Samstag, 29. April 2017

Abgerechnet wird zum Schluss


Von Zeit zu Zeit geben Päpste Generalaudienzen. Sie verkünden oft große Weisheiten und „Mormonen“ schätzen das großartig Wahre, denn sie „nehmen Wahrheit an woher sie auch kommt“, wie Joseph Smith lehrte.

Allerdings gibt es auch Halb- und Fastwahrheiten die rund um den Erdball gesprochen und gedruckt werden. Sie führten, wie schon jeder erfuhr zu großen Verwirrungen und Schlimmerem. Vor allem in der Politik ist es üblich einen Mix aus Propaganda und Tatsachen zu machen.
Nicht selten ist es nur ein Wort, das die Dinge auf den Kopf stellt. Zu oft ist es Leichtfertigkeit die dazu verführt einer sonst unbescholtenen Person den guten Ruf zu nehmen. Mitunter geschieht das vorsätzlich.

Oder es ist umgekehrt, wenn ein Tunichtgut, aus Gründen die nicht zu den besten zählen, aufgewertet werden soll. 

Das  Buch Mormon warnt und tröstet zugleich:

„Denn sicherlich, so wahr der Herr lebt, werden sie sehen, das der Schreckliche zunichte gemacht ist und der Spötter verzehrt ist und alle, die auf Übeltun lauern, abgeschnitten sind; und diejenigen, die jemand zum Missetäter erklären um eines Wortes willen und eine Schlinge legen dem, der im Tor zurechtweist, und den Gerechten um ein Nichts abweisen.“  2. Nephi 28: 31-32

Freitag, 28. April 2017

Mormonenmissionare


Verkünden sie das „andere Evangelium“ - das Evangelium der „Mormonen“?

Paulus schreibt an die Galater:

„Wer euch aber ein anderes Evangelium verkündigt, als wir euch verkündigt haben, der sei verflucht, auch wenn wir selbst es wären oder ein Engel vom Himmel.“ (1: 8)
Auf den ersten Blick sieht es ganz danach aus, als wollten die selbst verführten „Mormonenwerber“ leichtfertige Menschen aufs Glatteis und von da ins Verderben führen. Der Teufel soll sie holen, hieß es gelegentlich.

 
Eigenes Archiv 1937 Wolgast, jeweils außen 2 Missionare der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage

Aber, schaut euch die Gesichter an, und hört ihnen nur eine Minute lang zu.  Der Kern ihrer Botschaft lautet:

Du bist ein buchstäbliches (Geist-) Kind Gottes, und Er gab dir das Versprechen, dass Er niemals dein Individualrecht antasten wird. Du hast deinen freien Willen und Sein Versprechen, dass er dir helfen wird deine Probleme zu lösen nachdem du dein Teil dazu beigetragen hast und Ihn um Hilfe gebeten hast.
Du wurdest ins Fleisch geboren, weil du das gewünscht hast und damit ist dieses Leben eine Vorbereitungszeit deinen Vater im Himmel wieder zu sehen.
Hier sollst du dich anstrengen, nur dann deinen Wünschen nachzukommen, wenn sie nicht im Widerspruch zu den Geboten Christi stehen.
Du sollst danach trachten eine Familie zu gründen die aus einem Mann, einer Frau und möglichst aus Kindern besteht. Sie sollst du glücklich machen indem die ihr dienst.
Du solltest alles tun um dich täglich weiter zu bilden, sowohl charakterlich, als auch durch Entfaltung deiner Talente zum Besten anderer.
Du kannst dich selbst und deine Nächsten nur glücklich machen, wenn du sie liebst. Das schließt ein, dass du ihnen gegenüber nie Vormacht anstrebst.
Du sollst wissen, dass das Himmelslicht dich aus der Finsternis von Ängsten führen kann, wenn du ihm folgst.
Drogen jeder Art solltest du meiden um nicht ihr Knecht zu werden.
Vor allem trachte danach mitzuhelfen, das aufzubauen, was Mormonen „Zion“ nennen, eine Kirche in der es keine Armen gibt und die sich bemüht Recht dort schaffen, wo es nicht ist.

Nun urteile selbst.

Samstag, 22. April 2017

Mein veröffentlichtes Buch "Fischerleben" (4 . Ende)


Vor und nach unserer Moskaureise


Gegen Ende meiner Ausbildung kam mir die Idee, es müsste doch möglich sein, ähnlich wie wir Hechtbrütlinge in Plasterinnen vorzustrecken begannen, Maränenbrut groß zu ziehen.
Im letzten Studienjahr betrachteten wir Neubrandenburger Binnenfischer dieses Vorhaben zwar gemeinsam, aber auch ziemlich kritisch. Brütlinge dieser Art verlangten gewiss besondere Sorgfalt. Andererseits lag die Verlustrate unter natürlichen Bedingungen in den meisten Jahren sicherlich weit über 97 %. Was verloren wir also, wenn uns gelingen sollte, die winzigen Maränen mit selbst gefangenen Zooplanktonten in den für die Hechtanzucht bereits genutzten Plasteaquarien anzufüttern und so viele wie möglich vor dem frühen Hungertod zu schützen? Denn genetisch besitzen sie allesamt dieselben Überlebenschancen.
1971 versuchte ich das Experiment. Dreihunderttausend Stück frisch geschlüpfte Kleinmaränen setzten wir in etwa sechshundert Liter Wasservolumen ein. Das Neubrandenburger Leitungswasser erfüllte glücklicherweise die erforderlichen Voraussetzungen, zumal wir es über eine kleine Kaskade von Brettchen laufen ließen, um es so mit Sauerstoff anzureichern. Die schnell und problemlos angefertigten großen Planktonnetze aus Müllergaze fingen Hüpferlinge in Massen.
Wir verkannten allerdings einen entscheidenden Punkt, nämlich dass der Anteil der für uns interessanten Kleinkrebse, die sich noch in ersten Häutungsstadien befinden, zu gering war. Es kam deshalb trotz großer Futtermengen zu einem Massenmaränensterben. Allmorgendlich lagen mehr und mehr  tote Fischchen auf den Böden unserer je vier Meter langen Rinnen.
Erst der Biologe Dr. Manfred Taege, genannt Männe, ein Verehrer des legendären Che Guevara, Tiefseetaucher und persönlicher Freund des Bruders Fidel Castros, Buchautor und Mitarbeiter des Institutes für Binnenfischerei Berlin-Friedrichshagen fand heraus, dass wir kleineres Lebendfutter fangen und fortan sieben müssten.
Ehe wir allerdings die Erfolge erzielen konnten, von denen ich in meiner Staatsexamensarbeit zu reden gewagt hatte, wäre ich um Haaresbreite aus der Genossenschaft ‚geflogen’.
Das kam so: Mit unseren Ehefrauen planten wir einen 5-Tageausflug nach Moskau.
(Früher wurden Unsummen in Getränken angelegt. Jetzt floss das Geld des Kulturfonds in andere Richtungen.)
Gewisse Umstände oder Zufälle sollten einen großen Krach heraufbeschwören.
Hermann Göck übernahm die Rolle des Reiseleiters und das mit einer seinerseits überspannten Erwartungshaltung.
Zumal er Ehrenmitglied der PwF “Tollense” geworden war, lag es nahe, ihm das Vergnügen zu gönnen, für ein paar Tage unser Herr und Meister zu sein, aber nicht mehr.
Der geradlinige Altkommunist hielt allerdings die Zeit für gekommen, endlich den Rest von Vorbehalten unsererseits gegen seinen geliebten Arbeiter - und Bauern - Staat auszuräumen. Er hoffte und glaubte, wir würden Moskau mit seinen Augen sehen und anschließend wünschen, seiner Partei beizutreten.
So stand Hermann Göck am Morgen des Tages der Abfahrt auf den breiten Stufen des “Hauses der Kultur und Bildung” und ermahnte uns, in der Weltmetropole des Kommunismus als würdige Vertreter der DDR aufzutreten.
Wir landeten in Scheremetjewo 1 und das gegen Abend.
Um zu unserem Hotel in Ostankino zu gelangen mussten wir mit einem Bus quer durch Moskau fahren.
Natürlich hatten wir uns oft gefragt, wie die Menschen in der SU lebten. Eigentlich glaubten wir, dass wir in Moskau ein Stück sozialistischer Zukunft erkennen würden. Moskau werden sie als Schaustück hergerichtet haben, als Modell der Zukunftsplaner, dachten wir.
So wie den Moskauer Menschen jetzt, könnte es uns später einmal im Kommunismus ergehen. Wie in einem Spezialfilm erhielten wir während der späten Busfahrt Einblicke in eine Vielzahl Wohnungen. Ich sah die Winzigkeit der überwiegend unverhüllten, von sehr schlichten Lampen erhellten Stuben, die Armseligkeit der Ausstattung der Räume. Die ganze Atmosphäre, in die ich auf diese Weise hineintauchte, wirkte beklemmend. Ein Tisch, ein Wohnzimmerschrank, einer wie der andere gleich, vier Stühle, ein Fernsehgerät. Diese elenden Löcher in den Massenquartieren sollten der Gipfel der Errungenschaften sein? Aber was hatten wir denn erwartet? Ich konnte es nicht in passende Worte fassen. Das jedenfalls nicht.
‚Du hast es immer gewusst: Das Individuum tritt vor der Masse Menschen in den Hintergrund. Der Einzelne ist den führenden Kommunisten gleichgültig.’ Mir war die Ungeheuerlichkeit solcher Anklage zwar bewusst, doch ich fand sie hier bestätigt. Hermann Witte, der neben mir saß, stieß mich unentwegt an.
„Süh di dat an!” 169 Seine Art und der Rhythmus, in dem er mir seinen Ellenbogen in die Seite rammte, hieß, „hesst du di dat so vörstellt?” 170
Nein. Trotz vieler Negativberichte die ich mit der Zeit erhielt, hatte ich diese Primitivität in ihrer Gesamtheit nicht erwartet.
Gemessen an der Formensprache durch die tempelartigen Hausriesen, die ich von Bildbänden her kannte, war die individuelle Wohnkultur kläglich.
War, was ich sah, der ganze Ertrag von zwei Generationen Kampf und Arbeit und Tränen? Natürlich, dazwischen war der Krieg gewesen. Was dagegen gelang den Kapitalisten in diesem Vierteljahrhundert aus den Ruinenstädten Westdeutschlands zu machen? Bereits am zweiten Tag unserer Anwesenheit erhielt Hermann Göck die auch ihm peinliche Information, dass wir am nächsten Tage abzureisen hätten. Moskau richte gerade einen internationalen Ärztekongress aus. Es fehlten Hotelbetten und Verpflegungskapazitäten. Unglücklicherweise saß ich am Morgen des rücksichtslos vorverlegten Abreisetages neben einem Holländer, der mich angesprochen  und  in  ein  Gespräch  verwickelt hatte. Ich verabschiedete mich von ihm. Er stutzte, stellte Nachfragen. Ich antwortete wahrheitsgemäß.
„Wir haben nichts zu wollen. Uns ist nur mitgeteilt worden, dass  wir vorzeitig heimfahren müssen.”
„Das gibt es nicht! Ihr habt doch einen Vertrag!”
„Vertrag hin, Vertrag her. Was sollen wir machen?” Im unpassendsten Augenblick, als ein mir nicht gut gesonnener Kollege an uns vorbeiging äußerte der Niederländer: „Dann müsst ihr eben streiken!”
Er hatte schon immer gute Ohren gehabt und mir bereits früher vorgeworfen, ich hätte ihn schon oft beleidigt.
Sofort ging mein Mitfischer zu Hermann Göck. Seine Frau saß an Göcks Tisch und er hätte ohnehin zu ihm gehen müssen. Doch ich fand, dass er sich sehr beeilte. Ich sah, wie sie miteinander tuschelten. Meinem Eindruck nach redeten sie ziemlich intensiv über mich. Hermann Göck würde nicht nur erfahren, dass und wie ich mit einem westlichen Ausländer über einen Streik in der DDR gesprochen habe, sondern auch von andern Übertretungen, die ich mitunter beging.
Ich sah, wie sie nebeneinander hockend wiederholt zu mir herüberschielten. Mir schien, ich könnte Hermann Göcks Ärger sogar verstehen. Er war mit dermaßen großen Wünschen hierher gekommen und nun sah er seine Hoffnungen rapide schwinden. Er liebte dieses Land, diese Menschen und das System, glaubte nun,  ich würde alles verachten.
Aber ich missachtete weder Land noch Leute.
Im Gegenteil.
Ich mochte nur nicht, wie in diesem Land mit Menschen umgesprungen wurde. Er hatte gehofft, wir würden von seinem Moskau begeistert sein und so fühlte er sich nun verspottet. Ich spürte, dass Hermann den Zorn aus maßloser Enttäuschung kaum noch unterdrücken konnte.
Doch er fraß den Ärger vorläufig in sich hinein.
Er schwieg und grollte.
Ich musste ihm ja bald, wenn wir erst wieder daheim angelangt waren, über den Weg laufen.
Wir besuchten noch den Fernsehturm Ostankino, fuhren hinauf und bewunderten die ingenieurtechnische Leistung. Denn die Kuppel dreht sich einmal in der Stunde um die Achse und bot einen herrlichen Ausblick über die riesige Stadt und das sich weithin ausbreitende Grün.
Dann hieß es, wir dürfen Lenin sehen.
Ich jedenfalls wünschte es.
An kilometerlangen Menschenschlangen vorbei wurden wir bevorzugt zum Leninmausoleum geleitet. Einige tausend Kirgisen, Kasachen, Mongolen, Russen harrten geduldig aus und rückten kaum vorwärts, weil Privilegierte wie wir, an ihnen vorbei, auf kürzestem Weg zum Ziel gelangten.
Auch Stalins balsamierten Leichnam hätte ich gern gesehen. Aber nach Chrustschows Geheimrede 1956 war der zum Verbrecher erklärte Tote an der Kremlmauer beigesetzt worden. Dort sahen wir nur die Grabstelle und die vielen frischen Blumen, die seine Verehrer, wie wir hörten, täglich erneuerten. Nur die Büste Stalins zu sehen, brachte mir nichts. Ich empfand weder Abscheu noch Kälte, als ich später unmittelbar vor ihr stehen blieb. Er war mir in dieser Situation nur gleichgültig. Anders bei Lenin. Gegen besseres Wissen empfand ich immer noch eine gewisse Bewunderung für die Leistung des genialen Staatsmannes Uljanow. Die kaiserlichen Deutschen ließen ihn im Herbst 1917 in ziemlich böser Absicht in einem verplombten Sonderwaggon aus seinem Exilort in der Schweiz nach Russland schaffen. Sie versprachen sich offensichtlich von Lenins Auftritt und Wirken eine Vergrößerung des russischen Chaos zu Gunsten der entkräfteten deutschen Ostfront.
Lenin aber gelang es, das Chaos allmählich in Ordnung zu verwandeln, allerdings auf brutale Weise. Vielen vermochte er dennoch glaubhaft zu versichern, mit ihm komme die neue gerechte Weltordnung herauf.
Als ich ihn plötzlich da vor mir im gläsernen Sarkophag liegen sah, war es aus mit meiner Restsympathie für Wladimir Iljitsch Uljanow. In diesen Sekunden erlangte ich eine noch deutlichere Vorstellung vom Ausmaß der negativen Kraft, die durch diesen unbeugsamen, asiatischen Despoten zur Geltung kam. Mich schauderte während ich seine zur Faust geballte Linke sah. Ich sah Lenins Kommissare mit der Pistole und dem Strick agieren.
Hermann Göck dagegen zeigte sich ergriffen. Wir zogen nach kurzem Stocken an der Ikone Lenin vorbei, konnten an seinem Glassarg nicht stehen bleiben.
Helene Göck, die wahrscheinlich einen Versuch zur Versöhnung unternahm, sprach mich draußen an. Im Hintergrunde die Basilius-Kathedrale, vor  uns das Kaufhaus GUM.
Sie wünschte zu erfahren, was ich empfinde.
Ahnst du nicht, was ich fühle und denke?
Natürlich war ich stets bemüht zu differenzieren. Ich meinte, ich könnte mich in die damalige Situation hineinversetzen. In diesem riesigen Land musste damals, 1917, zugunsten der tatsächlich Unterdrückten etwas Entscheidendes geschehen. Eine Clique gnadenloser selbstherrlicher Gutsbesitzer, Zaristen und Pfaffen übte die absolute Vorherrschaft aus und forderte frech die Gerechtigkeit heraus.
Unheiliger konnte eine Dreifaltigkeit kaum sein.
Viel zu lange schon verlief die Grenze zur Unmenschlichkeit mitten durch das zaristische Russland, das sich und ihren Oberen gestattete noch im 20. Jahrhundert Menschen wie du und ich als Leibeigene zu halten.
Noch nie, in den letzten eintausend Jahren, verfügten dort die Einzelnen über Möglichkeiten zu freier Gewissensentscheidung. Ob ein Grundsatz richtig oder falsch war, entschied seit je der Zar als Haupt der ‚rechtgläubigen’ Kirche. Mich hatte es schon immer geschüttelt, sobald ich daran dachte, wie oft diese russische Institution, die sich herausnahm Kirche (Dach für Bedrängte)  zu nennen, in den vergangenen Jahrhunderten davon zu sprechen wagte, dass ihr und dem russischen Zaren allein die Krone zur Weltherrschaft zustünde. Ihr heiliges Russland sollte schon immer Modell der Welt von morgen sein.

Bei Ignaz von Döllinger hatte ich das bestätigt gefunden. In seinem Buch “Papsttum” belegt der Kirchenhistoriker, dass der Heilige  Synod  zu  Moskau  bereits 1619 in  einer  Urkunde  dem Zaren feierlich die Weltherrschaft zusicherte, „dass er der einzige Herrscher auf der ganzen Erde werde.”
Diesen anmaßend rigorosen Panslawisten, denen nahezu alle Nichtrussen als Irrgläubige galten, standen die späteren fanatisch kommunistischen Kommissare in nichts nach.
Wie ihre engherzigen Blutsbrüder wähnten nur sie sich im Besitze einer Wahrheit, die um jeden Preis durchzusetzen ist.
Immer noch vor dem Leninmausoleum stehend dachte ich es mit Beklemmung: Wenn dieser anspruchsvolle Herrentyp jemals zur unumschränkten Weltherrschaft gelangen sollte; sei es als kommunistischer Kader seiner Partei oder als Fürst einer Kirche, die beide nichts gelten ließen, als das, was ihresgleichen für gut und wahr erklärten, dann lohnte es sich nicht mehr zu leben. Minutenlang lag es für mich auf der Hand: Eintausend lange Jahre hindurch haben sie bewiesen, dass der Imperator Konstantin, den sie zum Heiligen erklärten, ihr Vorbild ist. In seinem Sinne praktizierten sie ihr von den alten gold- und machtsüchtigen Byzantinern überliefertes total entstelltes, ins buchstäbliche Gegenteil verdrehtes Christentum. Deshalb wurden sie die Erben religiöser Unduldsamkeit und die Väter der Pogromhetze. Gnade den Juden die sich an Karfreitagen auf ihren Straßen blicken ließen!
Sie duldeten zugleich das Unrecht der Freiheitsberaubung und ein weithin verbreitetes Analphabetentum. Angesichts der Eindrücke, die sich mir längst aufdrängten, stellte ich mir die Frage, ob der von eben diesem urrussischen Triumvirat übertrieben verehrte Jesus von Nazareth die Spur einer Chance gehabt hätte wäre er 1800 Jahre später und in Moskau geboren worden. Hätte er sich herausgenommen, sie zu kritisieren, wäre er sehr wahrscheinlich von seinen jetzigen ‚Anbetern’ sofort gelyncht worden.
Leo Tolstoi jedenfalls, wurde wegen Nichtigkeiten um 1900 vom Heiligen  russischen Synod in Bann und Acht getan.
Vielleicht war ich angesichts meiner innern Bilder ungerecht, wenn  ich mir sagte, es sei derselbe finstere Geist, der einerseits die Kreuzesverehrer und andererseits die Stalinisten inspirierte. Aber andererseits gab es hinlänglich  Anzeichen dafür, dass die Enkel der alten Rus, lediglich die Symbole geändert hatten, kaum aber die Methoden und keineswegs das  Ziel: Weltherrschaft.
Der Geist der Intoleranz und der lieblosen Arroganz bewegte sie und stieß uns ab. Wie die einen so die anderen. Ihren Ausschließlichkeitsanspruch begehrten die Orthodoxen wie die Kommunisten mit äußerster Härte gegenüber Andersglaubenden durchzusetzen.  Lenin war es gelungen eine tausendjährige Tradition zu brechen. Das war es aber auch, was mir Lenin so unsympathisch erscheinen ließ. Er kultivierte lediglich eine andere Variante der Willenseinschränkung.
Aber Menschen sind ausnahmslos freiheits- und liebebedürftig.
Helene Göck gegenüber drückte ich meine Gedanken nicht so scharf formuliert aus.
Hermann Witte dagegen ließ seinem Unmut auf der Rückreise freien Lauf. Er schimpfte und spottete darüber, dass sie sich herausgenommen hatten, Vertragsbruch zu begehen und uns, mir nichts dir nichts abzuschieben und wegzujagen wie Geschmeiß.
Hemmungslos beklagte Witte, dass es in einer Weltmetropole kein Bier gab, jedenfalls nicht für sein Geld, dass es dort für Rubel nichts Billiges zu kaufen gab, außer Brot und Salz und Kofferradios. Die Schuhe und diese Preise, die Möbel. Tausend Tische in einem Riesenladen, aber einer wie der andere. Hundert Wohnzimmerschränke, alle gleich, so gleich wie die Partei, die von ihr regierten und dirigierten Menschen machte. Hermann Witte war einer von der Art Leute, die, wenn sie zu lästern beginnen, nicht wieder aufhören können. Wie ein alberner Schulbengel reizte er mit dem scharfen Gegluckse seinen Lehrer. Vor allem während der Fahrt von Berlin zurück nach Neubrandenburg hörte man im D-Zugwagen seine durchdringende Stimme quäken und dröhnen: „Wenn dat de ganze Kommunismus is, denn führt ji nächstes Mol alleen, lot mi man an Land.” 171 Helene und Hermann Göck schwiegen und schämten sich. Nachdem wir wieder daheim angelangt waren und unmittelbar bevor wir uns voneinander verabschiedeten, kündigte Hermann Göck für den kommenden Montagabend seinen Besuch in unserer Fischereibaracke an. Er wünsche mit allen Männern zu reden. Der Montag kam und ich wünschte am Morgen, dass es schon Abend und alles vorbei wäre. Schließlich saßen wir da.
Er kam, begrüßte jeden, lächelte sogar ein bisschen. Das bleiche lange Gesicht mit der Thälmannfalte verhieß wirklich nichts Gutes. Reinhard Lüdtke, der neue Vorsitzende, eröffnete die Zusammenkunft. Das Unbehagen war ihm anzumerken.
Blond und beherrscht jedoch saß der dreißigjährige Vorsitzende.
Wie wir, sah er voraus, dass gleich die Fetzen fliegen würden.
Da war nichts abzuwenden. Er gab dem Gast, der kein Gast, sondern stets als gleichberechtigtes Mitglied behandelt sein wollte, das Wort. Hermann Göck dankte. Zunächst grummelte es nur verhalten aus seiner erregten Seelentiefe hervor. Der alte Vorsitzende Bartel, seit Jahren Mitglied der Partei, senkte den Kopf. Auch er hatte seine Lektionen erst bei dem Ehrenfischer Göck lernen müssen.
Der fragte nun Hermann Witte, ob es ihm selbst nicht peinlich gewesen sei, so furchtbar kindisch auf die Sowjetunion zu schimpfen und herumzulamentieren. Im Zug, vor fremden Ohren, die glauben müssten, er wäre in Moskau miserabel behandelt worden.
Solche faustdicken Lügen!
Unerhört. Ob er nicht hervorragend verpflegt worden sei.
Hermann Witte saß den Buckel gewölbt, schuldbewusst und schweigend da. Den kräftigen Kopf mit den auffallend großen wasserblauen Augen nach vorn ausgestreckt, steckte er die Rüffel ohne Widerrede ein. Rot war er angelaufen. Natürlich leuchtete ihm längst ein, dass er überzogen hatte.
„Kein Bäär, kein Bäär!”, versuchte Göck sich in Wittes unnachahmlichem Tonfall. „Mensch kein Bäär! Säufst doch auch sonst nich jeden Tag Bäär!” Betroffenheit breitete sich aus, erfasste auch die Unschuldigen. Unser Reiseleiter und Ehrenmitglied ließ nicht nach. „Da ist wohl noch viel Unkraut und mancherlei reaktionäres Zeug in den Köpfen einiger! ... Du, Hermann Witte, hast...”
Von mangelndem Ehrgefühl und nicht dem geringsten Empfinden für Takt und Anstand war die lange Rede.
„Ich hätte mehr von dir gehalten!”
Ob Hermann Witte klar war, dass die Schelte ihm nur in zweiter Linie galt?
Ich wusste, Hermann Göck meinte mich. Sein weißes Gesicht bekam Farbe.
Dass ich mit einem Westdeutschen oder einem Holländer offen DDR-feindlich geredet habe, hielt er sicherlich sowohl für erwiesen wie auch für die Spitze denkbarer Bosheit. Ich war der Hauptverderber dieser in mehrfacher Hinsicht misslungenen Reise. Ich ahnte es nicht nur. Dass seine volle Wut eigentlich gegen mich zielte, spürten alle, obwohl seine Blicke mich noch mieden.
Ich konnte nicht mehr abwarten.
Was er mir sagen wollte, solle er denn auch direkt an mich richten.
Sofort, als ich ihn so aufforderte doch unverblümt zu sagen, was ihn in Wahrheit bedrücke, brach es mit elementarer Gewalt aus ihm hervor. Krachend flog der Vulkankegel weg. Hemmungslos schrie er mich an und spuckte minutenlang Feuer und Lava. „Beleidigung der Sowjetmenschen. Hast du überhaupt einen blassen Schimmer, was diese Menschen gelitten haben... du... Streik... Rausschmeißen aus der Genossenschaft. Boykotthetze...Reiseverbot für ewige Zeiten.”
Seine Liebe für Menschen, Land und vor allem zu seiner Partei trieb ihn in diesen Irrtum, aber auch seine bedingungslose Hingabe an die große Idee, die ich in Frage zu stellen wagte. Ich, der Erdenwurm, hatte mir erlaubt sein Heiligtum zu besudeln.
All das war eins für ihn.
So viele Jahre hatte er vergeblich um mich geworben.
Seine Bitterkeit schmeckte auch mir wie Galle. Er konnte und wollte nicht tolerieren, dass ich seine sozialistische Staatengemeinschaft nicht wertschätzte. Besseres als sie konnte es nicht geben für ihn. Da war es wieder, was ich hasste, diese Unterstellung, wer seine Partei und die Sowjetunion nicht liebte, der sei ein Volksfeind.
Er goss seinen Zorn in neue, stärkere Worte. Er beschuldigte mich weiterer Vergehen. Alles sehr laut und im Brustton grenzenloser Empörung. Was er nun sagte, ich achte die Sowjetfrauen nicht, war ihm ebenfalls geflüstert worden. Eindeutig!
Nur einem bestimmten Mann aus meiner Nachbarschaft hatte ich, einen Tag nach der vorzeitigen Rückkehr aus Moskau geschildert, wie ich gesehen hatte, dass acht Frauen eine mächtige Eisenbahnschiene schleppten. Tapfer hielten sie das Hebezeug und sie gingen Schritt für Schritt über den Schotter. Ich konnte spüren wie diese Trägerinnen sich aufeinander absolut verlassen konnten, wie ruhig sie nämlich arbeiteten.
Nur, rechts und links der Schwerlastträgerinnen befanden sich zwei Männer, die jeder mit einem Signalhorn bewaffnet seelenruhig mitanschauten, wie die Mütter und Ehefrauen sich abquälten.
Genüsslich indessen bliesen die beiden Herren der Schöpfung den Zigarettenqualm in die blaue Luft. Diese Selbstverständlichkeit auf beiden Seiten hatte mich ziemlich schockiert.
Jetzt hörte ich von Hermann Göck, ich wäre ein Feind der großartigen Idee von der Gleichberechtigung der Frauen. Mir wäre es ein Gräuel zu sehen, dass die Männer für die Sicherheit im Schienenverkehr sorgten. „Das sieht dir ähnlich!”, schimpfte er. Ich hätte auch kein Recht, mich über die Preise einfacher Schuhe aufzuhalten.
„Botten!”, sagte er höhnisch. Ich hätte sie ‚Botten’ genannt statt Schuhe. Das stimmte! Aber woher wusste er das?
Jetzt war ich gänzlich sicher. Nur S.H. gegenüber, unserem Nachbarn, der an sehr verantwortlicher Stelle im Rat des Kreises Neubrandenburg saß, war ich, am Tage der Heimkehr,  so offen gewesen, sowohl die Schwerstarbeit durch Frauen, wie auch die ungeheuren Preise für so grobe ‚Botten’ zu beklagen.
Dieser Opportunist S.H. hatte mich also bei Hermann Göck angezeigt.
S.H. war nicht ehrlich. Als Staatsfunktionär durfte er keine Westpakete erhalten, auch nicht indirekt. Diese gingen, da er sie illegal empfangen wollte, an die Adressen seiner Verwandtschaft auf dem Lande. (Über Kindermund war diese Tatsache an meine Kinder bereits seit Jahren ausgeplappert und an meine Ohren getragen worden: „Ätsch! Unsre Sarotti kriegen wir doch! Die holt Papa immer von unserer Oma ab!”)
Diesem S. H., der nach außen hin so glatt und rot war, und so tat, als würde er von allen der Linientreueste sein, als habe er die Weisheit löffelweise gefressen, hatte ich mit diesen beiden Schilderungen lediglich eine gewisse Frage gestellt: Ob er nicht manchmal Mitleid empfände mit den in der SU lebenden Menschen, die sich in erster Linie für das ungeheure Rüstungsprogramm des roten Imperiums abschuften mussten. Hätte er mir daraufhin nicht eine sachliche Antwort geben können und mir ruhig erläutern können, wie er das sieht? Statt hinzurennen ans Telefon und wutentbrannt die Göcksche Nummer zu wählen?
Ich gebe zu, ganz unschuldig an dieser Verpetzung war ich nicht.
Als ich nämlich am Samstag nach der Rückkehr aus Moskau einem meiner Hausmitbewohner erzählte, dass ich S.H. mit gewissen Tatsachen konfrontiert und mit heiklen Fragen attackiert habe, lachte dieser und erzählte mir ebenfalls eine uns beide erheiternde Geschichte über S.H., der auch ihn schon einmal auf so arrogante Weise behandelt hatte. Während wir herausfordernd über ihn lachend im Vorgarten beieinander standen und hinaufschauten zu einem gewissen Fenster in der Nachbarschaft, erschien zufällig das Gesicht des Mannes im Fenster, auf dessen Kosten wir uns amüsierten. Wir beide wussten nämlich die Sache mit den Westpaketen, die S.H. klammheimlich empfing.
S.H., obwohl er kein Wort gehört haben konnte, musste es erspürt haben, dass wir ihn auslachten. Daraufhin ist er hingegangen, um mich bei Hermann Göck anzuzeigen. Dass es so war, lag nun auf der Hand. Denn Hermann Göck erwähnte zu alledem, nämlich in seiner anhaltenden Schimpfkanonade, ich wäre ein verbohrter großer Esel, der nicht begreifen will, dass die gigantischen sowjetischen Rüstungsanstrengungen den Menschen dort nicht weh täten und dass niemand sie deshalb bemitleiden müsste. „Jawohl! Aber wer sozialismusfeindlich eingestellt ist, wird das nie verstehen können...”
Ich wollte ihm nun in die Parade springen, kam jedoch nicht zu Wort.
Mir schien, ich dürfte nichts auf mir sitzen lassen, dem auch nur der Geruch von Unrecht anhaftete.
Er habe mir ein für allemal verständlich zu machen, was ich anscheinend nicht begreifen wollte: „Millionen haben im Befreiungskampf gegen den Faschismus ihr Leben verloren und du, du ...”
Viele Worte prasselten weiterhin auf mich und uns herunter.
„... endlose Opfer... verbrannte Erde...”
Wie durch einen Lautsprecher dröhnte er und alle andern saßen wie versteinert.
Hermann erklärte, ich sei unwürdig Genossenschaftler zu bleiben.
Das war der Augenblick, an dem es für mich richtig gefährlich wurde.
Zwei, drei wirkungsvolle Sekunden lang stand seine Forderung wie ein Ausrufungszeichen im kleinen ‚Kulturraum’, mit immer noch demselben Radio aus der Frühzeit der Genossenschaft.
Mich packte ein ungeheures Gefühlsgemenge aus Wut und Mut, aus Angst und Stolz. Zehn Dezibel lauter als er, gab ich meine Gegenerklärung ab:
„Ich bin maßlos enttäuscht, wenn das was wir gesehen haben, das ganze Ergebnis von sechzig Jahren Kommunismus ist. Das will ich dir sagen, Hermann Göck, auch wenn du das anders hinstellen möchtest. Mich dauern all diese zahllosen durch willkürliche Eingriffe zerstörten Familien, es tut mir weh zu sehen, dass in Kriegs- und Friedenszeiten Abermillionen für ein fast Nichts an Verbesserungen ihr Leben hingegeben haben und jetzt für den Weltfrieden immer noch zuerst Panzer und Kanonen bauen müssen, müssen, müssen. Ich weiß auch um die guten Sachen im Sozialismus. Aber die decken nicht die Mängel und die Wunden zu. Ich kann die Menschen dort nicht beneiden.” Weil ich unnatürlich laut und viel redete war meine Wortwahl nicht gerade die beste, feinste. In Wahrheit schrie ich, nur weil ich meine Bedenken zu überwinden hatte, ich käme zu spät zu Wort.
Er setzte zu einer Erwiderung an.
Es sei unerhört, dass ich nicht reuig in mich ginge.
Nun aber ließ ich ihn nicht zum Zuge kommen. Entschlossen mich zu behaupten riss es mich hin zu behaupten: „Deine niederträchtigen Informanten kenne ich!”
Er stutzte.
Ich nannte ihm beide Namen.
„Dieser S. H. und dein X. hatten beide nicht den Mut, mit mir Auge in Auge ins Gericht zu gehen! Da haben sie dich vorgeschoben! Das ist Feigheit vor dem Feind.”
Ich wiederholte dröhnend die beiden Namen und exakt das, was er nur von dem einen und was er von dem anderen vernommen haben konnte.
Viel lieber als mich so meiner Haut zu wehren, wäre ich in ein Mauseloch gekrochen. Doch ich blieb fest, ich würde keinen Millimeter von dem, was ich geäußert hätte, abweichen.
Meine Kollegen schauten mich betroffen an. Reinhardt Lüdtke rutschte auf dem harten Stuhl hin und her. Ihm fiel nichts ein, die Richtung der immer noch unberechenbaren Auseinandersetzung zu beeinflussen. Reiners Augen rollten, als wollte er mir bedeuten sofort den Mund zu halten. Mein Trotz würde alles nur verschlimmern.
Mir blieb aber keine Wahl. Mir blieb nur übrig, mich mit Hilfe der Wahrheit zu verteidigen.
Meine Tatsachen hatten ihre Wirkung auf meinen hocherregten alten Freundfeind nicht verfehlt. Sie verschafften sich Gehör und Raum. Ihn beeindruckte offensichtlich, dass ich immer noch zu dem stand, was ich gesagt hatte: „Der Sozialismus hat bessere Seiten als die von mir kritisierten.”
Nun konnte ich ruhig hinzusetzen und erklären, was mein Intimfeind nicht richtig verstanden, aber dennoch an ihn weitergegeben hatte: „Von einem Streik, Hermann Göck, habe nicht ich, sondern der Holländer gesprochen. Ihr habt doch für fünf Tage bezahlt, lasst euch das nicht gefallen. Das ist doch wohl ein Unterschied wie Tag und Nacht!”
„Aber das hättest du dem fremden Mann ja auch nicht auf die Nase binden müssen.”
„Darum geht es ja gar nicht!”, hielt ich dagegen, „ich bin genau so traurig wie du!“ Er schaute mich nun aus großen Augen an, wie ich ihn.
Seine, meinerseits befürchtete endgültige Erwiderung blieb erstaunlicherweise aus. Er wiederholte betroffen und mit auffallender Verwunderung den Namen S.H. 
Deshalb schwenkte er um.
Er sagte plötzlich, aber wieder in normaler Lautstärke: „Ich werde S.H. fragen, warum er vor dir gekniffen hat.” Er kratzte ein Ohr. „Den kaufe ich mir!”, erwiderte er. Er werde ihm den Marsch blasen! – „Ich! … ” So heftig wie die Aussprache begonnen hatte, so jäh endete sie. Plötzlich war von seinem Antrag auf meinen Ausschluss aus der Genossenschaft keine Rede mehr.
Die ungeheure Macht der Partei, die hinter ihm stand, bedrohte mich nicht mehr direkt. Dass S.H. ihn vorzuschicken gewagt hätte, nahm er ihm übel. Wort für Wort hatte ich in dieser Zusammenkunft unter zehn Zeugen offen gelegt, was ich S.H. gesagt habe und wie hinterhältig er reagierte.
Die Westpaketgeschichten gehörten hier nicht her und so vergalt ich es ihm nicht.
Mir lag daran, die Situation weiter zu entspannen. Ziemlich behutsam äußerte ich deshalb, dass mir stets gewisse Bilder vor Augen stünden.
Darum ginge es. Alles andere sei mir gleichgültig.
In riesigen primitiven Arbeitslagern hätten unschuldig inhaftierte russische Menschen jahrzehntelang hausen und darben müssen. Fernab ihrer Familien mussten sie sich aus einem einzigen Grund zu Tode rackern. Nämlich um Workutas Straßen zu bauen. Alles wegen Stalins Größenwahn. Sogar in unserer DDR-Presse wurde der Wahnwitz, als  „Personenkult“ bloßgestellt. Wortwörtlich konnte ich aus seinem “Neuen Deutschland” zitieren.
Ihm aber weitere Grobheiten ins Gesicht zu schmettern, nahm ich mir nicht heraus.
Man muss ja nicht unentwegt im Klartext formulieren. Inmitten der Worte schwingen ohnehin die Töne des echten Gefühls. „Ja, der verfluchte Krieg!”, erwiderte Hermann, und ich war froh, dass er es so deutete. Als er schließlich davongegangen war, ebenso mattgekämpft wie ich, klopften mir Witte,  Fritz Sack und andere Kollegen auf die Schulter. Dem hätte ich es aber gegeben.
Das war nicht meine Absicht gewesen. Es ging um mehr.
Äußerlich erschien ich wahrscheinlich gelassen, doch meine Knie zitterten und auch mein Gemüt bebte nach. Dass es Verleumder gibt, ist eine Tatsache, dass man mit ihnen leben muss, ist schwer.
Mir wäre eine ruhige Auseinandersetzung auch lieber gewesen.
Die Angst der Ungewissheit blieb eine Weile bei mir.
Erst einige Wochen später sah ich Hermann Göck wieder. Mir schien, er ginge gebeugt. Langsam setzte er seine langen Beine. Er kam aus Richtung des Krankenhauses in der Külzstraße. Ich wich ihm nicht aus, sondern ging auf ihn zu.
„Lenchen liegt im Koma!” teilte er mir mit und streckte mir die Rechte hin. Die innere Erschütterung stand ihm ins Gesicht geschrieben. Seine Frau war stets nur freundlich zu mir gewesen. Ich wusste, wie sehr beide aneinander hingen. Unter den Blättern und hängenden Zweigen einer bereits herbstlich eingefärbten Birke stand er mit seinem weißen, sorgfältig gescheitelten Haar. Ein gebrochener Mann. Unerwartet muss ihn die Härte der Erkenntnis getroffen haben, dass uns Grenzen gesetzt sind.
Als alte Freunde, die ihren Streit längst vergessen hatten, redeten wir miteinander. Es war auch ihm, denke ich, angenehm, dass wir einander nichts nachtrugen, sondern damit leben konnten, wenn unterschiedliche Menschen grundsätzlich andere Denkansätze hegten.

 

 

Coregonus lavaretus oder nasus?


Unmittelbar nach der Moskaureise entwickelte sich aus der Idee, Kleine Maränen vorzustrecken, der Gedanke, eine neue Fischart einzubürgern.
Erika, meine Frau, äußerte ihre Bedenken. Vor allem wegen der Art, wie ich es tun wollte.
Ich aber schwärmte von den Möglichkeiten, die sich uns böten.
„Du musst dir vorstellen, dass der Seeboden des Tollensesees, das Profundal, mit Zuckmückenlarven rot übersät ist. Wo immer der kleine Greifer einen Ausschnitt der Bodenoberfläche aus der Tiefe heraufbeförderte, zählten wir zehnmal mehr Chironomiden als auf anderen Seen.”
Das ganze Jahr hindurch ist somit der Tisch für die ‚Friedfische’ überreichlich gedeckt. Nur, es ist da unten zu kalt für die meisten Fischarten. Deshalb wird diese Kinderstube dieser nichtstechenden Mückenart kaum aufgesucht und ihre Bewohner werden deshalb nicht dezimiert.
Deshalb staunt der bootsfahrende Beobachter und Naturfreund, wenn im Mai, der sonst überwiegend blaue See plötzlich schwarz aussieht, obwohl die Sonne scheint und die Himmelsfarben sich auf ihm spiegeln müssten. Abermilliarden vier, fünf millimeterlanger Larvenhüllen schwimmen auf der Wasserhaut und dazwischen bevölkern ebenso viele, ebenso lange schwarze Geschöpfe die riesige Fläche. Ehe sich die aus der Tiefe aufgestiegenen Insekten in die Lüfte erheben können, stehen sie mehrbeinig auf der Seeoberfläche und lassen sich vom Wind leicht dahintreiben. Ihre verhältnismäßig großen, sehr unterschiedlich gestalteten, gefiederten, büschelartigen Fühler dienen ihnen dabei als Segel.
Seeschwalben und Möwen stürzen sich zu Tausenden auf die soeben ins Tageslicht aufgestiegenen Zuckmückenmassen. Sie picken sie als Delikatesse auf oder vielleicht ist es nur Notnahrung, was sie da als winzige Häppchen aufnehmen. Sobald die Sonne etwas höher kommt, surrt es in den Lüften. Wie wehende Rauchfahnen stehen die Zuckmückenschwärme ab der elften Tagesstunde über den Wipfeln der ufernahen Bäume und halten Massenhochzeit. Im Fluge paaren sie sich und wenig später treibt sie der Wind und ihr Instinkt über die Seefläche hin, dann werfen sie ihre befruchteten Eier aus der Höhe ab. Ein neuer Kreislauf beginnt. Dreimal im Jahr vollendet sich dieser Kreis, aber nur einmal, im Frühling, in dieser Pracht und Fülle. Von allen in Europa vorkommenden Wildfischen ist nur die Große Maräne, die Bodenrenke, geeignet, da in die kalte Tiefe hinabzutauchen und die Larvenbestände abzuweiden.
Zwei Typen gibt es unter den Maränen, erstens die im freien Wasser lebenden Kleinmaränen und zweitens die großen bodenständigen, chironomidenfressenden. Letztere wollte ich in den See einsetzen. Lüdtke unterstützte meine Idee.
Wo aber gäbe es die Brut dieser Spezies Edelmaränen? Und würden wir einen Weg finden, sie zu erwerben?
Die Antwort kam aus unserem Nachbarbetrieb in Prenzlau. Am Madüsee, in der Nähe Gollnows, das jetzt Golienow heißt, gibt es eine leistungsfähige Fischbrutanstalt. Sie stünde unter der Leitung des Szczeciner Landesanglerverbandes.
Herr Marczinski sei der Chef.
Aber haben die polnischen Kollegen auch Edelmaränen aufgelegt, das war die Frage und würden uns die Polen zu vertretbarem Preis Brütlinge verkaufen?
Kurt Reiniger sprach fließend polnisch und ich besaß außer der Lust aufs Abenteuer einen Trabantkombi. Wir wollten einfach hinfahren und sehen, was sich machen lässt.
Lediglich Geld benötigten wir noch.
Mit Reiner Lüdtkes Einverständnis versuchte ich unseren Buchhalter Alfred Voß, Adi, zu überzeugen. Mit Adi konnte sich niemand erzürnen. Er war gerade Altersrentner geworden, aber noch im Dienst. Er schaute mich freundlich nachdenklich an. ‚Schwarze Kasse?’ Er schmunzelte: „Wozu  schwarze Kasse? Wenn die Sache ok ist, gibt es keine Probleme.” Nun ja, die Polen wünschten, wie wir aus Erfahrung wussten, Bargeld ohne Quittung und Belege.
Ob ich auch dazu Reiners Genehmigung hätte.
„Ich will ihn da nicht in diese Geschichte verwickeln.“
Irgendwie sei es doch eine Art von Spitzbüberei, was wir vorhatten, eine Nacht- und Nebelaktion. Eigentlich hätten wir erst Anträge stellen müssen, Zertifikate für den grenzüberschreitenden Tiertransport besorgen, lauter bürokratische Hürden nehmen müssen und dann vertagte sich unser Anliegen um Wochen. Doch in einigen Wochen gibt es keine Großmaränenbrütlinge mehr, sondern gerade jetzt. Außerdem stünden die Plasterinnen seit der Beendigung der Aalbrutüberwinterung zur Verfügung. Besser sei, Reiner als Vorsitzender bliebe ‚außen vor’.
Adi schmunzelte und dieses sonderbare, stets überlegen wirkende Schmunzeln aus seinen Augenwinkeln und aus seinen immer freundlichen Gesichtszügen heraus war harte Kritik für mich. Es besagte, was würdest du dazu sagen, wenn du der Vorsitzende wärst und würdest auf diese Weise überfahren? Muss er nicht schließlich alles wissen, was im eigenen Betrieb passiert? Er zog die Augenbrauen nur um ein Winziges in die Höhe. Das war seine Art zu kritisieren. Durch Mienenspiel, Stirnrunzeln dirigierte er uns. Ich konnte mir gut vorstellen, wie er es damals, als Frontsoldat auf Urlaubsfahrt in die Heimat der schönen Wienerin erklärt hatte, dass ein Mann wie er immer nein sagen wird, wenn sein Gewissen auf dieses Nein besteht. Übrigens, als Buchhalter Adi Voß uns anderthalb Jahre später,  im September ’73 verließ, überreichte er uns unter anderem einen alten Briefumschlag. Das war die in zwei Jahrzehnten gefüllte, nie angetastete, niemandem außer ihm bekannte ‚Kaffeekasse’, Geld von Kunden, die berechtigt waren, Kleineinkäufe vor Ort zu machen und die Pfennigbeträge nach oben aufrundeten. Der Inhalt waren 312, 73 Mark.
Nie gab es in seinen Bilanzen echte Differenzen. Ehrlichkeit ist bares Geld, pflegte er zu sagen, dabei zeigte er seine kräftigen Zähne. Das war seine tiefste Überzeugung: Ohne Ehrlichkeit geht die Welt zum Teufel.
Reiner nickte, als ich ihm beichtete, sofort Zustimmung: „Wie viel Schwarzgeld benötigst du?”
„Schätzungsweise eintausendzweihundert!”
Eine Stunde später hielt ich die zwölf Hunderter in meiner Hand.
Gemessen an unseren Preisen hatte ich mir ausgerechnet und vorgenommen, dafür eine viertel Million Brütlinge zu bekommen und diese schwarz über die Grenze zu schmuggeln.
Reiner meinte, dass wir wahrscheinlich nur angebrütete Eier erhalten würden. Dieser Hinweis war wichtig. Wir mussten also Zugergläser aufstellen. Versehen mit einigen großen Plastetüten fuhren wir am nächsten Tag nach Szczecin. Die Zeit drängte. Für den Nachmittag würde Herr Marczinski uns zur Verfügung stehen. Mehr wollten wir fernmündlich nicht vereinbaren. Denn wir waren es gewohnt, stets daran zu denken, dass Telefonate abgehört wurden. Wer weiß, zu welchen Schlüssen die Horcher gelangt wären, wenn sie zufällig unsere Absprache mitbekommen hätten.
Szczecins Anglerpräsident Marczinski saß in seinem gelblich eingetönten Büro an seinem ebenfalls gelb schimmernden Schreibtisch unter einer präparierten riesigen Madümaräne, die auf einem gewaltigen Bücherschrank einen zentralen Platz einnahm. Acht Kilogramm oder mehr muss dieser Fisch einst gewogen haben. Kurt und ich waren sehr beeindruckt. Immer wieder gingen unsere Blicke dahin. Genauso große Fische, der Art Coregonus lavaretus, wünschten wir uns.
Ich wunderte mich laut darüber, dass Madümaränen zu so stattlichen Exemplaren heranwachsen könnten. Marczinski nickte, während Kurt übersetzte. Zwei- dreimal erwähnte er, mich unterrichtend oder berichtigend: „Coregonus lavaretus nasus.”
Nasus, nasus, dachte ich, das ist eine Spezies, die wir nicht haben wollen.
Marczinski wies mit dem Daumen nach oben, hinter sich: Ostseeschnäpel! Oje. „Keine Ostseeschnäpel, die benötigen zum Gedeihen Brackwasser.“
Ein Schwall anscheinend wohlmeinder Worte fiel in Polnisch über uns her. „Sie können sogar in Teichen, in Süßwasserteichen! mit Nasus wirtschaften!”
Ich glaubte ihm nicht. Kurt zuckte die Achseln.
Da saßen wir nun, mit unserem Tausender. Was tun?
Ich konnte Marczinski aber auch nicht das Gegenteil beweisen.
„Probieren wir es? Kurt?”
Kurt, der Mann mit der großen Stupsnase nickte. Aus dem vielfach gekerbten Gesicht, das in hohem Maße der Ausdruck seines von vielen Nackenschlägen durchkreuzten Schicksals war, kam das schulterzuckende Einverständnis. Marczinski nahm ein Stück Papier zur Hand und rechnete schnell. „Dreihunderttausend Eier erhalten sie dafür. Schlupfreife!” Es sei höchste Zeit.
Hatte Reiner also Recht.
Wir müssten denn sofort aufbrechen, um nach Goleniow zu fahren. Da es noch März war, begann es früh zu dunkeln. Mir schien, die vierzig Kilometer würden nie enden. In einer dunklen Waldecke angekommen, lauteten die Weisungen rechts fahren, rechts, na prawo, na prawo. Was ist, wenn ich viermal rechts herum fahre?
Überall nur Bäume wie es schien. Mattes Scheinwerferlicht erhellte nur den Sandboden, indessen schimmerten die Gehölze an den Seiten umso dunkler, wie schwarze Wände. Plötzlich zeichneten sich neue schwarze Konturen gegen den sich öffnenden Nachthimmel ab.
Kurt übersetzte: „Die Brutanstalt!” Jemand musste die winzige Hofbeleuchtung angeschaltet haben. Eine nicht große, leicht gebeugte Gestalt erschien. Ob die Person männlich oder weiblich war, ließ sich noch nicht sagen. Wir stiegen aus. Völlige Stille umfing uns. Der gebeugte Mensch schritt auf Herrn Marczinski zu. Ich erkannte, dass es ein alter Mann war, ein kleiner Mann mit fester Hand und weicher Stimme. Als er bemerkte, dass ich außer dobri vetschor nichts verstand und auf Kurts Dolmetscherdienste angewiesen war, wechselte der sympathische Alte in einwandfreies Deutsch. Er drückte sich sehr gewählt aus. Siebzig Maränenarten gäbe es auf der nördlichen Erdhalbkugel, vielleicht noch mehr, wer könne das noch auseinander halten? Vom Omul im Baikalsee bis zu der kurioserweise im Sommer laichenden Spezies in den Feldberger Tiefseen, der Coregonus albula baunti, reiche das Artenspektrum.
Mein Problem bestand darin, dass ich auch ihm zunächst nur schwer glauben konnte. Sollte der Ostseeschnäpel das von uns begehrte Objekt sein? Dass dieser Wanderfisch, der schwach salziges Wasser bevorzugt, in Seen und Teichen ausgesprochen gut zu halten sei, bezweifelte ich. Allerdings hatten wir den Kauf bereits perfekt gemacht. Eine große dunkle Tür öffnete sich vor mir und das vertraute Wasserrauschen ließ sich vernehmen. Da plätscherte es aus den Zugergläsern. Je sieben Liter Wasser befanden sich in je einer dieser vielleicht siebzig überdimensionierten Kopf stehenden Seltersflaschen, die in mehreren Reihen in Gerüsten aufgestellt dastanden. Fortwährend wälzten sich in jeder der unentwegt überlaufenden Flaschen zehntausende bernsteinfarbener Maräneneier. Alle nur etwas größer als Stecknadelköpfe. Mit einer Pipette entnahm der alte Herr ein paar dieser vor dem Lampenschein goldschimmernden Coregoneneier. Er hielt sie mir dicht vors Gesicht. Deutlich sah ich die Zuckungen der Ungeborenen, dann die schwarzsilbernen Embryonenaugen, den Dottersack mit dem Fettauge, das dem Ei die Farbe gibt. Immerzu drehten und wanden sich die noch in ihren Umhüllungen gefangen gehaltenen Schnäpelchen. Mit dem Zählglas literte der alte Mann uns dreihunderttausend Maräneneier aus, und zwar ziemlich genau wie wir später bemerkten. Wir kannten nur das Zählverfahren für Brütlinge.
Sprudelndes Wasser füllten wir in die auf Reißfestigkeit geprüften fünfzig Liter fassenden Plastesäcke und entließen dahinein die je einhundertundfünfzigtausend Eier.
Obenauf, beim Vorgang des Schließens der Tüten, gaben sie uns einen Schuss reinen Sauerstoffs aus einer Pressluftflasche.
Dann machten wir uns schleunigst auf den Heimweg.
Die Stimmung war gut.
In Szczecin wollten wir Herrn Marcinski absetzen.
Kurz bevor wir die Stadtgrenze erreichten ging es zwischen Kurt Reiniger und unserem Geschäftspartner laut zu. Ich spitzte die Ohren. Was mochte der Streitpunkt sein? Mir schien, dass ich den Begriff Katyn wiederholt vernahm. Mich einzumischen wäre unhöflich gewesen. Teilnahmslos dazusitzen und nur Gas zu geben unmöglich. „Was ist los, Kurt?”
„Er wirft mir vor, ich wäre ein Überläufer gewesen! Kann doch nischt dafür!”
Ich ahnte, um welchen Vorwurf es ging. Hatte ich ihn doch einmal auf einem Foto als jungen Mann in polnischer Uniform gesehen. Es lag alles weit zurück, über dreißig Jahre.
Die Emotionen gingen auf beiden Seiten hoch. Für beide Männer schien der Sprung über eine fast vierzigjährige Epoche nur ein winziger Schritt zu sein. Sie erregten sich sehr. Kurt Reiniger war tatsächlich auf polnische Fahnen eingeschworen worden, 1939, und bald darauf, nach der großen polnischen Niederlage, von der Deutschen Wehrmacht auf Gestellungsbefehl eingezogen worden. Ein Schicksal, das er mit Tausenden teilte, die damals im Raum Bromberg gewohnt hatten. Dass sein Familienname Reiniger lautete, deutsch war, ließ Marczinski nicht gelten. Den Polen ginge es immer um die Ehre ihrer Nation!
Das zu verstehen, sei Kurt Reiniger wohl nicht gegeben.
Kurt war wirklich gekränkt. Immer hackten sie auf ihm herum. Wenn es nicht dies war, dann jenes, das ihnen an ihm missfiel.
Den einen trank er zuviel, den andern zu wenig.
Es ging um Katyn! Und um Marczinski Bruder. Das ließ ich mir übersetzen. Wenn sie sich schon zankten dann wollte ich auch wissen, warum. Der Bruder des Anglerpräsidenten habe zu jenen tausenden polnischen Offizieren gehört, die durch Stalins Heimtücke in sowjetische Gefangenschaft geraten waren. Eine Schande an sich. Sie hätten sich entschieden geweigert, ihre Pistolen und Ehrenabzeichen an sowjetische Schergen auszuliefern. Die Russen seien der Republik Polen 1939 zugunsten Hitlerdeutschlands brutal in den Rücken gefallen, auch weil  diese „verfluchten Kommunisten“ Landräuber allergrößten Stiles wären. Finnland hätten sie beklaut, das ganze Baltikum sich einverleibt, Moldauer Gebiete, Ostpolen. Vor Verrätern wollten sich die Gefangenen in Katyn nicht demütigen. Schließlich seien sie ausnahmslos erschossen worden. Ich hatte richtig gehört. Marczinski verfluchte den russischen NKWD als faschistische Mörderbande. Hitler hätte mit den Sowjets, damals, als Kurt in die Deutsche Armee übergelaufen sei, gemeinsame Sache gemacht. Mich interessierte das Thema brennend. Im letzten Urlaub hatten wir mit Freunden das Verbrechen von Katyn sehr konträr diskutiert. Es ging ganz einfach um die geschichtliche Wahrheit, und die Frage, ob Hitlers Männer oder die Kommunisten die nichtaufständischen, wenn auch sturen  polnischen Kriegsgefangenen massenweise erschossen hätten? Mich wunderte damals, im Usedomer Strandsand liegend, dass es überhaupt Zweifel an der sowjetrussischen Täterschaft gab.
Sogar mein Bruder Helmut war der Auffassung, dass es eher Hitler als den Russen zuzutrauen gewesen wäre, das Massaker anzurichten.
Für uns war es ohnehin eine ungeheure Vorstellung, dass Menschen so miteinander umgehen können. Mit Fanatismus habe das nichts mehr zu tun, sagten wir damals, sondern nur mit den atavistischen Neigungen degenerierter Kerle, die von dem einen oder dem anderen System bewusst gefördert wurden.
 „Ich kann es Ihnen nachfühlen, Herr Marczinski.”, erklärte ich, wusste aber nicht, was Kurt übersetzte.
Ziemlich böse äußerte Marczinski: „Rückfälle haben immer schlimme Folgen.“
Auf meine Nachfragen reagierte er leidenschaftlich. Diesen Angriff auf die Blüte der polnischen Nation werde Polen den Sowjets niemals verzeihen. Das werde niemals verjähren. Daran möge ich mich später erinnern.
„Sie wollten die polnische Intelligenz und damit die Seele der Nation ausrotten! Nicht mehr und nicht weniger. Die Sowjets fürchten immer noch ein starkes Polen, so wie sie es früher zu Zeiten des Zaren hassten.” Beide Seiten hätten deshalb gemeinsame Sache gemacht um Polen von der Landkarte zu tilgen.
Marczinskis Gefühle in allen Ehren. Warum war er wütend auf uns, warum auf mich?
Ja, die Preußen! Gemeinsam haben die Preußen Polen mit den Österreichern und Russland 1772, 1793 und schließlich 1795 in Stücke gefetzt.
Feuer eines Hochofens loderte: „Sehen Sie sich an, was die mit uns anstellten: Ausrottung, Löschung jeder polnischen Existenz.”
Marczinski erklärte mir die Landkarte Polens, während der von ihm erwähnten Teilungsjahre: Zuerst nahmen die Preußen den Polen den Bromberger Raum bis Danzig weg, die Österreicher kamen bis vor die Tore Krakaus, das zaristische Russland nahm Wittebsk. Ein Jahr darauf einverleibte Russland sich Minsk und Pinsk, die Preußen Posen und Thorn. Und schließlich verschwand das Land Polen 1795. Der Funke sprang zu mir über. Das viertel Teil Slavenblut in mir erhitzte sich.
Ich erinnerte mich in verschiedenen Napoleonbiographien gelesen zu haben, dass auch der große Bonaparte die Polen zwar als Elitesoldaten in all seinen Feldzügen an den schwierigsten Kampfabschnitten einsetzte und dass er sie stets mit neuen Versprechen zu höchsten Mutleistungen zu motivieren vermochte, doch dass er wahrscheinlich niemals ernsthaft daran gedacht hatte, Polen mit jener Souveränität auszustatten, welche die hochherzigen Söhne des jahrhundertelang immer wieder in Abhängigkeiten gestürzten Landes so heiß begehrten. In dieser Märznacht 1972 fragte ich mich erneut, ob dem Kreml jemals die Integration, der so genannten Volksrepublik Polen, in ihren Herrschaftsbereich gelingen könnte. So viel unverhüllt ausgedrückten Unmut und Widerstand, wie ich ihn von Seiten Herrn Marczinskis gegen den Sozialismus spürte, hatte ich bisher nur selten erlebt.
Kurt übersetzte, während wir den Stadtrand Stettins erreicht hatten, fleißig und wie ich annehmen durfte, auch einigermaßen präzise.
Herr Marczinski ließ mir sagen, wir wären angelangt. Ich stoppte und schaltete den Motor ab. Er drückte mir die Hand und sagte zum Abschied: Wie er dächten und empfänden alle Polen: „Wir werden frei sein oder tot!”, und dann erklärte er etwas, das Kurt mir lachend mitteilte: „Noch ist Polen nicht verloren.”
Herr Marczinski sang es und Kurt stimmte ein.
Unser Partner stieg nun an dieser unbelebten, recht trostlos erscheinenden Straßenecke aus. Er winkte, wir winkten zurück und fuhren langsam davon. Mich beschlich, als wir ihn zurückließen, wiederum das ungute Gefühl, dass wir schlechten Zeiten entgegen gingen. Jeden Tag, jeden Abend überschütteten uns die östlichen wie die westlichen Sender direkt oder indirekt mit Verdächtigungen, die andere Seite plane den großen Krieg.
Manchmal schien es uns, es gäbe gar keine anderen Themen mehr. Schließlich war die Gefahr, dass der so verheerend in Vietnam tobende Krieg, aus denselben Gründen, auch in andere Erdteile getragen werden könnte, sehr real. Noch lagen der Süden Afrikas, Angola, und der November des Jahres 1975 scheinbar in weiter Ferne. Sechzehn lange Jahre hindurch sollten dort jedoch die sowjetisch-kubanischen Interessen und die südafrikanischen Absichten tödlich kollidieren. Millionen Afrikaner sollten Flüchtlinge werden, hunderttausende Unschuldige würden den vollen Preis zu entrichten haben für die Leidenschaft der Großmannssucht beider Seiten.
Der Ausbruch größerer Feindseligkeiten musste auch im süd- und mittelamerikanischen Raum erwartet werden. Dies alles wegen des allgemeinen Konfliktes zwischen Ost und West. Hatte Beier-Red es nicht per Zeichnung prophezeit? Auf diesem Globus kann nur eins der beiden Systeme überleben.
Noch waren auch die Tage fern, in denen die DDR Presse ausführlich über die blutigen Grenzgefechte zwischen den sozialistischen Bruderarmeen Nordvietnams und der Volksrepublik China berichten würde. Noch ahnten wir nicht, dass die Pekinger Kommunisten beweisen würden, dass es ihnen ernst war mit ihrer Betrachtungsweise, Atombomben wären ja bloß Papiertiger. Wie wenig ihnen das Einzelwesen bedeutete, zeigten sie nicht nur während ihrer Kulturrevolution, in der es sogar bei Strafe der Verbannung verboten war, Schach zu spielen oder eine westliche Sprache zu erlernen, oder sogar gebildet zu sein. Die Minenfelder ihres südlichen Feindes ließen sie auf ihre höchsteigene Art und Weise räumen. Sie befahlen ihren Soldaten anzutreten. Schulter an Schulter laufend opferten die Söhne chinesischer Mütter ihre Gliedmaßen und ihr Leben. So schonte Mao die teure Technik.
Die Stasioffiziere Kindler, Zachow, Zander, Plauschinat und andere, die als Hobbyfischer in unserer Baracke am Oberbach aus- und eingingen, waren verlegen, wenn ich sie fragte, wer begreifen kann, was die chinesischen Marxisten trieben.
Müde und in Gedanken versunken, die nur wenig mit unserem Vorsatz der Einfuhr einer neuen Fischart in den Tollensesee zu tun hatten, näherten wir uns der Grenze. Obwohl mir bewusst war, dass selbst millionenfache Friedenswünsche gar nichts am großen Geschichtsverlauf ändern können, stand mir deutlich vor Augen, dass wir andererseits selbst entscheiden, ob wir innerlich frei und sicher mit mühsam gesuchten eigenen Einsichten bleiben, oder ob wir uns verlocken lassen den Weg des geringsten Widerstandes in die Verstrickung zu wählen. Außer durch die Zollbeamten, die möglicherweise doch einen Blick in unser Auto werfen würden und dann nach den nicht vorhandenen Zertifikaten fragen könnten, stand für uns und das Wohlergehen der Coregonen nicht viel zu befürchten. Natürlich war es verboten, was wir taten.
Falls sie unbequeme Fragen stellen sollten, wollten wir den polnischen und den deutschen Zöllnern weismachen, es handele sich unserer Auffassung nach nicht um Tiere sondern um Laichprodukte und das Wasser aus der polnischen Brutanstalt mische sich in der Ostsee ja sowieso mit dem deutschen, noch innerhalb der Grenzen. Ganz schön frech war unser Plan, der darauf baute, dass die gerade von beiden Regierungen beschlossenen Freizügigkeiten im Grenzverkehr auch funktionierten.
Daheim würde dank Reiner Lüdtkes Hinweis alles vorbereitet sein.
Beide komplikationslos ans Stadtleitungsnetz angeschlossenen Zugergläser konnten und sollten unsere ungefähr 300 000 Eier aufnehmen. Zudem hatten wir unsere Gläser in zwei der knietiefen Plasterinnen gestellt. Es war wohl um Mitternacht, als wir am Zollkontrollpunkt ankamen.
„Was wünschen Sie auszuführen?”, fragte der polnische Offizier in Deutsch. Er leuchtete mit seiner Taschenlampe nach hinten und betrachtete die auf dem Hintersitz meines Trabant-Kombi und auf der Hutablage liegenden und anscheinend vom harten Stopp noch erheblich nachbebenden Fünfzigliterplastesäcke. Beide waren bedeckt von zwei dünnen Wolldecken um die Temperatur konstant zu halten. „Jaikas!”, sagte Kurt. „Jaikas!” erwiderte der Zöllner und in seiner Stimme schwang das Schüttern mühsam zurückgehaltenen Gelächters. Er dachte wohl an zerdepperte Eierschalen. „Eier! Na, denn winsche ich guutte Fahrt!” Im Rückspiegel sah ich, wie er sich amüsierte. Die Vorstellung von Rühreiern muss ihn schier überwältig haben. Jungs, so eine große Pfanne haben nicht mal die Berliner!
Auch die deutschen Grenzer behandelten uns großzügig.
Gegen zwei Uhr morgens, wenige Minuten, nachdem wir sie in unsere Zugergläser gegeben hatten, schlüpften die Großmaränen. Die zweifache Umstellung auf neuartige Verhältnisse binnen weniger Stunden löste wahrscheinlich diese “Frühgeburtssituation” aus. Über die an die Gläser geschlossenen Kopfringe und Abflussstutzen samt Gummischläuchen strömten sie zu zehntausenden in die neue Welt.
Der zweite Akt ging somit erfolgreich zu Ende.
Wichtiger als alles andere war nun, die kostbare Brut mit Lebendfutter zu versorgen. Mit Schleppnetzen aus Müllergaze und getrieben von Kutterkraft siebten wir bereits acht Stunden später einige tausend Kubikmeter Tollenseseewasser aus. Hüpferlinge mussten wir fangen, Kleinkrebse, Cyclops.
Am ersten Tag ihres Fischlebens visierten unsere “Nasus”- Maränen die vor ihren Mäulern herumschwimmenden Krebschen nur an und probierten lediglich, wie sie denn zuschnappen könnten. Aber schon vierundzwanzig Stunden später ging die wilde Hatz los.
Drei-, viermal nehmen sie Anlauf, beugen den Schwanz wie ein Hecht und schießen dann, ihre Muskeln streckend, mit weit geöffnetem Rachen auf ihr Opfer zu. Eine größere Nauplie - ein im vorletzten oder letzten Häutungsstadium befindliches Kleinkrebschen oder auch schon ein ausgewachsener Hüpferling verschwindet zwischen den Kiefern der kleinen Fresserin wie eine handlange Plötze zwischen den Zähnen eines Hechtes. Drei lange Wochen ging alles problemlos, verlustlos vor sich. Nicht wie bei unseren vorherigen Versuchen mit den Kleinmaränen, die während der ersten Vorstreckphase zu hunderttausenden verreckten, obwohl sie inmitten von Wolken zuckenden, springenden Futters standen. Ehe wir damals dank “Männe” Taeges Untersuchung erkannten, dass unsere Kleinkrebse die maulgerechte Größe bereits weit überschritten hatten, war es für die meisten unserer Kleinmaränenbrütlinge bereits zu spät.
Großmaränen sind da von Anfang an im Vorteil. Als Brütlinge sind sie nur etwa zwei Millimeter größer, aber das reicht zum Überleben aus. Wie eine Armee hüben und eine andere drüben standen sich in unseren beiden Futterrinnen die Fronten im klaren Wasser gegenüber. Hier die geübten, verwöhnten, überlegenen mittlerweile bereits zwei Zentimer groß gewordenen “Nasus”, da die vor den unersättlichen Fressern zurückweichenden Hüpferlinge, die instinktiv zusammenhalten wie Schafe, die von Hunden umkreist werden.
Da sie sich so im Schwarm bewegten, gab es keine Schwierigkeiten, die Plasterinnen sauber zu halten. Ganz anders als bei den einzelgängerischen Hechten erwischte der Abfallsauger fast nie eine der geschickt ausweichenden Maränen. Blitzsauber konnten wir so die Vorstreckaquarien halten.
In der vierten Woche passierte es.
Wir waren bereits hochmütig geworden.
Bis zum Nachmittag des 22. April kamen sie, die Berliner, Prenzlauer, Warener Kollegen, auch die Nichtfachleute von der Bezirksleitung SED Neubrandenburg. Alle klopften uns auf die Schultern und lachten, wenn wir ihnen vom Husarenstreich erzählten, wie wir die langatmigen Prozeduren der Beschaffung von Zertifikaten umgangen hatten. Wir prahlten schon, dass wir die Fische fingerlang machen könnten, ausgedünnt natürlich unter Inanspruchnahme mehrerer Rinnen. Denn über die verfügten wir ja. Es waren nämlich vier weitere da, und das Futter fiel uns in jenem Jahr fast von selbst zu. Wir hätten mit wenig Aufwand täglich hundert Kilogramm Nauplien fangen können.
Unsere Maränen fraßen wie die Scheunendrescher und sie gediehen prächtig, bis zu jenem schwarzen Aprilmorgen des 23., an dem wir achtzig Prozent tot vorfanden. Die Stadtwerke hatten das Leitungswasser mit Chlor behandelt!
Anruf!
„Nein! Chloriert wurde nicht!” Was dann? Die Taumelbewegungen der überlebenden zwanzig Prozent Nasus zeigten an, dass auch sie nicht überleben würden. Wie ein Blitz schlug die schlechte Nachricht im Institut für Binnenfischerei in Berlin- Friedrichshagen ein.
„Los! Der Fischseuchendienst des VEB Prenzlau muss sofort nach Neubrandenburg fahren. Ursachenermittlung! Vorsorglicher Einsatz von Trypaflavin in für Aufzuchtbecken üblichen Konzentrationen! Neue Weisungen für gezielten Medikamenteneinsatz abwarten.”
Wir hatten alle guten Voraussetzungen übermütig als gegeben hingenommen.
In je zehn Minuten Kutterschleppnetzeinsatz hatten wir Unmengen Zooplanktonten gefangen. Wir konnten mit dem besten Futter der Welt aufwarten. Unsere Rinnen waren perfekt sauber. Das Leitungswasser wies ideale Parameter auf. Und nun ordnete das Institut eine Überprüfung an, ob Großalarm für die Ostseeküste ausgelöst werden müsste. „Wahrscheinlich sind die in den Großhälteranlagen stehenden Forellenbestände gefährdet, durch Einschleppen einer noch unbekannten Krankheit. Jedenfalls ist ein Übergreifen auf sämtliche Lachsartigen im Territorium nicht auszuschließen.”
Deshalb müsse festgestellt werden, was die Zertifikate besagen.
Für ein paar Stunden herrschte Hektik und Kopflosigkeit hoch drei.
Zertifikate? Das wusste selbst die Putzfrau des Institutes, dass wir die „Nasusmaränen” schwarz über die grüne Grenze geschmuggelt hatten.
Nun sollte nachgedacht werden, inwieweit die Polen wegen möglicher Nichtbehandlung ihrer an uns ausgelieferten Laichprodukte zur Verantwortung gezogen werden könnten.
Einer der Übereifrigen meinte, man müsse den Hauptverursacher hinter Gitter bringen. Das war nur der Ausdruck ihres schlechten Gewissens. Sie wussten, dass es eben nicht richtig gewesen war, sich köstlich zu amüsieren über die Nichteinhaltung einer gesetzlichen Vorschrift.
Noch, trotz des ungeheuren Verlustes, hatte ich wegen der Gesamtaktion ein ruhiges Gefühl. Es war doch alles Quatsch. Ein Seuchenerreger fällt nicht vom Himmel herab. Reine Nervensache ist das.
Das Trypaflavinbad muss geholfen haben.
Zwar lag am nächsten Morgen abermals die Hälfte der Überlebenden am Boden, doch es schien, dass es dem Rest der Fische besser ging.
Ich wollte noch abwarten. Unter dem Mikroskop hatte niemand im toten Gewebe Krankheitserreger gefunden, sondern nur Parasiten im Kiemenbereich der Fischchen. Natürlich, man konnte mit bloßem Auge erkennen, dass die Kiemen der Nasus angegriffen worden waren. Kiemennekrose!
Mit dem Lebendfutter mussten wir uns Schädlinge eingeschleppt haben. Wir hätten das Futter in einer Salzkonzentration baden müssen.
Hätten, hätten...
„Ihr wusstet, in solchen Fischkonzentrationen auf engstem Raum könnte solche Unterlassung verheerende Folgen haben.”
Plötzlich waren wir von lauter schlauen Leuten umgeben.
‚Männe’ (Dr. Manfred Taege) riet mir, die Übriggebliebenen sofort auszusetzen.
Keine Widerrede meinerseits. Wenn wir jemals nach Jahren, Großmaränen mit unterständigem Maul fangen würden, dann wüssten wir mit absoluter Sicherheit, dass wir keine bereits im Keim erkrankten oder infizierten Brütlinge eingeführt haben konnten.
Weit weg von Neubrandenburg fuhren wir sie in den Tiefwasserbereich vor Alt Meiershof und entließen dort ungefähr achttausend Stück vorgestreckte Nasus in die Freiheit. Wie gern hätten wir angegeben: Verlustlose Aufzucht von Großmaränen auf Anhieb gelungen. Verzwanzigfachung des Ursprungsgewichtes. Wie gern hätten wir geschrieben: 300 000 Mv ausgesetzt.
Der Ärger der Oberen legte sich. Denn an der Küste passierte nichts, was sich zuvor nicht auch ereignet hätte und die möglichen Beobachtungsobjekte waren von der Bildfläche verschwunden.
(Vier Jahre später fingen wir mit unseren Netzen die ersten zehn Stück Nasus und später immer mehr. Einskommafünf Kilogramm wogen die ersten. Dann fingen wir Dreikilogrammexemplare. Sie entlasteten uns nachträglich.)
Nicht nur ich behaupte, dass die “Nasus” zu den Delikatessfischen gehören. Geräuchert gehören sie zum Besten, was uns die Nahrungspalette zu bieten vermag.
Außerdem bereichern sie als Laichfische das genetische Potential in Seen mit Kleine-Maränenpopulationen durch Einkreuzen, auch wenn diese Vermischung leider immer nur über die Eier der größeren Art erfolgt.
‚Männe’ ging zurück nach Berlin und Wilhelm Bartel starb kurze Zeit später.
Ein besonnener Mann, der nie auch nur einen einzigen Pfennig veruntreut hätte.

 

 

Jürgen


1974 kamen Wolfgang Sittig, Gunnar Tews und Jürgen zu uns. Der erste als Lehrling, der zweite als Diplomingenieur für Fangtechnik/Hochseefischerei, der dritte als Gehilfe, der sich in der Ausbildung zum Meister befand. Gunnar, 24-, und Jürgen, 30jährig, brachten großen Elan mit. Künftig mit den dreißig Quadratkilometern Wasserfläche experimentieren zu können, würde ihnen einen Riesenspaß bedeuten.
Aber es sollte alles ganz anders kommen.
Gunnar war bei einer früheren Operation mit Hepatitis B verseuchtem Blut infiziert worden.
Jürgen dagegen trug einen anderen Keim mit sich, der ihn schon in seinen jungen Jahren extrem halsstarrig machte.
Jürgen, größer als einsneunzig, mit einem Gesicht wie ein Senator, eindrucksvoll fest von Charakter, wie es schien, entschlossen im Verfolgen seiner Ziele, geriet sehr schnell mit den ihm unterstellten älteren Kollegen in Konflikt. Er mochte insbesondere Horst Gruß nicht. Beide ähnelten einander in ihrer Arbeitsweise. Sie konnten sehr geschickt mit Nadel und Messer umgehen und schneller als alle anderen Männer die Fanggeräte herstellen.
Eines Tages beorderte Jürgen, Horst Gruß, an eine bestimmte Stelle im Kastorfer See, der aufgrund seiner Geometrie eine besonders große Uferzone bot. Wir bewirtschafteten dieses Gewässer zum ersten Mal. Der Rat des Bezirkes hatte uns die etwa 80 ha Wasserfläche übertragen.
„Hier baust du die Kastenreuse ein”, wies Jürgen den zwanzig Jahre älteren Fachmann an.
Horst tat, was ihm aufgetragen wurde.
Jürgen arbeitete in ungefähr dreihundert Metern Entfernung mit Gruß um die Wette.
Den großen Kerlen zuzusehen, wie sie mit den teilweise sechs und acht Meter langen Reusenpfählen umgingen, war ein Vergnügen.
Anderthalbe Stunden dauerte das durchschnittlich für die Schnellen, wenn sie wollten. Beide wünschten es einander zu beweisen. Sobald sein Fangeschirr stand, kam Jürgen angerudert. Elegant mit über Kreuz gefassten Griffen an den Rudern, wuchtete er mit seinen langen Armen den kleinen grünen Plastekahn voran.
Als er den jungen Mann ankommen sah, ahnte Gruß schon, er würde kritisiert werden. Jürgen verzog sein Gesicht. Er schüttelte den Kopf missbilligend.
„Die Reuse steht schief!”
Gruß nahm die Zigarre, die er sich gerade angesteckt, ruhig aus dem Mund und blies den Rauch sehr langsam aus. Diese Frechheit riss seine Seele aus der Verankerung. Er war außer sich. Er hätte brüllen können. Seine Reuse stand exzellent da und exakt an dem ihm zugewiesenen Platz. Kein Fisch käme an ihr vorbei. Jürgen kommandierte. „Ausbauen?”, fragte Gruß ungläubig. Seine verwirrten, braunen Augen schauten genau hin um herauszufinden, wie viel Spott da im Spiel sein mochte.
Schon zweimal waren sie aneinander geraten. Das erste Mal, als sie gemeinsam mit der Handelektrode und mit dem tragbaren Stromaggregat unterwegs gewesen waren, um Aale zu fangen. Da hatte Jürgen sich ebenfalls angemaßt, ihn ungerechtfertigt zu rügen. Er sei nicht schnell genug. Man müsse den eiligst aus dem Spannungsfeld fliehenden Aalen die Stange mit der Anode schneller hinterher stoßen um sie zu lähmen und anzuziehen.
Stets entkam ohnehin mindestens die Hälfte aller Fische dem Stromkreis und zwar von denen, die nicht bereits vor den ihnen ja bekannten, nahenden Geräuschen die Flucht ergriffen hatten.
Beim zweiten Mal ließ Gruß sich zu einem Fehler hinreißen. Er wagte es Jürgens Vater zu tadeln.
„Gewiss! Den Murks baust du wieder aus.”
Gruß zögerte eine Weile. Schließlich gehorchte er, wenn auch zähneknirschend, weil Jürgen ihn beim Vorsitzenden Lüdtke noch schwärzer malen könnte.
Er drehte und zog und wuchtete die mehr als einen Meter tief in den Seegrund gerammten Reusenpfähle wieder ans Tageslicht. Stück für Stück. Dreißigmal dieselbe Last und Plage, dieselben gestöhnten Flüche.
Es ist allemal eine ungeliebte Arbeit Großreusen ausbauen zu müssen, weil sich damit keinerlei Fängerhoffnungen verbinden.
Horst Gruß wusste, das war auch die Rache für den Streit, den er einige Zeit zuvor vom Zaune gebrochen, indem er den Genossenschaftsvorsitzenden wüst beschimpft hatte, weil der in sein Fangrevier eingefallen war.
Jürgen stand an jenem Tage noch in voller Manneshöhe hinter seinem Vorgesetzten. Was Lüdtke geschehen war, das konnte ihm passieren. Dem wollte er vorbeugen. Hier sollten ein für allemal die Weichen und Signale gestellt werden.
Definitiv wollte er die Macht- und Rangfrage entscheiden.
Dabei herrschte ringsherum tiefster Friede. Still wie ein Spiegel lag der schöne See. Aller Lärm der Straßen und Plätze rauschte fernab. Rings um sie herum breiteten sich die Bilder mit den weißstämmigen Birken, den Erlen, Eschen und den friedlich grünenden Büschen aus.
Wer die beiden Männer so gesehen, hätte meinen müssen, gegen solche Harmonie könnten sich Vernunftbegabte nicht stemmen. Gruß, der sodann zum zweiten Mal das Geschirr in den See stellte, bemerkte, dass Jürgen ihn beobachtete.
Noch einmal dürfte der ihn nicht kritisieren. Das Maß war voll.
Getraute er es sich dennoch, dann spränge er dem Lulatsch an die Kehle.
Nach genau anderthalb Stunden kam Jürgen erneut angerudert. Mit denselben Bewegungen, mit eben demselben aufregend abweisenden Gesichtsausdruck.
Na, Freundchen, mach’ dich nicht unglücklich.
Gruß glaubte zu ahnen, was sich im Innersten des jüngeren Mannes abspielte. Er spannte sich.
Erkannte sein Brigadier nicht, dass er zurückschlagen wird?
Nein!
Der wollte seinen Kopf durchsetzen.
Als Jürgen den erfahrenen Altgesellen Gruß abermals anmeckerte, stieß der seinen Arbeitskahn jäh vorwärts, um das in seine Nähe vorgerückte kleinere Boot mitsamt dem hochmütigen Menschen zu rammen. Jürgen wich diesem Angriff geschickt aus. Mit zwei kleinen aber kräftigen Ruderzügen drehte er das Wassergefährt auf der Stelle.
Grußens Angriff stieß ins Leere.
Damit war die endgültige Feindschaft zwischen ihnen erklärt.
Für Horst Gruß hatte Jürgen sein Konto weit überzogen.
Gruß, der gewiss zur Hälfte ein Sinti war, bekam Rückenwind, mit Ausnahme von Willi Krage und Reiner Lüdtke. Gruß war nicht irgendwer, sondern eine Persönlichkeit mit großem Kredit bei den andern Kollegen.
So bildeten sich innerhalb der Genossenschaft zwei Parteien.
Wenig später stellte sich auch Dieter Giesa auf Jürgens Seite.
Hermann Göck rang die Hände hilflos, als er irgendwann bemerkte, wie die Dinge sich entwickelten. „Wie ist das möglich?”, klagte er. „In einer so kleinen Truppe, da muss doch Einigkeit herrschen.”
Es herrschte die Unausgewogenheit. An Stelle des kühlen Verstandes, herrschten die hitzigen Gefühle vor.
Jeden Morgen, jeden Abend gab es fortan ohrenbetäubenden Krach.
Nichtigkeiten wurden aufgebauscht, Worte wie Waffen benutzt.
Jürgen hätte erkennen müssen, dass sich niemand jemals völlig unterwerfen lässt. Wer sich die Köpfe und Herzen nicht geneigt machen kann, der zerbricht eher die letzten Brücken, als den Willen eines Menschen. Um das zu wissen war er noch zu jung und zu hart.
Die nächste größere Auseinandersetzung musste kommen. Sie kam sehr schnell. Es ging zunächst nur um eine Frage, die Gruß seinem Brigadier stellte. Der verstand sie falsch, glaubte, er wäre wieder einmal attackiert und gekränkt worden. Er fühlte sich herausgefordert.
Vielleicht hatte Gruß die Frage ausgeklügelt.
Jürgen sollte umgehend Auskunft geben über den aktuellen Stand der Aalplanerfüllung.
Bekannt war, dass Brigadier Jürgen seine Zahlen nur ungern preisgab. „Albern“, fanden das selbst seine besten Freunde. Denn jeder konnte die Summen, wenn auch ein wenig aufwendig, zusammentragen. Ein Wort gab das andere.
Gruß sagte, Jürgen könne wohl nicht bis drei zählen. Jäh in Wut geraten, griff der große, junge Mann unbeherrscht zu. Er zog Horst Gruß an seinem ohnehin langen Hals in die Höhe.
Das war unerhört, und es war gefährlich. Wollte er ihm das Genick verrenken oder die Halswirbel auseinander reißen? Empört berichteten mir Horst Gruß und der immer streitbare Werner Hansen, ein Choleriker ersten Grades, (dabei von voller Männergröße und mit Pfoten die schon mehr als einen ausgewachsenen Keiler aus dem Gebüsch zur Straße geschleppt hatten,) was vorgefallen war. Ich kam gerade aus dem Kühlhaus und war über siebzehn leger dastehende, mit Karpfen gefüllte, Fischkisten gestolpert.
Beide Männer empfingen mich mit hochroten Gesichtern.
Jürgen musste kurz zuvor diese zehn Zentner Karpfen auf die Leichtkühlfläche gestellt haben, statt sie tiefzufrosten. Wer sonst?
Das kann man für eine Nacht machen. Aber nicht drei Nächte und Tage hindurch. Denn es war ein Freitagnachmittag, an dem sich alles zusammen ereignete.
Mir oblag es, das Kühlhaus zu kontrollieren, und da Reiner sich im Urlaub befand, musste ich handeln.
Hier ging es um Gedeih und Verderb von hochwertigen Nahrungsmitteln, für deren Behandlung es einen Katalog von Vorschriften gab.
Und es ging nun auch um Gedeih und Verderb der Genossenschaft.
Jürgen zog sich gerade an. Er streifte sein weißes Hemd über den Kopf, als ich ihn zur Rede stellte.
Sofort gereizt erwiderte er, was ich mir erlaube, ihn vollzunölen. Er wüsste sehr wohl, wer mich vorschickte. Jetzt nütze ich die Gelegenheit aber aus, den amtierenden Vorsitzenden zu spielen, wozu ich ja sonst nicht käme.
Alt genug und demzufolge hinlänglich einsichtig, hätte ich mich von ihm nicht provozieren lassen sollen. Seelenruhig hätte ich ihm sagen müssen, er möge, obwohl bereits umgekleidet, die Karpfen in den Tiefkühlteil stellen und betreffs des körperlichen Angriffs auf Horst Gruß bekäme er von mir einen schriftlichen Verweis.
Aber mich juckte es, den arroganten jungen Mann anzufahren.
Denn knapp zwei Wochen vorher hatte er mich blamiert.
Was ein Hermann Witte sich erlauben durfte, mich meiner religiösen Grundeinstellung wegen, lächerlich zu machen, das nahm er, der fast zwei Jahrzehnte Jüngere, für sich nicht ungestraft in Anspruch.
Hermann Witte hatte den Zuschauern beim Fischfang in Strasburg, dem wahrscheinlich gesamten Kollektiv des Landambulatoriums, detailliert mitgeteilt, was ich für ein Sonderling sei. Er brachte die Lacher damit natürlich auf seine Seite.
Nur Jürgen musste noch eins obendrauf setzen und erklären, „Sonderling” sei wohl nicht der rechte Ausdruck, ich sei ein Worteverdreher. Das traf mich hart. Es klang nicht nur so, er meinte, ich lüge wie gedruckt.
In der Öffentlichkeit wollte ich damals diesen Streit nicht austragen. Aber jetzt kam ich unklugerweise darauf zurück.
Ich sprach nicht gerade ausnehmend höflich mit ihm.
Da fiel er in seinem unbeherrschten Zorn lautstark über mich her, glaubte wir seien unter vier Ohren und er wäre der mir ohnehin Überlegene.
Ungehemmt bezichtigte er mich der Unlauterkeit. Jürgen schrie mich aus der Turmhöhe an, ich könne ihm den Buckel kreuzweise herunterrutschen.
Es musste ihn jemand, der Rang und Namen besaß, gegen mich aufgewiegelt und ihm den Rücken gestärkt haben.
Es so zu formulieren war der Gipfel der Unverfrorenheit.
Überhaupt, was ging ihn mein religiös motiviertes Engagement an? Was hatte das mit den 500kg Karpfen zu tun?
Da betraten seine beiden Kontrahenten den Umkleideraum.
„Aha!”, höhnte er, raffte seine Siebensachen und verschwand ins Wochenende.
Da wir die zehn Zentner Karpfen nicht verkommen lassen konnten, brachten wir die gefüllten Fischkisten in den Tieffrostraum. Mühsam beherrscht schrieb ich den Verweis und händigte ihm das Schreiben am Montag aus. Den Fetzen Papier würde er nie und nimmer anerkennen. Gruß hätte ihn verdient. Am Dienstag, nach seiner Rückkehr, versuchte Reinhardt Lüdtke wieder Ruhe in den zerfahrenen Haufen zu bringen, indem er Jürgen nur unter vier Augen ermahnte und Horst Gruß sowie Werner Hansen beschwichtigte. Damit war ich nicht einverstanden.
Gruß kündigte. Satt vom Gezänk, erwog  auch ich ernsthaft das Kapitel Binnenfischerei aus meinem Leben zu streichen. Da verunfallte Reinhardt Lüdtke, während er sich auf dem Weg zu einer Fischereifachtagung befand. Im Gegenverkehr raste er mit seinem Wartburgkombi unter den Anhänger eines W 50. Durch die Wucht des Aufpralls riss sein Auto des Anhängers Achse aus der Verankerung. Lüdtkes Fahrzeug wurde in diesem Vorgang die Kabine komplett weggeschnitten. Sie haben den Schwerverletzten, der wie ein zusammengestauchtes Bündel dalag, mühsam aus dem Pedalraum herausziehen müssen. Die Gesichtshaut war ihm vom Kinn an bis in Augenhöhe gerissen worden.
Wäre er angeschnallt gewesen, hätte Reiner den Unfall nicht überlebt.
Zufällig war ich nur wenige Stunden später an der Unglücksstelle vorbeigefahren. Verwundert bemerkte ich die Trümmer eines Anhängers und eines Autos, die verstreut im Straßengraben lagen. Ahnungslos, um wen es sich handelte, dachte ich: Das war ein tödlicher Unfall.
Sofort, als ich davon erfuhr, beeilte ich mich, ihn im Krankenhaus in der Pfaffenstraße zu besuchen.
Als sie mich, am dritten Tag zu ihm ließen, sah ich nur die Kissen, die weißen Binden und eine kleine Öffnung um den Mund herum und seine Augen.
Er sprach langsam, war jedoch klar bei Bewusstsein.
Reiner sagte mir an jenem Tag etwas, das ihm wichtiger als alles andere zu sein schien. Er sprach zwar leise und langsam, doch mit gewissem Nachdruck. Es betraf erstaunlicherweise nicht das innerbetriebliche Klima.  Es ging um seine Einstellung zur SED.
Er habe keine Wahl. Beitreten werde er der Partei wohl müssen: „Aber mache dir keine Gedanken!”, setzte er hinzu.
„Eingestiegen bin ich dennoch nicht. Sie haben es versucht.” Redete er von der Stasi?
„Ja, davon. Sie wollten, dass ich mit ihnen zusammenarbeite.” Er stockte: „Nein. Da waren sie bei mir an der falschen Adresse.”
Reiner atmete schwer. Leise setzte er hinzu: „Sei versichert, dass aus mir nie ein Kommunist wird!”
Natürlich begriff ich, was er meinte.
Nachdem er noch mehr dazu gesagt, schwieg er und ich saß eine Weile ratlos. Immerhin galt für mich, er dürfte sich nicht aufregen.
Im Begriff aufzubrechen gab er mir ein Zeichen.
Er möchte mir noch etwas mitteilen.
Es dauerte, bis Reiner wieder reden konnte. Er zögerte auch. Natürlich, da war es wieder. Diese Beklemmung derer, die den Wunsch hegten, sich mir anzuvertrauen. Es gab Themen, die enorm vorsichtig behandelt werden mussten. Man konnte nie wissen, was sich aus einem einmal geäußerten Wort entwickelte. Jede, auch die kleinste Kritik am Regime konnte sich zu einem Ungeheuer auswachsen. Aber das Umgekehrte gab es ebenfalls. Lautstarke Attacken auf den Staat DDR verhallten manchmal auch folgenlos.
Mochten solche Tatsachen von Zufällen abhängen oder Taktik sein, die furchteinflößende Ungewissheit spielte ihre Rolle in jedem Falle wirkungsvoll. Man konnte nie wissen...
Ich kannte einen Oberst, der wurde eingesperrt und musste danach lange einsitzen, nur weil er sich herausnahm, während der Tage des Prager Frühlings, Alexander Dubcek einen tapferen Mann zu nennen. Ein anderer teilte mir mit, welche Arbeit er im Kurierdienst zwischen kommunistischen Bundesbürgern und ‚der Firma’ (dem Staatssicherheitsdienst) leisten sollte, und dass er es strikt abgelehnt hätte, seinen guten Namen als Deck- und Briefkastenadresse herzugeben. Danach fiel er in Panik, weil er sich plötzlich fürchtete, mir gegenüber allzu offen gewesen zu sein.
Kaum jemand war mit seiner SED-Mitgliedschaft glücklich.
Viele, die im Verlaufe der Jahre der Partei beitraten, glaubten eine Möglichkeit zu sehen, sich durch diese Zugehörigkeit in verschiedene Prozesse einmischen zu können. Danach jedoch quälte sie das Gefühl, damit direkt oder indirekt einer Sache zu dienen, die nicht sauber war. Einige Genossen gaben unumwunden zu, dass sie immer wieder mit sich selbst im Hader lagen, ob und wie weit sie sich mit der SED einlassen durften und ob sie die Herrschaft eines Systems stärken durften, das wahrheitsgemäße Differenzierung wie die Pest mied, das nur die Farben Schwarz und Weiß kannte, und Weiß bedenkenlos für sich allein beanspruchte.
Reiners Bedenken gingen ebenfalls in diese Richtung. Er hasse die Bespitzelung und erst recht diesen Geist der Unredlichkeit, in dem die Partei Berichte fälsche, um ihre Wirtschaftspläne wenigstens auf dem Papier zu erfüllen.
Zu jedem schäbigen Trick würden sie greifen um ihre Führungsrolle zu sichern und zu rechtfertigen. Reiner verurteilte die Privilegiensuche nicht weniger maßgeblicher Genossen und distanzierte sich von solchem Benehmen. Dann machte er eine vorsichtige Handbewegung und setzte hinzu: „Ich will versuchen sauber zu bleiben, aber ich komme nicht umhin Genosse zu werden. Ich wollte dir nur sagen, dass ich deshalb nicht blind bin.”
Trotz der Umstände kamen wir an jenem denkwürdigen Nachmittag noch einmal auch auf unsere betrieblichen Probleme zu sprechen.
Den Zank zwischen Gruß und Jürgen habe er nicht verhüten können. „Du musst wissen, Gerd, dass da Dinge gelaufen sind, von denen du nichts weißt. Gruß reizte ihn vor der Kastorfer Geschichte, wo er konnte, heimlich. Man sollte beide Seiten hören, ehe man urteilt. Das weißt du doch. ”
Von meinem Ärger  wegen der Hochfahrenheit Jürgens sagte ich nichts.
Reiner erwähnte, dass Gruß lediglich versucht habe vor sich selbst wegzulaufen, wie Leute, die immerzu nur reisten, um sich selbst zu entkommen.  „Löst das etwa unsere Probleme, wenn man sich ihnen entzieht?”
Ich schämte mich, weil auch ich erwogen hatte wegzurennen.


Wir und der §5, Landbauordnung


Trotz erzwungener Beteiligung an Fischveredlungsprojekten des Kooperationsverbandes “Qualitätsfisch der Mecklenburger Seenplatte” dem wir anzugehören hatten,  war uns gelungen trotz Überweisung von sechshunderttausend Mark, bis 1975 weitere achthunderttausend Mark anzusparen.
Diese Summe hätte ausgereicht, um ein mittleres Wirtschaftsgebäude hinzustellen sowie zusätzlich eine neue Spundwand rammen zu lassen, die wir ebenfalls dringend benötigten.
Aber Geld ist nicht alles. Es floss nach der zweiten Agrarpreisreform reichlich. Nur wir konnten dafür nicht kaufen, was wir wünschten oder benötigten. Wir mussten unsere finanziellen Mittel in zwei Kategorien teilen.
Es gab dem Grunde nach verfügbares und nicht verfügbares Eigenkapital.
Wir hätten zehn Millionen auf dem Betriebskonto haben können, solange sie nicht in den Bilanzen der zuständigen Kreis- oder Bezirksverwaltungen vorkamen, entsprach ihr effektiver Wert Null. Das war seitens der Obrigkeit gewollt.
Sämtliche auf dem Akkumulationsfonds geparkten betrieblichen Finanzen konnten erst nach und durch einen vor dem Finanzministerium der DDR zu verteidigenden Gesamtplan zum Zahlungsmittel befördert werden.
Statt wie früher für eine Tonne Kleine Maränen 1700,-Mark einzunehmen, erhielten wir nun über 9100,-Mark. Das war mehr als das Fünffache.
Anstelle von früher 3,50 Mark je Kilogramm Karpfen, bekamen wir 14,00 Mark und das unter Beibehaltung der Endverbraucherpreise (EVP).
Selbstverständlich konnte das nicht gut gehen. Niemand dreht an der Preisschraube willkürlich und zugleich ungestraft.
Günter Mittags Finanzwissenschaftler, die gehofft hatten ihre Agrar- und Industriepreisreform sei die rettende Idee, forcierten damit lediglich die bereits angelaufene, sich verselbständigende, sozialistische Inflation.
Wir erhielten jedenfalls, trotz unserer guten Finanzlage keine Baukapazitäten vom Rat des Bezirkes. Es gab zwar Versprechungen, weil wir so nicht weiterhausen konnten, aber eben keine Planziffer dafür.
Wir fertigten unsere Reusen und Fanggeschirre immer noch in derselben alten  Bretterbude an, durch die der Wind pfiff.
Der Dachdecker und Bauingenieur Jürgen Krüger gab mir, als wir wieder einmal gemeinsam zur Nacht fischten, den guten Rat: „Baut doch nach §5, Landbauordnung.”
„Und das wäre?”
„Ihr baut in Eigeninitiative!” Beim Rat des Bezirkes wurde unser Antrag positiv gewertet. Sie gaben uns grünes Licht. Die Ratsleute freuten sich über jede Eigeninitiative.
Das war ja bekannt, einer der will, kann zehnmal mehr erreichen als der, den sie antreiben müssen.
Zunächst musste einem von uns der Hut aufgesetzt werden. Ich wollte ihn unbedingt haben und bekam ihn auch.
Dann berieten wir im Vorstand, wie viel Aale ich zur Beschleunigung des Vorhabens, Bau einer Betriebsstätte, zur freien Verfügung hätte.
Falls es partout nicht weiterginge, beabsichtigte ich mit Räucheraalen nachzuhelfen. Rigoros wollte ich das kuriose Geschäft betreiben, allerdings in keinem Falle anders, als ausschließlich zugunsten des Betriebes. Ich wollte vom Sozialismus nicht betrogen werden, also betrog ich ihn auch nicht. „Hundert Kilo höchstens.“, sagte Reiner. Mir schien ich käme mit fünfzig hin.
Schließlich sollten es zweihundert werden.
Das erste Problem bestand darin, dass ich niemanden fand, der umgehend die zum Zweck der Baugrunduntersuchung erforderlichen Bohrungen auf unserem Torfgelände ausführen würde. Wir vermuteten, wir stünden über ungefähr fünf Meter Torf.
Hier und da gab es Achselzucken. Dann ging ich zu einer Firma in der Katharinenstraße. Wieder hing das Kinn des Zuständigen tief herunter. Das kannte ich schon. Sie waren ausgebucht.
Deshalb lamentierte ich nach Kräften: „Wir haben es satt in der Hütte am See zu sitzen und Wintertags zu frieren.”
„Andere Leute frieren mitunter auch!”
Mutig schoss ich hinterher: „Aber ich habe Räucheraale zu bieten!”
Kopfrucken. „Wie bitte?”
„Na, ja, wir fangen welche, wenigstens die Grünen...”
Der betreffende Brunnenbauchef schaute mich noch einmal an, und ich hielt dem argwöhnisch prüfenden Blick stand.
Kess lachte ich ihm ins runde Gesicht: „Für jeden Mann ein Kilo Räucheraale gratis.”
„Moment mal!”, lautete die nicht unfreundliche Erwiderung. „Ich muss mal in den Kalender sehen... tja da haben wir,... da hätten wir,... sagen wir nächste Woche...”
Sie bohrten von Hand, primitiv wie vor hundert Jahren und stellten fest, dass wir sogar über sechs Meter Torf bauen mussten. Die Bohrkerne mussten analysiert werden.
In einem Labor im Industrieviertel gab es freie Kapazitäten.
Ebenfalls kein Problem die fünfundvierzig Stück, zehn Meter langen Stahlbeton-Rammpfähle zu kaufen. Rammkapazitäten standen uns desgleichen zur Verfügung, wenn auch nicht sofort.
Auch die Eisenbieger mussten nicht überredet werden, da wir zur Ausführung der Flechtarbeit die Genehmigung erhielten, Fachleute für die Feierabendtätigkeit zu werben und sie leistungsgemäß zu entlohnen.
Aber dann stellte sich uns das erste größere Hindernis in den Weg. Beton erwies sich als Engpass. Denn wir benötigten 180 Kubikmeter in einem Ritt. Alle Lockungen mit Räucheraalen halfen nicht.
In der ganzen Umgebung gab es keine Mischanlage, die uns außerplanmäßig den Beton für die Fundamentplatte liefern konnte. Der April des Jahres ‘78 verging, der Mai und der halbe Juni. Keine Aussicht. Hartmut Wißmann vom Tiefbaukombinat machte mir dann wieder Hoffnung, zugleich winkte er verächtlich ab. „Du mit deinen Räucheraalen!”, kritisierte er scharf. „Soll ich mir die 200 Kubikmeter aus den Rippen schneiden? Ende Juli eventuell.”
Wenn die neue, aus dem Westen kommende Mischanlage getestet würde, dann... vielleicht.
Ich rechnete. Wir hassten es, daran zu denken, dass wir noch einen Winter in der Holzhütte zubringen sollten. Im Juli, das ginge noch. Wir könnten es schaffen, im Januar ins neue Gebäude zu ziehen.
Im Juli erkrankte die Großmutter des Mannes, der die Westtechnik installieren sollte. Im August wurde desselben Mannes Nichte krank. Im September gab es noch ein Problem.
Mir leuchtete durchaus nicht ein, dass von der Gesundheit unbekannter Westnichten und Westomas unser Wohlergehen abhängen sollte.
Hartmut Wißmann ärgerte sich ebenfalls.
So sei das mit den Abhängigkeiten von BRD-Importen.
„Hast du denn schon die Steine und die Fensterrahmen? Hast du die Dachbinder und die Klempner-, die Elektriker- und Fliesenlegergewerke sicher?”
„Ich habe Zusagen.”
„Zusagen sind keine Steine. In Eggesin kann man gelegentlich Hohlbetonsteine erwerben.”
Telefonate.
„Ne, sie kommen in diesem Jahr zu spät. Wo denken sie hin? Steine sind Goldstaub!”
Ich schluckte. „Aber sie haben mir doch gesagt...”
„Gesagt, lieber Mann, gesagt habe ich gar nichts, nur mal nachgedacht, wie ich ihnen helfen könnte.”
„Ich habe Räucheraale!”
„Mögen wir gar nicht. Aber wenn sie Zeit und Leute mitbringen, dann produzieren sie sich die Steine selber.” Mir stockte der Atem.
„Reiner, wir müssen mit ein paar Mann nach Eggesin fahren und Steine machen.”
 „Ihr habt Fische zu fangen, ... aber wenn’s denn durchaus sein muss...” Wir setzten uns zu viert in meinen kleinen Trabantkombi und fuhren nach Eggesin, in fünfzig Kilometer Entfernung. Dort schütteten sie uns den Fertigbeton auf ein Freigelände hin.
Von Hand schaufelten wir die Mischung in die Formen am Fuß der von uns gemieteten Rüttelmaschine. In jeweils ungefähr je fünf Minuten stellten wir vier Hohlblöcke her, die nur noch abbinden und trocknen mussten. Das Gerät schüttelte uns genauso zusammen wie das leblose Material. Noch im Schlaf spürten wir die Rüttelei.
Am letzten Tag, an dem wir die noch fehlenden dreihundert Stück fertigen wollten, ließ sich plötzlich mein Trabantgetriebe nicht mehr schalten. Immerzu, sooft ich es versuchte, es rastete der vierte Gang nicht ein.
Telefonate hin und her. Wir mussten uns beeilen. Schließlich mussten wir ja auch unseren Fangplan erfüllen. „Im Augenblick haben wir keine Ersatzteile!”
„Auch nicht für Räucheraale? Naja! Zwei, drei Kilogramm hätte ich übrig.“
„Tut mir leid.”, erläuterte Werkstattmeister Roland. „Zwei Kilo kostet mich schon die Überredung im Hauptlager.”
Mit Ach und Krach gelangte ich bis zur Reparaturwerkstatt.
„Dann baut mir doch bitte auch gleich eine neue Auspuffanlage ein.”
Großes Stirnrunzeln.
„Mein lieber Mann, wir haben zwar zehn Stück Vorschalldämpfer bekommen, aber nicht einen einzigen Hauptschalldämpfer...”
Am zweiten Oktober gossen sie endlich die Bodenplatte, am fünften legten die Maurer der bunt zusammengewürfelten Feierabendbrigade den ersten selbstgefertigten Hohlblock auf die als Sperrschicht dienende Dachpappe.
Für Feierlichkeiten und große Reden war an diesem späten Nachmittag des Baubeginns keine Zeit. Es dunkelte bereits. Noch konnte man die Zeichnung Robert Brenndörfers lesen. Große Lampen hatten wir bereitgestellt. Doch die erhellten das Baugelände nur partiell taghell.
Den betriebsfremden Handlangern und Maurern sagten wir eine Prämie zu. „Wenn Ihr den Rohbau bis zum 20. hochgezogen habt, dann...”
Löthe, wie sie ihn nannten, der Baubrigadier, maulte, „na, ja, bloß Geld...”
„Jeder bekommt zwei Kilogramm geräucherte Aale obendrauf.”
Da rief „Löthe” schallend: „Männer, rangeklotzt, es gibt was für Muttern!”
Am siebenten ging es mit voller Kraft weiter. Zum Glück war das ein Feiertag und wir hatten einen ganzen Tag vor uns. Reiner, unser Vorsitzender wuchtete und schob von früh morgens bis spät abends das Baumaterial heran. Er lief als wäre Steinekarren sein Hobby. So keimte wiederum die Hoffnung auf, dass wir es bis zum Frosteinbruch doch noch schaffen könnten.
Inzwischen stand fest, dass wir die Dachbinder der geforderten Abmaße und Norm nirgendwo erwerben könnten. „Meines Wissens hat die Tischler-PGH ‚Vorwärts’ in Neubrandenburg Beziehungen zu einer der Herstellerfirmen in Anklam und Pasewalk. Die sind zumindest im Besitz der Nagelpläne.”
Ohne weiteres erhielt ich in Anklam außer den Nagelplänen noch ein paar gute Ratschläge, doch niemand ließ sich von mir verleiten, die erforderliche Menge Latten und Bretter zu verkaufen um daraus die Brettbinder herstellen zu lassen.
Die Tischlergesellen waren bereit, eine Sonderschicht einzulegen, zumal ich unmissverständlich eine besondere Delikatesse in Aussicht stellte.
Nur konnte ich durchaus keine Bretter bekommen.
Vorsitzender Emil Tilp zuckte mit den Achseln. Er möchte, könne uns aber nicht helfen: „Material musst du mir schon anliefern!”
Sein Holzkontingent sei voll ausgelastet. „Geh zum Rat des Bezirkes, die vergeben mitunter noch freie Kapazitäten! Aber du musst dich durchsetzen.”
Jürgen Meyer, den Leiter des Bereiches Binnenfischerei, suchte ich da zuerst auf. „Wärst du doch ein Jahr früher gekommen, ich hätte dir die dreißig Festmeter Holz besorgen können.”
„Mensch, Jürgen, ich brauche sie jetzt...”
„Tut mir leid. Geh mal zu Horst.”

Horst G., der an diesem Tag in der Abteilung Forstwirtschaft seinen Dienst versah, hörte mich zwar geduldig an, schüttelte jedoch hinterher missmutig den Lockenkopf. „Dat ihr Kerle auch immer auf die letzte Minute angekleckert kommt. Bin ick die Feuerwehr?”
Leider war das bezirkliche Forstamt nicht so schnell wie  die Feuerwehr, aber ich stand unter Druck wie ein erhitzter Dampfkessel über Flammen.
In meiner Naivität hatte ich zu lange geglaubt, Binder problemlos einkaufen zu können.
„Glaube macht selig, backen macht mehlig!” den Kinderreim hörte ich bis zum Verdruss. An jenem Nachmittag im Spätherbst ’78 verließ ich das weiße Gebäude am Friedrich-Engels-Ring mutlos. Weder wortreiche Überredung noch Betteln, noch meine massiven Bestechungsversuche hatten mir den ersehnten Erfolg beschert. Da trollte ich mich nun niedergeschlagen davon, besaß zwar die Nagelpläne und die Zeichnung für das planmäßig mit Eternitplatten zu deckende Dach, hatte sogar Räucherdelikatessen und konnte mit alledem nichts anfangen.
Ärgerlich rollte ich meine Papiere zusammen und fluchte, weil ich mit leeren Händen dastand.
Vor Wut hätte ich explodieren können.
In diesem Augenblick sah ich einen stattlichen, mit geflochtenen Achselstücken geschmückten Forstmann auf mich zukommen.
Der kam mir gerade recht. Wie durch ein Zielfernrohr visierte ich ihn durch meine dreiviertelmeterlange Rolle an. Als er bis auf zwei Meter herangekommen war, fuhr ich ihn an: „Euch Förster müsste man samt und sonders erschießen!” Er stutzte. Er musterte mich. „Genosse, was hast du denn für Probleme?”
Und wie mitfühlend er das sagte! „Genosse!”
Zum ersten Mal, wie mir schien, verstand mich einer und litt mit mir.
„Ich muss spätestens im November das Dach auf unser neues Wirtschaftsgebäude setzen. Wir haben nach § 5 gebaut. Niemand in deinem Haus gibt mir ein Holzkontingent. Uns wird der Winter dazwischenkommen.”
„Wo kommst du her?”
So und so!
„Komm mal mit!”
Es war mir zumute, als wäre ich in die Kindertage zurückversetzt worden und Mutter hebt mich hilfeschreienden Knirps liebevoll vom kalten, nassen Fußboden auf.
Genosse Skibbe!
Wären alle Menschen der Welt so wie der da, mit seinen dicken Achselklappen...
Ich las das Schild an seiner Tür. Nur wenige Sekunden telefonierte er, der Oberlandforstmeister Siegfried Schreib, mit irgendjemand.
„Also dreißig Festmeter Lärche oder Fichte! Die kriegst du! Für deinen Betrieb allemal.”

Das war es, was die Besten unter den ‘Kommunisten’ wollten, Solidarität. „Wann bekomme ich das Holz?”


„Eingeschlagen ist es schon... muss nur noch gerückt werden.” Es läge da und da in den Tiefen der Neustrelitzer Forsten. „Du kannst die Stämme ab übermorgen abfahren lassen!”
„Wir fahren übermorgen nach Leningrad, Betriebsausflug.”
Er schmunzelte, statt mich auszuschimpfen.
Ich lachte innerlich, das war die Sorte Leute, die ich mochte.
„Wird dir die Zeit knapp, was? Muss ja noch geschnitten werden und noch genagelt, nich?”
Ich nickte ein bisschen hilflos, vielleicht tauschen sie. Er winkte ab. „Keine Experimente! Ich lasse dir die Stämme nach Zwiedorf ins Sägewerk schaffen!” Er setzte sich an einen anderen, mit Papieren übersäten Schreibtisch, schob den Aschenbecher beiseite, nahm einen Kalender zur Hand und schrieb etwas auf. „Hier hast du den Termin für den Schnitt.”
Mit Schrecken sah ich, das war die hohe Zeit für die Nachtfischerei auf Maränen.
Meine Reaktion fiel ihm auf.
Er fragte nicht lange. Nur ein kurzer Blick.
„Ich sehe schon. Diesmal fahrt ihr in den Kaukasus. Hier hast du einen neuen Termin fürs Sägewerk.”

„Dafür gebe ich dir fünf Kilogramm Räucheraale!”

Er schüttelte den geröteten, breiten Kopf. „Deinen Aal will ich nicht. Es war mir eine Freude, dir helfen zu können.”
„Ach was.”, wehrte er bescheiden ab, als ich ihn lobte und mich bedankte: „Sieh zu, dass du das Dach draufbekommst!”
Mitte Januar, einen Tag bevor der Winter richtig zuschlug, zogen wir in unseren durch Nachtspeicheröfen herrlich beheizten Neubau ein. Es gab im Sozialismus tatsächlich noch Freude.

 

Das Ende einer Ära


Entsprechend der staatlichen Planvorgabe mussten wir zwischen 1978 und ’85 alljährlich mehr als 200t Fische fangen, und zwar unter ständiger Reduzierung des noch hohen Futterfischanteils. 
Und das bei zunehmender Eintrübung unserer Seen.
Probleme in Hülle und Fülle. Die abfließende Gülle selbst aus kleinen und kleinsten Viehbeständen machte dem Tollensesee sehr zu schaffen. Er verträgt nur kleine Mengen solcher Düngung. Sonst explodieren die Kieselalgenpopulationen und diese ständige Verdoppelung wird erst gestoppt, wenn keine Nährstoffe mehr zur Verfügung stehen, dann aber erfolgt das Massensterben der Algen. Sie sinken faulend auf den Seegrund und wehe, wenn dort nicht genügend Sauerstoff vorhanden ist, dann klaut die verrottende Algenpampe den Fischen sozusagen die Luft. Schlimmer, es entstehen bei dem Mineralisierungsprozess Gifte, darunter der tödliche Schwefelwasserstoff. Große Areale des Seebodens wiesen bereits ab Juli jeden Jahres, nach 1980, nur noch Null Milligramm Sauerstoff aus. Alarm! Alarm!
Zudem nahte zwischen mir und Jürgen der Tag der Entscheidung zwischen seinen und meinen Anhängern. So konnte es mit uns nicht weitergehen. Reiner vermochte es nicht, die beiden Gruppen zu einigen.
Jürgen, der gelegentlich sogar phlegmatisch wirkte, gab nie nach.
Werner Hansen und ich ebenfalls nicht. Immer häufiger gerieten wir als Gruppen aneinander. Es wäre das Letztdenkbare für mich gewesen, gegenüber dem wesentlich Jüngeren, nur weil er statt der geforderten fünf Knoten, sechzehn verschiedene zu knüpfen vermochte, allzu behutsam aufzutreten. Hätte er sich nicht selber für perfekt gehalten, wäre er vielleicht, irgendwann, perfekt geworden.
Jürgen sah gut aus. Er konnte sich, seiner beachtlichen Körperkräfte wegen wie ein Ross in die Sielen legen, war vorbildlicher Familienvater, schielte offensichtlich nicht nach den Röcken anderer Frauen, handelte, wie er dachte. Eigentlich ein idealer Mann.
Nur ob er immer richtig dachte, das erwog er nicht jeden Tag aufs Neue.
Das war es. Seine Überzeugungen hielt er für hinlänglich abgerundet. Er stellte sie, wie mir schien, nur selten wiederholt in Frage.
Er war starr und stur wie ein Betonklotz.
Mit Werner Hansen hätte er längst Frieden schließen können. Aber dagegen stand der alte, nie überwundene Groll wie ein Bollwerk.
Gemeinsam rackerten sie. Und doch stießen sie einander bei der geringsten Differenz so geräuschvoll ab, als prallten zwei große Glocken gegeneinander. Uns dröhnten dann jedesmal die Ohren.
Einmal, kurz vor Weihnachten 1986 war das gewesen, mitten in einer offiziellen Zusammenkunft, gerieten sie heftig in Streit.
Um eine Nichtigkeit ging es. „Du hast den LKW ohne Erlaubnis für Privatfahrten genutzt” warf Werner Hansen ihm vor.
„Aber nur in Verbindung mit einer Dienstfahrt!”, verteidigte Jürgen sich.
„Twintig Kilometer Ümwech sünd doch beten veel!” 172
Dafür hätte er die festgelegte Kilometerpauschale bezahlen müssen und: „Du, Werner Hansen, spionierst ja hinter jedem her!”
„Was? Ich?”
Beide Recken sprangen zugleich auf ihre Beine. Die Blicke wie Boxer ineinander gesenkt, rückten sie wutentbrannt gegeneinander. Gleich würde es krachen. Das fehlte uns noch. Eine Keilerei in einer Mitgliedervollversammlung. Schneller als Reiner, der die Versammlung leitete, reagierte ich und erhob mich spontan, ging dazwischen.
Da stand ich nun zwischen zwei Schwergewichtlern, die einander wie Todfeinde hassten. Von rechts oben kam etwas, von links oben nicht minder. Es fiel auf mich herunter.
Nichts war zu sehen.
Unsichtbar fuhren mir harte, kalte Hände an die Gurgel. Nie zuvor hatte ich ein vergleichbares Gefühl erlebt. Mir schien, ich stünde nackt da. Rings um meinen Körper legte sich nasse, eisige Watte. Ich glaubte plötzlich, ich sei gelähmt. Wie schwarzer Schnee fiel der Hass auf mich herunter. Erschrocken wollte ich mich zurückziehen. Ein, zwei Schritte entfernte ich mich aus dem Zentrum des Negativen. Zu spät. Meine Augen begannen außer Kontrolle zu geraten. Sie rotierten. Der kleine Raum drehte sich um mich. Sekunden später brach ich zusammen.
Erst als sie mich am Boden liegen sahen, hörten sie auf sich anzugiften.
Ein Krankenwagen musste kommen. Ich fand mich außerstande, die Bewegung meiner Beine zu koordinieren. Buchhalterin Inge und Reiner hoben mich auf die Trage. Ich spuckte, das war mir peinlich, aber was half es?
Eine altersbedingte Blockade des Stammhirns wurde diagnostiziert. Was mich niedergeworfen hatte, war überwiegend die Auswirkung der Kälte gewesen. Sie bewirkte, dass meine Gefäße sich zusammenzogen.
Noch tagelang drehte sich das Karussell in meinem Schädel weiter.
Da erkannte ich, dass es die vielleicht schlimmste Strafe wäre, Menschen der Kälte des Hasses auszusetzen. Etwas, das die Richter jeden Tag taten. Menschen müssen geheilt und nicht dem Erfrieren ausgesetzt werden.
Sechs lange Wochen dauerte es, bis ich wieder arbeiten konnte.

Kurz nach den „Volkswahlen” im Mai ’89 sprachen mich mehrere Leute an. Fast übereinstimmend beurteilten sie die  Lage der SED negativ: „Diesmal sind sie noch mit einem blauen Auge davongekommen. Das wird nächstes Mal anders aussehen!”
Ich fand niemanden mehr, der die SED für kompetent hielt, die wirtschaftliche Misere zu überwinden. Sämtliche Engpässe in der Versorgung lagen offen zutage. Das sozialpolitische Programm erschien allenfalls noch den jungen Müttern als realisierbar. Die LPG erhielten schon längst nicht mehr die Technik, die sie im Zuge der laufenden Instandhaltung ihrer Maschinenparks dringend benötigten. Schon einige Jahre vorher hatte Werner Felfe, Mitglied des Politbüros der SED und zuständig für Landwirtschaft, Binnenfischerei und Forstwirtschaft während der Statutenkonferenz in Leipzig, auf Anfragen der in Wirtschaftszwänge geratenen LPG-Vorsitzenden, erklärt: Helft euch selbst, dann hilft euch der liebe Gott.
Das sagte alles. Zudem wurde seit langem der Kraftstoff für Industrie und Landwirtschaft rationiert.
Seit vielen Jahren wurden immer mehr LKW nach Irak geschickt. Dort herrschte zwischen 1980 und ’88 grausamer Krieg mit Iran, den die DDR Regierung insofern unterstützte, als sie wüstenfähige W 50 lieferte und indem sie zumindest für Irak die Panzer reparierte und dafür Erdöl und Devisen erhielt.
Manchmal dachte und fragte ich mich kopfschüttelnd, ob die zuständigen Genossen wohl beten, dass dieser Konflikt um den Grenzverlauf am fernen Schatt al Arab nie aufhören möge?
Jeder sah jahrelang die Zugtransporte mit diesen gelben LKW durch die Landschaft rollen. Viele empfanden großes Unbehagen. Mehr und mehr Ausreiseanträge wurden gestellt. Auch Ärzte suchten das Weite.
Nicht selten klagten Chirurgen, dass technische Mängel sie nötigten die Grenzen des Vertretbaren zu unterschreiten. Düsternis lag über uns. Es herrschte eine Stimmung wie unmittelbar nach dem Krieg.
Mein Gartennachbar, der ebenfalls große Lust verspürte, in den Westen zu gehen, ein Mathelehrer und Genosse, sagte, er hätte diesmal die Wahlkabine benutzt.

„Ich auch!”, lautete mein Echo

Er habe probeweise ’mal die Hälfte der auf den Zetteln stehenden Namen gestrichen, aber bewusst nicht alle. Das behalte er sich für die nächstanstehende Wahl vor. Als wäre ich ein Papagei: „Ich genauso!”
Noch lag der dramatische August in gewisser Entfernung, doch das Ereignis warf bereits seine Schatten voraus.
Den üppigen Auslagen in Intershopläden standen nur klägliche Angebote in den HO-Geschäften gegenüber. Die Abwärtskurve im Sozialismusdiagramm hatte zusätzlich einen scharfen Knick bekommen.
Hervorgegangen aus der Gesellschaft der Arbeiter- und Bauernklasse, gab es Leute mit buchstäblich sich auszahlenden Westbeziehungen und verfügbarer Valuta. Diese Gruppe stellte sich damit, zum Ärger aller Linientreuen, effektiv als Sonderklasse dar, die zumindest bei Karl Marx noch nicht vorkam.
Nur für sie gab es Zugriff auf wenigstens dreißig Sorten Schokoladen sowie weitere zweihundert Sortimente Genussmittel. Die Minderbemittelten dagegen suchten in den beängstigend kahlen Regalen der DDR-Geschäfte vergeblich nach Artikeln, die es vor Jahren bereits gegeben hatte. Hier roch es lediglich nach Kartoffeln und Armut.
Da, im West-Shop gab es alles.
Schnaps allerdings konnte jedermann für DDR-Mark in zahllosen Varianten und überreichen Mengen kaufen. Von jeweils sechs Regaletagen waren mindestens zwei mit Spirituosen gefüllt. Aber kaum Auswahl an Süßigkeiten. Ein paar Bonbons in Plastetütchen lagen schmucklos herum. Besseres bekam man zu überhöhten Preisen, gleich nebenan im Delikatladen.
Unsere DDR-Gemüsestände wurden von denen, die ihre Onkel und Tanten in Hamburg und Lübeck besuchen durften, erst nach der Rückkehr so richtig bedauernd belächelt.
Warum können die das?
Warum ist solche Angebotskultur bei uns nicht möglich?
Was sind die wirklichen Ursachen dafür, dass wir vierzig Jahre nach Kriegsende mit zunehmender Verknappung leben müssen? Werden wir der Mangelwirtschaft denn nie entrinnen? 
Das waren die kleinen, aber entscheidenden Fragen. Auch wer in seinem Portemonai kein Westgeld trug, ging gelegentlich in einen Intershop um zu sehen, was alles möglich war. Unwiderstehlich übte die Glitzerwelt der Konsumgesellschaft ihren Reiz aus. Auch wenn man sie nicht als wirklich erstrebenswert betrachtete, sie war der Ausdruck für die Verwirklichungsmöglichkeiten von Ideenvielfalt in einer liberal orientierten Gesellschaftsordnung. Andererseits bewunderten führende Genossen, was DDR-Bürger zustande bringen konnten, wenn man ihnen dafür Freiräume bot.
Binnen Wochen stampften sie ganze Laubenkolonien mitsamt ihren Kleindatschen aus dem scheinbaren Nichts. Händeringend beklagten DDR-Minister: „Hätten wir doch vollen Zugriff auf dieses Potential an Initiativvermögen!” An solchen Stellen zeigte sich, dass Freiheits- und Eigenliebe Werte sind, die Menschen sich niemals rauben lassen werden.
Das unterschätzten die Kommunisten.
Stur glaubten sie, das gesellschaftliche Sein, egal wie es hergestellt würde, müsste das gesellschaftliche Bewusstsein radikal umkrempeln. Das war der unerfüllbare Tagtraum nicht weniger marxistisch-leninistischer Ideologen und Philosophen.
Hier gab es staatliche Planauflagen, die häufig genug nichts weiter als Wunschauflagen waren. Deshalb wurden sie trotz Ach und Krach selten oder nie erfüllt. Im Westen dagegen herrschte freier Wettbewerb, mitsamt seinen riesigen Vorteilen, aber auch versehen mit dem grässlichen Makel straflos wirkender Brutalität gegen Konkurrenten.
In einem Punkt der Bewertung waren sich im letzten Jahrzehnt des „real existierenden” Sozialismus alle DDR-Bürger einig. Die Sozialismusidee konnte weder mit Gewalt noch mit List durchgesetzt werden, sie jedoch freiwillig zu leben würde den Idealismus einer Mehrheit voraussetzen, die sich wahrscheinlich nicht finden wird, und, - würde diese Mehrheit dennoch zustande kommen, dann wäre das, was sie hervorbrächte, etwas völlig Anderes als der Sozialismus, den sich Erich Honecker und sein Freund Mielke vorstellten.
Nie wird einer hinlänglichen Zahl von Produzenten einfallen, aus blankem Staatsbewusstsein Mehr-Arbeit in die Qualitätsverbesserung ihrer Erzeugnisse zu stecken.
Partei und Regierung haben immer wieder auf diesen Gesinnungswandel gehofft, obwohl ihre Köpfe angeblich dialektisch dachten.
Es ging allen Betroffenen wie uns Fischern. Weil uns und ihnen die Mehrleistung nicht mehr vergütet wurde, unterblieb sie. Der Staat konnte diese Mehrleistung nicht honorieren, weil sich bereits viel zu viele Geldscheine in Umlauf befanden.
Für uns Binnenfischer in Neubrandenburg war die Konsumtionshöhe vom Rat des Bezirkes längst festgeschrieben worden. Gleichgültig, wie viel wir mehr produzierten. Unser Verdienstlimit lag definitiv bei einem Durchschnittsverdienst von 14.4 TDM Netto im Jahr.
Dieser Monatsverdienst von 1200,- Mark (Prämien eingerechnet) war zwar vergleichsweise beachtlich. Nur, das Wissen um diese Grenze spornte nicht an. Einmal fehlten uns exakt zehntausend Mark an der Gesamtplansumme von 480 000.
Möglicherweise hinderte uns dieses geringe Minus daran das Limit zu erreichen. Wir fischten deshalb unter Lebensgefahr in Woldegk auf nur fünf bis sechs Zentimeter starken Eis.
Es bogen sich die Kerneisflächen. Aus gewisser Entfernung bemerkte ich, wie die mit dem Zugnetz beladenen, aus Gründen der Vorsicht, weit voneinander entfernten Schlitten, die von den Männern gezogen wurden, sich ständig bergauf bewegten. Im Zentrum der Last war die gerade so tragende Eishaut mindestens einen viertel Meter eingebeult. Jeden Augenblick musste die schwache Kristalldecke bersten. Ich sah schon, wie meine Kollegen zwischen den Eissplittern um ihr Leben kämpfen würden. Man fischt nicht, bevor der Eismantel Sicherheit bietet. Erst fast an Land angekommen, brach Reiner Lüdtke durch. Zum Glück war an dieser Stelle des Ostufers des Woldegker Sees der Untergrund fest.
Wir fingen genau die Menge Fische, die den fehlenden zehntausend Mark entsprachen.
Aber als wir sie verkauft hatten, stellte sich heraus, dass sie Überplanmenge waren. Ein kleiner Fehler in der Buchhaltung.
Jürgen Kreusch, Sekretär des Kooperationsverbandes “Qualitätsfisch der Mecklenburger Seenplatte” zuständig für Konsumtion und andere Finanzen der angegliederten Betriebe, nahm weisungsgemäß den Rotstift und strich die zehntausend Mark aus der Verdienstberechnung.
Ich schaute ihn an, als wir ihm unseren Jahresabschlußbericht vorlegten. „Wir haben die zehntausend unter Lebensgefahr zusammengebracht, das muss sich doch für die Beteiligten finanziell auszahlen!”
„Nix ist!”, erwiderte er, “ ihr verdient doch genug Geld.”
Dann zuckte er mit den Achseln.
Ich wusste zwar, dass er so entsprechend den Direktiven, die er von seinen Vorgesetzten erhielt, handeln und reden musste, doch ärgerlich war ich trotzdem und verschaffte mir Luft, indem ich ihm und andern Leuten sagte, was ich dachte.
Mir wurde dennoch erlaubt, in den Westen zu reisen. Eine richtige Tante zwar, aber die ich noch nie gesehen hatte und die ich auch gar nicht sehen wollte, feierte ihren 75. Geburtstag. Das gab meinem Sohn Hartmut und mir die Gelegenheit nachzuschauen, wie es ‚drüben’ aussieht.
Gespenstisch wirkten auf uns diese Menschentransporte, die wir kurz vor dem Zusammenbruch der DDR in Berlin erlebten: Zu Dutzenden saßen die jungen Stasileute in den Bussen, um in die Bereiche gefahren zu werden, in denen ihr operativer Dienst erforderlich zu sein schien. Ich sah diese unlustigen Gesichter. Ich sah die Fragen und die Unsicherheit in den Augen der vielen Mitarbeiter des Mielke-Apparates.
Wir sahen auf dem Bahnhof Friedrichstraße die Offiziere des Sicherheitsdienstes mit ihren buchstäblich schnüffelnden Hunden durch die bereitgestellten Züge streifen und schüttelten verstohlen die Köpfe.
Was hätte Heinrich Heine geschrieben, wäre sein “Deutschland, ein Wintermärchen” erst jetzt entstanden? Ende Oktober 1989 hatte mir der Abteilungsleiter für Land- und Forstwirtschaft vom Rat des Bezirkes eine Reise nach Sotschi zugesprochen. Erikas Anteil mussten wir selbst tragen, dennoch nahmen wir dankbar an.
Zeitgleich begannen auch in Neubrandenburg die Montagsdemonstrationen.
Ich konnte mir damals nicht vorstellen, dass sie zum völligen Sturz des Weltkommunismus beitragen würden. Ich gehörte zu den Zweiflern, unsere Buchhalterin Inge Schoemann dagegen zu den Aktivisten der neuen Zeit. Mir war nicht völlig klar, dass das System inwendig total zerfressen war, dass keine Machtstruktur es mehr zusammenhalten konnte, dass auch der Druck auf die rote Taste nichts mehr geändert hätte. Ich hatte mich geirrt, und das, obwohl ich doch immer wieder behauptete, dass innere Unwahrhaftigkeit den Tod jeder Sache herbeiführen muss. Das war meine eigene Inkonsequenz. Deshalb sagte ich tadelnd zu Inge Schömann: „Was soll werden, wenn ihr das Haus einreißt, in dem wir wohnen?”
Da lachte sie. „Kaputt ist es schon, reißen wir es ganz ein, bauen wir ein neues!”
Sie gehörte seit eh und je zu den Optimisten.
Dabei hatte ich bereits vier Wochen vorher, am Montagabend, den 9. Oktober 1989, im Schein meiner Taschenlampe auf dem Tollensesee, während die Motorwinden unser großes Zugnetz durch die Tiefen zog, den “offenen Brief” Hermann Kants gelesen. Ich saß auf der wärmenden Blechhaube des Kuttermotors, den Rücken an die Kabinenwand gelehnt, schaute zu den Sternen auf, hielt diese Zeitung Nr. 237 der “Jungen Welt” in Händen und mir war ähnlich zumute wie in jenen Frühlingstagen 1956, nachdem Chrustschow mit seinen Genossen Tacheles geredet hatte.
Mir schien damals, man solle diesen Brief, den Kant an den Chefredakteur des FDJ-Blattes, Hans-Dieter Schütt, gerichtet in Goldrand fassen lassen. Da glaubte ich noch, das Gute der DDR, die Vollbeschäftigung und das, wenn auch aus der Not geborene, echte Solidargefühl, ließe sich mit dem Guten der freien Welt verbinden und vielleicht erhalten. Kants Ehrlichkeit und meine eigenen Überzeugungen ließen gar keinen anderen Schluss zu.
Da sagte dieser mutige Mann die volle Wahrheit und das zweitwichtigste Blatt der DDR-Presse brachte sie ungeschminkt!
„Eine Niederlage ist eine Niederlage, und passe sie noch so schlecht in den Vorabend eines gloriosen Feiertages. Die Züge, mit denen die deutsche Reichsbahn, die einst Lenin aus der Schweiz durch Deutschland nach Russland transportierte, nunmehr Bürger der Deutschen Demokratischen Republik via Deutsche Demokratische Republik aus Warschau nach Braunschweig verfrachtet, sind nun einmal wahrlich keine Siegeszüge. Unseres Sieges jedenfalls nicht.”
Bezugnehmend auf diese neue Flüchtlingswelle, die mit der Grenzzaunentsicherung auf ungarischer Seite im August des Jahres ’89, erst möglich wurde, fuhr Hermann Kant fort:
„Schärfsten Widerspruch lege ich ein, wenn man den Anschein erweckt, ich sei des Glaubens, meines Gegners Kraft allein veranlasse junge Frauen, ihre Kinder über Botschaftszäune zu reichen, und dieselbe Kraft bewege junge Männer, freiwillig Quartier in fremden Kasernen zu suchen...Weniger vor dem Sumpf da drüben warnen ( ja es gibt ihn, und ich weiß, und seine Beschreibung soll auch künftig nicht verboten sein), mehr an die eigene Nase fassen (Selbstkritik nannte man das vor Zeiten). Wir müssen  uns an der eigenen Nase aus dem Sumpfe ziehen...”
Anfang November ‘89 sah ich ganze Scharen von Parteigruppenorganisatoren und Parteisekretären der Betriebe durch den Neubrandenburger Kulturpark zur Stadthalle eilen. Alle waren aufs Höchste erregt. Die Parole, die dort von der Bezirksleitung der SED ausgegeben wurde, lautete „Schadensbegrenzung”.
Dies war die erste, mir bekannt gewordene Versammlung, in der Parteiaktivisten geschlossen vom vorgegebenen Kurs abwichen und von ihrer Führung ‚Reisefreiheit für alle’ forderten.
Selbst wer kurzsichtig war, sah voraus, welche Folgen die Öffnung eines dermaßen komplexen, aber geschlossenen Systems haben musste. Ebenso unglaublich wie Hermanns Kants Zeilen und das Ergebnis dieser Parteikonferenz, kam mir dann die erste Montagsdemonstration vor, die ich miterlebte. Am Abend des achten November, nachdem wir die Nachtfischerei eingestellt hatten, befand ich mich eher neugierig als kämpferisch vor der Johanneskirche zwischen Hunderten und verstand die Welt nicht mehr. Da drinnen sangen sie fromme Lieder. Gebetsworte drangen über Lautsprecher nach außen. War das unser atheistisches Neubrandenburg?
Dann kamen sie. Massen drangen aus der Kirche ins Freie. Von Kerzenschein schwach erleuchtete Spruchbänder erschienen: „Die Führungsrolle der SED muss weg!”
Im Halbdunkel flimmerte es.
Wie oft hatte ich mich durch Plakate und Schrifttafeln bedrängt gefühlt. Nun las ich die direkt entgegengesetzten Texte, aber ich kann nicht sagen, dass ich gejubelt hätte. Vielleicht war ich zu alt geworden, um mich riesig zu freuen. Mir erschien das Ganze unausgewogen. Sie versprechen sich zuviel, dachte ich.
Reden wurden auf dem Karl-Marx-Platz gehalten.
Lehrerinnen entschuldigten sich für den Unfug, den sie in gesellschaftskundlichen Fächern gelehrt hatten. Ein Mann namens Dörnbrack fordert die Menschen in väterlich-pastoralem Ton auf, in der DDR zu bleiben. Wenn die SED beiseite geräumt sei, dann lohne es sich auch wieder zu leben.
Ich konnte bereits damals, vor Wochen, nicht begreifen, warum die Parteigewaltigen in Leipzig hilflos zuschauten und fürchtete andererseits, dass die scharfmacherischen Aussagen von Leitern der Kampfgruppen in buchstäbliche Gefechte umgesetzt werden könnten. Hatte Michael Gorbatschow ihnen in Anbetracht der Ereignisse vom Mai in Peking auf dem Platz des himmlischen Friedens kategorisch untersagt, Waffen einzusetzen?
War dem mächtigsten Mann der Welt klar, dass er wohl den Erdball sprengen, aber nicht die Freiheitsidee aufhalten könne?
Am Dienstag, dem 05. Dezember ’89, fünf Wochen, nachdem ich nach vierzigjähriger Abstinenz wieder ins politische Leben zurückkehrte, indem ich mich der CDU anschloss, flogen wir in den Kaukasus.
In unserem sehr modernen, wunderschön am Fuße der riesigen Berge gelegenen Hotel in Dagomir waren wir von den sich überstürzenden Ereignissen in der Heimat abgeschnitten. So hatte ich mir das nicht vorgestellt. Nie zuvor schien mir der Empfang von Informationen und das Zeitunglesen so wichtig zu sein.
Aber jede deutschsprachige Zeitung, die wir erhalten konnten, war bereits eine Woche alt, obwohl wir nur drei Flugstunden von Berlin entfernt wohnten und fast jeden Preis für zuverlässige Nachrichten bezahlt hätten.
Wir rannten aufgeregt umher und suchten neue Anhaltspunkte wie es in der Heimat weitergeht und fanden doch nichts.
Vor unserer Haustür wälzten sich die sturmgepeitschten Wogen des Schwarzen Meeres. Kaum weniger wogten in uns die zahllosen Fragen, Bedenken, Hoffnungen und Befürchtungen.
Wir bildeten eine Gruppe von fünfzig Leuten, die der Rat des Bezirkes wegen ‚gewissenhafter Planerfüllung’ im Bereich der Nahrungsmittelproduktion sozusagen in den Sonderurlaub geschickt hatte. Am Abend des 8. oder 9. Dezember schrieb die Hotelleitung endlich eine brandaktuelle Notiz auf ihre schwarze Bekanntmachungstafel. Ich wunderte mich über die einhellig zustimmenden Äußerungen meiner Reisegefährten, die fast ausnahmslos der SED angehörten, als sie es einander vorlasen: „Der erst am 18. Oktober als Generalsekretär der SED bestätigte Egon Krenz von Hans Modrow gestürzt!”
„Halleluja!” Sie jubelten, als hätten sie gemeinsam einen großen Lottofünfer getippt. Mich freute es auch. Nur fragte ich mich ernsthaft, wer und was am Ende dieser Überraschungskette stehen wird.
Erika nahm es ganz gelassen. Für sie war wichtig, dass ich unter allen Umständen zu ihr hielt. Mitten im Botanischen Garten des sich ungeheuer ausdehnenden Kurortes Sotschi wandte ich mich an eine der beiden Dolmetscherinnen.
Ihr Bruder sei Offizier der Roten Armee und sie und er sehen dieselbe Gefahr wie ich. Instabilität wird heraufziehen.
Gorbatschow hätte den führenden Soldaten erlaubt, ihren Armeedienst zu quittieren. Die Pazifisten gingen, die Hardliner blieben und das angesichts eines Waffenpotentials, das sämtliches Leben auf diesem herrlichen Erdball dreißigmal vernichten könnte. Das war meine Sorge. Es gab weltweit zu viele unsichere Kantonisten, die ihres persönlichen Machterhaltes wegen möglicherweise alles tun und die in ihrem Wahn, sogar Atomwaffen  einsetzen würden.


Ein holpriger Übergang


Noch im April 1990 hielt ich eine offene Konfrontation für denkbar.
Westdeutsche Ratgeber, die uns besuchten um uns Neupolitiker zu beruhigen und sicherlich wohlmeinend zu beeinflussen, überzeugten mich nicht. Es gibt keine Sicherheit, je mehr wir sie uns wünschen, umso weniger.
Dr. Alfred Dregger kündigte kurz vor Ostern seinen Besuch an. Sein Wunsch war, am 20. April auf dem Marktplatz in Neubrandenburg aufzutreten.
Kurz zuvor war ich zum stellvertretenden CDU-Kreisvorsitzenden gewählt worden und es gab Leute, die mich mit mancherlei Informationen versahen. Da meine Vorgesetzte, Frau Benz, in Friedland wohnte, fiel mir die Aufgabe zu, unsere politische Arbeit in Neubrandenburg zu organisieren.
Ich erwog den ernsten Hinweis, den ich am Karfreitag erhielt, dass es zu einem Massenaufmarsch fanatischer Linker kommen könnte, falls der als ‚Rechtsaußen’ geltende Vorsitzende der CDU/CSU Bundestagsfraktion seine Rede öffentlich halten würde.
Im Geiste sah ich einen Tumult voraus.
Was dann?
Diese Vision von flatternden roten Fahnen beschäftigte mich erheblich. Im Gegensatz zu meinen Gesprächspartnern aus dem Konrad-Adenauer-Haus war ich nicht der Meinung, dass ein letztes Aufbäumen der immer noch im Lande unter Waffen stehenden NVA auszuschließen sei. Meiner Überzeugung nach gab es immer noch genügend Oberste, die ihre Machtinsignien, selbst gegen alle Vernunft, gemäß ihrem noch in Kraft stehenden Fahneneid verteidigen könnten, wenn sie ein rotes Signal dazu auffordern würde.
Ich schloss eben von mir auf andere, ein Trugschluss, wie ich nun weiß.
Wir müssen uns selbstverständlich korrigieren dürfen, in jeder Hinsicht übrigens, bis das Fundament unseres Wesens Wahrhaftigkeit ist. Aber dieses Ziel darf niemand dadurch in Frage stellen, dass er sich selber untreu wird. Gewiss ist keiner gut beraten, wenn er aufgefordert wird seine Überzeugungen einfach über Bord zu werfen. Deshalb schien mir, es sei leichtsinnig, solche Erhebung der Linken auszuschließen, zumal der 20. April Hitlers Geburtstag war. Ein Umstand, den niemand im Büro des Herrn Dr. Dregger, auch nur im Traum bedacht hatte, den jedoch ein gewiefter Propagandist durchaus in seine Argumentation, gegen unseren Gast, und damit gegen uns, hätte zur Geltung bringen können.
Mag sein, dass dies übertriebene, vielleicht sogar verrückte Vorstellungen und Befürchtungen waren.
Indessen stimmten die Mitglieder des Kreisvorstandes der CDU Neubrandenburg nach Erörterung der Problemlage meinem Antrag mehrheitlich zu, Herrn Dr. Afred Dregger nur in der Stadthalle Neubrandenburg auftreten zu lassen.
Vor allem der spätere Oberbürgermeister Neubrandenburgs, Peter Bolick, sah die Dinge ähnlich wie ich.
Im Büro Dr. Dreggers war man entsetzt. Denn ich bestand auch auf Änderung einiger Details auf den Ankündigungsplakaten.
Morgens am 20. April bat mich Dr. Dregger zu einem Vieraugengespräch. Ich verteidigte den Beschluss und meine eigenen Ansichten, sagte, was ich dachte und zu befürchten glaubte. Im Beisein seiner charmanten Sekretärin umrundeten wir vielredend die Tribünen des Sportplatzes am Badeweg.
Er war sehr beherrscht und zugleich sehr wütend auf mich. Ich ließ mich auf nichts ein, obwohl mir das schwer fiel, denn wer war ich gegen ihn? Wahrscheinlich hielt er mich für einen verkappten Roten.
Vielleicht liefen ihm bei dieser Vermutung kalte Schauer über den Rücken.
Doch obwohl ich mit einigen seiner politischen Auffassungen nicht übereinging, stand ich nicht gegen ihn. Mir war nur klar, dass ein Mann des Westens bei bestem Willen nicht nachempfinden kann, wie jemand fühlt, der sein Leben unter dem Diktat der Partei der Arbeiterklasse zugebracht hatte.
Leider oblag es mir, Herrn Dr. Dregger eine zweite Absage zu erteilen. Es war meine Pflicht, ihm den Beschluss des Rates der Neubrandenburger  Geistlichkeit mitzuteilen.
Dieser Rat hatte mich eigens eingeladen und mir dringend nahe gelegt, Herrn Dr. Dregger zu übermitteln, dass er an der ‘Gedenkstätte für die Opfer der Nazibarbarei und der kommunistischen Gewaltherrschaft’ in Fünfeichen, kein Kreuz hinstellen möge, und sei es noch so klein.
Das wäre ihre Sache. Sie hätten bereits den Termin für die Ausrichtung eines Gebetsgottesdienstes festgelegt. An diesem Tag wollten sie den Platz für ein künstlerisch gestaltetes Kreuz bestimmen.
Es gibt irgendwo ein Foto, das uns gemeinsam im Bereich des Vorgartens des damaligen Neubrandenburger CDU-Hauses zeigt. Dr. Dregger lächelte in die Kamera hinein. Doch ich wusste, wie bitter seine Gefühle waren.
Denn seine bereits vorbereitete Presseerklärung musste wesentlich geändert werden, das von ihm bestellte Holzkreuz war umsonst hergestellt worden...
Anfang Juli ’90 wählten meine Fischerkollegen mich zu ihrem Geschäftsführer, unmittelbar nachdem unsere Gelder im Zuge des In-Kraft-Tretens der vereinbarten Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion beider deutscher Staaten aufgewertet wurden.
Unter der Bedingung, nur für eine zweijährige Wahlperiode zur Verfügung zu stehen, nahm ich an. Ich sagte: „Meiner Überzeugung nach setzen wir gemeinsam fort, was wir gemeinsam begonnen haben. Wir bleiben als gleichberechtigte Mitglieder in einer zu bildenden e.G. zusammen.
Zwei Drittel des Bargeldes setzen wir sofort für einen Komplexneubau ein, ein Drittel teilen wir anteilmäßig, als Entschädigung für entgangenen Lohn auf.“
Das wurde einhellig akzeptiert. Auch mein Gegenspieler Jürgen widersprach nicht. Mit den anderen ‚Damen und Herren’, wie meine Kolleginnen und Fischerkollegen seit März ’90 offiziell hießen, bestätigte auch er in namentlicher Abstimmung, dass wir zusammenhalten wollten.
„Dann dürfen wir auch daran denken, uns durch Baukreditaufnahme zu verschulden!” Reiner Lüdtke nickte, Jürgen nickte. Sicherheitshalber wiederholte ich mich: „Wir werden eine Million Mark gemeinsam abzutragen haben.”
Geplant war der Neubau längst. Architekt Robert Brenndörfer hatte ganze Arbeit geleistet und alles adaptiert. Erste Bankgespräche verliefen verheißungsvoll. Wir bestellten die Dampframme. Spannbetonpfähle lagen noch herum. Wir hatten ja bereits zu DDR-Zeiten begonnen und lediglich neue Vorstellungen einbezogen. Ein Zurück war nun unmöglich. Aber es waren ja die Zuverlässigen an meiner Seite, der treue Wolfgang Homeyer, Werner Hansen, Wolfgang Sittig, Frank Busse, Detlef Inhof, Reiner Rottmann, Dieter Giesa und natürlich Reiner und Inge Schoemann.
Auch der viel zu früh verstorbene Ulrich Johanns hätte mir beigestanden. Da aber flatterte uns am 04. Juli 1990 die erste Gewässerkündigung auf den Tisch. Der Rat der Gemeinde Knorrendorf teilte uns kurz und bündig mit, was sie für richtig hielten: „Hiermit kündigen wir Ihnen sämtliche Gewässer unseres Territoriums...”
Wenige Tage später sollten die nächsten kommen.

Wer erlaubte es sich, uns die Gewässer zu entwenden, die wir mit teuren Satzfischen versehen hatten?

Sofort legte ich schriftlichen Protest ein, verwies auf Artikel 9 des Einheitsvertrages. Da hieß es: Bis auf weiteres gelten die DDR-Bedingungen. Davon ging ich aus, dass es im Wesentlichen bleibt, wie es ist, und nahm zunächst nicht ernst, was sich da anbahnte.
Wir waren immer noch die rechtmäßigen Bewirtschafter der Wasserflächen zwischen Neustrelitz, Stavenhagen, Penzlin und Neubrandenburg, ausgestattet mit Bewirtschaftungsverträgen. Mein Finger lag auf dem Gesetzesband Einheitsvertrag.
Noch dachte ich nicht an Jürgen.
Ich wollte davon ausgehen, dass mein Dauerkontrahent ebenso gut wie ich wusste, was eine Zustimmung zur Verschuldung bedeutete. Zumindest durfte er keine Schritte gegen uns einleiten. Ein paar Tage lang ließ ich die Dinge auf sich beruhen.
Eine attraktive, junge Dame aus dem Konrad-Adenauer-Haus kreuzte in meinem Büro auf. Sie stellte mir ein paar Fragen, die Kommunalpolitik betreffend. Da gab es keine Probleme, jedenfalls keine großen. Aber als sie hörte, dass ich den übernommenen Betrieb nicht nur personell, sondern auch strukturell erhalten wolle, erschrak sie. Ihr Mund spitzte sich. Sie sagte: „Oh, o, da sehe ich Sie aber schon oft vor dem Kadi sitzen!” Ich lachte noch und verabschiedete sie mit einem Scherz.
Wir fischten selbstverständlich in den uns von den Bürgermeistereien gekündigten Gewässern.
Es gab Hinweise auf Befischung unserer Seen durch andere. Zunächst beunruhigte mich das nur wenig. In Waren und Prenzlau gab es analoge Problemfälle. Sicherheitshalber fuhr ich auf den Lindenberg, wo die Stasi gehaust hatte, da befand sich nun der Torso des ehemaligen Rates des Bezirkes Neubrandenburg. Mein Wunsch war, mit Rainer Prachtl zu reden. Er saß dort und verkörperte in seiner Stellung und in dieser Phase die höchste Autorität im Bezirk. Noch befanden wir uns rechtlich in der DDR.
Wir trugen zwar bereits das ersehnte Westgeld in den Taschen und im Kopf, doch noch hieß unser Land offiziell DDR.
„Du bist im Recht. Ich gebe es dir schriftlich!”, sagte Rainer Prachtl und ließ Jürgen Meyer kommen, den im Bezirk für Binnenfischerei zuständigen Fachmann.
„Jawohl, die alten Rechtsträgerschaften bleiben vorläufig in Kraft...”
Das gab mir Zuversicht. Deshalb blieb ich ruhig, zu ruhig wahrscheinlich, zu lange auch. So vollzog sich das Folgende zunächst, ohne mich sonderlich zu erregen.
Auszüge aus dem Betriebsprotokoll:
„Am 19.Juli 1990 wird uns per Schreiben des Bürgermeisters Herrn Schwarz, Rehberg mitgeteilt, dass die im Grundbuch in der Flur 3, Flurstück 6 eingetragene Seenfläche an eine Privatperson verpachtet sei.
Es handelt sich um den Balliner See, auch bekannt unter der Bezeichnung Rehberger See.
Die sofortige fernmündliche Erkundigung ergibt, dass Herr Jürgen N. die betreffende Privatperson ist.
Der Vorstand der Genossenschaft wartet einige Tage auf eine Erklärung von Jürgen N. unserem Genossenschaftsmitglied.
Jürgen jedoch verschweigt uns weitere Fakten, obwohl in verschiedenen Gesprächen, an denen er aktiv teilnimmt, die Frage erwogen wird, wie wir mit der marktwirtschaftlichen Herausforderung fertig werden können.
Neue Kündigungsschreiben trudeln ein.
Wir wehren uns. Doch  zwischenzeitlich, am 28. Juli, erhalten wir Antwort aus Knorrendorf auf unseren Protest.
„Wir haben Ihr Schreiben vom 13. Juli erhalten. Nach Auskunft durch einen Rechtsanwalt, haben wir bestätigt bekommen, dass unsere Kündigung vom 27. Juni 1990 rechtskräftig ist und somit bestehen bleibt.”
Protokollauszug vom 28. Juli:
„Ein persönlicher Besuch des Geschäftsführers Herrn Skibbe in Knorrendorf. Das Gespräch mit der Bürgermeisterin Frau Hartwig ergibt keine Übereinstimmung.“
Ein uns gut gesonnener Anglerfreund gab mir den entscheidenden Hinweis: „Das Haupt ist Herr K., suche ihn auf.”
Der mir das riet, hatte Ahnung.
Ich fuhr umgehend hin, wünschte mit Herrn K., dem Leiter des Gemeindeverbandes Rosenow, zu reden.
Man ließ mich ein. Ich nannte meinen Namen. Er nickte nur. Er wusste Bescheid.
Da saß er, ein energischer, bärtiger Fünfziger. Hinter seinem Schreibtisch hockte er sicher. Seine Brillengläser funkelten: Ich bin ein Demokrat!
Ich konterte auf  ähnliche Weise: Ich auch!
Er schaute mich durchdringend an. Ich stellte ihm mein Anliegen vor: „Wir bauen eine neue Betriebsstätte, wir haben beschlossen zusammen zu bleiben und gemeinschaftlich zu wirtschaften, nicht gegeneinander.”
Seine lapidare Antwort lautete: „Stalinistische Genossenschaften brauchen wir nicht mehr!”
„Sagten sie stalinistische?”
„Ich sagte und meinte stalinistische!”
Wie ein Fisch im schlechten Wasser schnappte ich nach Luft. Demokraten?
Weiß der Mann, was das ist?
Liberaler sei er.
„Ich bin CDU-Mann!“
„Blockflöten!” Gut, dass ich keine Pistole besaß. Sollte ich dem da erklären, dass ich am 30. Oktober 1989 in die CDU eintrat, weil sie an eben diesem Tage erklärte, sie kündige die Bündnispolitik mit der SED auf? Er beharrte, ich beharrte: „Wir werden morgen im Kastorfer See fischen”
„Ich schicke ihnen die Polizei auf den Hals. Herr Jürgen N. ist der neue Bewirtschafter!”
Hatte ich es nicht geahnt? Meine ohnmächtige Wut ließ ich mir nicht anmerken: „Tun sie, was sie nicht lassen können!”
Schnell fand ich mich vor der Tür wieder.
Unser Genossenschaftsmitglied Jürgen besaß einen gültigen Pachtvertrag, wir waren Fischdiebe.
Mit meinen  gelben, alten Trabant bin ich mit überhöhtem Tempo nach Hause in die Fischerei gefahren. Im Flur des Wirtschaftgebäudes traf ich Detlef Inhof. Der strohblonde Exhochseefischer wies mit dem Kopf zur Tür des Netzlagers: „Da drinnen”, wisperte er.
Mit einem Ruck stieß ich die Tür auf.
Jürgen saß da und Reiner. Zwei Umrisse wie aus Bronze gegossen, Nachdenklichkeit und Besorgnis. Reiner, zumeist gutmütig und hilfsbereit war gerade im Begriff zu erklären, dass er wenig Hoffnung habe, dass ich ihm einen Vorschuss für die fälligen Pachten geben würde... „Seid ihr von allen guten Geistern verlassen? In einer Stunde ist Mitgliedervollversammlung!” Jetzt gab es kein Halten mehr. Entweder Jürgen N. oder wir. Jürgen hat ein Signal gegeben, wenn wir dem nichts entgegen setzen, dann bricht es.
Mensch Jürgen, wir haben dein Versprechen! Es schnürte mir die Kehle zu.
Der große junge Mann mit dem ausdrucksstarken Gesicht ging in den ersten Arbeitsraum. Da setzte er sich hin und strickte eine Netzreihe herunter, als wäre nichts geschehen. Ich sprach ihn kurz an und er antwortete normal, als sei nichts passiert. In der Vollversammlung, die ich leitete, legte ich in wenigen Sätzen die Situation dar. Entweder stellt Jürgen sich auf unsere Seite oder er muss die Genossenschaft verlassen. „Die Pachtungen, die Jürgen betreibt, schließen uns von dem Recht auf Wiederfang der von uns eingesetzten Fische aus.”
Er entgegnete: „Ich will frei sein und nehme nichts zurück! Mit der Kommandowirtschaft ist es aus!”
„Dann schließen wir dich aus!” Er schaute mich an. In seinen Augen las ich die Ablehnung. Mich lehnte er ab, die Genossenschaft lehnte er ab, die meisten Männer, außer Dieter Gisa und Willi Krage widerstanden ihm längst, wegen seiner Arroganz.
„Du hast dich in namentlicher Abstimmung für den Fortbestand unseres Unternehmens ausgesprochen...”
„Na und? Ich bin im Recht!”
„Dann schneiden wir dich ab.”

Auszug aus dem Protokoll des 10. August 1990:

„Nach kurzer Bedenkzeit und folgender Diskussion stellt Herr Skibbe in der Mitgliederversammlung den Antrag auf Ausschluss von Jürgen N. aus der PGB Tollense.
Von 16 stimmberechtigten Mitgliedern, sind 14 anwesend.
3 Enthaltungen, 1 Gegenstimme, 10 Dafürstimmen; ...“ Jürgen begab sich mit seinen Freunden nach draußen. Er hielt mit ihnen Rat. Als ich sie so dastehen sah, schien mir, er würde gar nicht begreifen, was ihm widerfahren war.
„Wir sehen uns vor Gericht wieder!”, sagte er nur und ich erinnerte mich der Worte der schicken, jungen Dame aus dem Konrad-Adenauerhaus. Zunächst musste ich meine Ankündigung in Kastorf wahr machen. Am nächsten Morgen würden wir auf jeden Fall und demonstrativ im Kastorfer See fischen. „Werner (Hansen), ich komme morgen mit!” sagte ich, denn wir konnten sicher sein, dass wir auf heftigen Widerstand stoßen werden.
Werner Hansen wollte nicht, dass ich mit ihm fahre, ich hätte zu Hause genug zu tun. Aber unser gemeinsames Auftreten im Territorium Rosenow war mir wichtiger.
Wir verluden einen der leichten grünen Plastekähne, das Notstromaggregat, die Handelektrode, den Sicherheitsschalter, Minuspol, Gleichrichter, Kescher, den großen Fischbehälter und setzten uns in den Exmilitärwagen vom Typ Robur.
Hätten wir, als wir durch Knorrendorf fuhren, die Sekretärin am Briefkasten gesehen, dann wäre uns vielleicht in den Sinn gekommen, dass sie Post gegen uns einsteckt.
Wie üblich schoben wir uns vorsichtig und aufmerksam am Gelegesaum entlang. Werner, auf dem Sicherheitsschalter stehend, stieß in vier – fünf – Meter -Abständen die an einer etwa fünf Meter langen Glasfiberstange befestigte handtellergroße Elektrode ins fast glasklare Wasser bis auf den Seegrund in Klaftertiefe.
Wie üblich waren acht von zehn Versuchen umsonst. Dann kam eine kleine Quellmooswiese in Sicht. Da war es nur einen Meter tief.
„Dor sünd wek!”173  sagte er voraus.
Ich hatte oft genug elektrisch gefischt um nicht zu wissen, dass er Recht bekommen würde. Zuerst schossen die untermaßigen Aale heraus, sie wanden sich und taumelten narkotisiert zur Seite. Dann schlängelte sich ein dicker, fünf Zentimeter breiter Aalschwanz heraus. Da der Flossensaum eine verhältnismäßig große Potentialebene darstellt und wir ihm mit der Anode dicht auf den Leib gerückt waren, hielt ihn der Gleichstrom fest. Die Kraft, die von der Anode ausging, reichte jedoch nicht aus, ihn völlig aus seinem Versteck zu ziehen. Werner Hansen half nach. Er war hochrot vor Aufregung weil es sich um einen kostbaren Starkaal handelte. Von drei Aalen dieser Stärke entkommen in der Regel zwei, vor allem wenn sie sich weiter als einen Meter vom Pluspol aufgehalten haben. Sie sind zudem geschwind und enorm gewitzt. Werner hakte mit dem elektrisierten Metall in den sich
krümmenden Schwanz. In diesem Augenblick bemerkte ich, dass sich in vierhundert Schritt Entfernung eine Sandwolke auf uns zu bewegte. Ich musste mich jedoch zuerst um den Aal kümmern, der plötzlich in voller Länge auftauchte. Mit Mühe gelang es mir, dem kräftigen Fisch den Kescher vor das breite Maul zu halten. Gemeinsam erwischten wir ihn und ich kescherte den sich wild wehrenden Dreipfünder heraus und schüttete ihn ins wassergefüllte Schweff. Da tobte er eine Weile umher.
Die kleinen Aale dagegen flohen wie üblich.
Sobald der Stromkreis unterbrochen wird, machen sie sich davon. Augenblicklich erwachen sie aus der Narkose und schwimmen binnen ein, zwei Sekunden davon, um eine wichtige Erfahrung reicher.
Wenn sie je wieder das Geräusch des im Rhythmus des dröhnenden Notstromaggregates schwingenden Fischerkahnes vernehmen, flüchten sie rechtzeitig und es dauert Wochen und manchmal Monate, bis der Handelektrodenfischer sie wieder sieht.
Mitunter liegen die knapp einhundertfünfzig Gramm schweren Satz- und Mittelaale so dicht beieinander, dass man fünfzig, sechzig mit einem Schlag erwischt. Schade, weil sich unter ihnen auch die fangreifen Männchen befinden, die nur etwa einhundertundachtzig Gramm schwer werden. Man nennt sie, wie die großen, geschlechtsreifen Weibchen, Blankaale. Aale die nicht mehr wachsen.
Das Aussortieren nimmt dann viel Zeit in Anspruch.
Ich stieß Werner Hansen an und wies mit dem Kopf hinüber. Da erschien ein roter Wartburg. Er hatte die Staubwolke hinter sich her gezogen. Für Sekunden entschwand er noch einmal aus unserem Blickfeld. Den Mann am Steuer schien ungeheure Wut zu treiben. Wie ein Wahnsinniger war er auf der Sandpiste entlang gesaust.
Den breiten Rücken durchdrückend wandte Werner sich zu mir, sein volles bartstoppliges Gesicht verzog sich. Es war ein etwas schräges Lächeln, das sich um seine blutvollen Lippen legte. Werner nannte einen Namen, den ich nicht verstand.
Uns war bewusst, dass der Besuch mir vor allem galt. Wir machten weiter und gewahrten vom neuen Standpunkt aus, dass der Wartburg sich nun direkt vor unseren Robur befand. Er hatte uns blockiert. Aber wir konnten von dem Fahrer nichts entdecken.
„De is int Dörp gohn, hei holt de Pulezei!” 174 Richtig. Wir waren festgenagelt worden. Zur Linken unseres Robur befand sich ein anderthalb Meter hoher Schotterberg, zur Rechten der See. Vor uns der Wartburg, hinter uns der Kahnhänger auf dem wir unser Boot transportierten und dahinter ein Graben.
Fast wortlos einigten wir uns, es nicht auf eine Konfrontation mit der Polizei ankommen zu lassen. Wenn man uns das Schreiben des Bürgermeisters vorweisen würde, könnten sie uns zwingen, die Fische in den See zurückzuschütten.
So wie das unseren Männern bereits andernorts ergangen war. Vierzehn Tage zuvor hatte ich auf dem Polizeirevier in Stavenhagen zwanzig Minuten aufwenden müssen, um meinen geharnischten Protest zu Papier zu bringen und um zu erreichen, dass die von den Polizisten am Ivenacker See beschlagnahmten Fanggeräte wieder herausgegeben wurden, was denn auch umgehend geschah. Sie wunderten sich auf dem Revier nur, wegen der vielen Worte und Sätze die in so kurzer Zeit entstanden. Allerdings die Zander, die sie ins Wasser zurücksetzten, blieben verloren.
Ärgerlich nur, dass unsere Kunden, die sich die Fische bei uns bestellt hatten, später unbefriedigt nach Hause gehen mussten.
Ziemlich eifrig, als wären wir Fischdiebe, verluden wir das Geschirr und die Fische, schoben unser Boot auf den Kahnhänger, banden es fest. Wir hatten keine Wahl. Entweder entkamen wir unseren Gegnern oder wir waren blamiert.
Blamiert? lachte Werner. Er hatte es wieder im Kreuz und ging schief.
Ich bräuchte ihn nicht einweisen, der Robur sei ein Geländewagen und würde den Schutthaufen ohne weiteres erklimmen.
Ohne weiteres?
Umkippen kann uns die Fuhre.
Das war Werner Hansen. Er äugte kurz, startete, schob einen halben Meter zurück, kurvte bis hart vor den roten Kotflügel des Wartburgs, schob noch einmal, das Lenkrad scharf herum reißend, zurück. Jetzt wieder vorwärts. Noch war von dem PKW-Fahrer nichts zu sehen. Jeden Augenblick konnte sich das jedoch ändern.
‚Dass sie fliehen wollten, lässt sich ja wohl nicht leugnen. Dass niemand flieht, der unschuldig ist, liegt wohl auf der Hand!’ So hörte ich sie schon höhnen. Nun erklomm unser braver LKW tatsächlich den kleinen steilen Berg. Er rutschte ein wenig nach links, dann nach rechts. Der Kahnhänger folgte uns. Das Wasser im kubikmetergroßen Fischbehälter schwappte, doch es ging voran. Wir glitten und rollten und bremsten den kleinen Abhang hinunter. Nicht die Spur eines Kratzers am Wartburg, das war nun wieder das Wichtigste. „Dat Wüchtigste is, dat se uns nich kriegen!” 175 erwiderte Werner und schlug einen Weg ein, den ich noch nie gesehen hatte. Querfeldein ging die Fahrt über Stock und Stein, vorbei  an  Viehkoppeln und Maisstauden.
Banditen! 
Nur dieser eine Begriff bemächtigte sich meiner Gedanken.
Ich und er  waren unter die Räuber gegangen. Mindestens drei Anzeigen wegen Fischwilderei führten mich wiederholt vor den Kadi. Dabei hatten wir nie in anderen, als in den uns zur Bewirtschaftung offiziell übertragenen Gewässern gefischt.
Einmal bekam ich Recht, zweimal Jürgen N. Noch jedoch war nichts endgültig entschieden.  Der Krieg mit Jürgen ging weiter.
Er  stellte Netze, wir gerieten mit unseren Zugnetzen dazwischen.
Er pochte auf seine Verträge, wir auf unser Gewohnheits- und Bewirtschaftungsrecht, das uns die DDR gegeben hatte.
Ich ging in Berufung.
Aber es gab auch großen Krieg.
In eben diesen Tagen, Anfang August 1990, waren irakische Truppen in Kuwait einmarschiert. Der große Irak erklärte den kleinen Staat Kuwait zur 19. irakischen Provinz.
Die entmachteten Scheiche schrieen so laut um Hilfe, dass auch wir es vernehmen mussten.
Am 29. November fasste die UNO einen Beschluss, der die gewaltsame Vertreibung Iraks aus dem freien Land Kuwait androhte.
Wie eine düstere Ahnung, dass dies das Vorspiel zum dritten Weltkrieg sein könnte, lag die alte Beklemmung wieder auf allen.
Meine Notiz zur Tagebucheintragung, geschrieben am 6. Dezember, lautete: „Was wird uns 1991 bringen? Unter dem Druck der Zuspitzung der Kuwaitkrise leidet jeder. Jeder weiß, wie leicht Kriege, in die Supermächte verwickelt sind, ausufern können. Wir sehen die vielen anderen Probleme, auch die wirtschaftlichen, rings um uns herum, ...”

Dunkle Geschäfte


Statt Scheine von radikal abnehmendem Wert besaßen wir seit dem ersten Juli Geld. Wir fühlten uns wie Geburtstageskinder, die sich freuen sollten und es doch nicht so recht konnten. In den Lebensmittelgeschäften sah es paradiesisch farbig aus, aber in unseren Seelen immer noch grau. Vorausblickend fanden wir, dass auf dem Wege vor uns kaum überwindliche Hindernisse liegen würden. In einem handelten die meisten Ex-DDR-Bürger logisch richtig. Jetzt drehte jeder den aufgewerteten Groschen dreimal um, ehe er ihn einmal hergab. Bereits zu DDR-Zeiten war es zunehmend schwierig geworden, selbst wertvolle Fische, wie Kleine Maränen, wenn sie in Massen angelandet wurden, en block abzusetzen. Auch die Disponenten und Leiter der Fischauslieferungslager mussten längst wirtschaftlich rechnen und ihr Risiko klein halten. Ihre Prämien hingen von ihrem eigenen Geschick ab. Jetzt, nach der Wende, oblag uns die Fische nicht nur zu fangen, sondern sie auch  eigenhändig, Stück für Stück, zu veräußern. Im Spätherbst fingen unsere Männer auf der Lieps wieder einmal große Mengen Brassen, alles stattliche Exemplare. Werner Hansen kam mit seinem Trabant angesaust, um mich zu informieren. Meine Kollegen hofften, dass ich aus zehn Tonnen Bleie mehr als zehntausend Mark erlösen könnte. Werner, immer höchst agil und dabei nicht selten angriffslustig, sah mich scheel an, weil ich mit den Achseln gezuckt und kritisch fragend angemerkt hatte, wer im neuen Konsumentenwunderland noch Bleie kaufen würde? „De Russen!”, konterte er scharf und schaute mich vorwurfsvoll von der Seite an. Manchmal schielte er ein wenig. Auf diese Idee hätte ich von alleine kommen müssen. Auf jeden Fall fahre er jetzt mit einem LKW Kisten zur Fahrgastschiff-Anlegestelle in Prillwitz. Das könne ja nicht falsch sein. Die nächsten Russen saßen in Neustrelitz. Deren Bedarf jedoch wurde meines Wissens von den Prenzlauer und Neustrelitzer Fischern gedeckt. Noch dachte ich nicht in den modernen Kategorien. Dieses Denken: „Zuerst komme ich!” erschien mir noch als unmoralisch.
Da ich verpflichtet war, den  Betrieb durchzubringen, blieb  mir  allerdings nichts weiter übrig, als mich über meine Bedenken hinwegzusetzen. Es war bereits vierzehn Uhr geworden. Schnell. Ich telefonierte, Dolmetscher Herbert Fischer war einverstanden. Er stünde mir zur Verfügung.
“Gleich?”
“Na, ja, sagen wir in einer Stunde!” Exoberstleutnant Herbert bereits seit vier Jahrzehnten im Umgang mit Offizieren der Roten Armee geübt, bat fernmündlich um ein persönliches Gespräch mit dem Chef der rückwärtigen Dienste der Neustrelitzer Panzerdivision. “Kommen Sie, wann immer Sie wollen!”
“Wir sind in einer halben Stunde bei ihnen.”
Ein schneidiger Unterleutnant mit Glacehandschuhen, der wie ein Eleve des Tanzensembles des Bolschoitheaters ging und auftrat, holte uns von der Torwache ab. Oberst Berlett lasse bitten. Es war, glaube ich, dasselbe Tor, das ich erstmalig 1946 gesehen hatte. Es standen da, wie mir schien, immer noch dieselben Worte, die sich um die an die Wand gemalten Panzer und Waffenbrüder rankten: Ruhm und Ehre. Slawa i tschest.
Seit damals ging hier kein normaler Sterblicher mehr ein und aus. In diesem Stadtteil mochten früher vielleicht sechs- oder achthundert Neustrelitzer in ihren Einfamilienhäusern gelebt haben.
Das Tageslicht unter dem wolkenverhangenen Himmel nahm bereits merklich ab. Deshalb erschien uns das Haus, in dem der Oberst sitzen sollte so düster.
Er erhob sich, als wir eintraten, reichte uns die Hand, zeigte seine Goldzähne und gleich seine ganze Freundlichkeit.
Schon die vielen auf dem Flur herumstehenden und diskutierenden Offiziere waren mir angenehm aufgefallen. Solche Russen hatte ich bisher nur selten gesehen. Ich kannte fast nur eckige Gesichter und die überwiegend groben Ausdrücke im Aussehen und in der Sprache.
Kaum, dass Berlett uns angehört hatte, nickte er ermutigend. Er müsse nur noch mit seinem Vorgesetzten reden. Das geschah.
Herbert Fischer flüsterte, der Oberst versuche seinen Chef zu überzeugen, dass sie gemeinsam dringend zehn Tonnen Bleie benötigten.
„Wie teuer?”
In meinem Kopf  existierte  die Wunschgröße 1.75. „Knapp zwei Mark je Kilogramm Frischfische!”, dolmetschte Herbert generös. So trat er gelegentlich auch auf.
Berlett strahlte. „Zwei Mark sind ein guter Preis. Wann können Sie liefern?”
„Fünf Tonnen sofort. Den Rest morgen.”
Er zog zweifelnd die Stirn hoch.
Aber ich wusste es ja. Fünf Tonnen sind eine glatte Kutterladung und diese Menge ziemlich schnell ein- und auszukeschern war für unsere Männer kein Problem. Ich schaute auf die Uhr. Anderthalbe Stunden bis zum Laden, eine weitere höchstens für den Umschlag, eine halbe für den Transport. „Zwischen acht und neun Uhr!”
Und wenn ich mit hundert Sachen nach Prillwitz rasen müsste. Denn da standen an diesem frühen Abend meine ungeduldigen Fischer und warteten nur auf das ersehnte Zeichen. Als wir kurz vor neun mit der ersten Fuhre auf dem ‚Russenspeicher’ ankamen, machten sich die uniformierten Jungs umständlichst ans Abwiegen. Eine halbe Stunde lang sah ich mir das Theater an und sagte schließlich: „Ihr seid wohl nicht recht bei Troste!”
Was Herbert übersetzte, kann ich nicht sagen. Sie stutzten jedenfalls. „Da sind in jeder Fischkiste mindestens zweiunddreißig Kilogramm Ware und auf dem Lieferschein stehen dreißig!”
Bei dem Schneckentempo, das sie beim Abwiegen vorlegten und bei dieser Menge, hätten wir die Zeit bis zum Morgengrauen gebraucht und ich war todmüde.
Natürlich konnte nur die Gesamtmasse stimmen. „Lass sie mal.”, beruhigte Herbert Fischer mich, er sei ja auch die Ruhe in Person. Sein Zuspruch tat mir gut. Nun, da die DDR endgültig kaputt war, konnte einer wie er alles ganz gelassen sehen. Sogar die Uhren liefen für ihn anders. Ich dachte an unser Gespräch zurück.
Den Zusammenbruch habe er bereits seit einem Jahrzehnt kommen sehen, sagte Herbert Fischer, als wäre das so selbstverständlich, wie der Blätterfall im Herbst. Der Kommunismus konnte nicht siegen. Gründlich hatte er mir das auf der Herfahrt vorgerechnet.
Alleine die Wartung der komplizierten Waffensysteme sei zu kostspielig geworden und dann diese Zweiklassengesellschaft. Am meisten hätte ihn aufgeregt, dass die Hirsche den Privilegierten unter den führenden Genossen vorbehalten blieben, während Leute wie er, nur Heger statt Jäger sein sollten.
Ungeschönt habe er das seinen großen Militärs des Öfteren an den Kopf geschmettert: „Die Jagd dem Volke, die Hirsche dem Politbüro!” Höhern Ortes hätten sie ihm das ziemlich verübelt.
In ihrer Gunst sei er nur geblieben, weil sie seine Fähigkeit schätzten auch dann simultan zu dolmetschen, wenn sie durcheinander und schnell redeten. Immer auf diesen kasachischen Raketenübungsplätzen sei er mit beiden Seiten gut ausgekommen, weil er sie eigentlich mochte, diese raubeinigen Typen auf sowjetischer und die etwas großmäuligen auf der eigenen Seite.
Herbert meinte, die Lagerverwalter der Garnison würden sich nächstes Mal leichter überzeugen lassen, wenn sie sehen würden, dass wir sie nicht gleich beim ersten Versuch betrügen wollten. Ich wandte mich ab.
Das war die Höhe.
Meine Fische hatte noch keiner nachgewogen. Wir gaben immer ein reichliches Plus, außer bei Aalen. Während ich nun ärgerlich und hundemüde am dunklen Ende der langen Verladerampe stehe und in den matten Lichtkreis hineinstarre, indem sich zehn Mann traumhaft langsam bewegen, berührt mich jemand von hinten. Ich wende mich um und sehe den Blitz in den Augen eines Mannes und gleichzeitig das Aufblinken seines Bajonettes. Dieses Seitengewehres Spitze ragte einen halben Meter über den mehr als zur Hälfte verdeckten Kopf. „Fifthy, fifthy!”, raunte mir der in einem großen  sibirischen  Pelzmantel  steckende Wachposten  zu. Er  machte einladende Gesten, zog mich mit sich, noch tiefer ins Dunkel hinein, die kleine Holztreppe hinab. „Da, da! Kaufen!” Er nahm seine Kalaschnikow, die er geschultert getragen hatte und hielt sie mir hin. Dabei streckte er die andere Hand unmissverständlich vor.
„Njet, njet”, wehrte ich, hilflos vor soviel Großmut, ab.
Er redete von Munition wie ich von kleinen Fischen und alles nur für sechzig Mark. Für die Maschinenpistole fünfzig und den Rest für die ‚Murmeln’.
Ich machte ein großes Fragezeichen.
Wir befanden uns doch nicht an der tadshikisch-afghanischen Grenze.
Als ich mich von dem munteren Jungen abwandte und ihm den Rücken zukehrte, hatte ich das Gefühl, dass er mir einen riesengroßen Vogel zeigte. Wie kann man nur so dumm sein? Eine Kalaschnikow ist doch mehr als zehnmal soviel wert.
Begeistert waren die immer noch mit dem Abwiegen beschäftigten Männer nicht, als ich erklärte, sie möchten mir nur den Erhalt der Fische quittieren, ich würde jetzt nach Hause fahren.
„Wie denn? Fünf Tonnen?”
„Ja, genau, und falls sich ein Minus herausstellt, liefern wir das Doppelte der Fehlmenge nach.”
Herbert Fischer redete auf sie ein. Auch er hatte es inzwischen satt, bloß dazustehen und immerzu nur die sich stereotyp wiederholenden Schattenspiele zu betrachten. Es ging immer langsamer und wie mir schien im Zeitlupentempo voran. Lag es nun daran, dass Herberts gutturales Säuseln sie noch schläfriger machte oder interessierte sie gar nichts? Sie ließen sich aber auch nicht bewegen die Unterschrift zu leisten. Plötzlich kam ein Offizier an.
Ratsch hatte ich die Unterschrift und batsch den Stempel.
Wir möchten bitte noch einmal zu Oberst Berlett reinschauen.
Es war spät geworden. Oberst Berlett saß immer noch, die Beine von sich gestreckt, wie wir ihn verlassen hatten, im Halblicht seiner beiseite gedrehten Schreibtischlampe und schrieb. Er hätte gehört, dass unsere Fische taufrisch und groß wären. Er lächelte. Er möchte mit uns in Kontakt bleiben und unser Kunde werden. „Aber du musst nach Berlin gehen und mit Co-Impex einen Vertrag machen!”
Oberst Berlett, ein vornehmer Typ mit leicht gewelltem dunklen Haar und exakt gezogenem Scheitel, hätte mich nie ohne weiteres geduzt. Das machte die Fischerübersetzung.
Co-Impex gab mir einen Termin. Zwei Tage später ging ich, mit gemischten Gefühlen, in dieses blauweiße Gebäude in der Nähe der Friedrichstraße in Berlin und saß bald darauf einem Mann gegenüber, der anfangs vierzig sein mochte und etwa einsachtzig groß war. Wie mir auf den ersten Blick schien, war der da einer, der wusste, wie man das Leben genießt. Blitzsauberes, hellblaues Oberhemd, dezenter Schlips. Mir fiel in seinem glattrasierten Gesicht auf, wie gut sein Bartansatz verteilt war. Er lächelte verbindlich. Du warst ein Stasioffizier, dachte ich.
Er war mir aber keineswegs unsympathisch, obwohl ich den Unterdrückungsapparat der DDR aus gutem Grunde gefürchtet und gehasst hatte. Dieser da, wenn meine Vermutung stimmte, hatte sicherlich zu den Großen gehört und wahrscheinlich seinen Teil dazu beigetragen, dass Demokratie für Leute wie mich, vier lange Jahrzehnte ein unerfüllbarer Wunschtraum geblieben war.
Dennoch differenzierte ich zwischen Programmen und Menschen, obwohl sie in der Politik oft genug eine Einheit darstellten. Ich wollte beides voneinander trennen und nur auf die Sache der Diktatur einschlagen.
Ich glaubte manchmal, dass mir dieser eine Satz, den ich so oft dachte, ins Gesicht geschrieben stand. Das Recht sich frei entscheiden zu dürfen, ist wichtiger als das Recht zu leben. Der auffallend gut Gekleidete fragte: „Könnten sie sechzig bis achtzig Tonnen pro Quartal liefern, zu diesem Preis und in dieser Qualität?” Ich denke, dass es mir gelang meine Miene zu wahren. Denn ich war schockiert. Mein Hochziel lag bei höchstens einem Sechstel dieser Summe, die er mir genannt hatte. Ich beeilte mich zu erklären: „Ja, wir können.” Doch ehrlich gesagt, wusste ich noch nicht, wie das in die Praxis umgesetzt werden könnte. Berlett muss mit ihm gesprochen haben! Berlett war also zufrieden, er hat uns gelobt!
In mir steckte noch dieser Gedanke an Zusammenarbeit (schließlich waren wir nordöstlichen Binnenfischer der ehemaligen DDR, ob wir wollten oder nicht, im Zweckverband ‚Qualitätsfisch der Mecklenburger Seenplatte’ zu einer großen Wirtschaftseinheit zusammengebunden worden.) Doch das war nun vorbei. Jetzt war sich jeder selbst der Nächste. Binnen weniger Sekunden hatte ich mir ausgerechnet, dass die Warener und die Prenzlauer Kollegen wie wir, über Unmengen Tolstolob verfügten, Silberkarpfen, die kein Deutscher mochte. Sie würden sicherlich zuschlagen, wenn ich ihnen einsvierzig aufs Kilo bieten würde, und wir hätten ohne einen Finger krumm zu machen, sechshundert Mark je Tonne verdient. Das wären ja knapp einhundertundfünfzigtausend Mark pro Jahr Nebeneinnahmen. Mensch, Helmut Kohl, lass’ bloß die Russen noch ein paar Jahre in Deutschland. Wir Fischer würden liebend gern helfen, sie auf deine Kosten, zu ernähren.
Silberkarpfen, diese fernöstlichen Algenfresser, die bis zu zwei Meter hoch in die Lüfte springen können - und dabei gelegentlich ins Boot eines ahnungslosen Anglers- hatten wir auf Beschluss von Partei und Regierung in unsere Gewässer einsetzen müssen. Müssen! Jawohl.
Mir wurde warm ums Herz, als mein Gesprächspartner bestätigend nickte: „Bleie und Tolstolob sind ok.”
Er wusste also, wovon die Rede war.
Ich sah diese Unmengen Großfische vor mir, die häufig je Stück mehr als zehn Kilogramm wogen und niemand wusste, wer uns diese hunderte Tonnen abnehmen sollte.
„Was haben sie uns noch anzubieten?”
„Rotaugen.”
Er nickte abermals und schrieb: Silberkarpfen sowie Bleie, größer 500 Gramm je Stück und Plötzen aller Größen.
Saß ich im Vorgarten des Paradieses?
Die scharfen Augen meines Gegenüber musterten mich, ehe er behutsam  fragte: „Aber  was  machen  wir,  falls  die Sowjets Sonderwünsche  haben  sollten? ... natürlich in  geringem  Umfang.”
„Kein Problem, wenn es innerhalb eines, sagen wir, Fünfprozentrahmens bleibt.”
Er winkte ab, war’s zufrieden. Details interessierten ihn offensichtlich nicht. Die gepflegten, langen Finger aneinander legend schloss der kompetente Vertreter von Co-Impex das Gespräch ab: „Gut, Sie liefern auf Zuruf jede Woche zunächst fünf Tonnen nach Neustrelitz.”
Hoffnungsvoll setzte ich hinzu: “Vertraglich gebunden.” Er schmunzelte. Ich sorgte mich. Vertrauenerweckend setzte mein Partner hinzu: „Eine mündliche Zusage ist ein Vertrag.” Wie gerne hätte ich ein Stückchen Papier gehabt, auf dem, was wir ausgehandelt hatten, niedergeschrieben stand.
Es gab also noch eine Hürde.
Die Frage, was das sein könnte, quälte mich.
Acht Wochen lang lieferten wir kontinuierlich aus eigenem Aufkommen. Sogar Heiligabend fischten wir, aber sehr erfolgreich.
Oberst Berlett hatte bis dahin lediglich zweimal bescheidene Sonderwünsche geäußert. Beim ersten Mal ließ er uns mitteilen, dass sein General aus Karlshorst käme. Er würde sich freuen, wenn wir ihm einen Hummer beschafften.
Ich wäre notfalls bis Kiel gefahren, um ihm den Wunsch zu erfüllen. Bescheidener als Berlett konnte man nicht sein.
Wir schickten ihm zwei Kilo Hummer und legten drei goldgelbe Räucheraale obendrauf.
Beim zweiten Mal wollte er, für einen ähnlichen Anlass, einen Karpfen haben. Wir boten ihm an, künftig statt sechs Prozent Plus nur vier zu geben, aber dafür jedesmal dreißig Kilo Feinfische.
Von da an nannten die Verpflegungsoffiziere mich “Väterchen Fisch”.
Berlett wurde plötzlich unterrichtet, er sei zurück in die Heimat versetzt worden. Darüber war er unglücklich.
In Neustrelitz wusste er ein heiles Dach über seinem Kopf. In Russland wartete auf seine Familie und ihn wahrscheinlich nur eine Scheune. Sein Nachfolger den er noch einarbeiten sollte, war ein vierschrötiger Kerl, ein Oberstleutnant mit dem Gesicht einer Bulldogge. Sofort überzog der Mann seine Kompetenzen. Berlett hätte keine Ahnung. Statt fünf Tonnen sollten wir in der kommenden Woche zehn liefern. Die erste Sendung am Dienstag, und die zweite am Freitag. Mir war gleich unwohl zumute. Ich ahnte es. Das geht schief.
Doch der Neue setzte mich unter Druck. Was sollten wir machen? Oberst Berlett befand sich auf Reisen. Um mir den neuen Mann geneigt zu machen bot ich ihm mehrere Kilogramm Hummer an und eine kleine Kiste Räucheraale. Mit bissiger Miene senkte der Oberstleutnant sein Löwenhaupt und knurrte. War ihm das noch zu wenig?
Bei der darauf folgenden Lieferung winkte er mir mitzukommen. Da schlug mir schon von weitem ein ekelhafter Geruch entgegen. Unsere bereits vor einer Woche eingelagerte Ware stand schwarz und unangetastet in Kisten auf der Leichtkühlfläche. Mir stockte der Atem. Er hatte einhundert Zentner Speisefische verfaulen lassen. Warum?
Selbst dem unfähigsten Lagerverwalter darf das nicht passieren. Eher verschenkt man die Fische.
Seine breiten Schultern zuckend zog er über Berlett her. Ich biss mir auf die Zunge.
Vorläufig, wie ich nun selber gesehen hätte, benötige er keine Fische. Damit drehte er sich von mir ab und tapste schwerfällig davon.
Sogleich als ich alleine war, redete der Adjutant des Neuen auf mich ein. Es dauerte eine Weile, bis ich begriff: Es ginge ihm um ein Gegengeschäft.
„Wir verkaufen dir einen Waggon Mehl.”
„Mehl?”
„Was soll ich mit dem Mehl?”
„Na, für die Brotfabrik!”
Die beiden hielten mich ganz selbstverständlich für einen Banditen.
Sollte ich das Berlett petzen?
Was musste ich tun, um wieder zum normalen Handel zurückzukehren? Für uns war es überlebenswichtig geworden seiner Einheit, in den verbleibenden anderthalb Jahren, mindestens sechzig Tonnen Tolstolob, Plötzen und Bleie zu verkaufen. Wir verfügten über Kredite und die mussten mit rund zehn Prozent Zinsen getilgt werden.
„An deiner Stelle würde ich Co-Impex informieren.”, riet Herbert Fischer mir, als ich ihn aufsuchte um mich zu vergewissern, dass uns kein Übermittlungsfehler unterlaufen war. Er kratzte seinen Kopf, weil er keinen bessern Rat wusste. Nächstes Mal ließe er mich nicht wieder allein fahren.
Fernmündlich erteilte Co-Impex mir folgende Auskunft: „Es gibt einen Strukturwandel. Jetzt schreiben wir Sommer ‘91. Wenden sie sich bitte an ‘Fischexport-import’ in Steglitz. Vielleicht wäre es besser, sie verhandeln erst mit Wünsdorf. Wir bedauern sehr. Auch uns sind die Hände momentan gebunden” In Wünsdorf kamen wir nicht weit. Wie Schulbengel standen wir vor den schwarzen, eisengeschmiedeten Eingangspforten zum Park der Allmächtigen. Links das große gelbe Gutshaus, in das wir nicht gelangen konnten, rechts die Straße, auf der die Muschkoten entlang paradierten. Ein höherer Sowjetoffizier kam angeradelt. Auf seinen Wortschwall hin zuckte Herbert mit den Achseln.
„Morgen sollst du nach Berlin-Dahlem gehen.”
„Morgen?”
„Morgen!”
Noch einmal müsste ich, allerdings aus zwingenden Gründen, auf seine Dolmetscherdienste verzichten, aber die dort sitzenden Leute verstünden Deutsch.
Dieses Wort ‚Morgen’ war der ganze Ertrag einer Tagesreise von fast dreihundert Kilometern.
Anderntags, im Bereich Berlin-Dahlem, als ich das schlichte Schild am versteckt liegenden weißen Haus las, bedrückte mich bereits die bloße Tatsache seiner Existenz. Es umdüsterte meinen Traum vom großen Geschäft. Trotzdem ging ich mutig hinein. In einem kleinen Wartezimmer nahm ich Platz. Ich sah diese harten und bleichen Gesichter nobel gekleideter russischer Zivilisten, die geschäftig an mir vorbeieilten. Wortfetzen drangen zu mir. Im Büro des unsichtbaren Dirigenten der Fisch- und Geldströme ging es um tausende Tonnen.
Ich wurde schließlich hereingebeten. Ein untersetzter, kahlköpfiger Herr mit weißer Weste, der tatsächlich gut Deutsch sprach, saß halb in sich zusammengesunken in einem schwarzen Ledersessel.
„Was haben Sie uns anzubieten?”
Ich erklärte es.
Von meinen Tolstolob und Plötzen war nicht lange die Rede. Ein Blick hin, ein Blick her: „Achtzig Tonnen im Quartal?”
Keine Größenordnung für ihn. Tiefgefrostet könnte man die Dinger quer durch sein großes Land schicken. „Eine Mark aufs Kilogramm.”
Er wedelte eine Fliege weg.
Ich schluckte.
Meine Betroffenheit übersah er geflissentlich.
Seine schwarzen Kugelaugen erstarrten, während er die für ihn wesentlichste Frage stellte: „Wie viel Räucherlachse?”
Er lächelte, während ich spürte, dass ich langsam errötete.
Mit seiner Geiernase roch er meinen Widerwillen.
Mühsam mich selbst beherrschend überlegte ich. Doch ich war unfähig auszurechnen, wie viele Räucherlachse ich ihm maximal bieten könnte. Was würden die Warener, was die Prenzlauer sagen, wenn ich ihnen nur sechzig, oder achtzig Pfennige biete? Immerhin mussten sie aufwendige Fischerei betreiben. Wir selbst hatten unsere Tolstolobbestände bereits ausgedünnt, rechtzeitig.
Mit welchem Faktor durfte ich noch  rechnen, wenn der da so rigoros den Preis halbierte?
Ich müsste erst mit den Leitern unserer Nachbarfischereien reden und einen zweiten Termin vereinbaren. Andererseits musste ich ihm jetzt und hier eine nennenswerte Menge Gratisfische anbieten. Immerhin nahm er uns dreihundertundzwanzig Tonnen Silberkarpfen oder Rotaugen ab. Es ging, wenn wir andere schwer absetzbare Arten einbringen könnten um ein erweiterungsfähiges Geschäft von zunächst einer drittel bis maximal einer dreiviertel Million Mark Umsatz.
Wenn er zurückzog, dann brachte ich allein unser kleines Unternehmen um die direkte Einnahme von fünfzig- bis achtzigtausend Mark, - und um wie viel indirekt?
Zuerst musste ich das andere ausrechnen.
„Acht bis zehn Kilo jede Woche?” Das wäre im Verlaufe eines Jahres eine halbe Tonne Räuchlachse, die erst erworben sein wollten.
Über sein fettglänzendes Gesicht huschte ein kleines, leicht verächtliches Zucken.
Kalte Wut kam in mir hoch. Du willst jede Woche mindestens dreißig Kilo Räucherforellen haben?
Du nicht! dachte ich. Mit Gangstern mache ich keine Geschäfte.
„Mehr habe ich nicht!”, sagte ich laut und bereute schon wieder, dass mich Emotionen verleitet hatten. Hätte ich nicht sagen sollen, das muss ich erst überdenken?
Mir schien, dass er dachte: Du Leichtgewicht!
„Hm”, machte er nur, wog den runden Kopf und schüttelte ihn, wie die Russen zu tun pflegten, wenn sie ablehnten.
Ich stand auf oder besser gesagt, der Ärger erhob mich. Ich hätte am liebsten die Glastür hinter mir zugeschmettert. Um einhundertsechzigtausend Mark hatte er mich schon geprellt, bevor von seinen dämlichen Lachsforellen die Rede war.
Wir hörten nie wieder voneinander, noch sah ich jemals den lieblichen Schuppen im Russenmagazin zu Neustrelitz wieder.

 

Ein unvorhersehbarer Schluss


Eintrag in den Merkkalender am 5. September 1991: “Der Krieg zwischen Jürgen N.  der Genossenschaft und mir ist zu Ende!”
Das Bezirksgericht Neubrandenburg hatte endgültig gegen ihn, für uns entschieden.
Meine Frau sagte mir am nächsten Tag: „Ich glaube, Jürgen war hier.” Sie meinte, sie habe gesehen, wie er vor der Haustür gestanden, geklingelt und dann davon gegangen sei, noch bevor er sie oder sie ihn hätte ansprechen können.
Am Abend des folgenden Tages klopfte es an meine Wohnungstür.
Er war es.
Hoch aufragend stand er vor mir. Ich blickte ihn entgeistert an. Er wäre gekommen, um mir zu meinem Sieg zu gratulieren.
Jürgen streckte mir seine riesige Hand entgegen.
Du kannst mir doch nicht zu deiner Niederlage gratulieren! Ich dachte: Was für ein Riesenunsinn.
Allein die Idee fand ich absurd, geschweige denn die Verwirklichung.
Wie Kopfjäger hatten wir uns bekriegt und er kommt um zu gratulieren, weil er unterlag.
„Tritt ein!”
Tief atmend nahm Jürgen im Sessel Platz. Ich starrte auf seinen Mund. Wie oft mochte er diese Szene in den letzten sechzig Stunden durchlitten haben? Ein Mann wie er, der nichts tat, ohne es gründlich erwogen zu haben.
Härteste Brocken hatten wir uns gegenseitig in den Weg gelegt.
Ich sei ein Lügner!
Er ein Ehrabschneider.
Dass ich vor Jahrzehnten in Prenzlau dreißig Berufsschüler in die FDJ hineingepresst hätte.
Komisch, was die Leute alles wussten.
Tatsächlich war ich nach den 3. Weltfestspielen der Jugend und Studenten in Berlin so angetan gewesen vom Kommunismus, dass  ich mich eine Weile auf dem Weg zu Josef Stalin befand.
Natürlich habe ich in meiner Begeisterung 25 Aufnahmeanträge von der FDJ Kreisleitung geholt und sie jedem meiner jüngeren Mitschüler auf die Klassenbank gelegt und danach eine kurze Rede gehalten. Sogar ein Stalinbild pinnte ich an die Klassenwand, war drauf und dran gewesen, in die SED einzutreten. Aber ich tat es schließlich doch nicht, sondern bin bereits Weihnachten 1952 umgekehrt, aus meinen Gründen. Und das kostete mich die von mir angestrebte Laufbahn als Berufsschullehrer.
Jürgen schaute sich aus den Augenwinkeln blickend in unserer Wohnung um. Da gab es, wahrscheinlich zu seiner Verwunderung, keine Anzeichen von Bigotterie, was er meiner bekannten Glaubensansichten wegen sicherlich erwartet hatte.
Ich hätte viel darum gegeben, wenn es mir in diesem Augenblick möglich gewesen wäre, seine Gedanken zu lesen.
„Musste das sein?” fragte ich ihn.
Nur einmal zuvor, weit zurückliegend, als er tief in einer Klemme steckte, habe ich seine grauen Augen so bescheiden, so bittend gesehen.
Wie damals rührte es mich auch diesmal wieder an.
Ich an seiner Stelle wäre nicht zu meinem Feind gegangen. Aber da saß er nun.
„Ich wollte...”, begann er stockend.
Da wusste ich alles.
Sein Freiheitsdrang war stärker gewesen, als seine Vernunft. Den politischen Umsturz habe er als seine große Möglichkeit betrachtet, endlich wegzukommen von den Zwängen, die ein Leben in einem Arbeitskollektiv oder in einem Team notwendigerweise mit sich brachten. Er war nicht geboren worden, um Befehle oder Weisungen entgegen zu nehmen, sondern um sie zu geben.
Immer stand, bis dahin, einer über ihm, und darüber noch einer und so fort. Frei sein wollen und nicht frei und unabhängig sein können, das war sein Problem.
Er hatte den Kampf aufgenommen, jedes Mittel eingesetzt, auch die untauglichen. Jürgen breitete seine großen Hände aus, die ich wohl gebunden sah, die jedoch nur unterstrichen, was seine hellen, unruhigen Augen widerspiegelten. Sie baten darum, dass wir ihm vergeben möchten. Ich sah, wie tief er bereute, mit dem Schädel gegen die Wand gerannt zu sein. Ich sah diesen Hoffnungsblink. Jürgen war unbequem und halsstarrig, groß im Hass und groß genug, sich selbst zu beugen.
Weich kamen die Formulierungen aus dem Kindermund, der mir nicht selten hart und kalt wie Kieselstein erschienen war.
Lange Jahre hatte er vor mir und nicht nur vor mir eine Mauer errichtet. Die stand sehr fest. Sie war hoch und breit.
Deshalb war sie unüberwindlich geworden. Lange Jahre hatte er vorgeben wollen, dass sein Schild und Rüstung, die er sich zugelegt, sein angewachsener und natürlicher Panzer sei. Dieses selbstgefertigte Ungetüm hing nun als Ballast an ihm.
Ja, ich habe ihn manchmal wiedergehasst. Es war mir nicht leicht gefallen, diese Gefühle niederzuringen. Auch die andern Männer hegten starke Abneigung. „Nimmst du mich wieder?” Einen Augenblick lang wusste ich nichts zu sagen. Hätte ich Nein sagen können?
Aber über das Ja entschied ich nicht allein.
Die neue Genossenschaft war von uns so strukturiert worden, dass alle Mitglieder dieselben Rechte wie vorher besaßen, sogar mehr als zu alten Zeiten. Unsagbar schwer würde es werden, die Fischer davon zu überzeugen, dass er von nun an friedlicher und freundlicher mit ihnen umgehen wolle.
Wie ein aus einem bösen Traum erwachender Mann schaute er daher, als ich offen ansprach, was er angerichtet hat.
Er stellte dieselbe Frage, vielleicht weil er annahm, ich hätte sie überhört: „Nimmst du mich wieder?”
Mann für Mann wolle er aufsuchen, zum zweiten Mal, ja, auch das sei richtig, aber diesmal wirklich geläutert, bekehrt durch großen Schmerz.
Ich kannte ihn. Er würde genauso verbohrt, genau so verbissen, wie er bisher gegen uns gewütet hatte, diesen unerhörten Anlauf solange wiederholen, bis die versteifte Wand fiel, und sei es erst beim hundertsten Versuch.
Er konnte gegen alle Logik der Welt anrennen.
Er wollte an das Unmögliche glauben, anders war für ihn kein Leben möglich. Entschlossen allen Hohn und jeden Spott auf sich zu nehmen, war er zu mir gekommen, allen Zweifel, jedes Bedenken überwindend.
Seiner Frau wegen, die er mehr liebte als sich selbst, der Zukunft seiner Kinder wegen. Er musste es tun. Nicht eine Minute lang, nachdem seine Niederlage besiegelt worden war, habe er eine andere Möglichkeit erwogen. Da musste er durch. Er bitte um Vergebung.
Selbst wenn ich es nicht von Herzen gewollt hätte, nach diesen Worten musste ich ihm die Hand zur Versöhnung reichen.
Mir war sonderbar zumute, als seine große Hand meine Finger umschloss.
Er wagte ein kleines Lächeln. „Wenn du zu mir hältst, dann wird das auch was.”
Am drittnächsten Tag wollten wir beraten, was ich für ihn bei den härtesten seiner Widersacher tun, wen wir für ihn gewinnen könnten.
Um seinen Wunsch zu erfüllen, benötigten wir neun Ja-Stimmen.
Es gab diesen dritten Tag nicht, nicht für ihn.
Nachdem er von mir weggegangen war, sprach er viele Stunden lang mit seiner Frau. Jede Einzelheit seines langen Gespräches mit mir erfuhr sie. Danach legte er sich zum letzten Mal in seinem noch jungen Leben zu Bett.
Denn anderntags verunfallte Jürgen im Verkehr auf der Landstraße tödlich.
Ich hätte es mir nie verziehen, wenn ich seine dargebotene Hand ausgeschlagen hätte. Noch nie habe ich auf einer Beerdigung, einen Schlager, gespielt von einem Orgelorganisten, gehört, aber auch noch nie so beeindruckend eine schlichte Melodie empfunden wie dieses Lied: „Wenn bei Capri die rote Sonne im Meer versinkt.”
Ich sah ihn die Netze ausfahren und plötzlich mich als Dreizehnjährigen auf der Ducht des Segelbootes unseres Nachbarn Janzen sitzen, sah das korngelbe, gebauschte Segel und wie die rote Sonne versank und erinnerte mich der darauf folgenden Nacht der Schrecken, - der Bombardierung Peenemündes - die aber nicht das Ende bedeuteten, sondern mir die wunderbare Einsicht gaben, zu begreifen wie wertvoll jeder Tag ist, an dem wir leben dürfen, um nach düsteren Stunden wieder und wieder die aufgehende Sonne zu sehen ...




























Anmerkungen:

1 „Fritz Biederstaedt, ich habe dir schon dreimal gesagt, dass du bei mir nicht arbeiten kannst. Du bist noch zu dürre!“
2 „Dann man zu, ...sie werden das schon machen. Aber wenn sie glauben, dass  die  Bleie  goldene  Flossen  haben,  dann irren sie sich.“
3 „Zu dürre, Franz Meltz! Hundertachtzig hättest du bieten müssen! Zu dürre!“
4 „Sie haben ja bloß Weißfische!“
5  „Diese Frechheit habe ich nicht gehört!“
6  „Die Aufregung steht ihnen diesmal nicht zu!“
7  „Ach! Daher weht der Wind!“
8  „Wenn euch das bei mir nicht gefällt, dann sucht euch andere Arbeit!“
9  „Jan! Kommen sie in mein Büro!“
10 „Meister, lassen sie das mal gut sein. Wir wollen uns doch nicht  erzürnen.“
11  „Meister, ich glaube, wir können nun zu Eise fischen!“
12  „Los Leute! Karl hat Recht. Ziehen wir noch Alt-Rehse!“
13  „Nur zu!“
14  „Wenn es was wird, dann wird es was!“
15 „Ein gutes Zeichen!“
16  „Das sind Bleiplötzen!“
17  „Wir haben sie! Wir haben sie!“
18 „Habe ich euch das nicht gleich gesagt? Heute fangen wir etwas! Heute fangen wir etwas!“
19  „Fünfzehn Tonnen!“
20  „Ich laufe hinunter!“
21 „Fru Meistern, wie hem de Bli!“
22  „Bist du es, Fritz?“
23 „Ja, Meister, wir haben die Bleie auf der Großen Lanke gefangen. Bleie, groß wie Waschbretter.“
24  „Wie viel hat Jan geschätzt?“
25  „Jan Schlämann hat gesagt, es sind dreihundert Zentner.“
26  „Ist das wirklich wahr?“
27  „Meister, habe ich je gelogen?“
28  „Fünfzehntausend!“
29  „War das Netz bereits morsch, Fritz?“
30  „Ja, auf Jan ist Verlass!“  
31  „Die Bleie, Meister Meltzen, haben doch goldene Flossen!“
32  „Das dämliche Zeug wird uns noch viel Ärger bereiten.“
33  „Fritz, du brauchst dir nichts dabei zu denken!“
34   Krieg muss es geben!
35   „Meine Leute fangen im Augenblick nichts.“
36  „Tut mir leid, wir fangen momentan nichts.“
37 „Der Alte hat den See ausgeplündert. Kein Wunder, er hat jeden Schwanz mitgenommen.“
38   „Wir spielen doch bloß um einen zehntel Pfennig.“ 
39  „Krieg muss es wieder geben, Fritz!“
40 „Aber, das hätte auch mehr Geld werden können.“
41  „Meister, sie wollen da doch nicht hineingehen?“
42  „Meister, das ging zu weit. Wir haben getrunken und das  bekommt ihnen nicht.“
43 „Ich bin die Verantwortung!“
44  „Da gibt es nichts!“
45  „Jetzt wird Mümmelloch gezogen, wo es nichts geben wird!“
46  „Zwanzig Pfund!“
47 „Jan! Gestohlen wird nicht!“
48  „Meister!“... „haben wir nicht sehr schöne Fische gefangen?“
49  „Komm Ernst“,... „das hilft ja alles nichts, Spaß muss sein.“
50  „Das geht nicht!“
51  „Jawohl! Durchschneiden!“
52  „Ich mach das Meister!“
53  „Zu!“
54  „Der Kerl ist längst zu Hause!“
55  „Sind sie sicher, dass wir Fritz nicht verloren haben?“
56  „Ich habe mir Sorgen um euch gemacht!“
57  „Das wird gefeiert!“
58  „Darauf müssen wir anstoßen!“
59  „Fritz, merk‘ dir das. Übermut tut selten gut.“
60 „Ernst, du hast doch Juden in deiner Verwandtschaft, nicht wahr?“
61 „Wenn ich nicht schlafen kann, brauchen andere Leute das auch nicht!“
62  „Wenn meine Leute sich auf dem See herumtreiben, während du mit deinem Hintersten im warmen Bett liegst, dann dürfen auch einmal einen kleinen Blumentopf  herunterwerfen.“
63 „Donnerstag und Freitag! Wer bezahlt hier den Kram, du oder ich?“
64  „Das hast du gut gemacht!“
65  „So wird das gemacht!“
66  „Fritz, reiße den Rest auch noch herunter!“
68 „Ach was! Die Blumen vertragen das!“
69 „So, nun wir nach Usadel gefahren!“
70 „Fritz, fahre den BMW vor!“
71  „Man zu!“ 
72 „Der liebe Gott hat uns den Verstand gegeben, damit wir ihn gebrauchen, Fritz!“ 
73 „Nein, Frau Meisterin! Ihren Mann kann man nicht aufhalten, der  läuft wie ein Pferd.“
74  „Ich frage dich Anna, ist das ein Zossen?“
75  „Nicht, dass du mir den Prachtgaul wieder mies machst.“
76 „Was wahr ist, bleibt wahr!“
77  „Ernst Peters juckt wohl das Fell!“
78  „Was bin ich?“
79  „Ein Ausbeuter! Jawohl!“
8o „Du wirst doch wohl nicht schlecht geschlafen haben?“
81 „Dass du ein großer Dussel bist!“
82  „Lass ihn doch!“
83  „Zum Teufel, Fritz Biederstaedt, wo kommst du her?“
84  „Ernst, komm herein!“
85  „Was hast du dir dabei gedacht, Ernst Peters?“
86  „Mein Heinz ist bei der Leibstandarte Adolf Hitler...“
87  „Um so schlimmer, Ernst, um so viel schlimmer!“
88  „Ernst, du hast dich in die Brennnesseln gesetzt!“
89 „Der Kerl macht sich vor seinem Liebchen groß und ich komme dafür in des Teufels Küche. Nein!
90 „Das hilft ja  alles nichts, Ernst; lege dich nicht an mit den SA-Leuten.“
91  „Dein Bestes, Ernst, dein Bestes!“
92 „Ich persönlich halte von dem Müller gar nichts. Wenn das nach mir ginge, würde ich dem Fatzke, wegen seines großen Maules eins auswischen!“
93 „Bloß keine Missverständnisse, Ernst!“
94  „Bezahlt hat er schon!“
95  „Bezahlen muss sein. Meister!“
96  „Ich verlasse mich darauf, dass du den Mund hältst!“
97  „ Aber Ernst, glaubst du, dass ich nicht dichthalten kann?“
98  „Das hätte ich nicht sagen dürfen, dass es Krieg geben muss.“
99  „Nichts  halte ich davon!“
100 „Na, ja, man tut, was man kann.”
101  “Gegen Lügen ist also doch ein Kraut gewachsen.”
102  “Es kommt alles heraus!”
103  „Los Leute, Motor anwerfen. Los! Weg, bloß weg von hier.“
104  „Los Leute,  der  Sturm  wartet  nicht,  fahren  wir hinunter und ziehen noch Dörpen!“
105  „Kurt! Das lasse ich mir nicht entgehen! Eine Stunde, Kurt!“
106  „Fritz, seit vier Uhr sind wir unterwegs.“
107  „Auch das noch!“... „Heute geht alles schief!“
108 „Erst die Suppe!“   
109 „Komm doch herein!“
110 „Schönen Tag auch, allzusammen!“
111 „Los Leute! Wir machen noch einen Fischzug!“
112 „Was machen wir mit dir?“
113 „Weker büst du denn?”
114 „Ist das die größte Pfanne? Ilses Freund bin ich! Muss mich erst stärken!“ 
115 „Na, denn man tau!“
116 „Die reichen für uns beide! Ich bin Karl, der Sohn des alten   Degelow, des Schlachters!“    
 117 „Dorher weicht de Wünd.”
 118 „Ji SEDisten spannen uns alltohop för jugen Plog.”
 119 „Den Kierl schmiet ick int Woter!”
 120 „Ich trete auf die Außenbordseite  und du auch.”
 121 „Leute, was wir gemacht haben, das war schlimm!”
 122 „Du hast keine Ahnung!”
 123 „Teufel auch!”
 124 „Leute, wie viel Geld haben wir schon in all den Jahren zum Fenster (hinaus) in den See geworfen.”
 125 „Da mag man ja nicht ‘mal einen Hund vor die Tür jagen!”
126  „Guten Tag auch, miteinander!”
127  „Aber soviel gemütlicher ist es hier drinnen.”
128  „Und die Kasernierten? Und die Aktentaschenträger?”
129  „Dieser Staat ist unfähig. Bloß Beamte und Polizisten!”
130  „Wir kennen dich schon, Otto Görß, sei bloß ruhig und zufrieden!”
131 „Zehn Jahre nach dem krieg!”
132  „Jetzt wird das Maul gehalten!”
133  „Leute, wir haben getrunken, macht euch nicht unglücklich!”
134  „Was wollt ihr mehr?”
135  „Otto baut die Maschine und die Absperrung, stimmt das Otto?”
136  „Wer hat dir die Hasenpfote angesteckt?”
137  „Otto, Teufelskerl, wie viel Geld benötigst du dafür?”
138  „...Sechstausend!”
139  „Mehr nicht? ... das lässt sich doch machen?”
140  „Allesamt!”
141  „Dies wird das Vertikalschnittwerk.”
142  „Vertrag ist Vertrag.”
143  „Wenn es nichts wird, dann gehe ich in die Partei, wenn es aber was wird, dann gehst du in die Partei!”
144 „Aber mit dem Vertrauen spaßt man nicht!”
145  „Habe ich mir gleich gedacht. Die (Schecks) brauchte ich gar nicht.”
146  „Der ‘Rohrspatz‘ muss leicht gehen!”
147   „Das sage ich euch!”
148  „...wenn getrunken wird, dann wird nicht gearbeitet!”
149  „Otto, du hast dich übernommen!”
150  „Er hat auch mehr Kinder als du.”
151  „ ... Karl, wer soll dieses Paket haben?”
152  „Der Teufel soll es holen!”
153  „Ihr müßt die Hälfte der Leute entlassen!”
154  „Müssen!”
155  „Wie geht es dir, mein Sohn?”
156  „Er lügt!”
157  „Ihr seid auch nicht besser!”
158  „Hauptsache: Ich!”
159  „Immer ehrlich bleiben!”
160 „Herr, was sind wir für Kerle “
161  „Lasst uns das doch ausprobieren!”
162  „Das sind die alten Zeiten, das sind zehn Tonnen!”
163  „Ich konnte dich doch nicht verraten, Junge!”
164  „Das gibt es nicht!”
165  „Die Partei will uns die Seele aus dem Leib reißen!”
166  „Wenn du etwas werde willst, dann musst du das!”
167  „An die zwanzig Jahre habe ich noch.”
168  „Das muss geändert werden!”
169  „Sieh dir das an!”
170  „Hast du dir das so vorgestellt?”
171  „Wenn das der ganze Kommunismus ist, dann fahrt nächstes Mal alleine, und lasst mich an Land.”
172  „Zwanzig Kilometer Umweg, sind (wohl) doch ein bisschen viel!”
173  „Da sind welche.”
174  „Der ist ins Dorf gegangen, er holt die Polizei.”
175  „Das Wichtigste ist, dass sie uns nicht fassen!”



P.S.

Erst am 6. Januar 1994 wurde mir amtlich mitgeteilt, dass die Staatanwaltschaft Neubrandenburg das gegen mich geführte Ermittlungsverfahren wegen Fischwilderei gemäß § 154 d 3 StPO eingestellt hat.

Abkürzungsverzeichnis

AE        Arbeitseinheit, Tagesnorm
EVP      Endverbraucherpreis, staatlich festgelegter
HO        Handels-Organisation
KVP      Kasernierte Volkspolizei
LPG      Landwirtschaftliche Produktions-Genossenschaft
M v       vorgestreckte Maräne
ND        “Neues Deutschland“, Organ der SED
NVA      Nationale Volksarmee

RWN     Reparaturwerk Neubrandenburg