Donnerstag, 10. Juli 2025

"Die Dramen meines Jahrhunderts" (1)

                                                    "Dolly"

Schon vor den Tagen des frühen Herbstes 1974, noch bevor wir unseren Betriebsausflug ins Land der Magyaren starteten, erinnerte ich mich deutlich der jüngeren, traurigen Vergangenheit dieses Landes.

Hungary in Europe

Das tragische Schicksal des damaligen Ministerpräsidenten Imre Nagy und seiner Unterstützer stand in Bildern vor mir. Menschen meines Schlages konnten und wollten nicht vergessen, dass 1956 in Budapest, wie drei Jahre zuvor in Berlin, demokratisches Denken und Wünschen mit Waffengewalt niedergewalzt wurde. Die breite Mehrheit der Ungarn wollte sich von beklemmender, sowjetrussischer Bevormundung befreien, und der reformwillige Kommunist Nagy ließ zu, dass seines Volkes Forderungen nach freien Wahlen straffrei erhoben wurden.

Es ist wohl wahr, dass die Rote Armee, 1944/45, Ungarn von faschistisch und antisemitisch orientierten „Pfeilkreuzlern“ und deren Gesinnungsgenossen befreiten: Aber, dass diesem Land der Bauern und Studenten anschließend die Lenin-Stalin-Ideenwelt aufoktroyiert werden sollte, lehnten, laut Ergebnissen der ersten und einzigen freien Wahl 1945, 83 Prozent ab. Die Partei der Kommunisten erhielt nur 17 Prozent der Stimmen. Mit List und Tücke, - sehr ähnlich wie Kuckuck-Babys ihre Mitkücken, als Überlebenskonkurrenten, brutal ins Verderben stießen – behauptete diese Minderheit bald die absolute Oberhand.  

Aus Sicht Erz-kommunistischer Politiker hätte Imre Nagy insbesondere den jungen und alten Intellektuellen niemals freien Lauf zugestehen dürfen. Diesen Ideenträgern hätte, - so die Ansichten der Total-Roten, - die vom Kreml gebilligte Regierung Nagys, Paroli bieten müssen. 

Was er zuließ, galt als Verrat an den „hehren“ Prinzipien der „neuen Gesellschaftsordnung“. Alle Menschen unter russischer Vorherrschaft mussten hinlänglich indoktriniert werden. Dissidenten zu gängeln, war oberste Pflicht jedes Parteisoldaten. Nun aber erhoben sich zehntausende Ungarn und demonstrierten mit Plakaten für Presse- und Meinungsfreiheit. Die Erhebung nahm um den 23, Oktober 56 Fahrt auf. Es kam seitens der Budapester zu Ausschreitungen. Parteizentralen wurden gestürmt, deren Personal angegriffen. Chruschtschow tobte und schwor Rache. Am 4. November rückten 15 Divisionen der Sowjetarmee mit 2.000 Panzern und etwa 200.000 Soldaten ein. Sie zerschlugen in den darauffolgenden Tagen den Aufstand unter erbittertem Widerstand. Mehr als 2 000 Menschen, zumeist die unter 40-Jährigen kamen bis zum 11. November zu Tode. Gnadenlos bestraften die sogenannten „Sieger der Geschichte“ zuerst die Aufständischen, dann Nagy. Er wurde erhängt.

Auch wenn die große Tragödie fast zwanzig Jahre zurücklag.  Diese fernen Ereignisse gehörten nicht nur für mich zum Schlimmsten, was die Roten in Friedenszeiten jemals verbrochen hatten.

Es war ein warmer Septembertag, 1974, an dem wir DDR-Fischer-Touristen in Budapest eintrafen. Wir freuten uns auf Weintrauben, die es bei uns selten oder nie gab. Nach durchschwitzter Hotelnacht holte uns ein Bus ab. Sightseeing war angesagt.  Am Budapester Platz der Nationen stiegen wir aus. Dort hielt unsere Dolmetscherin, - eine temperamentvolle, charmante und auffallend gut gekleidete Fünfzigerin, - in recht geschwindem Deutsch einen Kurzvortrag zu zwölf deutsch-österreichisch-ungarischen Kaisern und Herrschern, deren Statuen und Köpfe auf uns herunterblickten. Ehrlich gesagt, sie hatte den Vortrag heruntergeleiert, wohl in der Annahme, dass es uns ohnehin nicht interessieren würde. Ich stellte eine Nachfrage, weil mich Kaiser Matthias (Ungarns König) Handeln interessierte, hätte er doch die politische Weichenstellung, die dann bedauerlicherweise zum 30-jährigen Krieg führte, auch anders vornehmen können. Der ganze Jammer wäre vermeidbar gewesen. Wütend fuhr mich die Dame an, die sich selber als „Dolly“ vorgestellt hatte: “Passen Sie nächstes Mal gefälligst auf! Ich habe ihnen die Frage längst beantwortet!” 

Sich auf den Hochhacken ihrer schicken Schuhe abdrehend, stürzte sie auf unseren himmelblauen Bus zu. Ich war schneller. Ihre Mimik warnte mich, sie anzureden. Ihr war anzusehen, was sie dachte. Es war unter ihrer Würde, einfachen Fischern, statt Hochschullehrern oder Künstlern zur Verfügung stehen zu müssen. Nicht der nicht vorhandene Geruch, der unserem Berufsstand anhaften sollte, sondern eher ihre Vorstellung davon war es, was sie möglicherweise als so unangenehm empfand. Glaubte sie im Ernst, dass sie mich durch ihre rigorose Unhöflichkeit abschrecken könnte? “Da fehlt aber der dreizehnte Nationalheld!” sagte ich. Sie stutzte. Ihre Augen rollten. Ihr Atem stockte, als ahne sie bereits, dass ich nicht nachgeben würde. Sie zog die Lider hoch. “Und der wäre?” Noch verriet ihr Gesicht, dass sie unerfreut war. “Imre Nagy!” erwiderte ich prononciert: „Notsch“

Imre Nagy, a Controversial Figure of Modern Hungarian History - Hungarian  Conservative    (Imre Nagy 1896-1958)

"Um Gottes willen!”, stöhnte die Dame. Ihr Ausdruck änderte sich völlig. Sie griff halt suchend nach meinem Ärmel, schaute sich vorsichtig und von  offensichtlicher Angst erfüllt um. Zugleich war da das schöne Aufleuchten ihrer grauen Augen: “Die Redaktion!” flüsterte sie. Die Redaktion, das war ihre Umschreibung für Leute des ungarischen Staatssicherheitsdienstes oder solcher die ihm zuarbeiteten. Wenn das einer der „Redakteure“ gehört hätte! Ich wäre sofort festgenommen worden. Verblüfft hörte sie mir zu. Imre Nagy letzte, erhaltenen, auf Tonband gesprochene, Worte lauteten: „Ich bitte nicht um Gnade!“

Kaum war ich in den Bus eingestiegen und hatte ziemlich weit hinten, neben Erika Platz genommen, kam sie zu uns. “Darf ich mich nach dem Befinden Ihrer Gattin erkundigen? Sitzen Sie bequem? Kann ich etwas für Sie tun?” In mir lachte es vergnügt. Im Traum wäre ihr nicht eingefallen, einen einfachen Fischer und seine Fischerin so zuvorkommend zu behandeln. Aber so unverhofft einem deutschen Gesinnungsfreund zu begegnen, nun da doch alles längst Geschichte war, zu einer Zeit, da selbst den nachgeborenen Ungarn strikt verboten war, daran trauernd zurückzudenken. Es hatte sie überwältigt.  Da kommt ein kleiner DDR-Bürger und erklärt seine Sympathie für ihren großen und geschmähten Helden.  Erika lachte leise und zufrieden, ahnte jedoch nicht, wie sie zu dieser netten Geste kommen konnte. Ich verzog, hoffe ich, keine Miene. “Vielen Dank, alles OK.” erwiderte ich und tat viel bescheidener, als ich in Wahrheit war, und nickte ihr zu. Innerlich jubelte ich: Na also, lagen wir doch dieselbe Wellenlänge.

Ja, wir wussten es: Zumindest einigen unter den 2 000 sowjetischen Panzerfahrern, die am 4. November 1956 In Budapest einrückten, wurde weiß gemacht, sie befänden sich in Ägypten, wo die Briten zeitgleich kämpften, um der bereits Ende Juli 56 erfolgten Verstaatlichung des Suezkanals entgegenzuwirken. Ohne Absprachen mit London und Paris zu führenhatte das mit der Sowjetunion befreundete Ägypten am 26. Juli dieses Krisenjahres die Suez-Kanal-Gesellschaft entmachtet. Es traf die Rechtsnachfolger der Macher und Finanzierer dieser Wasserstraße.

Irgendwie bestand eine Verknüpfung dieser beiden, fern voneinander liegenden Ereignisse, die unter den Augen der kommunistischen Machthaber stattfanden.  Denn, zeitgleich weitete sich der überwiegend friedliche, aber antikommunistische ungarische Studentenprotest aus. Im hoch-katholischen Polen rumorte es um diese Zeit ebenfalls heftig. Chruschtschows Geheimrede, die er nur wenige Wochen zuvor, Ende Februar 1956, als neuer Kremlchef vor seinen hochrangigen Genossen hielt, war längst im Westen und in vielen Kreisen der Ostblockstaaten nicht mehr geheim. Alle Oppositionellen witterten Morgenluft. Chruschtschow hatte Stalin unversehens als Verbrecher oberster Kategorie klassifiziert. Gefängnisse öffneten ihre Tore und Rehabilitationen zahlreicher politischer Gefangenen erfolgten öffentlich. Tauwetter war angesagt. Jetzt wollten immer mehr Menschen noch mehr Freiheiten erlangen. Imre Nagy sagte diese Entwicklung durchaus zu, während Nikita Chruschtschow hoch besorgt sah, wie erheblich das Anwachsen der Lawine war, die seine Macht bedrohte. Obendrein bombardierten Großbritannien und Frankreich am 31. Oktober, ägyptische Flughäfen. Umgehend unternahm Israel einen Vormarsch; gegen Ägypten. Knapp eine Woche später, am 5. November, einen Tag nach dem Beginn ihres Einmarsches in Ungarn, drohte die außenpolitisch unter Druck stehende Sowjetregierung gegenüber Frankreich und Großbritannien, „mit der Anwendung von Gewalt die Aggressoren zu vernichten und den Frieden im Nahen Osten wiederherzustellen.“ Chruschtschow und sein engster Vertrauter Bulganin, damals Ministerpräsident, sprachen sogar von der Zerstörung der westlichen Hauptstädte mit Atomwaffen. Das bestätigten einige Quellen.  Alles Wissen um diese Zusammenhänge wurde, nach dem blutigen „Sieg“ der rabiaten Supermacht, geschickt und so gut wie möglich unterdrückt und überspielt. Die Drohung Atombomben einzusetzen war auch eine Warnung an den „Westen“ sich Ungarn betreffend mit Kritik zurückzuhalten. Das war die Auswirkung der Ideenkombination von Panslawismus und Bolschewismus. Man wollte vergessen machen und herrschen…

In den folgenden Tagen überbot Frau Dolly sich uns Gutes zu erweisen. Am Programm des Abschiedsabends nahm ich allein, und nur für eine Stunde teil, weil es Erika bei der drückenden Hitze nicht gut ging. Als unsere Dolmetscherin bemerkte, dass ich aufbrach, winkte sie ein Blumenmädchen heran, kaufte schneller als ich begreifen konnte, einen Rosenstrauß und gab ihn mir mit besten Genesungswünschen für meine geliebte Ehefrau mit auf den Weg. 










Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen