen teuren Anwalt genommen, wir notwendigerweise ebenfalls. Frostig begegneten wir uns am Verhandlungstag auf dem Flur des Gerichtsgebäudes. Es kostete mich Überwindung, doch ich reichte ihm die Hand zum Gruß.

Wir saßen eine Weile mit unseren Anwälten wartend da. Jürgen sagte nicht die Wahrheit, als der Vorsitzende des Gerichtes fragte, ob er in seinem Bemühen auszusteigen, mit unserem Einverständnis gehandelt habe.

Ja!” erwiderte er.

Spontan protestierend sprang ich auf. “Herr Jürgen H. hat mich nie danach gefragt!”

Nicht nur das, Jürgen hatte sich in namentlicher Abstimmung für den Erhalt der Genossenschaft ausgesprochen, also darf er sie nicht zerstören. Herr Kurschuß, mein Anwalt, zog mich am Ärmel und flüsterte mir zu, dass mein Gegenspieler, falls er log, einen schwerwiegenden Fehler begangen hat. Er gab mir zu verstehen, dass ich in keinem Fall aus der Haut fahren sollte. Denn wenn Jürgen uns, wie er behauptete, um Erlaubnis gefragt hätte und wir sein Begehren abgelehnt hätten, sei er ohnehin im Unrecht. Das tröstete mich wenig, denn ich dachte an den unglücklichen Verlauf der Verhandlung in Altentreptow zurück. Andererseits war er mein Feind so sehr nun auch wieder nicht, dass ich mir nicht eine beide Seiten befriedigende Lösung des Problems gewünscht hätte. Doch was er hier trieb, das musste uns und ihm selber Schaden zufügen.

Meine Hoffnung, noch am Verhandlungstag herauszufinden, was das Gericht dachte, erfüllte sich nicht.

Etwa sechs Wochen lang spannten sie uns damit auf die Folter. Mittlerweile stand unser Refinanzierungsprogramm in Frage, die Pläne des Architekten waren fertig, in Schwerin stand die letzte Runde im Genehmigungsverfahren zur Erlangung von EG-Mitteln aus. Alles war in Abhängigkeit von einem für uns positiven Urteil. Denn die Bank bedurfte ihrer Sicherheiten, die wir wiederum nur bieten konnten, wenn das Wasser und ihre kostbaren Fische uns gehörten. Während diejenigen Beamten die über die Rechtmäßigkeit der Vergabe von internationalen (EG) Mitteln zu befinden hatten, sich am Verhalten der Banken orientierten. Wir brauchten einen vollen Erfolg.

Endlich kam der Brief. Es war das endgültige Urteil, das eine Berufung auf eine höhere Instanz ausschloss. Nicht Jürgen H., sondern wir seien im Recht.

Jürgen hatte nicht nur diesen Prozess verloren. Wie ich wusste, hatte auch er EG Gelder beantragt und erhalten und ausgegeben.

Zwei Tage später klopfte es abends an meiner Wohnungstür. Jürgen stand hoch aufragend vor mir. Ich blickte ihn entgeistert an. Diesmal streckte er mir zuerst seine Hand entgegen. Er sei gekommen, um mir zu meinem Sieg zu gratulieren.

Was für ein Riesenunsinn!

Er kam, um mir zu seiner persönlichen, schmerzlichen Niederlage Glück zu wünschen? Allein die Idee fand ich absurd, geschweige denn die Verwirklichung. “Komm herein!”

Tief atmend nahm er im Sessel Platz. Ich starrte auf seinen Mund. Wie oft mochte er diese Szene in den letzten sechzig Stunden durchlitten haben? Ein Mann wie Jürgen, der nichts tat, ohne es gründlich erwogen zu haben, musste damit rechnen, dass ich ihm die Tür vor der Nase zuschlagen würde.

Was sollte ich sagen?

Musste das sein?” fragte ich ihn. Nur einmal, vor Jahren, in einer ähnlichen Situation, ebenfalls als Verlierer vor allen Fischerkollegen stehend, hatte ich seine Augen so bescheiden, so bittend gesehen. Wie damals rührte es mich auch jetzt, wieder unerwartet, an. Ja, erwiderte er, es musste sein. So unfrei, wie er sich zuletzt gefühlt hätte, wäre es nicht weiter gegangen. Er habe seinen Anteil an den Gewässern einfordern müssen. Dass ich es als persönliche Fehde aufgefasst hätte, würde er bedauern.

Und, ehe ich etwas Sinnvolles entgegnen konnte, stieß er hervor, ob ich ihn wieder aufnehmen würde.

Das war er, wie er leibte und lebte. Wenn er erst einmal begriffen hatte, dass es geradewegs nicht weiterging, dann brach er an der Seite durch. Ich wusste und fand es auch in seinen großen Augen widergespiegelt, wie sehr er darauf brannte, dass wir ihm nochmals vergaben, wie sehr er an seinem Beruf und an der Schönheit der Seenlandschaften hing und wie tief er bereute, mit dem Schädel gegen die Wand gerannt zu sein. Ich sah diesen Hoffnungsblink. Jürgen war unbequem und halsstarrig, er gehörte zu denen, die ein anderer nicht beugen kann. Nun aber beugte er sich selbst.

Weich kamen die Formulierungen aus dem Kindermund, der mir nicht selten hart und kalt wie Kieselstein erschienen war. Lange Jahre hatte er vor mir und nicht nur vor mir eine Mauer errichtet, Klotz um Klotz. Die stand sehr fest. Sie war hoch und breit. Deshalb war sie unüberbrückbar geworden. Er hatte viele Jahre vorgeben wollen, dass auch das Schild und die Rüstung, die er sich zugelegt hatte, sein angewachsener natürlicher Panzer ist. Dieses selbstgefertigte Ungetüm hing nun als Ballast an ihm.

Ja, ich habe ihn manchmal gehasst. Es war mir nicht leicht gefallen, diese Gefühle niederzuringen. Aber auch die anderen Männer hegten starke Abneigung. Er gehörte zu den guten und zugleich unerträglichen Fachleuten. Unsagbar schwer würde es werden die Fischer davon zu überzeugen, dass er von nun an friedlicher und freundlicher mit ihnen umgehen würde. Nicht wenige der siebzehn Personen, zumeist Männer, kannten ihn nicht anders als im eisernen Rock. Das sei ihm bewusst, sagte er. Aber er sei doch überhaupt nicht der, den er uns vorgespielt habe. Das hätte er nur vorgegeben, um seine Verletzlichkeit zuzudecken. Mann für Mann würde er aufsuchen, zum zweiten Mal, ja auch das sei richtig, aber diesmal wirklich geläutert, bekehrt, durch großen Schmerz.

Ich kannte ihn. Er würde genau so verbohrt, genau so verbissen, wie er als Gegenspieler gekämpft und gegen uns gewütet hatte, diesen unerhörten Anlauf solange wiederholen, bis er die Wand der Ablehnung und sei es erst beim hundertsten Versuch überwindet. Er konnte gegen alle Logik der Welt anleben. Er musste an das Unmögliche glauben, anders war für ihn kein Leben möglich.

Entschlossen jeden Hohn und jeden Spott auf sich zu nehmen, war er zu mir gekommen, allen Zweifel überwindend, trat er den schweren Rückweg an. Seiner Frau wegen, wegen der Zukunft seiner Kinder musste er es tun. Nicht eine Minute lang, nachdem seine Niederlage besiegelt worden war, hätte er eine andere Möglichkeit erwogen. Da musste er durch. Er bitte um Verzeihung.

Selbst wenn ich es nicht von Herzen gewollt hätte, nach diesen Worten musste ich ihm die Hand zur Versöhnung reichen.

Er wagte ein kleines Lächeln.

Am drittnächsten Tag wollten wir beraten, was ich für ihn bei unseren Männern, seinen Widersachern, tun und wen ich für ihn gewinnen könnte. Denn um das durchzusetzen, was er wünschte, benötigten wir mindestens die Hälfte aller Stimmen.

Es gab diesen dritten Tag nicht, nicht für ihn. Nachdem er mit seiner Frau viele Stunden lang gesprochenen, und nachdem er ihr jede Einzelheit unseres langen Gespräches berichtet hatte, legte er sich am frühen Morgen zum letzten Mal zu Bett. Anderntags verunglückte er im Verkehr der Landstraße tödlich.

Ich hätte es mir nie verziehen, wenn ich seine dargebotene Hand ausgeschlagen hätte.

Noch nie habe ich auf einer Beerdigung einen Schlager, gespielt vom Organisten, gehört aber auch noch nie so beeindruckend eine schlichte Melodie empfunden wie dieses “Wenn bei Capri die rote Sonne im Meer versinkt”. Ich sah, dass manches Elend nicht allein die Folge von Schuld ist, sondern auch von Zufall.


Aus dem bedauerlichen Umstand der allgemeinen Konfusion darf keine Partei, die auf ihre Ehre hält, politisches Kapital herausschlagen wollen. Andererseits stehen wir hier alle in der Pflicht sowohl vor den Verwirrten als auch vor unserer eigenen Erkenntnis. Wir müssen den zumeist jungen Menschen vorleben, dass wir den demokratischen Pluralismus, den wir gewollt hatten, lieben. Deshalb dürfen wir ihn nicht durch Verfemung Andersdenkender diffamieren. Sondern wir müssen zeigen, dass wir froh sind, wenn jeder seinen eigenen Kopf zum Nachdenken und Andersdenken gebraucht, sofern es auch nur ein bisschen mit Güte und Vernunft verbunden ist.” Das in etwa hatte ich auf einer unserer Parteiversammlungen gesagt.



Da ich damals Kreisvorsitzender der CDU war, fiel mir die Aufgabe zu, den Herrn Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl, der am 05.Oktober 1990 in Neubrandenburg auf dem Markplatz sprechen wollte, zu begrüßen. So stand ich an jenem Nachmittag mit einem wunderbaren Blumenstrauß im Foyer des “Vier-Tore-Hotels” und las während des Wartens auf den schwergewichtigen Mann zufällig in der Zeitung mein Tageshoroskop für Krebsgeborene.

Gib deinem Partner eine Chance” stand da geschrieben. Ich biss mir auf die Zunge.

Als der Mann mit dem sprichwörtlichen Elefantengedächtnis von seinem Hubschrauber auf die wartende Menge herunterblickte, wird er sich vielleicht daran erinnert haben, dass sein berühmter Parteifreund Dr. Dregger sich über den überaus unfreundlichen Empfang vor ein paar Monaten in derselben Stadt sehr, sehr geärgert hatte. Irgendein winziger Erdenwurm hatte sich etwas erlaubt ... Eine knappe Stunde später stand ich neben ihm auf dem Podium. Zuerst sprach Dr. Gomolka, dann redete Helmut Kohl zu den im Regen stehenden Neubrandenburgern.

Ein Jahr später sollte ich dem Bundeskanzler wieder begegnen, diesmal in Frankfurt/ Oder. Er war dorthin anlässlich der Eröffnung der Europauniversität gekommen. Künstler, Kulturschaffende und Kulturpolitiker waren eingeladen worden, an einer Tagung im Kongresshotel der Oderstadt teilzunehmen. Ich stand wartend vor dem Eingang, denn ich war besorgt. Es lag eine große Spannung in der Luft. Es knisterte unüberhörbar. Als Dr. Kohl endlich mit dem Wagen vorfuhr, musste er durch ein Spalier aufgebracht schimpfender Menschen schreiten. Ihre Transparente wogten. Eine erhebliche Anzahl betroffener Frankfurter, die vergeblich um den Erhalt ihrer Arbeitsplätze gekämpft hatten, bereiteten ihm einen demütigenden Empfang. Jedes Wort auf den Plakaten schrie den Kanzler an. In ihrer Wut kam den Arbeitslosen der Mann, den sie für zumindest mitschuldig an ihrem persönlichen Dilemma hielten, gerade recht. Sie wünschten ihm direkt ins Gesicht zu schmettern, was sie von ihm hielten. Ich sah sein großes festes Gesicht plötzlich nahe vor mir auftauchen und dachte ebenfalls daran, dass er in zu vielen Reden blühende Ostlandschaften versprochen hatte. “Keinem wird es schlechter gehen als vorher”. Das hatte er leichtfertigerweise geäußert, als er noch nicht wusste, dass die DDR im Wesentlichen aus ruinierten Unternehmen bestand.

Seine eigenen Äußerungen schleuderten sie ihm jetzt wie Wurfgeschosse zurück.

Kaum jemand ließ gelten, dass alle Staatsmänner des Westens von den Politbüromitgliedern der DDR durch Manipulation der Statistiken und durch Vorführen von ein, zwei Musterbetriebe jahrzehntelang bewusst getäuscht worden waren.

Unverhältnismäßig viele klagten Helmut Kohl des Wortbruches an und wollten auch von mir nicht wissen, dass irren menschlich ist. Sie hielten es für ein Verbrechen, das er begangen hatte. Sie ahnten nicht, dass trotz all seiner großen Mängel, die dieser Staat Bundesrepublik aufwies, besseres nicht zu gestalten war. Mit unvollkommenen Menschen auf allen Ebenen lässt sich kein Paradies errichten. Das funktioniert schon gar nicht auf der Basis der Hinterlassenschaft von wettbewerbsunfähigen Industriekomplexen.

Möglicherweise haben die hauptverantwortlichen DDR-Politiker immer gedacht, der “E-Fall” (der unausweichliche Krieg) würde ohnehin alles egalisieren und somit auch die Resultate jahrzehntelanger Misswirtschaft verschwinden lassen. Ich musste dies bei vielen Anlässen denken, immer wenn sich mir die Frage aufdrängte, warum sich in unserem Lande die Schludrigkeit als allgegenwärtig erwies. Natürlich hat ein durch den Umbruch schmerzhaft zu Fall gekommener Mensch auf die Ereignisse einen anderen Blick als ich. Doch auch mir muss es freistehen, eine eigene Meinung zu haben. Ich hasste diesen Mann Helmut Kohl trotz seiner persönlichen Fehlerchen und trotz seiner schwerwiegenden Irrtümer nicht. Für kein Geld der Welt hätte ich auch nur einen Teil seiner häufig nur mit Undank bedachten Arbeit leisten wollen. Ich sehe auch niemanden, der mehr aus der miesen Lage hätte machen können. Weder ein Helmut Schmidt, noch ein Herbert Wehner, hätte er noch gelebt, wären erfolgreichere Zaubermeister gewesen. Denn nicht nur die Trickkiste, erst recht die Ökonomie hat ihre eigenen Gesetze.

Nachdem Helmut Kohl der latenten Gefahr, körperlich angegriffen zu werden, entronnen war, nahm er kurze Zeit später auf dem Podium des Vortragssaales im Kongresshotel Platz. (Eine Stunde später sollte er die Nachricht erhalten, dass sein Sohn im Straßenverkehr schwer verunglückt war. Ich sah, wie er die Brille abnahm und sich nach vorne neigte, während die Welt um ihn herum weiterbrodelte) Neben ihm saß der Chef des Österreichischen Fernsehens, Herr Bachler der die Moderation übernommen hatte und zu ihren Seiten der russische Satiriker Popow und die derzeitig bekannteste deutsche Lyrikerin Ulla Hahn sowie der polnische Sejmabgeordnete Andrzej Szczypiorski.

Ich kannte und bewunderte das Gedicht der westdeutschen Exkommunistin Ulla Hahn “Treue” und war gespannt auf ihre Rede.

Wir bedürfen der Grenzen!” hob sie an. Ein Gedanke, der mich so oft beschäftigte. Sie sprach frei und dachte laut darüber nach, was unter Menschen geschieht, wenn die Grenzen des Anstandes und der politischen Moral verletzt werden. Sie riss uns mit sich, und meine Zuneigung begann gerade über die Grenze des Erlaubten zu steigen, weil sie nicht nur klug war, sondern auch sehr angenehm auf mich wirkte. Da erhob sich Andrzej Szczypiorski, schaute in die Runde der dreihundert Zuhörer und sagte wörtlich, indem er den Kopf zur Seite wandte und somit auch seine bedeutenden Podiumsgenossen ansprach, als wollte er nicht nur uns, sondern auch ihnen seine bislang größte und richtigste Einsicht mitteilen: “Meine Damen und Herren, die Banditen sind nicht unter uns, - “ er legte eine Kunstpause ein “sondern sie sind in uns!” Alle schauten auf, auch Helmut Kohl. Niemand protestierte. Bei mir jedenfalls hatte er voll ins Schwarze getroffen. Ich schämte mich augenblicklich und anerkannte sofort die Berechtigung seiner Behauptung. Es war genau das, was ich auf der Herfahrt nach Frankfurt gedacht hatte. Denn dieser Spätherbsttag war der 31.Oktober, der vierhundertundvierundsiebzigste Reformations-tag. Es war dieser erste Satz der fünfundneunzig Thesen Martin Luthers, der mir am Vormittag durch den Kopf gegangen war “So unser Herr und Meister Jesus Christus spricht: Tut Buße, so will er, dass das Leben der Gläubigen eine stete und unaufhörliche Buße sei.”

In ihm lag der eigentliche Schlüssel zum Erfolg: du musst ständig an dir arbeiten. Das ist deine Aufgabe für jetzt und für die Ewigkeit, deine eigene Selbstvervollkommnung.

Liebe deine Feinde, aber schiele nicht nach anderen Frauen!

Sei ehrlich und gerecht dir selbst gegenüber, aber nicht gnadenlos gegen andere. Es war dieser Begriff Buße gewesen, der mich während der morgendlichen Autofahrt so intensiv beschäftigt hatte. Denn mir war klar, dass wir gescheiten Erdenbürger mit der Zeit zwar jedes technische Problem lösen können, aber dass diese von uns selbst ins Leben gerufene Technik uns eines Tages totschlagen wird, wenn wir nicht mehr gelernt haben, als nur neue Techniken zu erfinden.

Ich kannte sogar die Namen und die charakteristischen Merkmale meiner leibeigenen Banditen, die mich daran hindern wollten, besser zu werden.

Die Eitelkeit mit ihrem schiefen, verführerischen Lächeln, den schnellfüßigen Bruder Leichtsinn, die gnatzige alte Dame Undankbarkeit und ihr ganzes niederträchtiges Gefolge.

Erschrocken übte ich in der Tat Buße, indem ich meinen Grenzübertritt rückgängig machte. Und noch während der geschätzte polnische Schriftsteller und Publizist Szczypiorski weitersprach, dachte ich an meine anderen Gedanken zurück. Während der Herreise bei Musik, die an diesem Tage live aus einer thüringischen Kirche übertragen wurde, hatte ich mich mit vielen Bildern dankbar an Martin Luther erinnert. Als Mormone war ich vorteilsweise damit aufgewachsen, zu hören und zu wissen, dass Luthers Verständnis von Buße sich auf das metanoia des Urtextes bezog. Im originalnahen Text bedeutete es: innere Umkehr halten. Ich sah Luther fast so deutlich wie in einem Film vor mir, wie er, damals noch als Augustinermönch in einer Wittenberger Fronleichnamsprozession zitternd und schlotternd hinter der Monstranz herging. Denn in ihr befand sich, der in der geweihten Hostie buchstäblich anwesende Leib des Herrn. Vor diesem geheimnisvoll existenten, aber rachsüchtigen Christus fürchtete Luther sich. Wenn er schon auf Erden so grimmige Strafen verhängte, wie erst im Jenseits. Denn Buße bedeutete damals für ihn immer noch Strafe.

Das ungenau ins lateinische übertragene Bibelwort metanoia war poenitentia; von Hieronymus so bestimmt. Und das bewirkte für mehr als ein Jahrtausend lang die typisch katholische Betrachtungsweise mit all den schrecklichen Folgen dieses Missverständnisses. Ein neues Wort, nur ein Wort, aber von ungeheurer Brisanz, schließlich ähnlich verhängnisvoll in seiner Auswirkung wie der Begriff Klassenfeind an Stelle von Besitzer.

Als vierzehnjähriger Knabe sah Luther in Magdeburg den zu einer solchen Buß-(Straf-)übung verurteilten Fürsten von Anhalt ( Bruder des Dompropstes) “der ging in der Barfüßerkappe auf der Breiten Straße nach Brot und trug den Sack wie ein Esel, dass er sich zur Erde krümmen musste, aber sein (grauer Bruder Geselle, sein Esel) ging ledig neben ihm, ... sie hatten ihn so übertäubt, dass er alle andern Werke im Kloster gleich wie ein anderer Bruder täte und hatte sich zerfastet, zerwacht, zerkasteiet, dass er (aus-)sah wie ein Totenbild, eitel Haut und Knochen, starb auch bald. Denn er vermochte solch strenges Leben nicht zu ertragen ...”

Hungern, Frieren, Beten, Bußgehen wurde als Ausdruck frömmster Leistungsbereitschaft verstanden. Das waren die angeblich “Gott wohlgefälligen Werke”, gegen die Luther zurecht aufbegehrte und von denen er sagte, der Christ bedürfe sie zu seiner Rechtfertigung vor Gott nicht. “Wahr ist es,” bezeugt Luther “ein frommer Mönch bin ich gewest und habe so streng meinen Orden gehalten, dass ich sagen darf: Ist je ein Mönch in den Himmel (ge)kommen durch Möncherei, so wollte auch ich hineingekommen sein. Das werden mir alle bezeugen ... die mich gekannt haben, denn ich hätte mich, wo es noch länger gewährt hätte, zu Tode gemartert mit Beten, Fasten, Frieren, Lesen und anderer Arbeit.” So sagt und singt er später “... meine guten Werke, die gelten nicht ...” Natürlich nicht. Davon haben weder irgendwelche Mitmenschen Nutzen, noch Gott. E. KANT wusste es besser als so viele Theologen: ”Niemand kann Gott mehr ehren als durch Achtung für sein Gebot.” So war ich mit guten Gedanken nach Frankfurt gefahren und hatte mich, nachdem ich die Predigt über Rundfunk gehört hatte, gefragt, warum wir Menschen immer von einem Extrem ins andere fallen müssen. Was Luther ursprünglich gesagt hatte, war jedermann klar gewesen, bis er wenig später seine eigene Logik überspitzte

Sinngemäß meinte er dann, vom (sichtbaren) Gut tun des Menschen hängt die Erweisung der Gnade Gottes nicht ab. Was wiederum daraus wurde, zeigt uns der Lutheraner Matthias Flacius, der unter Zustimmung der anderen Magdeburger "Gotteskanzlisten" formulierte: “Die guten Werke sind zur Seligkeit schädlich.”

Was habt ihr euch dabei gedacht, fragte ich mich?

Sind wir nicht vom besseren Teil in uns verpflichtet gründlicher nach einleuchtenden Worten zu suchen um jeden verdunkelnden Begriff zu ersetzen? Was helfen Formeln wenn sie uns nicht zu glücklicheren Menschen machen? Wenn Seligkeit nicht Glück ist, verdient sie diesen Namen nicht.

Aber, es gibt kein Glück ohne Gutsein! Sagen wir das doch deutlich. Denn das Wissen davon erlangen wir durch meist traurige Erfahrung leider erst wenn es schon reichlich spät geworden ist.

Während ich immer noch Andrzej Szczypiorski reden hörte, wurde mir plötzlich stärker denn je klar, dass es die erste Menschenpflicht ist, ständig sich selbst zu motivieren, besser zu werden.

Mehr Licht und mehr Liebe kommen nicht zufällig in die Welt. Erst wenn wir fähig sind, nicht nur über uns selbst zu erschrecken, sondern die Folgerung anerkennen, so wie du bist darfst du nicht bleiben, betreten wir freundlicheres Neuland. Gesellschaften mögen sich nennen wie sie wollen, ihr Name allein macht sie nicht groß und wertvoll. Wenn sie nicht die Kraft entwickeln in uns das Bedürfnis nach Selbstbesserung hervorzurufen, werden sie schließlich in Auswirkung von uns nicht beeinflussbaren Gesetzmäßigkeiten vom Erdball hinweggefegt werden. In leichter Abänderung eines Satzes, den Pastor Ernst Ferdinand Klein in meinem Geburtsjahr geschrieben hat, heißt das: ”Religionen (oder Philosophien), die keine sittlichen Kräfte zur Selbstüberwindung verleihen können, haben keine innere Berechtigung.” Wie sehr bestätigte er damit Mormonismus!

In der Pause ging ich zu Andrzej Szczypiorski. Der Mann mit dem großen Kopf saß in einem der gemütlichen, weichen Sessel des Foyers. Er sah die Hand, die ich ihm dankbar für seine mich ermahnenden Worte reichte. Er schaute mich an und nickte mir freundlich zu, als ich ihm bekannte, dass ich nun sicher weiß, dass uns weder Alter, noch Wissen vor Torheit schützen.



1990 wurde ich in den Hohen Rat Berlin berufen. d.h. übernommen aus dem Hohen Rat des Pfahles Leipzig. Zu ständig nun für die Gemeinde Tiergarten.

Dean lud mich im darauf folgenden Sommer ein nach Dahlem zu kommen. Diesmal als Gastsprecher. Dean war der für die zahlenmäßig große amerikanische Soldatengemeinde Dahlem zuständige Priestertumsführer.

Dean war übrigens Flugkapitän eines Airbusses und studierter Historiker. Als ich an dem vereinbarten Sommersonntag-nachmittag geradeso pünktlich ankam, drückte mir ein an der Eingangstür stehender junger Mann ein Programmheft in die Hand. Ich schlug es auf und sah, was gar nicht üblich war, dass es nur einen einzigen Sprecher gab, - mich. Da erinnerte ich mich wieder meines Kummers, den ich 40 Jahre vorher in diesem Haus empfunden hatte, der vor einer wunderbaren Gewissheit gewichen war, wie der Winter vor der zunehmenden Kraft der Frählingssonne.



Ende.



1992 berief mich die Pfahlpräsidentschaft zum Gruppenleiter Prenzlau. Später wurde ich dort Zweigpräsident.
1996 erhielt ich einen Anruf vom Missionspräsidenten Elder Wunderlich und wurde aus meinen Berufungen in Prenzlau und Schwedt entlassen. Ihm und zwei weiteren Missionspräsidenten diente ich dann bis zum Sommer 2003 als Ratgeber.

Nun bin ich ein leicht humpelnder Renter, - der aber noch fast wöchtlich mit Hartmut und Enkelsohn Daniel auf den kleinen Golfplatz geht, lebe in Melbourne mit Ingrid, meiner 2. Frau, die ich ein Jahr nach Erikas Tod kennen lernte und 2 Jahre später heiratete, die auf mich aufpasst, mich liebevoll umsorgt, dreimal in der Woche mit mir zum Tempel fährt. Wir beide wissen immer  noch, dass Mormonismus das wahre, wiederhergestellte Evangelium Jesu Christi ist. Es gibt nichts Besseres.

Laßt Euch nichts von denen erzählen, die kaum eine Ahnung  haben, wovon sie eigentlich reden! Der Tag wird kommen an dem auch sie wissen werden, dass dieses Leben erst eins zum ausprobieren ist.