Gerd Skibbe
„Ich war ein Hitlerjunge“
- oder
Die Dramen meines Jahrhunderts
Vorwort
Die Umstände - damals war ich
Kreisvorsitzender der CDU Neubrandenburg - brachten es mit sich, dass ich dabei
war, als Andrzej Szczypiorski der polnische Sejm Abgeordnete und
Schriftsteller, vom Rednerpult aus, in die Runde der mehr als vierhundert Kulturschaffenden
schaute. Diese Konferenz fand am 31. Oktober 1990 zu Frankfurt/Oder statt,
anläßlich der Eröffnung der Europauniversität. Er sagte wörtlich „Meine
Damen und Herren, die Banditen sind nicht unter uns, - sondern
sie sind in uns!” Alle schauten auf, auch Bundeskanzler Helmut Kohl,
die Präsidentin des Deutschen Bundestages Prof. Dr. Rita Süßmuth und andere
Prominente ebenfalls. Niemand protestierte.
König Benjamin bestätigt diese innere
Zerrissenheit aller: „Der natürliche Mensch ist ein Feind
Gottes!“ Mosia 3: 19, Buch Mormon
Auch Goethe beklagte unser Hin- und
Hergerissensein, mit Worten, die er Faust in den Mund legte: „Zwei
Seelen wohnen, ach! in meiner Brust, Die eine will sich von der anderen
trennen; Die eine hält, in derber Liebeslust, sich an die Welt, mit
klammernden Organen; Die andre hebt, gewaltsam sich vom Dust zu den Gefilden
hoher Ahnen“
Hier die starken Neigungen, da unser
Gewissen. Ich weiß, was ich falsch, und was ich gut dachte und machte. Und
du weißt es von dir selbst ebenfalls. So ist mein Buch ein Dokument
vom kleinen Bemühen inmitten hochgefährlicher Zeiten und Zustände denen
wir weiterhin ausgesetzt sind. Es ist zeilen- und seitenweise meine
Lebensbeichte…
Das Folgende verfasste ich, gewissenhaft, aus
alten Aufzeichnungen, Erinnerungen und vertrauenswürdigen, jedem zugänglichen
Dokumenten aus der Perspektive des Jahres 2024
Gerd Skibbe, Melbourne 2025
Gesamtdeutschland 1990
Ein Bengel – mehr nicht
Nach dem Verschwinden Vaters aus meinem
Dasein – weil er zur Wehrmacht eingezogen wurde - vereinnahmten mich mehr und
mehr die Pflichtdienste zunächst in der „Deutschen Jugend“, dann in der
„Hitlerjugend“. Mir wurde, als ich knapp 14 war, nahegelegt Pilot zu werden.
Und so zog ich bereits 1944 die graublaue Uniform an, die ich trug, bis einen
Tag vor dem Einmarsch der Sowjetarmisten in meine Heimatstadt.
Unvergessen:
In der Nacht vom 17. zum 18. August 1943 riss uns Sirenengeheul aus dem Schlaf:
doch wie üblich geschah nichts. Die Feindflugzuge suchten größere Ziele. So
drehte ich mich um und fiel wieder ins Traumland, bis mich eine gewaltige
Detonation weckte. Es krachte immer heftiger und hörte nicht auf. In Panik
raffte ich meine Kleidung und stürzte gleich anderen Bewohnern des Hauses
Langestraße 17 in den Keller. Jeden Augenblick konnte uns die nächste Bombe
töten. Ich war gewiss, dies ist mein Ende. Aber es traf Peenemünde, wo die
Nazis ihre Raketen produzierten. Die Luftlinie betrug 8 km. Doch die Luft einer
windstillen Nacht kann über Wasserflächen Geräusche fast ungemindert
übertragen. Es waren 600 Lancaster- und Halifax – Bomber die ihre Lasten auch
als Phosphorbehälter abwarfen, alles in der Hoffnung Hitlers Raketenprogramm,
das vom Westen als schwere Bedrohung betrachtet wurde, empfindlich zu stören,
oder zu vernichten. Im Nachhinein schien mir, dass es die Schreie
der französischen, britischen, russischen Kriegsgefangenen waren, die wir in
den winzigen Pausen platzender Bomben durch das offene Kellerfenster vernahmen.
Frau Müller, unsere Hauswirtin, die in Peenemünde als Sekretärin arbeitete,
berichtete uns später, wie grauenvoll der Anblick jener war, die von Phosphor
überschüttet zu Tode verbrannt in den Maschen der sie umgebenen Drahtzäune
hingen.
Wir wurden evakuiert. Mit weit geöffnetem Mund
stand ich nur wenige Tage später auf dem Vorplatz des Berliner – S-Bahnhofs
Alexanderplatz, den ich bereits kannte, da meine Eltern, 1937 eine
Großkonferenz mit Präsident Heber J. Grant besuchten. Ich sehe ihn immer noch
in kleiner Entfernung dasitzen, - unseren Propheten - umgeben von Missionaren. Statt
der Häuser sah ich nun nur rußgeschwärzte Ruinen. Mutter ging mit uns – mit
meinem Bruder Helmut und meiner Schwester Helga sowie mir - nach Oberschlesien,
wo ich 6 Monate lang weder die Schule besuchte, noch irgendwelche religiösen
Zusammenkünfte, sondern lediglich mit einem ebenfalls verwilderten, anderen
„Mormonenbengel“ allerlei Schabernack trieben, wobei ich nebenher ellenlange
polnische Flüche lernte. Vater kam im März 44 vom Genesungsurlaub zu uns nach
Ratibor. Er verlangte unsere umgehende Rückkehr nach Wolgast. Er sah voraus,
dass die Rote Armee bald als Sieger kommend in Schlesien einmarschieren würde.
Zuvor hatte die deutsche Wehrmacht die Schlacht am Kursker Bogen, unter sehr
hohen Verlusten an Menschen und Material, kriegsentscheidend verloren. Wieder
in Wolgast absolvierte ich, nun als Voll-Mitglied der „Flieger – Hitler-
Jugend“ meinen ersten Start mit dem Schulgleiter SG 38. Ich flog in fünf, sechs
Meter Höhe etwa 80 Meter weit. Mir wurde anschließend nahe gelegt mich
den Schülern meiner Klasse in Groß-Mölln in Hinter-Pommern anzuschließen. Dort
wurden wir straff vormilitärisch ausgebildet. Splitternackt paradierten die wir
im Strandsand und übten Stechschritt, lernten Kriegslieder, aber wenig
mehr. Frauen oder Urlauber gab es nicht. Nun, gut 14 Jahre alt, erhielt
ich eines Herbsttages eine saftige Ohrfeige von einem SA-Mann, der das große
Hakenkreuzenblem als Armbinde über seinem braunen Oberhemd trug. In einem
Großzelt hinter dem heruntergekommenen Hotel Böttcher, indem wir bis kurz vor
Weihnachten wohnten, wurden wir geschult. Wir sollten verinnerlichen, dass
unser Leben Adolf Hitler gehört. Bis dahin war zumindest mir nicht bewusst,
dass es dem großen „Führer“ darum ging, uns Heranwachsende bald als gut
vorbereitete. Ein kleiner Nazi-Mann ereiferte sich, uns zu sagen, dass an allem
Unglück die Juden schuld seien. Dabei fielen aus seinem Mund die Worte: „Schlau
sind sie schon immer gewesen. Und ein besonders schlauer schrieb die
Bibel…“ Ich meldete mich, aber keineswegs, weil ich etwa irgendwie
fromm gewesen wäre, sondern ich wusste es eben besser. Er kam zu mir. Ich saß
im Schulungszelt hinten. Er hörte mich sagen: „Nein, das ist nicht
korrekt, die Bibel entstand im Verlaufe von Jahrhunderten.“ Peng! Die
Ohrfeige saß und brannte eine Weile. Auch wenn ich weit zurückliegend in meiner
Heimatstadt Wolgast selten Missionaren unserer Kirche begegnete und ihnen noch
seltener zuhörte, war doch einiges haften geblieben. Zudem besuchte ich
gelegentlich die „Gottesdienste“ der evangelischen Gemeinde. Ich kann mich, bis
heute, an gewisse Passagen der Predigten und Unterrichtsstunden erinnern. So
erfuhr ich schon früh, dass die Bibel ein Buch vieler Bücher zahlreicher
Schreiber war. Das wenigstens war in meinem Gedächtnis haften geblieben.
Gebetet habe damals ich nicht. Gott kam in meinem Leben, zu dieser Zeit, nicht
vor. Alle Erlebnisse die mich zuvor beeindruckten, waren vergessen. Da erstürmten Russen im Oktober 44 die
Kleinstadt Gumbinnen in Ostpreußen, während die westlichen Alliierten Aachen,
im äußersten Westen Deutschland, belagerten. Das erfuhren wir erst viel später.
Unsere Grundhaltung sollte optimistisch bleiben. Allerdings wurden wir, wegen
der rasant vorrückenden russischen Front, nach Ahlbeck, nahe Wolgast verlegt. Da,
nach einer Schlägerei ging eine große Fensterscheibe zu Bruch. Mein Freund Richard
hatte sie mit dem Ellenbogen zertrümmert. Als Klassenältester musste ich das
melden. Ich behauptete jemand hätte vom Hof aus, den Schaden angerichtet. Der Lagerleiter
sah sich um. Die Scherben hätten innen, vor dem Fenster und nicht draußen
liegen müssen. Herr Peters, ein Mann um die sechzig, lebenslänglicher Lehrer,
schaute mich nur kopfschüttelnd an und ich nahm mir vor, nie wieder zu lügen.
Im Winter 1945 begegneten wir dort, in Ahlbeck, wieder Mädchen. Sie marschierten in Blöcken, wie wir, auf einem großen freien Platz zum Fahnenappell. Ihr Anblick entzückte nicht nur mich. In ihren schwarzen Röcken sahen sie bezaubernd aus. Außer mir trugen die Jungen ebenfalls schwarze Uniformen. Nur ich ging, als künftiger Pilot, blaugrau gekleidet und sah schon so aus wie ein Sechzehnjähriger. Das sagte mir jemand. Eines Tages steckte man mir einen Brief zu. Ich öffnete ihn erst, als ich allein war. Von einem postkartengroßen Foto lächelte mich ein liebliches Mädchen an. Eine strahlende Schönheit. In harmonischen Kurven geschrieben leuchteten für mich die Worte: An Gerd – deine dich ewig liebende Inge Zühlsdorf. (Später sah ich sie oft. Wir wechselten zu keiner Zeit irgendein Wort. Ich wusste nicht, was ich hätte sagen können) Anfang März nach Hause und aus der Schulpflicht entlassen, erhielten wir unsere Zeugnisse. Meins gehörte wohl zu den Schlechtesten. 16 Vieren und eine Zwei, und die ausgerechnet in Betragen, dass mir selber selten oder nie gefiel. Warum mein Klassenkamerad Gerhard Schröder gerade mich und meinen Freund Richard Schwenk, samt dessen Schwester Gerda zur Konfirmationsfeier eingeladen hatte, blieb mir ein Rätsel. Gerda, eine in meinen Augen, ebenfalls schöne Blondine, ein Jahr älter als ich, kam an jenem späten Nachmittag zu mit, nachdem wir Tortenstücke genossen hatten – etwas völlig Unbekanntes für uns, die keine reichen Bauern zur Verwandtschaft zählen konnten, und gleich nachdem Wein! herumgereicht wurde –: „Gerdi, der Gerhard will immer wieder Brüderschaft mit mir trinken, aber ich würde lieber dich küssen!“ Gerhard saß am anderen Ende des großen Ausziehtisches und schien leicht betrunken zu sein. Gerdas Einladung sagte mir ungemein zu. Draußen, im Fastdunkel, genossen wir es sozusagen harmlos einander gern zu haben. Überhaupt, dass Gerhard Konfirmand sei, blieb mir, wann immer ich daran dachte, unverständlich. Keiner von uns Abgängern der Volksschule glaubte an Gott, ich selbst ein wenig, auf jeden Fall inkonsequent. Selbst noch ein, zwei Jahre später glaubten stattdessen viele Deutsche klammheimlich und wehmütig an Adolf Hitlers beste Seiten. Schließlich brach er den Fluch jahrelanger, allgemeiner Arbeitslosigkeit in ganz Deutschland. Er gab den Mutlosen, nach der demütigenden Niederlage nach dem Ersten Weltkrieg 1918 und der folgenden Hyperinflation wieder Hoffnung, allerdings gewürzt mit deftigen Parolen, deren Schändlichkeit zu viele nicht erkannten. Er zog - angeblich - einen Schlussstrich unter die Pflicht fortlaufender Reparationszahlungen in erheblicher Milliardenhöhe, die gemäß dem Versailler Vertrag von 1919 geleistet werden musste. Heutige können sich kaum ein Bild von der Lage deutscher Eltern in der Zeit zwischen 1919 und 1933 machen: Bereits während des letzten Kriegsjahres breitete sich Angst vor einer galoppierenden Inflation aus. Das plötzliche Misstrauen des Mittelstandes, die staatliche Finanzpolitik sei auf Täuschung der Öffentlichkeit aufgebaut, reizte und peitschte die Nerven aller. Vorsicht trieb die Händler zu überzogenen Reaktionen. Das künstliche Finanz-gefüge brach zusammen. Eine Schachtel Streichhölzer, 1910 für einen einzigen Pfennig zu erwerben, kostete im November 1923 schließlich fünfundfünfzig Milliarden Mark. Der Preis für eine einfache Briefmarke betrug 20, dann sogar 50 Milliarden. Selbst kleinere Fabriken mussten, um das Geld zur Löhnung ihrer Arbeiter transportieren zu können, Pferdefuhrwerke zu den Banken schicken. In sechzig deutschen Notendruckereien spuckten die insgesamt 1723 Druckmaschinen pausenlos Geldscheine mit astronomischen Zahlen aus.
Hitler-Jugend-Führer
Immer mehr Ostflüchtlinge trafen ein. Ihr
meist kleines Gepäck wurde von uns in die umliegenden Dörfer auf kleinen Wagen
gefahren. So schritt, eines nachts eine hochgewachsene Frau, eine ganze Stunde
neben mir her, ohne ein einziges Wort zu sagen, bis wir in Hohendorf ankamen.
Was in ihrem Innersten vorging wollte ich wirklich nicht wissen. Vielleicht war
ihr Mann gefallen und sie schaute nur in ein endloses schwarzes Loch. Ihren zum
Turban gewickelten Schal sehe ich immer noch.
Die Stadt füllte sich mehr und mehr mit unversehrten Soldaten aller Waffengattungen. Chaos. Zurecht und zuletzt drückte sich jeder, dieser Jugendlichen, so lange wie möglich vor der immer noch eisern verlangten Pflicht mit einem Karabiner gegen erbarmungslos rollende Panzer zu fechten. Noch nie sahen wir so viele Uniformierte. Selbst die Jüngsten bettelten uns an für sie ein Mädchen zu finden und wir knapp 15-jährigen wussten sehr wohl um was es ging. Mein Gestellungsbefehl zum Volkssturm kam am Morgen des 22. April. Die Russen hatten gerade bei Stettin die Oderlinie durchbrochen. In meinem Wahn, den deutschen Sieg mittels der Wunderwaffe, doch noch für möglich zu halten. wäre ich nur einen Monat zuvor noch töricht und sorglos losgezogen. Zumindest wollte das mein Wunschdenken. Die immer noch tönende Goebbelspropaganda zeigte Wirkung. Aber nachdem ich die nahezu Gleichaltrigen, verstümmelten Landser in meinen Armen gehalten, ihren Jammer wie meinen eigenen empfunden hatte, war ich nicht mehr wütend zu sehen, dass meine kleine, energische Mutter die Faust auf den Küchentisch schmetterte und beeindruckend laut ihr kategorisches: “Nein!” herausdröhnte. Sie drückte ihr Kreuz durch und konnte doch nicht das Angstflackern in ihren schönen grauen Augen verbergen. Vor all diesen furchtbaren Erlebnissen hätte ich ihren Befehl gewiss nicht respektiert. Nun aber war mir bange geworden. Die Furcht, ich könnte
Ein 15-jähriger wird ausgezeichnetwirklich vernichtet werden, hatte ein
schrecklich deutliches Gesicht bekommen.
Zwei oder drei Tage vor dem totalen
Zusammenbruch der deutschen Front, abends, suchte ich meinen Freund Richard
auf. Gerda kam mir entgegen. Sie schaute mich sonderbar an, aber sie
interessierte mich zu dieser Zeit nicht. Ich hatte andere Sorgen. Es brodelte
in mir. Vor dem großen Fall müssten wir noch etwas unternehmen. Was das sein könnte
war uns zunächst nicht klar. Wir liefen schließlich zur Saarstraße, wollten
sehen ob Dabbert sich schon, wie zuvor die Plogs, in Richtung Westen zu den
Amis abgesetzt hatten. Dann gab es da etwas zu klauen. SA - Dabbert war schon
auf und davon, sein PKW war nicht mehr da. Noch vor wenigen Tagen hatte er
posaunt: “die Wunderwaffe kommt – der Endsieg!“ Breitbeinig stand er,
noch vor 14 Tagen, vor uns, oben auf dem kilometerlangen, fünf sechs Meter
breiten Panzersperrgraben, den wir mit vielen Tausenden gemeinsam in kaum
erkennbarer Kilometerlänge ausgehoben hatten. Die Kaninchen auf die wir es
abgesehen hatten waren ebenfalls geflohen oder noch zuvor in den Dabbert-Töpfen
gegart worden. Wir standen da und ärgerten uns. Mit seinem dicken Hintern, saß
er wahrscheinlich neben seiner dürren Emma im rollenden Auto. Er musste
überlaufen, zu den Amis statt von den Russen gefasst zu werden. Kein
Wehrmachtsoffizier, kein SSler wird es wagen ihn aufzuhalten, solange er seine
Dienstmütze trug. Plötzlich kam
ein Polizist angeradelt.
An den Umrissen seines Tschakos erkannten wir das. Ein enorm schwacher Lichtstreifen fiel durch den vorgeschriebenen Verdunklungsschlitz seiner Fahrradlampe schräg vor ihm auf die schwarze Erde. Aus unserer miesen Stimmung heraus, bewarfen wir ihn provokativ mit kleinen Steinen, Steinchen. Wir trafen ihn. Sofort sprang der große Mann vom Rad und dann über den niedrigen Zaun hinter dem wir uns befanden. Ich rannte den Hauptweg des Neuen Friedhofs hinunter. Wenigstens bis hinter den riesigen Komposthaufen musste ich gelangen. Da pfiff zeitgleich mit dem Knall eine Kugel nahe an mir vorbei. Er schoss noch einmal, ich stellte mich, zu Tode erschrocken, hinter den nächsten Baum. Da fand er mich: „Wer war der andere?“ Ich wollte noch den Helden spielen, erhielt ein Ohrfeige und sagte die Wahrheit. Eine knappe Stunde später saß ich mit Richard, den sie meines Verrates wegen von zuhause abholten auf dem Wolgaster Rathausturm. Zur Strafe sollten und wollten wir Panzerwache halten. Waren die russischen Panzer noch dreißig oder nur drei oder zwei Kilometer von uns entfernt? An diesem späten Abend gab es nur diese eine Frage, die uns alle bewegte Gegen elf Uhr muss Gerda auf die Idee gekommen sein, zu meiner Mutter zu rennen und ihr zu erzählen, was sie wusste und vermutete. Mutter machte sich sofort auf den kurzen Weg zur Polizeistation, die sich im Rathaus befand. Sie war von meiner absoluten Unschuld überzeugt: Wer weiß, was sich die Polizisten letztendlich ausgedacht hatten. Unschuldige Kinder einsperren war das Einzige, was die Herren sich in ihrer Ratlosigkeit noch einfallen ließen. Mit dieser Überzeugung betrat sie - wie sie mir später erzählte - wutentbrannt die verqualmte Bude im Erdgeschoss, des Rathauses. Infolge ihrer Überzeugung regte sie sich auf und griff die bösen Buhmänner mit scharfen Worten an.
So ein frommer Mann! Die anderen vier
oder fünf Männer pafften dicke Zigarren. Angesichts des Umstandes, dass binnen
weniger Stunden die Russen sie festnehmen werden, waren sie hoch nervös. Sie
saßen in der Todesfalle, wegen der berechtigten Vermutung, falls sie zu früh
fliehen würden, könnten sie von den noch anwesenden fanatischen
SS-Soldaten geschnappt und aufgehängt werden. Fahnenflucht galt als todeswürdiges
Verbrechen. Ihr Schicksal war besiegelt Stöhnend und pustend
setzte sich der rotköpfige Wallis den Tschako (Helm) auf und bestieg die
schmale Treppe zum engen offenen Raum, wo wir nichtsahnend vor uns hinstarrten.
Wir hockten da inmitten des schweigenden Nachthimmels und wunderten uns über
die Ruhe. Warum hörten wir nicht das Wummern der feindlichen Geschütze oder das
Getöse von Frontkämpfen? Noch dachten wir illusorisch. „Schert euch nach
Hause!“ Verwundert und verwirrt, wie ich war, warf ich noch
einen Blick auf das im Sternenlicht blinkende Wasser des Peenestroms und des
Spitzenhörn, wo ich sonst so gerne und erfolgreich geangelt hatte. Wir hörten
das Poltern und die raue Stimme: „Schert euch nach Hause, ihr Banditen!“
Am nächsten Morgen fiel mir ein, dass die Conseurs und Schmidts ebenfalls geflohen seien. Nahe dem Gaswerk hielten sie in kleinen Buchten ebenfalls Kaninchen. Der Schmidtsohn hatte mir am Vortag einen Tipp gegeben. Nichts, gar nichts warnte mich. Die kleinen Ställchen waren natürlich leer. Missmutig machte ich mich auf den Heimweg, wählte den kürzesten Weg. Der führte über die Schienen des Hauptbahnhofes zu dem des Hafens. Fast am Ziel angekommen wurde ich heftig angeschrien: „Stopp!“ Gewohnt zu gehorchen, wenn ein Militär oder Uniformierter befahl, erstarrte ich. Ein blutjunger Soldat stand am schmalen Bahnsteig Er schlug die Hand vor seinen Mund. Dann wiederholte er scharf „Steh!“ Mein instinktiver Gehorsam rettete mein Leben. Ich befand mich mitten in einem Minenfeld. In meiner Verspieltheit sprang ich bislang von einer Schienenbohle zur nächsten, die ich gerade verlassen wollte. „Siehst du nicht die Hügel? Minen! Die hätten dich zerfetzt!“ Die Minen mussten sie gerade verlegt haben, denn nun konnte ich erkennen um was es sich handelte. O, oh. Wäre der Landser nicht gewesen…
Der Erste Russe
Am 30. April um acht Uhr morgens heulte
etwas. Gleichzeitig bebte das alte Fachwerkhaus Langestraße 17. Die feindliche
Granate flog vermutlich nur wenige Meter an den oberen Fenstern unserer Wohnung
vorbei. Bevor ich nachdenken konnte, krachte es. Zwei Menschen, die auf der
Straße in der Nähe des Rathauses standen und hinausschauten, wurden, wie ich
nur Minuten später sah, in Stücke gerissen.
Gegen zehn Uhr vormittags radelten zwei
Soldaten die Wilhelmstraße entlang, wo Gerda und Richard wohnten. Ein Offizier
der Marine und ein Unteroffizier der Wehrmacht zeigten ihre Maschinenpistolen
und prahlten damit, 50 weitere Soldaten der Roten Armee „niedergemäht“ zu
haben. Sie schauten auf ihre Uhren. Das musste etwas bedeuten. Aber was?
Ein Fenster öffnete sich. Zu den vielen weißen
Fahnen, die bereits an zahlreichen Fenstern um uns herumhingen, kam noch eine
weitere hinzu. Wütend schrie der Unteroffizier. „Das ist
Feigheit. Wir halten immer noch die Stellung!“ Sie fuhren weg in
Richtung Hafen. Richard zog mich mit sich, ins Haus. Im Flur sah Gerda mich
wieder seltsam an. Ihr Blick regte mich zu neuen, bislang unbekannten Gedanken
an: Was sagten ihre Augen? Hat sie mich wortlos gefragt? „Du und nicht die
Russen?“ Richard ging irgendwohin durch die Küchentür. Wir blieben. Wie
schön sie aussah. Gerda sagte nun flüsternd: „Wenn dich keine will,
nehme ich dich.“ Angst öffnete ihren Mund. Aus Zeitungsberichten der
nationalsozialistischen Presse wussten wir, dass die brutalen unter den
Eroberer Frauen wie wilde Tiere jagten. Sie standen bereits an der Schwelle Meine
Fantasie übernahm kurzfristig die Oberhand. Wir verharrten in Ungewissheit.
Mein Freund kam zurück und schimpfte vor sich hin, weil er das Brot nicht fand.
Da…! Ein ungeheurer Knall... Das Ungeheuer überfiel uns mit tödlicher Wucht.
Eine Detonation die nur eine Riesenbombe erzeugen konnte hatte uns zu Boden
geworfen. Wir lagen wie betäubt auf den Dielen. Wir erwarteten die nächste
Explosion. Die erste musste in unmittelbarer Nachbarschaft gewaltigen Schaden verursacht
haben. Langestraße 17 war nur einhundert Meter von uns entfernt. „Mutter!“ Meine
Geschwister Helga und Helmut... Sofort wollte ich mir Gewissheit
verschaffen und sei sie noch so schrecklich. Egal ob und wo es nun kracht. Wie
ein Irrer warf ich mich gegen die Haustür, die sich nicht öffnen ließ. Und wenn
ich sie aus den Trümmern herausholen muss, ich will es wissen. Erst als Richard
und Gerda mir kraftvoll halfen die verklemmte, nach außen öffnende Tür zu
überwinden sollte es gelingen. Mit fliegenden Beinen kam ich
an. Unser Haus stand unversehrt da. Aber die großen Schaufenster der
uns gegenüberliegenden Reuscheldrogerie waren zerborsten. Überhaupt, alle
großen Scheiben lagen in Scherben oder ragten gespenstisch als Splitter vor
mir. Gottseidank. Wenn das alles war. Kaum getröstet, rief eine hohe
Stimme: „Sie haben die Peenebrücke gesprengt.“
Ich ging, obwohl erschüttert bis ins Innerste,
nicht hinein in unser Haus. Mich trieb es vorwärts. Ich wollte sehen, solange
ich noch existierte. Wohin ich auch kam, überall dasselbe, es betraf weniger
die kleinen Fenster. Zunächst irrte ich ziellos umher. Irgendwie wuchs, alledem
zum Trotz, in mir die Lust zu leben. Wolgast war mit diesem Schlag, wenn auch
vielleicht nur für wenige Minuten oder Stunden zur gesetzlosen Zone geworden.
Niemandsland. Es gab weder die Polizei noch eine andere Ordnungsmacht mehr. Die
glassplittrigen Öffnungen der Lebensmittelläden und des Gaugergeschäftes für
Konfektions- und Schuhwaren am Marktplatz luden mich, nachdem ich
umherstreunte, zur Selbstbedienung ein. Ich widersprach mir nicht, ging die
wenigen Schritte eiligst und betrat ungeniert den Bereich für Herrenkleidung
zur Rechten. Ich gehörte nicht zu den Ersten, sah die magere Ausstattung des
Ladens. Im Begriff schamlos zuzugreifen und zu klauen was mir begehrenswert
erschien, beeinflusste mich ein schon früher erlebtes Gefühl das mir im
Klartext sagte: „Tu es nicht!“ Das erstaunte und lähmte mich,
zunächst, - bis ich mir dreist herausnahm zu sagen: Ach was. Sei nicht so dumm.
Es strömten immer mehr Leute ins mittlerweile sperrangelweit geöffnete Geschäft
hinein. In kurzem Moment sah ich. im Geist, das noble Gesicht des Besitzers
Heller vor mir, wie er an der Kasse sitzt, während meine Mutter den Betrag
entrichtet für meinen neuen Anzug mit den Knickerbockerhosen, den ich mehr oder
weniger stolz ab 1943 sonntags trug. Die feine, leicht gezogene Nase verlieh
diesem ruhigen Gesicht eine selten anzutreffende natürliche
Vornehmheit. Mir schien, er schaute zu, wie ich eine leichte, grüne
Alltagshose an mich nahm. Die herumwirbelnden Menschen kamen mir nun
sekundenlang vor wie irrsinnig Tanzende. Einige zankten sich. Alles raste, die
Gedanken, das Blut, die Frauen. Mein Lebensgefühl wankte. Meine Wünsche
wechselten hin und her. Jetzt ist jetzt. Eine gute Zukunft wird es nicht geben.
Das war nun gewiss. Dennoch blieb das Licht der Hoffnung hartnäckig, während
andere Wolgaster in tiefem Pessimismus sich und ihren Kindern Steine um die
Hals banden, um miteinander in die Peene zu springen. Mir schien zwischendurch,
auch ich sei verrückt geworden. Es war ein stetes hin und her. Man muss doch
ordentlich handeln. Und dann wieder: Mache ab jetzt mehr aus deinen Chancen,
falls es noch mehr geben sollte. Die Hose noch in der Hand verließ ich den
schrecklichen Ort. Ich wollte sie nicht mehr haben und legte sie auf die offene
Luke zum Kellereingang, von wo sie bald verschwand. Inkonstant, wie ich war,
kam nur Minuten später freche Furchtlosigkeit über mich: Mundraub ist erlaubt!
Zum Kuckuck, es muss doch bei Anderson versteckte Schokolade oder wenigstens
Bonbon geben. Von Ersterem gar nicht zu reden hatte ich seit Jahren edle
Süßigkeiten entbehrt. Während der Zeit vor unserer Verschickung nach Groß Mölln
bin ich an der Fassade das Hauses hochgeklettert und durch das obere, immer
offenstehende Fenster in die sonst verschlossene Wohnung eingedrungen um
Mutters Zuckerdose um einige Gramm zu erleichtern. So rannte ich los um nur
nicht der Allerletzte zu sein. In der Tat, mindestens zwanzig Frauen suchten
dasselbe wie ich, oder nur Margarine, Zucker oder Grieß. Natürlich, wegen der
zunehmenden Ungewissheit, mussten sie etwas heimtragen, das die Kinder benötigten.
Fast rücksichtslos mischte ich mit. Ich wusste noch nicht, dass ein verletztes
Gewissen mit der Verkleinerung seines Potentials einhergeht, und, dass es durch
stete Misshandlung sogar zu seinem Verstummen gebracht werden kann. Ich fand
ein verstecktes Margarineregal. Über meinem Kopf schrie jemand: „Ich
habe es gewusst!“ Jemand griff danach. Frauen rissen dem Mann der auf
der Leiter stand den Pappeimer aus den Händen. Der Karton zerbrach und die
Kaffeebohnen fielen auf meinen Kopf und rieselten zu Boden. Eine schwanger
gehende Frau fing an, Gläser durch die Luft zu werfen, voller Wut, weil sie nur
Rote Bete enthielten und nicht gewünschtes Obst. Wo immer die Gefäße landeten,
wurde der Boden dunkel gefärbt. Höllisches Spektakel. Der Ladenbesitzer, Herr
Anderson, erschien am Tatort. Er war ein kleiner 50-jähriger Mann mit großem
kahlem Kopf. "Meine Damen! Meine Damen!" klagte er
und rang seine weißen Hände. Eine der Frauen kam auf ihn zu: „Ich bin
nicht ihre Dame!“ Sie warf ihm eins der Gläser vor die Füße. Der arme
Mann, jetzt mit Saft bespritzt, schnappte nach Luft. Doch wie
sollten Männer jemals die Ängste der Frauen in dieser Zeit, der auf uns zu
rückende russische Invasion, wirklich verstehen? „Die Feindarmee wird
kommen und wir sind deren Opfer!“ Ungesagt stand dieses Wort in
voller Brutalität im Raum. Im Durcheinander hatte ich es geschafft, 16 Stücke –
zu pfundteilen quadratisch eingewickelte – Margarine einzusammeln, die ich,
verpackt in einer Schachtel, nach Hause trug. Dann kehrte ich zurück, um einen
weiteren Diebstahl zu begehen, ohne mich fortan mehr um mein Gewissen zu
kümmern. Aber, als ich um die Ecke unserer Straße bog, und meinen 9-jährigen
Bruder Helmut mit einem großen runden Käse sah, der fast so hoch war wie er
selbst, packte es mich. Er kam den sanften Hang der Straße hinunter und rollte
das Raubgut, das ja einem Rad glich direkt auf mich zu. Nicht viel
weiter die Straße hinauf befand sich der aus mehreren Stockwerken bestehende
Großvorrat an Lebensmitteln von Herrn Kriwitz. Dort, wie überall sonst, beging
die Bevölkerung aus Panik Ladendiebstahl in erheblichem Umfang, in der
möglicherweise zutreffenden Annahme alles würde sonst in Russenhände fallen. Es
wäre leicht gewesen, einem 9-Jährigen solchen Besitz wegzunehmen. Doch das
geschah nicht Das Bild meines kleinen Bruders und des riesigen Käselaibs wird
für immer in meinem Gedächtnis haften bleiben. Der kleine blonde Wuschelkopf
lachte mich an. „Nein“, dachte ich, „warte. Hier stimmt etwas ganz
und gar nicht.“ Die Erkenntnis, dass das, was wir getan hatten, doch nicht
richtig war, und die Forderung, den Käse zurückzugeben, fielen im selben
Atemzug. „Das ist Diebstahl“, schnappte ich. Er erwiderte
meine Reaktion mit einem unbekümmerten Grinsen. Für ihn hatte der Beutezug
einfach Spaß gemacht. Schließlich erforderte das Rollen eines so großen Objekts
einiges an Geschick. Er gehorchte. Allerdings entwickelte sich in mir nun ein
völlig anderes Konzept. Ich kam zu dem Schluss, dass ich alles, was wir
mitgenommen hatten, zurückgeben musste, und genau das habe ich auch getan, denn
schlagartig wusste ich: Selbst die schlimmsten Russen würden uns nicht
verhungern lassen. Aber, wenn wir alles vorzeitig aufteilen wird es zu
selbstverschuldeten Engpässen kommen. Plötzlich wollte ich wieder ein guter
Deutscher sein.
Neugierig verließ ich eine gute Stunde später den
Keller, in dem die Frauen angsterfüllt, vor dem was ihnen nun drohte, dasaßen. Nur
ein paar Minuten später sah ich den ersten russischen Soldaten. Er
bog von der Breiten Straße kommend in die Lange Straße, wo ich vor dem
Besch-Uhrenmacher-Geschäft so gut wie sorglos und neugierig abwartete. Der
große ältere Soldat kam die Waffe auf mich gerichtet näher und ich schaute dann
in den höchstens drei Meter entfernten schwarzen Lauf seiner Armeepistole. Ich
war erstaunt, weil ich eine ganz andere Vorstellung vom Feind hatte, und, weil
ich keine Angst empfand. Jahrelang hatte ich der Nazi-Propaganda zugehört, die
von den Sowjets, das Bild von minderwertigen Menschen zeichnete. Zudem hatte
ich die halb verhungerten, zerlumpten, elend dahin taumelnden Kreaturen
gesehen. Wie Vieh wurden sie durch Wolgast in weiter westwärts liegende
Gefangenenlager getrieben. Alles junge Russen mit bleichen Gesichtern.
Erbarmungslos, wie ich damals noch war, erkannte ich in ihnen nicht meine
Mitmenschen. Jetzt jedoch traf mich der Gedanke: „da
befindet sie ein Held vor dir!“ Er trug einen hohen Hut aus dunklem
Lammfell und über seiner Uniform einen weiten schwarzen Umhang. Er verzog keine
Miene. Rundherum gab es Fenster, Türen und Ecken, aus denen
ein tödlicher Schuss abgefeuert werden konnte. Er ging leichtfüßig weiter als
sei ich Luft, zeigte keine Eile und schaute beim Weitergehen weder nach links
noch nach rechts. Meine Augen folgten ihm nachdenklich. Lange nachdem er
verschwunden war, blieb ich stehen, und fragte mich: „Sind sie wirklich
so?“ Mir war noch nicht klar, dass es nicht die Uniform, nicht das Aussehen
war, das Gut vom Böse trennte. So habe ich in nur wenigen Augenblicken eine der
wichtigsten Lektionen meines Lebens gelernt. So seltsam es auch erscheinen mag.
Irgendwie fühlte ich mich zu diesem Fremden hingezogen – wenn auch nur für ein
paar Sekunden. Mir wurde klar, wie falsch meine Einstellung mein bisheriges
Leben hindurch gewesen war. Nur etwa eine dreiviertel Stunde später sah ich
einen deutschen Fallschirmspringer, der seinen runden Stahlhelm in der Hand
trug, und einen jungen russischen Offizier in Uniform. Ich ging etwas näher
heran. Sie diskutierten, vor dem Gaugergeschäft, über die Zukunft und die
Frage, was aus Deutschland werden würde, nachdem das Dritte Reich der Ära Adolf
Hitler zusammengebrochen war. Die überraschende Antwort des fließend
deutschsprechenden russischen Journalisten lautete: „Wir brauchen
etwas, das alle Nationen zusammenhält.“ Da traf es mich! „Wir
brauchen etwas, das alle Nationen friedlich zusammenhält.“ Mir schien
ich würde Zeit überspringen. Ich sah Zusammenhänge. Ich vernahm noch, dass der
gefangene Fallschirmjäger die implizite
Einladung nicht ablehnte… „Es muss eine neue Ideologie geben!“
Das war es…Es betraf uns allesamt. Aber dann!
Nur eine Stunde später rollten auf zahllosen primitiven Panje-wagen hunderte
vielleicht tausende neue Soldaten ganz anderer Art in unsere Stadt hinein.
Horden hemmungsloser, wilder Männer füllten
die Straßen. Ich überredete den alten Herrn Gottschalk, auch „Leller“ genannt,
unseren Helfer in unserer kleinen Firma, mit mir die neue Szene zu erkunden.
Zuerst war er überrascht, dass ihn die Russen nicht belästigten. Es dauerte
jedoch nicht lange, bis ein sehr junger Rotarmist, gekleidet in ein dünnes,
dunkelgrünes Baumwollhemd, dem gebeugten, rheumatischen alten Mann die goldene
Uhr abnahm. Zwei große Tränen rollten über die faltigen Wangen, während er sich
umdrehte und gestützt auf seinem Stock, nach Hause humpelte. Was er verloren
hatte, war, außer seinem Bett, sein einziger Besitz gewesen. Schreiende Frauen
stürmten an uns vorbei, Soldaten verfolgten sie. Ein Schuss fiel und wir traten
beiseite, um die wütende Menge von Räubern und Vergewaltigern an uns
vorbeizulassen. Meine Verwirrung über alles, was ich gesehen hatte, war so
groß, dass ich reflexartig meine rechte Hand hob und „Heil, Hitler“ rief,
als ein älterer russischer Offizier auf mich zukam. Der Mann in seiner grünen
Uniform muss meinen Schock bemerkt haben. Er hätte über einen solchen Ausbruch
verärgert sein und mich auf der Stelle erschießen können – schließlich befanden
wir uns immer noch im Krieg! Fast Erwachsene wie ich standen noch unter
Verdacht, im Dienst des „Werwolfs“ zu stehen, einer Gruppe die seit 44 unter
diesem Geheimzeichen in Russisch eroberten Gebieten weiterkämpfen sollte: Und
ich Narr, habe meinen faschistischen Hintergrund gezeigt. Er sah mich, zum
Glück, lediglich kopfschüttelnd an, hob den Zeigefinger mahnend wie ein weiser
Vater, lächelte überlegen, und legte denselben Finger an die Stirn, drehte sich
um und ging weiter. Später traten mir andere Soldaten mit ihren Stiefeln in den
Hintern, nur weil ich sie auf meine zugegeben etwa dreiste Weise anschaute. Als
die Schießereien und Artilleriegefechte zwischen Deutschen – die auf der uns
gegenüberliegenden Peene noch meinten kämpfen zu müssen – und den Russen erneut
begannen, flohen wir zurück in unseren Keller. Dort saßen wir zwei Tage und
Nächte lang in völliger Dunkelheit auf Holzbänken und lauschten den Explosionen.
Die Frauen achteten voll zusätzlicher Angst auf jedes Geräusch, das von oben
kam. Wurde die Haustür geöffnet? Würden deren Schritte in den Keller führen?
Würden Bestien in Menschengestalt sie angreifen?
Am dritten Tag kam eine große jüngere Dame
hinzu. Sie setzte sich neben mich, weinte und erzählte den anderen Frauen in
meiner Gegenwart, dass sie vergewaltigt worden war, wie sie geflohen sei und
sich versteckt hielt. Ich erfuhr Dinge die mir neu waren. In ihrer
Verzweiflung erinnerte sie sich an die Langestraße 17 und Frau Stolp, unsere
Nachbarin. Sie hoffte, dort Schutz zu finden, denn die alte Dame war Mitglied
der Kommunistischen Partei und eine persönliche Freundin von Rosa Luxemburg
gewesen. Sie musste Sonderstatus genießen. Nur Frau Stolp konnte sie beschirmen.
Wie es das Schicksal wollte, war die Altkommunistin zwei Tage zuvor verstorben.
Sie stürzte die steile Treppe herunter die zu ihrer Wohnung führte. Da die flüchtende
Dame Angst hatte, sich noch einmal auf die Straße zu wagen, saßen wir
nebeneinander im kalten, dunklen Keller. Ich fand es äußerst angenehm zu
wissen, dass meine Knie zu einem Kissen für ihren Kopf geworden war. Völlig
erschöpft weinte sie sich in den Schlaf. Mehrmals in der Nacht zuckte ihr
Körper vor Angst. Sanft fuhr ich mit meiner Hand über ihren Kopf und ihre
Wange, um sie zu beruhigen.
In der fünften oder sechsten Nacht schienen
die Geräusche von draußen nicht mehr so heftig zu sein, also beschloss ich,
wieder nach oben zu gehen, um endlich, endlich wieder in meinem Bett zu
schlafen. Der alte Freund „Leller“ tat dasselbe. In der Ferne, einige hundert
Meter entfernt, hörten wir noch immer das Grollen von Granaten. Im Handumdrehen
fielen wir in den tiefen Schlaf.
Nach dem Krieg
Die Schießerei wurde am 8. Mai endgültig
eingestellt. Ich wagte mich wieder auf die Straße. Überall, wo ich hinschaute,
sah ich betrunkene russische Soldaten. Sie hatten eine Kuh an einen alten
Bauernkarren gebunden, auf denen weinselige, jubelnde junge Soldaten saßen und
durch die Straßen rollten. Das um ihren Hals gebundene Seil erstickte das Tier
nicht ganz und gar, obwohl es gefallen war. Es wurde gnadenlos über
das Kopfsteinpflaster geschleift und hinterließ eine Blutspur. Meine Augen folgten
der gemarterten Kreatur und die Gedanken, die mir in den Sinn kamen, waren: „Dies
ist das Sinnbild für Krieg und Sieg. So sieht es aus.“
Auffallend viele junge Frauen gingen
schwanger. Ich vernahm mancherlei, wenn wir gemeinsam in langer
Menschenschlange um Brot vor einer der noch intakten Bäckerei anstanden. Eine
alte Frau fragte: “Wie konntet ihr euch entschließen in diesen Zeiten ein
Kind zu haben?“ Die Antwort, die ich vernahm, lautete: „Oma,
weißt du, was Soldaten uns sagten, wenn sie vom Fronturlaub heimkamen? Mädel,
ich komme nicht wieder. Sie wussten es. Ich wollte etwas Lebendiges von ihm
behalten!“ Sie hatten verwüstete Orte gesehen. Völlig verstört hatten sie
zu viel erlebt. Ihre Ehemänner, Väter und Brüder waren nun Gefangene im
unwirtlichsten Land der Erde, tot oder verkrüppelt. Es gab keine Hoffnung,
keine Zukunft. Das war es, dieses Wissen, das die Frontkämpfer antrieb ihr
Möglichstes zu leisten.
Aber, wir sahen auch Männer der Roten Armee,
die aus der rasenden Menge herausstachen, disziplinierte, gebildete wie der
erste Russe, dem ich begegnete. Ich erinnere mich an den Tag, als ein Konvoi
installierter LKW-Raketen (Stalin Orgeln) vor unserem Haus anhielt. Inmitten dieser
Soldaten saß mein kleiner Bruder. Auf seinen strohblonden Kopf hatten sie einen
riesigen, dunklen Stahlhelm gesetzt. Lachend reichten sie ihn herum wie eine
Stoffpuppe und gaben ihm Kekse. Was sie amüsant fanden, war, dass der kleine
Kerl ein braunes und ein blaues Auge hatte. Diese Männer waren äußerst
zivilisiert, da keiner von ihnen das Fahrzeug verließ, um in unser Haus
einzudringen um es auszurauben. Viele Einheimische beleidigten wahllos alle
Russen. Das war nicht fair. Es gab Soldaten, die zu uns nach Hause kamen und
versuchten, auf unserem Klavier zu spielen, aber sie waren fast immer
freundlich. Zu diesem Zeitpunkt konnte ich mir noch nicht erklären, warum
Menschen aus der gleichen Umgebung aus demselben Hintergrund kommend sich gut
oder grottenschlecht aufführten.
Im Juli 1945
…arbeitete ich für die Rote Armee auf der noch
heute bestehenden Wolgaster Werft. Damals wurde dort Zellmehl hergestellt. Ein
kleines, kohlegetriebenes Kraftwerk befand sich dort ebenfalls. Wir mussten
brikettgefüllte Waggons entladen. Mir schien, dass viele Leute die hier
arbeiten mussten, sich häufig in den riesigen Hallen versteckten. Pärchen
schliefen zwischen den tausenden Säcken Zellmehl. Auch wir hatten es nicht
besonders eilig mit unserer Schaufelei. Hin und wieder wurden wir von
bewaffneten Rotarmisten kontrolliert. Dann legten wir los, dass es nur so
staubte. Abends mussten wir unsere ehemaligen Schulranzen öffnen. Am Eingang
schauten die Soldaten hinein. Wir nahmen stets ein paar Brikett mit nach Hause.
Wir meinten, dass sei gerechten Lohn für die Zeit die wir zu opfern hatten.
Ähnlich dachten die jungen Russen, die stets Machorka qualmten. Einmal zählte
der Kontrolleur sieben kiloschwere Briketts und fluchte entsetzlich. Mit
erhobenen sechs Fingern bedeutete er mir, wo die obere Grenze war. Ich sei ein
Dieb. „Zapzarap nix karascho.“ Wir lernten, wir verstanden: Schließlich hätten
wir uns an russischen Gepflogenheiten zu orientieren. Es gab auch
Zuckerrübenschnitzel aus denen wir Sirup kochten. Ich akzeptierte, dass etwa
vier Kilogramm Schnitzel als tägliche legitime Beute galten. Da gab es Leute
wie den 50-jährigen Friseur Bikowski, der zuvor Tabakwaren auf dem Schloßplatz
verkaufte, wo sein kleines, schönes Haus einst, in unmittelbarer Nähe zur
Peenebrücke stand. Die Druckwelle infolge der Brückensprengung hatte es dem
Erdboden gleich gemacht. Er saß stets auf einem Tor-Steg der Kohlewagen und
rauchte. Sobald die russischen Aufpasser auch nur in Sichtweite kamen, klopfte
er seine Schippe geräuschvoll gegen die Metallwand des Waggons und stöhnte laut,
als verrichte er Schwerstarbeit. Ich fand ihn nie anders.
Aus Langeweile und Torheit schwammen meine
Freunde und ich, während einer Mittagspause etwa 150 Meter auf die andere Seite
der Peene, an das Ufer der Insel Usedom. Niemand durfte dieses kleine Stück
Land betreten, das war uns bereits mitgeteilt worden. Nur teilweise
durch Stacheldraht geschützt, lagerte dort eine riesige Ansammlung
zurückgelassener deutscher Waffen. Denn dort befand sich eine der letzten
Hauptkampflinien des Krieges: Dutzende große Holzkisten mit Munition aller Art
warteten scheinbar nur auf uns. Große Warnschilder die uns die Todesstrafe
androhten beeindruckten uns nicht. Jungs bleiben Jungs – und manchmal sind sie
einfach nur dumm! Innerhalb weniger Minuten schnappten wir uns Gewehre und
begannen in die Luft zu schießen. Munition, die wir gefunden und verwendet
haben, war Leuchtspur-munition! Was für eine wunderbare Lichtshow! Wir malten
die erstaunlichsten Lichtstreifen in den endlosen blauen Himmel. Dass andere
nun genau wussten, wo wir uns befanden, störte uns zunächst nicht. Schließlich
konnten wir schnell schwimmen und uns irgendwo verstecken. Ich für meinen Teil
fühlte mich wie Robinson Crusoe auf seiner abgelegenen, freien Insel – einer
Welt, die niemandem außer ihm gehörte. Allerdings lag Klein-Zinnowitz nicht im
Pazifik – es war nur einen halben Kilometer von Wolgast entfernt.
Rechts: Insel Usedom
Zu diesem Zeitpunkt ignorierten wir, dass die
Russen immer noch rachsüchtig und wütend auf die Deutschen waren, dass sie uns
packen und wirklich an die Wand stellen würden. Wir haben es mutig und
mutwillig gewagt, ihre Gesetze zu brechen. Plötzlich hörten wir das typische
Summen eines Tieffliegers. Bald sahen wir einen riesigen Doppeldecker auf uns
zukommen. Wie ein bunter Käfer schwebte er heran. Nicht mehr als 80 Meter über
unseren Köpfen. Wir starrten auf den großen roten sowjetischen Stern auf seinen
hellblauen Flügeln. Wir sahen den Kopf des Piloten. Er aber konnte uns nicht
entdecken. Sieben Gewehre waren auf dieses riesige Ziel gerichtet. Und unsere
Mütter hielten uns allesamt für brave Jungs. Denn jeden Abend brachten wir
Nützliches heim. Zu unserem ewigen Segen hat keiner von uns den Kopf verloren
und geschossen. Was oder wer hat uns vor diesem tödlichen Spiel gerettet? Ich
weiß nur, dass es keiner von uns war. Der Name unseres rettenden Engels lautete:
Buena Bergemann. Er erschien plötzlich. Auch er war wie wir früher Mitglied der
Hitlerjugend gewesen. Er tauchte unversehens hinter dem Stacheldrahtzaun auf
und schrie: „Was zum Teufel macht ihr Idioten?“ Sieben
besiegte, sonst so clevere Jungs legten beschämt ihre neu entdeckten Spielzeuge
auf den Boden. In diesem Moment bemerkten wir, dass in einiger Entfernung,
nämlich in der Nähe der großen Brücke, etwa 800 Meter entfernt, ein Boot der
Militärpolizei kreiste. Wenn die Militärpolizei uns erwischt, wäre das
definitiv unser Ende. Militärpolizisten fackeln nicht lange. Wir mussten so
schnell wie möglich fliehen. Zu viele Augen hatten unser Spiel gesehen. Zu
viele Ohren hatten das Abfeuern unserer Pistolen und Karabiner gehört. Als wir,
nach heftigem kraulen die Leiter zum Pier hinaufstiegen, dachten wir: „Wir
sind außer Gefahr.“ Doch dort warteten die russischen Soldaten bereits auf
uns und zogen uns über die Böschung. Niemand kann alle Konsequenzen seines
Handelns vorhersehen, selbst wenn seine guten Absichten auf Steintafeln
geschrieben stünden, geschweige denn, wenn seine Motive böse wären. Wir standen
fast nackt da, umgeben von Soldaten, die ihre Maschinengewehre auf uns
gerichtet hatten. Zitternd in unseren abgewetzten schwarzen
Badehosen schauten wir auf die reglosen Bewaffneten. Alles in uns
und um uns herum erstarrte – sogar die Zeit.
Endlich! Ein Jeep kam mit hoher
Geschwindigkeit auf uns zu, gefolgt von einer Staubwolke. Ein riesiger Mann in
grüner Uniform erhob sich, „der Stadt-kommandant“! Seine Brust war mit vielen
Medaillen geschmückt. Neben ihm saß ein junger, dürrer Fahrer. Sobald der Jeep
zum Stehen kam, sprang der Offizier von seinem Sitz. Mit breiter Brust und
schweren Schritten, den riesigen Kopf zum Boden gesenkt, schritt er auf uns zu,
wie ein gereizter Stier. Er war zum Racheengel für alles geworden, was die SS
und die deutsche Wehrmacht seinem Volk angetan hatten. Alle Augen waren auf ihn
gerichtet. Er war offensichtlich bereit, alles zu vernichten, was ihm ungut
erschien. Er kontrollierte die Szene vollständig. Ein Wort, eine Handbewegung
seinerseits und alles, was wir zuletzt gesehen hätten, wäre das Blitzfeuer aus
den „Spagin“-Maschinengewehren gewesen. Der Riese brüllte wie ein verwundetes
Tier. Doch je länger er schrie, desto mehr hofften wir, dass die auf uns
gerichteten Waffen nicht abgefeuert würden. Irgendwie hatte ich für ein paar
Sekunden sogar die leise Hoffnung, dass sie uns gehen lassen würden. Wir
wussten noch nicht, dass zwischen Leben und Tod die gefrorenen Ebenen Sibiriens
oder Karagandas liegen und nur auf Kriminelle wie uns warteten. Viele Gedanken
schwirrten in meinem Kopf herum und verursachten letztendlich ein totales
Chaos. Ich bin überhaupt zu keinem Schluss gekommen. Am Ende konzentrierte sich
meine ganze Sehnsucht auf einen verrückten Wunsch: dass ein Wunder geschehen
würde. Unser Arbeitsleiter Herr Kell ein bekanntes Mitglied der Kommunistischen
Partei wagte es, sich dem grimmigen Kommandanten entgegen zu stellen, während
die Soldaten schweigend mit ihren Waffen dastanden und immer noch auf die
Weisung ihres Kommandeurs warteten. In scharfem Ton sprachen drei Männer laut
und schwangen ihre langen Arme hin und her, während der Wortfluss übersetzt
wurde. Zuerst haben wir überhaupt nichts verstanden. Mr. Kell, mit der roten
Schleife um den Arm, ein ruhiger, freundlicher Mann, schwor sein eigenes Leben,
um uns zu retten. Das bekam ich mit. Er garantiere, dass so etwas nie wieder
passieren wird. Das Unglaubliche geschah. Der russische Offizier mit seinem
grimmigen Gesicht und der übergroßen Nase erwies sich uns gegenüber barmherzig.
Vielleicht hatte die SS seine eigenen Söhne erschossen, vielleicht hatten sie
das gleiche jüdische Aussehen wie ihr Vater. Am Ende entschied er: „Lauft
ihr Halunken!“
Wir rannten in alle Richtungen davon. Ich
kroch in einen kleinen Raum im Maschinenhaus, wo ich lange Zeit wie gelähmt,
zwischen zwei ruhenden Motoren saß und mich abmühte zu überdenken was uns
geschah. Zu Hause gab es kein einziges Wort darüber. Die schlimmen Nachrichten
erreichen die Familien oft erst irgendwann, wenn alles der fernen Vergangenheit
angehört. Was war wirklich passiert? Hunderte, ja, Tausende von Menschen, die
weniger begangen hatten als wir, wurden in die Todesfallen von
Konzentrationslagern wie Waldheim zum Sterben geschickt oder ihrer Gesundheit
für immer beraubt. In den Gulag-Gefangenenlagern von Irkutsk litten
Zehntausende die weitaus weniger als wir verbrochen hatten. Die meisten von
ihnen kehrten nie wieder nach Hause zurück. Zwei meiner Freunde sollten ein
ähnliches Schicksal erleben. Kurz darauf machte ich mich auf die Suche nach
einem geeigneten Ort, um die Kamera meines Vaters vor den Russen zu
verstecken. Sie hatten angeordnet, dass alle Fahrräder, Kameras und
Radios abgegeben werden müssen, auch Klaviere usw. Ich entdeckte auf unserem
Dachboden eine verschlossene Kiste, die ich öffnete, und fand antimormonische
Literatur. Bücher, die jeweils von Pastor Zimmer und Pastor Rößle
verfasst worden waren. Vater hatte diese Werke offensichtlich gelesen, um eine
Entscheidung über seine Zukunft zu treffen. Ob er sich einer Kirche anschließen
soll, von der alle Welt überwiegend Böses vernimmt. Wenn Vater die Literatur
unten im Bücherregal gelassen hätte, wäre ich wahrscheinlich nicht von Neugier
angetrieben worden. Aber jetzt reizte mich das Verborgene. Etwas
Magisches erwartete mich. Etwas, das nur darauf wartete, entdeckt zu werden.
Ich machte es mir unter einem der kleinen Fenster bequem und las hoch
konzentriert beide Publikationen – die des Pfarrer G. A, Zimmer: „Unter den
Mormonen in Utah“ 1907 veröffentlicht, sowie das Werk Rößles „Aus der Welt des
Mormonentums“ 1930.
Und das geschah, während draußen noch große
Unsicherheit dominierte. Die Berichte dieser beiden Pastoren hatten eine
seltsame, aber starke Wirkung auf mich. Sie waren fesselnder geschrieben als
die Romane von Karl May, von den ich zuvor 5 oder sechs Bücher geradezu
verschlungen hatte. Mein Gefühl, dass hier etwas von großer Bedeutung für
mein zukünftiges Leben vorlag, wuchs sonderbarerweise. Mit jeder Seite, die ich
umblätterte, kam mein Wunsch auf, die Religion und Kirche meines Vaters, der
ich nur nominell angehörte, gründlich zu erkunden. Allerdings wollte und konnte
ich mich erinnern.
Wenige Tage vor dem Ausbruch des 2.
Weltkrieges wurde ich, auf Wunsch meines Vaters von einem sehr jungen
Mormonenältesten in Wolgast, im Peenestrom getauft. Um was es
ging begriff ich als damals neunjähriger nicht, außer, dass es sich um etwas
Gutes handelte. Es war mein Geburtstag. Geschenke erhielt ich nicht.
Aber, als ich aus dem Wasser wieder auftauchte, fühlte ich pure Freude, die
längere Zeit anhielt. Erst nun, auf dem Hausboden, inmitten vieler Papiere,
dämmerte mir in Etwa die Ursache. Ich staunte wenige Tage nach meinem
Tauferlebnis, dass mich gleichaltrige auf dem Schulhof spottend umrundeten und
mich höhnisch einen „Heiligen“ nannten. Mir war damals keineswegs bewusst, dass
ich nun der „Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage“ angehörte.
Welch ausfallender Name. Woher wussten die Knaben das, wie kamen sie dazu mich zu
verachten?
Erst einige Jahrzehnte später erfuhr ich, dass
es um das Jahr 160, im vorderasiatischen Raum ebenfalls eine gewisse
Urchristengruppe gab die sich erstaunlicherweise die „Gemeinde der Heiligen
der Letzten Tage“ nannte und dass Kirchenvater Tertullian Teil von ihnen
war. F. Loofs, Dogmengeschichte, Halle
Saale-Verlag 1950
Im Verlaufe der Kriegsjahre nahm ich nur kleine Bruchstücke von jener Religion in mir auf, die mein späteres Leben erfüllen wollte und die im Verlaufe des Krieges in Vergessenheit gerieten. Vater, ein Pazifist durch und durch, bedauerte, dass er wegen Hitlers ungerechtfertigte Kriege, seinen Einfluss auf mich verlieren würde. Die nächste Mitgliederfamilie lebte in 100 km Entfernung. Er ahnte es schon: Mutters Einfluss würde ich selten zulassen, und so stand ich bald eigenständig im Denken und Wollen da. Allerdings, kurz vor Vaters Einberufung gab es noch ein mich vorübergehend berührendes Ereignis. Am Strand von Zinnowitz verfolgte ich passagenweise ein längeres Gespräch, das die Missionare Dzierzon und Rudolf Wächtler mit meinem Vater führten.
Ältester Dzierzon, rechts Ältester Wächtler
mein Bruder Helmut im Hintergrund neben unserem Vater.
Irgendwie ließ ich einiges, was sie sagten, in
mein Herz sinken.
Einer der beiden Männer erklärte
sinngemäß: „Schließlich haben wir uns in der vorirdischen Welt. nach
Ewigkeiten unserer Gottes-schau, ziemlich gelangweilt.
Gottes Herrlichkeit war uns zur Selbstverständlichkeit
geworden. Irgendwann fühlten wir Geistkinder Gottes uns einfach leer. Wir
konnten keine Freude empfinden, weil wir Traurigkeit nicht kannten. Uns fehlte
ein Maßstab, ähnlich so wie es Kindern superreicher Eltern ergeht.“ Die
Lehre von unserem vorirdischen Dasein sei verloren gegangen. In den Theologien
der Kirchen kam dieses Thema nicht mehr vor. Die Erschaffung des Weltalls
und Planeten Erde – all diese Dinge hätten einen großen Zweck. Zufälle alleine
hätten nur Chaos zustande bringen können.
Ich hatte somit schon den berühmten Ariadnefaden flimmern gesehen, um ihn wieder aus den Augen zu verlieren.
Um dem Ganzen die Krone aufzusetzen, fügte
Pastor Rößle hinzu: „Diese nominell noch kleine, völlig andere Kirche wird
eines Tages globalen Status erlangen. Diese amerikanische Kirche ist ein
gefährlicher, oberflächlicher Glaube mit einem völligen Mangel an biblischem
Wissen, unterstützt durch die Macht Satans. Unter dem Banner des Evangeliums
verbreiten sie ihre Lehren. Aufgrund ihrer satanischen Kräfte wird die
Mormonensekte zu einer Weltmacht und einer großen Gefahr für die Nationen der
Erde werden.“ Ende der Zitate
Pastor Zimmer fand noch schlimmere Worte,
obwohl er viele Mitglieder dieser Kirche persönlich kannte. Zwei Jahre lebte er
mit ihnen gemeinsam. Sein Urteil wog also.
Wenn die bissigen Autoren geahnt hätten,
welche Wirkung ihre Behauptungen auf Menschen meiner Art haben könnten, würden
deren Feder immer noch unberührt in ihren Tintenfässern stecken.
Wusste Herr Pfarrer Rößle nicht, welche
typischen Voraussetzungen eine religiös- oder ideologisch ausgerichtete
politische Bewegung von Weltrang haben muss, um den Rest der Menschheit zu
versklaven?
Hitler, Lenin und Stalin, die tatsächlich die
Versklavung der Menschheit anstrebten, mussten zunächst zu ihrem eigenen
Schutz, einen militärisch ausgestatteten,
hochdotierten Überwachungsapparat um sich herum aufbauen. Der nächste
Schritt, den sie unternehmen mussten, bestand darin, Armeen, die aus Massen
gekaufter, geistloser Menschen bestanden, mit Waffen auszurüsten. Sobald diese
Strukturen deutlich sichtbar, und Unschuldige willkürlich verhaftet wurden,
konnte allseitig Angst auf Harmlose einwirken. Angst ist das Schlüsselwort zur
Unterwerfung potentieller Opfer.
Aber, wie ich bald lernte erzeugt Mormonismus die
Freiheit des Denkens und Handelns.
Die Pastoren Rößle und Zimmer zeichneten
leichtfertig Zerrbilder die tatsächliche Angst vor den Mormonen bewirkte. Bis
ins 21. Jahrhundert hinein herrscht diffuse Ablehnung selbst unter sonst hoch
Gebildeten, zumindest aber Desinteresse. Während des Lesens der „Werke“
Zimmers und Rößles war mir klar geworden: Beide Pastoren empfanden sehr wohl
großen Respekt vor der, dieser Religion innewohnenden Kraft. Zum anderen: Sie
wollten ihrer Kirche dienen, die sie als perfekt und absolut gut betrachteten,
und scheuten sich dennoch nicht, eine Religion und ihre Menschen die ihnen
lediglich als fremd und unbequem erschienen, vernichtend zu beurteilen.
Charles Dickens (1812-1870) der
scharfblickende, berühmte Autor von „David Copperfield“, „Oliver Twist“
und „A Christmas Carol“ hörte nur wenige Jahre nach dem Wirken von Mormonenmissionaren
in Großbritannien von den berüchtigten, auswanderungswilligen Konvertiten – den
englischen, walisischen, schottischen Mitgliedern der Kirche Jesu Christi der
Heiligen der Letzten Tage. Dickens 38-jährig, wollte sich ein Bild vom
Wesen dieser Leute machen:
Ein späterer Beobachter schrieb:
„An einem Junimorgen im Jahr 1863 bestieg
Charles Dickens das Segelschiff Amazon an einem Londoner Dock, um mit eigenen
Augen zu sehen, was zu dieser Zeit ein bekanntes Phänomen geworden war: eine
Gesellschaft von Mormonen, die nach Amerika und schließlich über die Grenzen
der Vereinigten Staaten hinausgingen zu den Wüsten des Great Basin. Bis 1863
hatten bereits buchstäblich Tausende von Briten diese Reise und Wanderung
unternommen, und die unkonventionellen Methoden der Mormonen waren bekannt
geworden. Die Mormonen waren organisiert wie keine andere Gruppe. Sie hatten
ihre eigene Schifffahrtsagentur, sie charterten Schiffe, sie hatten erfahrene
Anführer, sie sorgten für die Überlandausrüstung, nachdem der Auswanderer an
der Grenze angekommen war, und sie hatten eine Methode, den Armen durch die
Selbsthilfegesellschaft Perpetual Emigrating FundCompany zu helfen. Diese
einzigartigen Merkmale der mormonischen Auswanderung erregten die
Aufmerksamkeit vieler, einschließlich Charles Dickens. Andere (darunter Lord
Houghton, der in der Edinburgh Review vom Januar 1862 schrieb) hatten gesagt,
die Atlantiküberquerung sei normalerweise nichts weniger als ein Albtraum
gewesen, bemerkten aber, dass Mormonenschiffe wie eine Familie seien „mit
starker und akzeptierter Disziplin, mit jeder Vorkehrung für Komfort, Anstand,
und inneren Frieden." Diese Faktoren machten die Überfahrt eher zu einer
humanen als zu einer gefürchteten Erfahrung, und Dickens bestätigt in seiner
typisch beschreibenden Art die Ansicht, dass eine mormonische Auswanderung
deutlich besser als die Norm war.
“Achthundert was? „Gänse, Bösewichte?“
ACHTHUNDERT MORMONEN. Ich, (Charles Dickens), war an Bord dieses
Auswandererschiffs gekommen, um zu sehen, wie achthundert Heilige der Letzten
Tage aussehen, und ich fand sie (zur Niederlage all meiner Erwartungen) so, wie
ich es jetzt beschreibe. (Ich sprach mit) dem Mormonen-Agenten, der aktiv daran
beteiligt war, sie zusammenzubringen..., um sie auf ihrem Weg zum Großen
Salzsee bis New York zu bringen. Ein kompakt gebauter, gutaussehender Mann in
Schwarz, ziemlich klein, mit sattem braunem Haar und Bart und klaren,
leuchtenden Augen. Ein Mann mit einer aufrichtigen, offenen Art und einem
unbeugsamen Blick; dabei ein Mann von großer Schnelligkeit. Ich glaube, er
hatte keine Ahnung von meiner Unkommerziellen Individualität und folglich von
meiner immensen unkommerziellen Bedeutung: „Das sind sehr gute Leute, die Sie
hier zusammengebracht haben.“ „Ja, Sir, das sind sehr feine
Leute.“ (Charles Dickens) der UNKOMMERZIELL schaut sich um: „In der
Tat, ich glaube, es wäre schwierig, irgendwo anders 800 Menschen zusammen zu
finden und unter ihnen so viel Schönheit und so viel Kraft und
Arbeitsfähigkeit.“ Geschichtssektion der BYU, Provo
Anders als Rößle kannte ich bereits eine
Anzahl Missionare dieser Religion, deren Erscheinung ich als angenehm empfand.
Ebenso missfiel mir nicht was sie lehrten, soweit ich wusste und es verstand.
Es ging um eine Weltanschauung die nun, wenn auch sehr, sehr langsam
meine eigene werden wollte. Bereits 1936 kamen die ersten unserer Missionare in
meiner Heimatstadt an. Das erfuhr ich später. Johannes Reese, der Freund meines
Vaters, erklärte zunächst seine Abneigung: „Wenn ihr missionieren wollt,
warum geht ihr dann nicht nach Afrika? Wusstet ihr nicht, dass Europa schon vor
mehr als 1000 Jahren christlich wurde?“
Als Antwort stellte ihm Elder Holt die Frage: „Glauben
Sie, dass alle Christen, Christen sind?“ Das erschütterte Johannes‘
Selbstvertrauen.
Sommer 1937. Links: Elder Larson,
mein Vater, Wilhelm Skibbe, Johannes Reese, Frau Schmidt und Elder Holt.
Diese wenigen
Wort fielen auf fruchtbaren Boden. Reese las statt
Antimormonen-Literatur fortan die ganze Palette neuzeitlicher Offenbarungen und
war sowohl verblüfft wie erfreut. Sechs Jahre danach, nur wenige Monate
bevor die russischen Streitkräfte in Wolgast einmarschierten, sagte Herr
Johannes Reese, in einer meiner Klavierstunden in geradezu feierlichem Ton: „Ich
fühle es deutlich, deine Kirche verbreitet weitaus mehr Wahrheiten als jede
andere.“ Und dann, wenig später, irgendwann, fügte er hinzu: „Joseph
Smith ist ein wahrer Prophet!“ Er schaute mir direkt in die Augen
nachdem er mit seinen langen, eleganten Fingern die letzten Akkorde eines neuen
Stückes gespielt hatte, Jetzt, oben auf dem Hausboden, als ich noch Zimmers
Hassbuch in den Händen hielt, berührte es mich wieder und diesmal nachhaltiger.
Reeses Bekenntnis gehörte nun zu den ersten farbigen Steinen eines riesigen
Mosaiks, das ich bislang nur flüchtig und in groben Umrissen sah. Aber,
der Alltag sollte bald meine gegenwärtige Sichtweise erneut verdunkeln und
meine zeitweise erhabene Stimmung dämpfen.
In jenen Tagen des intensiven Studiums
feindlicher Stimmen, dachte ich an weit Zurückliegendes. Fast Vergessenes sah
ich wieder, und es war mir nicht unangenehm: Ich erinnerte mich, ich war
wahrscheinlich erst 5 Jahre alt und hielt eine kleine Papierfahne mit einem
aufgedruckten Hakenkreuz in der Hand. Ich war sehr stolz. Die braun gekleideten
SA-Männer mit ihren glänzenden goldenen Instrumenten hatten mich glücklich
gemacht. Was für eine Freude war es gewesen, dem Tambourmajor, mit seinem reich
verzierten, mit Kordeln bestickten Taktstock, zuzusehen! Wie er ihn
herumwirbelte, ihn dann hochwarf und wieder auffing. Mir kam es so
vor, als wären alle Zuschauer genauso fasziniert wie ich. Immer noch verzaubert
von allem, was ich gerade gesehen hatte, kehrte ich nach Hause zurück. Als ich
ankam, saß Vater wie eine Statue mit seiner großen Bibel auf seinem
Lieblingssitz. Als ich vor ihm stand, schüttelte er seinen kahlen Kopf. Er sah
mich und meine bunte Flagge deutlich unzufrieden an und forderte mich auf,
näher zu kommen. Er nahm mir einfach die schöne Fahne aus der Hand, was mich
traurig machte. Kurz darauf, vielleicht auch erst ein Jahr später, erhielt ich
meine einzige Tracht Prügel von ihm. Das lag daran, dass ich zuvor die Haustür
unseres Vermieters, Herrn Eckdisch, geöffnet und ihm frech gesagt hatte, er sei
ein „Judenschwein.“ Dieser pummelige, fröhliche kleine Mann,
Vater von zwei erwachsenen Kindern, muss direkt zu meinem Vater gerannt sein
und ihm gesagt haben: „Ihr Sohn hat mich beleidigt.“ Ich wurde von
Vater herbeigerufen. Er legte mich mit dem Gesicht nach unten auf sein Knie,
zog einen Filzschuh aus und schlug mich! Es tat nicht wirklich weh. Die Worte
hallten immer wieder in perfekter Harmonie mit dem Rhythmus des Pantoffels: „Vergiss
es nie, mein Sohn: Alle Menschen sind Kinder Gottes! Verstehst du? Alle
Menschen sind Kinder Gottes!“
Mutter erzählte später, dass es um 1936, viele
Gespräche zwischen Vater und unserem Vermieter, Herrn Eckdisch, gab. Vater
versuchte ihn vor der miserablen Zukunft und den bevorstehenden Ereignissen zu
warnen. „Sehen Sie, Herr Eckdisch, lesen Sie es selbst“, und
er zitierte Hesekiel 37:21: „Und so spricht der Herr, Gott; Siehe, ich werde
die Kinder Israel aus den Nationen herausführen, wohin sie gegangen sind, und
ich werde sie von allen Seiten sammeln und ich werde sie in ihr eigenes Land
bringen.“ „Seien Sie weise, verkaufen Sie Ihre Häuser, nehmen Sie das Geld,
kehren Sie in das Land Ihrer Vorfahren zurück.“
Er hätte Herrn Eckdisch auf andere ähnlich
lautende Verse hingewiesen. Dazu gehörten Prophezeiungen von Joseph Smith, der
100 Jahre zuvor vorhersagte, dass Juden aus den entlegensten Winkeln der Erde
in ihrem Heimatland Palästina versammelt würden. Mein Vater soll gesagt haben,
dass ein jüdischer Konvertit namens Orson Hyde, den Joseph Smith berufen hatte,
1838 nach Palästina reiste, um das Land für die Rückkehr der Juden zu weihen.
Die Bemühungen Vaters waren erfolglos; Herr
Eckdisch hätte nur mit den Schultern gezuckt. Dieser kleine „Mormone“ konnte
ihn nicht davon überzeugen, alles aufzugeben, wofür er gearbeitet hatte. Sein
Leben in Deutschland sei gut. Vater wies Herrn Eckdisch auf Hitlers Programm,
bezüglich der Juden, hin. „Nein“, beharrte unser
Vermieter: „Wir Juden haben alles überlebt, was die Vergangenheit uns
angetan hat. Wir werden auch Herrn Hitler überleben. Ich bin Jude polnischer
Nationalität. Deutschland ist heutzutage ein zivilisierter Ort.“
Die Einwanderung hätte die Familie Eckdisch
nur 4 000 Dollar gekostet.
Ja, ich kann in etwa sein Gesicht sehen – ich
kann mich sogar an seinen Namen erinnern. Der starke Mann mit der schwarzen
Mütze, auf deren Vorderseite ein silberner Totenkopf prangte hieß P. Die
Blicke, die er mir kleinem Wicht zuwarf, waren kalt. SS-Männer, Bürger von
Wolgast, schoben die vier verängstigten Mitglieder der Familie Eckdisch schnell
auf einen wartenden Lastwagen. Irgendwann müssen diese polnischen Juden
Warschau erreicht haben, denn im Oktober 1944 traf eine Postkarte aus einem
polnischen Ghetto ein. Die Wahrheit ist, dass ich, Gerd, diese Post,
abgestempelt in Warschau, in meinen Händen hielt: Sie bestand aus nur sieben
Worten: „Vater tot, Mutter tot, Lotte tot. Jakob.“ Jakob, der
kräftige Sohn unseres Vermieters, hielt mich oft auf dem Schoß, als ich noch
ganz klein war, ebenso wie Lotte, die etwa 20 Jahre alt war. Irgendwann fragten
wir uns, wie oft dieser Familie die gut gemeinten Worte eines Mormonen namens
Wilhelm Skibbe reumütig in den Sinn kamen.
Nach den Erlebnissen des Sommers 1945 war ich
gegenüber Mutter höflicher.
Ich befragte sie wiederholt Und so erfuhr ich
mehr Wichtiges: 1937, als sie gerade 29 Jahre alt war, diagnostizierte man bei
ihr fortgeschrittene Tuberkulose. Sie wurde in die Universitätsklinik
Greifswald eingeliefert. Ihre Röntgenaufnahmen zeigten sieben bohnengroße
Löcher in der linken Lunge. Die Chirurgen beschlossen, die betroffene Lunge
still zustellen. Vater, der das Schlimmste befürchtete, schickte eine Karte
nach Demmin, weil dort die Missionare stationiert waren. In seiner Post bat er
sie, in die Klinik zu kommen, um Mutter einen Segen zu geben. Als Bruder
Latschkowski das Zimmer betrat, in dem Mutter neben anderen Frauen lag, winkte
sie ihm zu. Er zuckte mit den Schultern und ging zu ihrem Bett, wobei er zum
Ausdruck brachte, dass er keine Ahnung hatte, wer sie sei. Mutter klärte die
Situation schnell: „Ich hatte einen Traum, in dem ich Sie bereits
kennengelernt habe.“ Vater kam herein und dankte Bruder Latschkowski für
die prompte Antwort auf seine Bitte, worauf hin der Älteste verwundert antwortete,
dass er von einer solchen Karte nichts wüsste. Sein Besuch kam aus einem
unbestreitbaren Gefühl zu Stande. Es wäre sozusagen ein deutlicher Hinweis
gewesen in diese Stadt zu reisen, zu dieser Klinik, um Julianne Skibbe zu
finden. Der Schleier bisheriger Unsicherheit fiel sofort. Drei Seelen wussten,
dass Großartiges geschehen wird. Der Älteste gab ihr einen Priestertumssegen.
Am nächsten Tag beschlossen die Chirurgen, vor der Operation eine zusätzliche
Röntgenaufnahme zu machen. Verblüfft, nahezu ungläubig untersuchten sieben
Ärzte das neue Röntgenbild. Immer wieder. Kopfschüttelnd hieß es: „Das
ist ein medizinisches Wunder! Wo sind die Löcher, der ersten Röntgenaufnahmen?“
Keine Verwechslung. Auf beiden Platten stand
ihr Name geschrieben.
Mutter und wir wurden nach diesem Ereignis
viele Jahre lang untersucht. Sie lebte dann über 50 Jahre lang ein Leben in
vollkommener Gesundheit.
Auf Befehl der sowjetischen
Militäradministration
Bereits im Oktober 1945 mussten wir unser
Geschäft wieder eröffnen um Holzpantoffel herzustellen. Niemand wies mich ein.
Ich legte eins der 5 m langen Sägeblätter auf die gummigepolsterten Räder
unserer riesigen Bandsäge und los ging es. Zum Glück bekam Vater vor Jahren
Arbeitsurlaub um mehrere tausend „Keile“ anzufertigen. Diese Rohlinge standen
mir nun zur Verfügung. Ich legte die vorhandenen Schablonen auf und schnitt
täglich bis 60 Stück Holzsohlen aus, höhlte sie von Hand und verlieh ihnen
Hacken. Mutter war stolz auf mich. Die Kunden – zumeist Kleinbauern - sahen
darüber hinweg, dass es keine Kunstwerke waren die sie erwarben. Nahe 16
geworden hatte ich Fortschritte gemacht. Das Geschäft blühte. Bauern bezahlten
mitunter in Naturalien: Kartoffeln und Mohrrüben. Das war ein großes Plus in
Zeiten zunehmenden allgemeinen Hungers. Es kam auch unseren Angestellten gut,
denn nicht nur sonntags nahmen sie an unsren Mahlzeiten teil und die waren dann
unbegrenzt. Frau Behringer wirkte als Hausgehilfin. Sie zeigte mir
sehr bald ein Foto. Zwei bildschöne Mädchen posierten dort. „O, sagte ich,
die Rechte sieht aus wie eine Filmschauspielerin.“
„Mein Dorchen!“
erwiderte sie stolz. Anderntags erschien “Dorchen“ die blonde neunzehnjährige
Schönheit in meiner Werkstatt. Strahlend aus Lebenslust stand sie da. Sie kam
ohne viel Umwege auf das für sie Wesentliche zu sprechen: „Ich habe
eine sturmfreie Bude im Gaugerwohnhaus. Besuche mich mal.“
„Wann?“
„Heute Abend, wenn du willst!“
Was sturmfreie Bude bedeutete wusste ich noch
nicht. Der Abend wurde wunderbar. Schnaps und Zigaretten wurden mir
angeboten... aber bei aller Dummheit verzichtete ich auf Alkohol. Ich versuchte
zu rauchen. Hustete und so weiter. Sie wohnte zusammen mit ihrer Freundin in
einem gut eingerichteten Zimmer mit Ehebetten. Aber dann richtete sie im
Beisein ihrer Freundin an mich die Frage: „Soll ich mich mal
ausziehen?“ Meine Seele im Begriff laut zu jubeln: „Ja,
bitte“, streifte mich ein Wort Vaters: „Rühre niemals eine Frau an,
es sei denn sie ist deine eigene!“ Das hatte er mir während seines letzten
Fronturlaubs eingebläut. Innerlich lachte ich damals, nun wusste ich um den
Sinn seiner Warnung. Wochen später fragten mich einige Jungen wie es mir geht,
Dorchen habe sie mit der Pest infiziert. O, mein guter Vater! Ich
kann mich nicht erinnern ob ich damals auch Gott dankte. Und dennoch, mein
Glaube wuchs. Rößles und Zimmers Hassschriften waren es, die mich zu Besserem
bewegten.
Im Juni 1946 wurden wir von den Missionaren
zur Bezirkskonferenz nach Schwerin eingeladen. Mutter fühlte sich nicht gut.
Helmut, nun 10-jährig, bot sich an mit zu reisen. Normalerweise dauerte die
Zugfahrt von Wolgast aus, etwa fünf Stunden. Aber nichts war in den ersten
beiden Nachkriegsjahren so ungewiss wie eine Reise mit der Reichsbahn. Die
Menschen kamen aus dem Süden um im Norden bei Landwirten Teppiche oder Gemälde
gegen Kartoffeln oder Rüben einzutauschen. Oft waren die Züge heillos
überfrachtet. Wir fanden glücklicherweise nach jedem Umsteigen Sitzplätze.
Natürlich hatte ich vergessen, wo in der großen Stadt das Treffen stattfand.
Vielleicht hatte mir niemand die Adresse genannt. Später sah ich die Plakate in
der Stadt hängen, die zu diesem Fest einluden. Doch im momentanen
Umfeld gab es keine Hinweise.– Das Plakatieren wurde von den örtlichen Behörden
erlaubt, weil „die Mormonen“ damals noch als die von den Nazis diffamierte
Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage galt. Es war spät geworden.
Nach sechs Stunden Verspätung fühlen wir uns ein wenig verloren. Hunderte, wenn
nicht Tausende Menschen spazierten an diesem lauen Spätsommerabend auf den
Hauptstraßen, der Lübecker und der Wismarschen. Sie genossen den Frieden. Mindestens
jeder Zweite musste aus dem Osten vor der Roten Armee geflohen sein. Es schien,
als hätte es nie einen Krieg gegeben. Alles sah unglaublich ruhig aus. Es gab
nirgendwo Spuren des Krieges. Ich fand vor allem erstaunlich so viele Männer zu
sehen. Wo kamen die alle her? An wen sollte ich mich wenden?
Es gab tatsächlich eine Summe unzähliger Stimmen, denn es schien mir, als wehe nicht die geringste Brise. Die Worte breiteten sich weithin aus. Mir kam der Gedanke, dass ich nach dem Polizeipräsidium fragen könnte. Plötzlich mitten im buchstäblichen Gewimmel sprach ich eine Dame an, die in Gesellschaft mehrerer Leute daher kam… „Schließen Sie sich uns an!“ sagte sie. Mehr nicht. Binnen Sekunden vernahm ich, dass sie über eine gerade beendete Samstagversammlung sprachen. Der Name Neumärker ließ aufhorchen. Das war der Mann der mich eingeladen hatte, und die Dame hieß Elli Polzin, Flüchtling aus Stettin. Mitglied jener Kirche deren Menschen und Versammlungen ich nun näher kennen lernen wollte. Die Art wie sie Helmut und mich einlud mit ihren Kindern ein Lager auf dem Fußboden zu teilen, blieb mir, wie ihr ganzes Wesen, unvergesslich. Es war diese selbstverständliche Treue zu den Idealen des Mormonismus, die sie ein halbes Jahrhundert danach immer noch ausstrahlte. Eine so kluge, selbstbewusste, humorvolle Frau, der zwei Jahre später das Glück vergönnt war ihren Ehemann wiederzusehen, der als Sanitäter an der "Ostfront" eingesetzt wurde, und dann langjähriger Kriegsgefangener war, in einem Land, in dem die Sieger selbst Hunger litten. Am Sonntag saßen mein Bruder und ich in der Versammlung der Frauen, denn als zur Klassentrennung aufgerufen wurde, blieben wir sitzen. Sehr selten, dass ich auf diese Weise reiste.
Es hieß die Priestertumsträger würden
sich in einem Nebenraum versammeln. Ich trug doch noch keinen Grad des
Priestertums, deren niedrigsten die Jungen ab dem 12. Lebensjahr erhielten,
wenn sie würdig und tätig sein wollten. Fasziniert hörte ich die FHV-Leiterin
Rowolt (oder Ruwolt) sprechen. Es war die Stärke und Größe ihrer Geisteshaltung
mit der sie sich uns mitteilte: „Ich wohnte in Hamburg, verlor mein
Heim, meine beiden Söhne meinen Ehemann, aber nicht meinen Glauben...“ Dann
kam ein betagter Herr, ein Ältester. Er zog uns aus der Frauenschaft heraus. Wie
sehr haben wir uns dann dort gelangweilt. Obwohl wenigstens ich die gute
Atmosphäre dieser Gruppe von etwa 30 Männern spürte. Es scheint so zu sein,
dass Frauen mehr und intensiver ihr Herz befragen und es sprechen lassen, als
die Vernunft. Ist es nicht wahr, dass Abinadi in einem Extremfall, den
Priestern Noas geradezu, einen Vorwurf daraus machte, dass sie zu
"verkopft" seien: „Ihr habt euer Herz nicht dazu gebracht, es zu
verstehen, darum seid ihr nicht weise gewesen." Mosia
12: 27
Foto:
Bundesarchiv Bahnreisen 1946 -47 in Deutschland zwischen Juli und Oktober
Alle kommenden Jahre hindurch, zuerst aber
während der langen Heimfahrt, von Schwerin nach Wolgast stand mir dieses
flächige, ruhige Gesicht der Dame Rowolt vor Augen. Diese Frau musste durch
bitterste Prüfungen gehen. Sie verlor aber nie jenen Geist der aus Menschen
Heilige machen kann.
Bevor Vater heimkehrte, erfuhr ich, dass meine
Freunde Richard und Gerhard Lange, entgegen ihrem Schwur gegenüber Herrn Kell,
unserem Retter, nachts hinübergeschwommen oder gerudert waren, zur immer noch
waffenstarrenden Insel um sich mit je einem Karabiner und passender Munition
einzudecken. Sie gingen bei entsprechender Mondkonstellation wildern. Bald
darauf fehlte ihnen der dritte Mann, der Aufpasser. Den sollte ich
ersetzen. Falls die russische Armeepatrouille auftaucht sollte ich pfeifen.
Aber ich hatte Angst und verweigerte mich. Meiner Feigheit wegen wurden sie
ertappt und umgehend zum Zehner-ukas verurteilt. Sollte ich mir Vorwürfe
machen?
Ja, vielleicht.
Aber als beide drei Jahr später, 1949,
anlässlich der Gründung der DDR durch Staatspräsident Wilhelm Pieck begnadigt
wurden, traf ich Richard wieder. Ich kam damals aus Prenzlau, dort befand ich
mich als 19-jähriger noch in der Lehre in einem Baumschulen-Unternehmen. Zum
Kurzurlaub kehrte ich zurück nach Wolgast. Erstaunt sah ich, dass jemand der
mir fremd war, auf „meinem“ Sofa daheim, lag. Ich konnte ihn nicht gleich
erkennen. Er schlug die Decke zurück. Da war nur ein Gerippe, mit Menschenhaut
überzogen: „Richard?“ Was er berichtete wage ich nicht zu schreiben.
Sadisten mit roten Armbinden hätten sie mit Hunger und Schlägen traktiert. Eine
weitere, möglicherweise ausgesuchte Schikane bestand darin, den Jungen freien
Blick auf die Frauen- und Mädchen zu geben, die wie ihre männlichen
Leidensgenossen auch unter Liebesmangel litten. „Ich wusste nicht
wohin, meine Familie ist abgehauen nach Schweden, angeblich mit einem
Fischerboot.“ Richard warf mir meinen Freundesverrat nicht vor. „Sie
kamen mit Hunden.“ Daraus folgerte: Sie hätten auch mich geschnappt. Lapidar
fügte Richard hinzu: „Meine Leber ist kaputt, aber ich gehe in den
Westen, hier kann mir keiner helfen.“
Im Herbst 1946, unmittelbar nach Richards
Verhaftung und Einweisung ins Lager Waldheim, trafen erneut Missionare in
unserer Gegend ein. Es war die Zeit nachdem Vater aus einem Gefangenenlager in
Frankreich geflohen war, besuchte uns Elder Walter Krause. Ein Mann um die 35,
mit starken Gesichtszügen, gezogene Nase und sympathischem Auftreten. Vater
nahm ihn zwar wahr, doch er kämpfte mit seinen Depressionen. Er entrann der
Schwerstarbeit in einem französischen Kohlebergwerk durch riskante Flucht. Zur
Verursachung seines Zustandes zählte die Kriegsberichterstattung. In den
letzten Kriegstagen sprach der deutsche Soldatensender u.a. von heftigen
Kämpfen um den Brückenkopf Wolgast, dreimal sei die Stadt zurückerobert worden.
In dunklen Tagträumen sah er seine Familie unter Trümmern liegen. Die
Ungewissheit trieb ihn um. Seit Kindheitstagen durchlitt er als Halbwaise an
der Seite eines nunmehr stets trunkenen Vaters, depressive Phasen. Beide
trauerten endlos um den Verlust der Mutter meines Vaters.
Ich stand an der Bandsäge als er in „meine“
Werkstatt kam. Dann sah er Mutter und Helmut, sowie Helga wohlauf. Daraufhin
brach er zusammen. Monatelang nach der unerlaubten Rückkehr zu seiner Familie
verließ er nicht das Bett. Alte Depressionen fielen aus neuen Gründen über ihn
her. Uns, bei guter Gesundheit und in einer eher heiteren seelischen Verfassung
zu sehen, war wohl ebenfalls zu viel für ihn, den Mann mit großem Mitgefühl. Er
kämpfte gegen sich selbst, Das führte zu Zwangsdenken. Erst im Frühling 1949
wurde mein Vater für fast zwei Jahrzehnte Herr seines Selbst. Verdiente
verhältnismäßig viel Geld, erwarb ein Haus in der Wolgaster Bahnhofstraße.
Mutter war mit ihm sodann sechzehn Jahre
glücklich, bis er zurückfiel und schließlich Suizid beging. Kategorisch hatte
er jede fachärztliche Hilfe verweigert.
Trotz aller Wunden, die er bei alliierten
Bombenangriffen erlitt kam Walter Krause zu uns, allerdings auf Krücken. Er
gehörte zu den Überlebenden der Zerstörung der Stadt Dresden im Februar 1945.
Er ließ, nur Monate nach dieser Tragödie seine Familie in Cottbus zurück, um
eine Mission für seinen Gott zugunsten vieler desorientierter, verzweifelter
Menschen zu erfüllen. Der damalige Missionspräsident Richard Ranglack klagte: „Walter
wir brauchen dich!“ Unglaublich! Walter gehorchte. Er fand ein reifes Feld
vor, das abgeerntet werden konnte. Innerhalb weniger Wochen wurden 50 Personen
Mitglied der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage. Johannes Reese
und sogar ich waren daran beteiligt.
Reese hielt seit Monaten zuvor in unsren
Wohnräumen Hausversammlungen ab, da es in unserer Gegend keine autorisierten
Lehrer unserer Kirche gab. Etwa 20, manchmal auch mehr Leute kamen zusammen.
Allesamt Flüchtlinge, die nach dem Zusammenbruch seelisch ermüdet dahinlebten.
Ich hatte ihnen Traktate gegeben, die frühere Missionare bei uns zu Hause
hinterließen, und die ich zwischen der Anti-Mormonenliteratur vorfand. Ich lud
irgendwann auch meinen Freund Hans Schult ein, der später als Distriktpräsident
Ostberlins wirkte.
Reese nahm mitunter, ohne Mutter zu fragen aus
unserem Briefständer Post meines Vaters, die seit etwa einem Jahr aus Norwegen
kam, im Mai 1945 allerdings abriss. Dann sagte er in die Runde: „Hier
ist wieder eine Epistel von Wilhelm Skibbe“ Tatsächlich enthielten die
Briefe stets Betrachtungen biblischer Zitate, die Vater mit den Lehren der
Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage verband. Vater war wirklich
ein Denker. Er fand die Theologie sei großartig, weil sie obenan die Liebe
stellte, die jedes Menschen Willen respektierte. Selbst der allmächtige Gott
würde niemals eingreifen, wenn wir es nicht erbitten. Gott wünscht
zwar, dass wir uns unserer Schwächen bewusst sind, doch nie wird er Menschen
erniedrigen. Im Gegenteil. Selten erwähnte Vater, in seiner Post, Episoden oder
Fragen die ihn oder Mutter betrafen. Wir vernahmen eines Tages, bevor Walter
Krause kam, die Worte der Ehefrau Willi Dunkers: „Kann man sich den Mormonen
anschließen.“ Johannes Reese erwiderte: „Ja! Guten Gewissens.“
Allerdings rang er mit sich selbst ob er auch
die Lehre von der Möglichkeit der Vergottung des Menschen mittragen könne. Dies
erfuhr ich erst später. Er wurde nie Mitglied, verschenke aber wiederholt
Bücher Mormon an Andersgläubige mit Widmung. Man kannte ihn weithin. Er spielte
zu Gottesdiensten evangelischer Richtungen und ebenfalls bei katholischen
Messen. Walter Krause kam in diese Situation hinein. Er predigte stets in
gehobener Stimmung. Wir fühlten seine tiefe Überzeugung von der Echtheit des
Geistes des wiederhergestellten Evangeliums. Er vertiefte meinen Glauben und
den der Chust- Schult- und Weberfamilie, die dann allen Stürmen zum Trotz
lebenslänglich dabeiblieben. Der erste dieser Konvertiten war Max Zander, ein
belesener Gartentechniker, der seinen Freund Johannes Reese nach guter
Literatur gefragt hatte. Herr Reese gab ihm ein Buch Mormon. Max war total
überrascht. „Ist das wirklich wahr?“
„Geh und besuche ihre Versammlungen!“, antwortete
mein Klavierlehrer. Max tat es. Er hörte Walter Krause aufmerksam zu. Er spürte
die Seelenkraft dieses Mannes und die Macht der Einzigartigkeit der Lehren
einer verfemten Kirche. Es war überwältigend für ihn. Ich erinnere
mich an diese beeindruckenden Stunden der Inspiration. Es ging um die Fragen
nach dies- und jenseitigem Glück. Joseph Smith lehrte: „Eine Religion
die mir nicht mehr Glück in diesem Leben geben kann, vermag es auch nicht in
der jenseitigen.“ Wertvoll sei Abrahams Wort, wie es im Buch „Köstliche
Perle“ festgehalten wurde: „da ich gewahr wurde, dass mir mehr Glück
und Frieden und Ruhe beschieden sein würden, trachtete ich nach den Segnungen
der Väter und dem Recht, wozu ich ordiniert sein musste, um in ihnen zu walten;
da ich selbst ein Nachfolger der Rechtschaffenheit war und auch wünschte,
jemand zu sein, der viel Erkenntnis besaß, und ein besserer Nachfolger der
Rechtschaffenheit zu sein und mehr Erkenntnis zu besitzen und ein Vater vieler
Nationen zu sein, ein Fürst des Friedens, und wünschte, Belehrungen zu
empfangen und die Gebote Gottes zu halten, wurde ich ein rechtmäßiger Erbe, ein
Hoher Priester, der das Recht innehatte, das den Vätern zugehörte.“ Vers
2
Gebote seien zwar Grenzsteine oder Zäune, die
uns vor den häufig schweren Folgen von Übertretungen schützen wollen. In einer
Ansprache kam in diesem Zusammenhang ein dazu passendes Beispiel vor: Eines
Großbauern Zuchthengst übersprang die Hürden und fraß vergiftetes Saatgut.
Sehr bald nachdem er mehr gelesen hatte,
wollte Max Zander im späten November im offenen Wasser getauft werden. Der Tag
wurde bestimmt und dieser begann um Mitternacht mit minus 17 Grad Celsius.
Walter Krause musste mit einer Axt die zwölf Zentimeter dicke Eisschicht, des
sogenannten Pferdegraben am Peenestrom aufbrechen, wobei ich ihm half. Und so,
nach späterer Taufe der Mitglieder der Zanderfamilie kam es, dass bald darauf
in Wolgast die erste Gemeinde der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten
Tage in unserer Umgebung gegründet wurde. Es wurden immer mehr. Menschen
unterschiedlichster Gesinnung fanden zu fast verlorenem Glauben an einen
liebenden Gott zurück. Es gab natürlich Gegenwind und es ereigneten sich kaum
vorstellbare Dinge, wie in diesem Fall, den Walter Krauses Tagebuch festhielt.
(Veröffentlicht 2005 durch Edith Krause, „Walter Krause in seiner Zeit“): „Im
April 1947 sollte Gerd Skibbe einen Auftrag seiner Mutter erfüllen: in das Dorf
Mahlzow auf der Insel Usedom fahren, um dort Fisch zu kaufen. Ich war froh, mit
ihm zu gehen; denn wieder hatten wir so die Gelegenheit, über die Grundsätze
des Evangeliums nachzudenken. Schwester Julianne Skibbe, Gerds Mutter, packte
ein Paar Holzschuhe für die Frau des Fischers ein. Sie fragte Edith Schade ob
sie mitginge- Sie stimmte zu. Also gingen wir zu dritt hinunter zur Peene, wo
wir eine Fähre bestiegen, die uns zur Insel brachte. Bei der Ankunft erfuhren
wir, dass Offiziere der sowjetischen Armee die Pässe aller Reisenden
überprüften. (Walter vermutete gleich etwas Schlimmes) „Was ist das alles?“
dachte ich mir... Die sowjetischen Offiziere kontrollierten die Pässe. Gerd und
Edith kamen ohne Ausweise. Sie wurden gebeten, nach rechts zu gehen. Ich hatte
meinen Reisepass dabei, der in vier Sprachen ausgestellt worden war. Bruder
Suhrmann (nach dem Krieg führend im Kohlebergbau Sachsens) hat ihn für mich
besorgt. Mir wurde gesagt, ich solle nach links gehen. Nachdem alle rund 30
Personen kontrolliert worden waren, durften die Personen der rechten Seite weiter
gehen.
So waren Gerd und Schwester Edith Schade frei,
den anderen wurde jedoch gesagt, sie... würden unter Bewachung bleiben. Gerd
und Edith besprachen die Situation und kamen dann, um mir zu sagen, dass sie
unbedingt bei mir bleiben würden. Ich lehnte ihr Angebot ab, weil ich
angesichts der vielen russischen Offiziere um Ediths Sicherheit fürchtete. Die
beiden änderten ihre Meinung jedoch nicht. Nach einiger Zeit traf ein riesiger
Militärlastwagen ein. Man sagte uns, wir sollten hinaufklettern und uns auf den
Boden setzen, während die sowjetischen Soldaten uns mit Maschinengewehren
bewachten... Diese erzwungene Fahrt über die wunderschöne Insel Usedom hat uns
nicht gerade gefallen. Die 42 Kilometer lange Reise endete im Ort Heringsdorf.
Der Lastwagen hielt vor einer der alten Ferienvillen...Dort wurden die Menschen
aufgeteilt und in verschiedene Räume des Gebäudes geschickt. Wir drei wurden
getrennt… Während wir warteten, fiel die Dunkelheit über die Welt. Einer nach
dem anderen wurden wir dem Kommandanten vorgeführt, der ebenfalls in einem
abgedunkelten Raum saß. ... Schwester Schade erzählte uns später, dass sie
wegen der Dunkelheit Angst hatte, weil sie nur die Stimme des Dolmetschers und
des Mannes hören konnte, der viele Fragen stellte. Irgendwo in der hinteren
Ecke quietschten die Betten ...Zu diesem Zeitpunkt wussten wir noch nicht, dass
Gerd Skibbe der erste war, der interviewt wurde. Er wurde sodann freigelassen
und wartete auf uns ... Schließlich wurde mir mitgeteilt, dass man mich mit
einem Nazi-Führer namens Schwede-Coburg (Nazi-„Gauleiter“ des pommerschen
Parteibezirks) verwechselt hätte, dem man nicht entkommen lassen wollte. Der
Kommandant sagte mir, dass ein „Bruder“(Gerd) und eine „Schwester“ (Edith) auf
mich warteten, die bei keinem ihrer Verhöre Angst vor ihm zeigten. Und, dass
wir alle die gleiche Geschichte erzählten. Wir dürften gehen. Bevor ich den
Raum verließ, schüttelte der Beamte mir die Hand, öffnete seine Uniformjacke
und sagte mir, dass auch er gläubig sei. Er trug ein Madonnenbild an einer
Kette.
Als wir uns wieder auf der Straße befanden,
senkten wir den Kopf, um ein Dankesgebet
zu sprechen. Dann gingen wir die Straße entlang, um nach Wolgast
zurückzukehren. Da nun Schwester Schade diese Holzschuhe zu tragen nicht
gewohnt war, gingen wir nur bis Koserow. Dort wollten wir um eine Rast bitten.
... Gerd kannte den örtlichen Bäcker und klopfte bei ihm. Es war nach 2 Uhr
morgens. Der Bäcker sagte uns, wir sollten zur Scheune gehen, wo wir auf dem
Stroh schlafen könnten.
Kaum hatten wir uns niedergelassen, brach ein
heftiges Gewitter los. Es regnete eimerweise. Wie glücklich waren wir, in
dieser Scheune zu sein, wo es warm und trocken war! Die Liebe und Loyalität
meiner treuen Gefährten gaben mir Hoffnung und Kraft, die Arbeit des Herrn
voranzutreiben.“ Zitatende
Ich erlebte in diesem Frühling 1947, wie ein
Offizier der Militärstreife, von einem seiner Soldaten erschlagen wurde. Ich
stand drei Meter entfernt, wollte eine Kinokarte kaufen. Ein Muschik, der im
Vorraum der Kinokasse, in einer Nische stand hielt in seiner Hand eine
zwei-Liter-Milchkanne. Da muss Schnaps drin gewesen sein. Der Mann mit der
Armbinde „Militärpolizei“ wollte dem ohnehin Betrunkenen dieses Gefäß abnehmen.
Jemand hinderte ihn, denn es waren weitere etwa drei oder vier Rotarmisten die
sich das Getränk wohl teilen wollten. Der blutjunge Soldat schwenkte die Kanne
und schlug sie dem Armeepolizisten mit voller Wucht mitten auf den Schädel.
Obwohl das Opfer sofort zu Boden sank, erlitt der nicht mehr junge
Streifenführer weitere tödliche Schläge. Einer der vom Schnaps benebelten
bemerkte mich erst jetzt. Seine Augen rotierten und ich lief um mein Leben.
Gerhard D. – ein Sonderfall
Damals erhielt
Walter Krause Unterstützung durch den aus Sachsen stammenden Gerhard D., der
ein ganz besonderer Missionar war, 19 Jahre alt und verdorben bis auf die
Knochen. Missionspräsident Walter Stover hatte ihn berufen, da seine Familie
einen guten Ruf besaß und Gerhard selbst – allerdings nur vorgegaukelte -
Zeichen von Loyalität und Glauben an den Tag legte.
Walter Krause wurde noch nicht umgehend auf
Gerhards verborgenen Ehrgeiz und dessen Leidenschaften aufmerksam sonst hätte
er ihn ohne weiteres nach Hause geschickt. Doch das Schicksal lief schneller
als von mir erwartet. Meine Mutter und ich bemerkten als erste, dass mit diesem
jungen Mann auffallend einiges nicht stimmte. Wir fanden ihn rauchend im
Holzschuppen meines Vaters, einem Raum voller zundertrockenem Holz und
Holzspänen. Es stand inmitten vieler alter deutscher Fachwerkhäuser, die
Hunderte von Jahren überdauert hatten. Nervös schwang Gerhard seine Arme durch
die Luft, um den Geruch und die Tabakrauchwolken zu vertreiben, aber ohne
Erfolg. Gerhard sollte mir beim Holzschneiden in unserer kleinen Fabrik
helfen. Es kümmerte ihn wenig. Er saß lieber im warmen Wohnzimmer. Bald, ich eintrat verbarg er sofort ein Buch. Das
machte mich misstrauisch und neugierig. Nach willkürlich aufgeschlagenen und
gelesenen 2 Seiten fragte ich ihn: „Warum hast du Boccaccios
„Decamerone“ zu uns nach Hause gebracht?“ Er zuckte mit
den Schultern und antwortete herablassend: „Ich bin alt genug dafür.“
Dies war die Situation, als Gerhard sich dann, zwar widerwillig, herbeiließ,
mir beim Holztransport aus dem Wald, 15 km von Wolgast entfernt, zu helfen. Wir
hoben die schweren, zwei Meter langen Baumstämme auf den Lastwagen, ein altes,
langsames Fahrzeug, das mit Holzgas betrieben wurde, denn Benzin gab es selten.
Erschöpft kletterten wir auf unsere Ladung und ließen uns von der Sonne und der
sanften Frühlingsluft den Rücken wärmen, während der LKW nach Hause kroch. Als
wir das kleine Dorf Zemitz erreichten beschloss Gerhard zu provozieren: Er zog
sein Hemd aus. Zu meinem Entsetzen sah ich die leuchtenden Farben der
Nazi-Flagge mit dem Hakenkreuz auf seinem Unterhemd. Als wir durch das neue
Grün der langen Dorfgasse fuhren, saß er wie eine Statue da. Jeder hätte ihn
mit dem rot-weiß-schwarzen NAPOLA-Emblem sehen können. (NAPOLA bedeutet
Sonderschule für künftige Führer im Dritten Reich Adolf Hitlers, auch Werkstatt
um Spione auszubilden) Das Wappen umgab seine Brust wie ein Feuerring. Ich
hatte das Gefühl, ich sollte vom rollenden Lastwagen herunterspringen. Seit dem
verlorenen Krieg waren bereits zwei Jahre vergangen. Zwei Jahre voller Blicke
auf die Ruinen und die Qual all dessen, was der barbarische Hitlerfaschismus
hinterlassen hatte. Auch wenn es den meisten Deutschen schwerfiel, sich allen
Anordnungen der Sowjetmacht zu beugen, widersprachen Handlungen wie diese, die
Gerhard an diesem Tag an den Tag legte, jeder Vernunft. Das war eine freche,
unverzeihliche Provokation. Wenn uns nur einer mit Verantwortungsbewusstsein
gesehen hätte, wären wir unweigerlich hinter Gittern gelandet. „Bist du
verrückt geworden?“ Er griente nur. Unter diesem Zeichen
musste nicht nur jede Familie Deutschlands großes Leid erdulden, sondern ganz
Europa litt immer noch. Tausende Städte Europas, zwischen Coventry und
Stalingrad waren dem Erdboden gleichgemacht worden.
Plötzlich verstand ich, warum Gerhard es in Abwesenheit Walter Krauses liebte, unsere Treffen zu leiten. Die meisten Mitglieder waren alt genug, um Gerhards Eltern zu sein. In der Anfangszeit standen wir auf, um Kirchenlieder zu singen. Befehle zum Aufstehen und Hinsetzen wurden vom anmaßenden "Missionar“ G.D. gegeben. "Hoch!" und „runter!“ forderte er, als wären wir seine Untergebenen. Zu meiner Überraschung waren alle neuen Mitglieder gehorsam und niemand beschwerte sich. Es könnte sein, dass sie dachten, dies gehöre dazu und sei die richtige Art, sich fügsam zu verhalten. Ich traute mich noch nicht, es Walter Krause zu sagen. Hätte ich es nur getan. Aber ich wollte nicht schon wieder ein Verräter sein. Wenige Tage nachdem Gerhard D. seine politischen Neigungen törichterweise offengelegt hatte, wurde er in Stralsund - einhundert Kilometer von Wolgast entfernt - von Offizieren der Roten Armee verhaftet. Zu diesem Zeitpunkt saß er im Wartesaal der ersten Klasse im Bahnhof. Dieser war den Offizieren und Zivilangestellten der Roten Armee vorbehalten. Hin und wieder überprüfte jedoch die sowjetische Militärpolizei die Pässe aller Anwesenden. Gerhard, wie wir später vernehmen mussten, sprach perfekt Russisch. Er liebte Wodka und, wie wir dann erfuhren, musste er sich auf der Napola Marienburg, Ostpreußen, ein großes Repertoire an schmutzigen Witzen angeeignet haben, um als Ostagent in Russland befehlsgemäß operieren zu können. Natürlich besaß er keinen gültigen Pass. Bei der NAPOLA wurde Gerhard jeglicher Religionszugehörigkeit entwöhnt. Armer Walter Krause.
Patriarch
Walter Krause 1980. Geboren 1909, enterbt 1927, da er gegen den Willen seines
vermögenden Vaters Mitglied der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten
Tage wurde, verstorben 2004
Nach der Festnahme Gerhards wurde Walter vom
Kommandanten nach Stralsund vorgeladen. Dieser Beamte teilte ihm mit, dass
Walter Krauses Leben für die russischen Behörden nicht viel wert sei, wenn sich
ein solches Ereignis wie oben beschrieben wiederholen würde. Doch, Walter hatte
sich in den vergangenen Monaten ein ausgezeichneter Ruf erworben. Das könnte
der Kommandant gewusst haben. Missionar Krause kümmerte sich um Waisenkinder
aus Mitgliederfamilien und andere in Not geratene. Er mischte sich grundsätzlich
nicht in politische Diskussionen ein. Ich begegnete Gerhard 1968,
anlässlich eines Kirchentreffens in Ostberlin. Er winkte mir zu. Ich zuckte die
Achseln. Er kam auf mich zu und erzählte mir, wer er sei. Er wünschte wieder
mein Freund zu sein. 20 Jahre lang musste er durch verschiedene
Gefangenenlager, in Sibiriens Kohlebergwerken gehen. Er arbeitete in heißen,
wassergefüllten, lebensgefährlichen Löchern. Dort hatte er reichlich
Gelegenheit, seine faschistischen Pädagogen zu verfluchen, die ihn als einen
zunächst dressierten und dann verstoßenen Hund zurückgelassen hatten. Hin und
her gerissen zweifelte ich letztlich an Gerhards Redlichkeit. Irgendwo, tief in
unserem Inneren, scheint es einen Mechanismus zu geben, der es uns nicht
erlaubt, Misstrauensgefühle schnell abzustreifen. Obwohl wir es manchmal
vielleicht sollten. Ich sagte ein paar leere Worte. Schmerz muss er
gespürt haben, tiefen Seelenschmerz, als er sah, dass ich ihn ablehnte. Was er
dringend brauchte, wäre ein ehrliches Willkommenswort und eine Umarmung
gewesen. Mein damaliges Verhalten bedrückt mich bis zur Stunde. Er verstarb
bald darauf. Ich hätte Gutes für ihn tun können, wenn nicht meine Bedenken die
Oberhand erlangt hätten. Es war die Sorge, dass sie ihn zu einem Sowjetspion
umgedreht haben könnten. Uns war seit langem bewusst, dass wir ständig von der
„Stasi“ argwöhnisch beobachtet wurden. Meine Schuld Gerhard kühl behandelt zu
haben werde ich weiter zu tragen haben. Er war schließlich zu uns
zurückgekehrt. Wir „Mormonen“, insbesondere die Leitenden, zu denen
ich damals gehörte, galten zu dieser Zeit noch als Mitglieder einer, in
kommunistischen Augen, gefährlichen amerikanischen Sekte. Wir mussten besonders
vorsichtig sein. 1968 herrschte noch das gegenseitige Unbehagen... Unser Warten
in Ungewissheit war zu jener Zeit, einer Ära der Bitterkeiten geschuldet. Das
berühmte Weihegebet von Präsident Monson (1976) auf den Radebeuler Hügeln
gesprochen, lag noch in weiter Ferne. Irgendjemand übermittelte dann allerdings
den Text dieses besonderen Gebetes dem Überwachungssystem, - was später sehr zu
vermuten war -. In ihm bat der damalige Apostel Monson jedenfalls um einen
Segen des Allmächtigen für die kommunistische Regierung. Da
gab es keinen Fluch. Das änderte die Position unserer Kirche und verschaffte
uns DDR-Mitgliedern nach 1980 Anerkennung durch die Regierungsbehörden. Diese
sanfte Weise des Umgangs mit radikal Andersdenkenden in Führungsstellen sollte
schließlich zum Bau eines Tempels im Osten führen.
Im
Jahr 1947, sowie 1948 musste ich die Lebensmittelrationen, die uns die Kirche aus
Utah geschickt hatte, an bedürftige, sowie Nichtmitglieder liefern. So transportierte ich ein- bis
zweimal pro Woche die Pakete durch ganz Mecklen-burg und Vor-pommern.
Sie enthielten Fleischkonserven, Mais,
Tomaten, Pfirsiche und dann Säcke voller Weizen. Aufgrund meines schlichten
Kirchenpasses erlaubten mir der zuständigen Beamten zweimal in Sonderwagen zu
reisen, die den russischen Generälen vorbehalten waren. Ihre Haltung
überraschte mich. Unsere Kirche verfügte seit 1936 über ein gut
funktionierendes Wohlfahrts-Programm, um ihren Mitgliedern und Freunden in Not
zu helfen. Tausende Tonnen Weizen wurden an die Menschen in Deutschland
geliefert. Die Russen gaben ihr Einverständnis (unterzeichnet vom
Militärkommandanten in Karlshorst), dass das Rote Kreuz und die Sowjetische
Militärverwaltung zusammen mit der Kirche beliefert würden. Das bedeutete in
der Praxis, dass mindestens die Hälfte aller Lieferungen zugunsten weltlicher
Institutionen erfolgten. Präsident Ezra
T. Benson war der Erste der bald nach dem Krieg gegen Einwände amerikanischer
Autoritäten, die Bensons Sicherheit in Gefahr sahen, vor Ort auftrat um mit
eigenen Augen das ganze Ausmaß des Elends zu sehen, das über deutsche, aber
auch andere europäische Städte gekommen war.
Bis Anfang 1949 gingen zahlreiche kleine
Weizenbehälter durch meine Hände, ebenso wie viele andere Lebensmittel,
Kleidung und Schuhe, die alle mit der Bahn transportiert werden mussten. Ich
habe nie ein Paket verloren. Völlig fremde Leute sahen mich oft mit den
schweren Containern auf dem Bahnsteig kämpfen und halfen mir. Ich musste diese
kostbaren Geschenke unserer Mitglieder in den Vereinigten Staaten nie
verteidigen. Ich war mir des Vertrauens, das mir entgegengebracht wurde, immer
bewusst und war sehr vorsichtig. Das Jahr 1947 galt insbesondere für die Zeit,
in der Millionen Menschen unter schwerem Hunger litten. Ich erinnere
mich, wie ich im eisigen Winter 1947 im Warteraum „Bahnhof Zoo“ in West-Berlin
ein dickes, verwildert aussehendes Mädchen wie einen bösartigen Wachhund auf
einem großen Kartoffelhaufen sitzen sah.
Damals sollte in Westberlin eine Konferenz
stattfinden. Vater hatte sich aufgerafft und begleitete mich. Durchgefroren in
der Wartezeit gingen wir in das S-Bahnrestaurant Friedrichstraße. Heiße Brühe
wurde angeboten. Unglaublich! Wie gut sie schmeckte. Plötzlich fragte ich mich,
woher die Fettaugen kamen, die obenauf schwammen. Ich konnte es mir erst
erklären als ich die in den Trümmern umherstreunenden Katzen sah, die dort Jagd
auf alles machten, was sie überwältigen konnten. Wir machten uns wieder auf den
Weg. Doch es lagen noch einige Wartestunden vor uns. Der Kälte wegen begaben
wir uns in das fast isoliert dastehende Postamt am Stettiner Bahnhof. Wenig
später kam Walter Krause herein: „Ich suche euch!“ In der einstigen
4-Millionenstadt, in der es noch drei Millionen Frierende gab, fand er uns! Das
hielt ich für sehr bemerkenswert. Er wollte uns nur mitteilen, dass die
Konferenz ausfällt.
Alte und behinderte Bürger starben an Hunger.
Typhus war weit verbreitet. Rückblickend war es wirklich ein Wunder, dass ich
in den ständig überfüllten Zügen fast immer einen Sitzplatz gefunden
habe. Nichts war für mich gefährlich, außer die schönen Augen
gleichaltriger Mädchen, wenn sie mich anleuchteten... aber ich war gehorsam und
sagte mir: „Sei brav, Gerd, eines Tages wirst du die beste und schönste
junge Dame finden und sie eines Tages heiraten.“
Auf meinen Reisen sah ich viele Städte in
Ostdeutschland. Nicht alle waren so zerstört wie Hamburg. Schwerin,
Greifswald und Stralsund, Orte die ich oft aufsuchte, blieben von den
Luftangriffen der Alliierten unbeschädigt, Berlin, Demmin, Neubrandenburg,
Dresden und zahlreiche andere Wohnorte lagen jedoch weithin in schwarzen
Trümmern zwischen denen Millionen Ostflüchtlinge dahin vegetierten. Es war
deprimierend die allgemeine Hoffnungslosigkeit vieler älterer Frauen zu sehen
und zugleich die lauten Tanzvergnügen anderer zu hören.
Jahre später wurde mir klar, dass die Hand
Gottes das deutsche Volk nicht ungestraft ließ. All das Böse, das Naziland über
die Köpfe seiner Mitmenschen brachte, hatte schlimme Folgen. Sah Nephi dieses
selbstverschuldete Elend nicht lange vor meinem Tag voraus? “… so
spricht Gott, der Herr… O ihr Anderen, habt ihr der Juden gedacht,
meines Bundesvolkes aus alter Zeit? Nein; sondern ihr habt sie verflucht und
habt sie gehasst und
habt nicht danach getrachtet, sie zurückzugewinnen. Aber siehe, ich werde euch
das alles auf euer eigenes Haupt zurückbringen; denn ich, der Herr, habe mein
Volk nicht vergessen“ 2. Nephi 29:4-5
Gleich nach dem Zusammenbruch des sogenannten
3. Reiches, der Nationalsozialisten wurde bekannt, dass Millionen Juden, nur
weil sie Juden waren, in Konzentrationslagern zusammengepfercht und dann
verbrannt wurden. Es traf sie allesamt, Kinder und Mütter, Uralte und
Hinfällige Menschen. Plötzlich war das Entsetzen groß. Von diesem Ausmaß der
Vergehen hatte nur wenige Kenntnis. Es wurde wohl verborgen. Ich sah im Geist
den Totenkopf des SS- Mannes P. den er als Kokarde an seiner Dienstmütze
trug. So dachte ich auch zurück an die Familie Eckdisch und fragte mich: “Warum
die Europäer, insbesondere die Deutschen, die Juden jahrhundertelang verfolgten?
Und, wie konnte es jemals zu Großverbrechen dieser Größenordnung kommen?“ In
diesem Zusammenhang fragte ich mich selbst: Kam das Verderben nicht auf unser
eigenes Haupt zurück?
Walter Krause wies darauf hin, dass die Kirche
seit dem vierten Jahrhundert, seitdem sie staatskonform agierte, Juden bedrohte,
dass Bischöfe wie Ambrosius von Mailand und Cyrill von Alexandria sie grundlos als
bösartig beschimpften und behandelten. Sie wollten sich, aus nachvollziehbaren
Gründen nicht „christlich“ taufen lassen. Luther hasste sie, weil sie auch
seine Glaubensversion ablehnten. Ich war erstaunt, als ich mehr zu diesem Thema
erfuhr: Zum Ersten gehörten Bibelzitate die ich in meinem 17. Lebensjahr las.
Nämlich, dass die mehrfachen Weissagungen sowohl Verheißungen wie Warnungen
aussprachen: „Wenn du auf die Stimme des Herrn, deines
Gottes, hörst und alle seine Gebote, die ich dir heute gebe, hältst und danach
handelst, wird der Herr, dein Gott, dich erhöhen über alle Nationen der
Erde.“ Deuteronomium 28: 1
Wiki Commons Die Totenkopfkokarde
Uns Nazibengeln wurde weisgemacht, die
jüdische Rasse sei minderwertig. Deshalb gab es die Rassengesetzgebung, Aus der
Sicht eines Beobachters des 21.
Jahrhunderts steht fest, die Anzahl der Nobelpreisträger jüdischer Herkunft zu
allen anderen verhält sich prozentual zur Gesamtweltbevölkerung wie hundert zu
eins. Niemand kann es leugnen: Die Israeliten sind ein besonderes Volk.
Null-Komma-Null-Zwei Prozent aller Menschen stellen mehr als jeden Fünften
höchstausgezeichneten!
Aber die Warnungen desselben Thorakapitels
lauteten ebenso extrem: „Wenn du aber nicht auf die Stimme des Herrn,
deines Gottes, hörst und nicht alle seine Gebote und Satzungen, die ich dir
heute gebe, hältst und nicht danach handelst, dann werden all diese Flüche über
dich kommen und dich erreichen:
Verflucht bist du in der Stadt, und verflucht
bist du auf dem Feld … Der Herr wird den Fluch, die
Verwirrung und die Bedrohung auf dich loslassen bei allem, was du unternimmst,
bis du schon bald vernichtet und vertilgt wirst, deiner bösen Taten wegen, weil
du mich verlassen hast.“ Verse
15-20
Mehr Antworten fand ich in den Werken des
evangelischen Pfarrers und Hochschullehrers Hartwig Weber. „Antisemitismus
ist ein Produkt heidnischer Zeiten, das von Christen offiziell und im Prinzip
zur vollen Blüte gebracht wurde … Nach dem Toleranzedikt von Konstantin dem
Großen konnte sich der Antisemitismus entfalten und wurde universell und
dauerhaft. Die christliche Kirche machte es zu einem wichtigen Bestandteil
ihrer Lehren ... Gregor von Nyssa nannte die Juden im Jahr 370 „die Feinde der
Barmherzigkeit, Verfechter des Teufels, Hasser des Guten …“ Im Jahr 1215
forderten sie auf dem 4. Laterankonzil, dass alle Juden und Araber eine
Erkennungsmarke tragen sollten. Infolgedessen wurden Juden verpflichtet, gelbe
oder rote Hüte und einen gelben Ring am Mantel zu tragen. Jüdinnen mussten ein
Band auf ihrer Haube tragen. Die Geschichte des Christentums ist seit den Tagen
Konstantins eine Geschichte der Verschmelzung von Macht und Krieg…“ „Jugendlexikon”
S. 330
Keine Szene ist vergessen, nichts, solange wir
aneinander Interesse finden. Die alten Bilder von Menschenkindern, die wir nie
sahen und doch von deren Lebenskampf wir eine Vorstellung haben, sie alle
spielen mit, unser Weltbild zu formen. Bedauerliche Tatsache ist, dass Luther,
der Retter Europas vor der Allmacht und der Verdorbenheit Roms, zur Judenhetze
aufrief. Seine Kirche befreite sich keineswegs von dieser Last, bevor die
Niederlage Hitlers sie dazu zwang ihre Mitschuld einzugestehen. Wahr ist
allerdings auch, dass es in Nazideutschland, mormonische Gemeindepräsidenten
gab, die Judenfeindlichkeit zeigten oder zuließen, obwohl sie damit entgegen
ihrer Religion handelten. Aber die Linie der Kirche Jesu Christi der Heiligen
der Letzten Tage war immer auf die Sammlung Israels ausgerichtet und nicht auf
deren Zerstreuung. Unser Präsident und Prophet Howard W. Hunter (1904-1995)
erklärte offiziell: "Sowohl die Juden als auch die Araber sind
Kinder unseres Vaters, beide Völker sind Kinder der Verheißung und als Kirche
ergreifen wir keine Partei. Wir schätzen beide Völker, ihr Wohlergehen liegt
uns am Herzen." Lehren der
Präsidenten der Kirche.
Pfarrer Hartwig Weber ist ehrlich: „Weder
die evangelischen noch die katholischen Kirchenleitungen konnten sich
aufraffen, (während der Nazizeit) offen für die verfolgten
Juden einzutreten. Die Kirchen selbst waren von einem latenten
Antisemitismus durchsetzt. Nur dort, wo die eigene
Sicherheit und Macht auf dem Spiel standen, traten die Kirchen dem
NS-Staat entgegen…das Schicksal jüdischer Minoritäten war demgegenüber
zweitrangig. Unter den Christen gab es etwa 300 000 Juden als
Gemeindemitglieder. 1933 standen 29 Juden in kirchlichem Dienst… 1941
forderte die Kirchenkanzlei der Deutschen Evangelischen Kirche die
Kirchenbehörden dazu auf, „geeignete Vorkehrungen zu treffen, dass die
getauften Nicht-Arier dem kirchlichen Leben der deutschen Gemeinden fernbleiben…“ Hartwig
Weber „Religion“ rororo , Rowohlt
1948 gab es mehrere Begebenheiten, die
entgegengesetzter nicht konnten
Links die drei Westsektoren, rechts
das kommunistische Ostberlin
Seit Mai 1945 mussten die Sowjets auf Basis
von Bündnisverträgen mit den Siegermächten USA, Großbritannien und Frankreich
zulassen, dass die Alliierten, Truppen in Berlin stationierten. Den
Kommunisten war dieser Umstand ein Dorn im Auge. Mitten in der damals erst
angedachten DDR wollte sich der freiheitlich-westliche Lebens- und Politikstil
durchsetzen. Das widersprach sämtlichen Kremlprinzipien. Die kommunistisch
orientierten Vordenker unternahmen viele Versuche Westberlin in den Ostblock
einzugliedern, indem man die westlichen „Besatzer“ aufforderte ihre Koffer zu
packen und zu verschwinden – und wenn es nicht im Frieden ging, dann musste man
eben nachhelfen. Es ging, dann bereits ab 1948 auf „Biegen und Brechen“.
Zwischenziel der sowjetischen Außenpolitik war es ohnehin ganz Deutschland zu
vereinnahmen. Zunächst musste der Störfaktor Westberlin ausgeschaltet werden.
Erster Anlauf:
In der Nacht zum 24. Juni 1948 sperrten
sowjetische Truppen alle Zufahrtswege nach Westberlin. Die
Versorgung der dort lebenden 2.2 Millionen Menschen war gefährdet. Das war ein klarer
Rechtsbruch. Hauptsache für den Personenkreis um den obersten deutschen
Kommunisten, Walter Ulbricht, war die Idee, dass die „Amis“ kapieren sollten,
dass sie damit massiv aufgefordert sind nachzugeben, um ihren Platz zu räumen.
und dass sie dem Kommunismus zu erlauben haben
siegreich zu sein. Die Regierung der Vereinigten Staaten handelte wütend,
entschlossen und angemessen klug. Nachgeben: Nein. Gewalt? Nein! Das Kalkül des
Kremls war durchschaubar: Wenn 2 Millionen Menschen nach Brot rufen,
das Westberlin spätestens nach zwei Monaten nicht mehr im Angebot führt,
weil der erforderliche Nachschub an Mehl aus Westdeutschland unterbleibt, muss
die DDR einspringen und die Versorgungslücke schließen. Damit und danach gewinnen
die Roten zunehmend an Einfluss.
Doch aus dem östlichen Geniestreich wurde
nichts. Es wurde eine Luftbrücke eingerichtet. Diese Variante erschrak die
Ostplaner. Für sie war es unvorstellbar, dass der weite „Westen“ Milliarden
Dollar opfern könnte, um ihre ohnehin kostspielige Position zu halten. Und
doch war er so. Eingeflogen werden mussten Nahrungsmittel, Brennstoffe,
Maschinen und anderes. Welche Logistik, im Minutentakt mussten Flugzeuge landen,
entladen werden um wieder zu starten.
Und es gab zuvor einen zweiten Punkt des russischen
Kalküls: Noch war die Stimmung gegenüber den Besatzermächten in Ost und West
nicht gut. Noch lagen, zu dieser Zeit, besonders in Berlin, große Stadtteile in
Trümmern. Noch lebte in den Köpfen das Urteil „Amerika samt England sind
Feinde“. Sie haben diese Stadt zerstört.
Es war Gail Halvorsen ein Mitglied der Kirche
Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage, der mittels einer umgesetzten guten
Idee, einen entscheidenden Anteil zur Verbesserung des Verhältnisses beitragen
sollte. Er „bombardierte“ nun, 1948, die Stadt mit
Süßigkeiten. Candybomber wurde er genannt. An kleinen Faltschirmen
befestigt hingen Schokoladen.
Oft sind es nur scheinbare „Kleinigkeiten“ die
das Gute bewirken.
Die Sowjetunion gab die Blockade erst am 12.
Mai 1949 auf.
Nun allerdings war die Feindschaft zwischen
Ost und West eine Endgültige, und zwar weltweit. Das bislang eher heimlich
betriebene Machtgerangel zwischen einem diktatorischen und dem demokratischen
System wurde brutal offenkundig.
Spiegel 9-1948 berichtete: „Das russisch besetzte Nordkorea wurde zur »Volksrepublik« ausgerufen. Mit eigener Verfassung, einem 200 000-Mann-Heer und Hammer und Sichel als Hoheitszeichen. Die politische Taufe des längst geborenen Bankerts Nordkorea ist ein erstes offenes „Gardez“ (ein Ausdruck der im Schach verwandt wird) der Russen an die UNO. In Moskau waren die Alliierten übereingekommen, nur eine gemeinsame Regierung für das russischbesetzte Nordkorea und das amerikanische Südgebiet zuzulassen. Einer UNO-Kommission, die dazu freie Wahlen durchführen sollte, wurde die Einreise in die russische Zone verboten… Die neugebackene Volksarmee Nordkoreas marschierte im Paradeschritt durch die ebenfalls neu gebackene Küstenhauptstadt Gensan. Über hundert russische Offiziere auf der Ehrentribüne salutierten. Auch zwei amerikanische Verbindungsoffiziere waren gekommen. Sie bereuten es bald. Eine aufgeputschte Menge riss ihnen die Uniformen vom Leibe und prügelte auf sie los. Die Russen salutierten ungerührt weiter. Der US-Oberbefehlshaber in Korea, General John Hodge, protestierte bei seinem russischen Kollegen…“
Ununterbrochen liefen sowohl im Westen wie im Osten die Propagandamaschinen. Beide wurden nicht müde alles Östliche beziehungsweise Westliche zu diskreditieren. Wir nahmen sehr wohl wahr, dass die Westversion menschenfreundlicher wirkte. Plump dagegen erschien uns alles Kremlnahe, das in den Fan-tasiehimmel gehoben wurde. Jeden Tag, Jahr für Jahr erschienen die Meldungen der Ostpresse und des Rundfunks durchweg in Schwarzweiß. Wenn im roten Prag eine Modenschau stattfand dann war das ein Zeichen der Lebensfreude, aber wenn in London die Königin mit einer goldenen Kutsche ausfuhr, sollte das als Ausdruck reiner Dekadenz gelten. Uns schien es oft, als genüge nur ein Missverständnis und Schwarz würde auf Weiß in aller Russlands Wunden die ihnen der Krieg zu gefügt hat, waren nicht geheilt. Seit Hiroshima fürchteten beiden Seiten ihr jeweils feindlicher Gegenüber würde zum Härte aufprallen.

Eine andere Karikatur zeigt Lenin der den
Erdball von Ungeziefer reinigt.
Unerwartet sagte mir eine Pädagogin meiner Kirche Ungutes voraus. Sie wusste, dass ich hin und hergerissen war, sobald mir eine Dorfschönheit ihre Liebe anbot, was nicht gerade selten vorkam. Selbst Vater, der immer noch gegen seine Depressionen ankämpfte, musste etwas bemerkt haben. Gelegentlich erhob er sich für einen Tag vom Lager und nahm vorübergehend am Leben teil. Er fasste es in die Worte: „Was finden die Weiber an dir kleinem Kerl?“ Recht hatte er, was meine Länge betraf. Ich war nur 1.65 groß. Allerdings immer lebhaft und positiv. Die unverheiratete Dame die über bemerkenswerte Sprachkenntnisse verfügte, urteilte oder spekulierte gern über die Zukunft anderer, auch über die meiner Freunde. Mir sagte sie: „Für dich wäre es das Beste, du stirbst früh.“ Wie ein Blitz traf es mich. Das musste ich hinnehmen. Darüber konnte ich nicht lachen. Ich sehe mich am Karfreitag 48 in der ersten Reihe des Opernhauses Rostock sitzen, um gegen geringes Entgelt, Richard Wagners „Tannhäuser“ zu hören. Machtvoll drangen die Worte: Hoch über aller Welt ist Gott Und sein Erbarmen ist kein Spott!“ Der wegen seiner Liebesaffären büßende Tannhäuser suchte und beschwor die Vergebung.
Ich heulte buchstäblich in mich hinein. Wochenlang! Bis ich trotzte. Nein, noch hatte ich mich nicht, wie Tannhäuser, in den Venusberg begeben, auch wenn es die Versuchung gab: direkte Einladungen zu amourösen Abenteuern. Und wer weiß, was noch kommt? Das Urteil stand bereits fest, falls doch. Und dann kam das andere, ein entgegengesetztes Ereignis: Eines Freitags im Oktober, als ich in unserem Maschinenraum Holzschuhe zurechtschnitt, kam Mutter herein. Sie überreichte mir ein Telegramm: „Gerd, ich brauche deine Hilfe, komm bitte umgehend. Walter Krause.“ Ich stoppte sofort den Motor, schaute auf die Uhr und befand mich 30 Minuten später am Bahnhof. Niemand, selbst der Fahrplan konnte mir nicht sagen, wann der nächste Zug abfährt. Es war die einzige Möglichkeit zu reisen. Mein Ziel lag in 100 Kilometer Entfernung. Es war später Morgen. Ich kam gerade zurecht. Die Fahrt wurde jedoch etwa 25 Kilometer vor meinem Ziel unterbrochen. Die Bahnbeamten teilten uns mit, dass die Bahnstrecke gestört sei. In den nächsten 8 bis 10 Stunden würde es keine Züge in Richtung Berlin geben. Ich musste eine Entscheidung treffen. „Na ja“, dachte ich mir, „du musst einfach laufen…“ Fünf Stunden später erreichte ich hungrig und erschöpft Prenzlau. Walter Krause schüttelte mir die Hand und sagte: „Gerd, wir brauchen den Schlüssel zu den Versammlungsräumen, damit wir morgen unseren Gottesdienst haben können. Mir geht es nicht gut genug, um Bruder Popanz zu besuchen. Er selbst ist krank. Würdest du hinlaufen?“ Neubauer Popanz (einer der ersten deutschen Missionare nach dem Ersten Weltkrieg) lebte mindestens 10 Meilen von Krauses entfernt. Ein Fahrrad stand uns natürlich nicht zur Verfügung. Also lief ich, am nächsten Tag, noch einmal etwa 35 km. Nachmittags gegen 14 Uhr, öffneten wir die Tür zu dem kleinen, aber feinen Zimmer. Ich hatte keine Ahnung, dass dies eine der besten Versammlungen meines Lebens werden würde. Wir hielten unser Treffen im ersten Stock ab. Im Raum direkt unter uns feierten junge Leute eine Party mit sehr lauter Blasmusik. Es war ein heißer Nachmittag. Wir waren zu sechst oder zu acht und sangen: „Wir danken Dir, o Gott, für Propheten.“ Walter Krause, einziger Sprecher für die nächsten dreißig Minuten, begann zu reden und ich hörte seine ersten Worte. Für mich waren es auch die letzten. Ich fiel in einen tiefen Schlaf. Es war wunderbar. Ich bin sicher, dass ich euch im nächsten Leben dieselbe wahre Geschichte erzählen werde. Höhere Mächte segneten mich mit herrlichem Glück, denn genau in dieser halben Stunde konnte ich die wunderbare Kraft eines wahrhaft Heiligen Geistes spüren. Es waren sanfte Wellen die wieder und immer wieder liebevoll streichelnd über meinen ganzen Körper glitten. Vor mir stand ein Tisch. Auf ihm lag mein Kopf. Das Großartige nahm ich sonderbarerweise deutlich wahr. Und das obwohl es von unten her sehr weltlich herauf dröhnte, dieses Stampfen vieler Füße auf hartem Parkett, das Wummern und Tosen eines Schlagzeuges. So erhielt ich trotz der entgegengesetzten Umstände eine kraftvolle Bestätigung, dass Joseph Smith, in seiner Zeit, der Sprecher Christi war. Das bestärkte meine Absicht, mich fortan noch eingehender mit der Geschichte dieses Mannes zu befassen. So wurde mir beim Lesen unterschiedlicher Berichte bewusst, dass Joseph. In der Tat. eine Ausnahmeerscheinung war. Wieder und wieder lehrte er, dass jeder Mensch über einen freien Willen verfügt den niemand, selbst Gott nicht, antasten darf, dass jedermanns Rechte ewig sind. Nur die Geflechte aus Fehlentscheidungen, infolge der uns angeborenen Selbstsucht, können das jedem bestimmte Glück beeinträchtigen. Um ungetrübte Seligkeit zu erlangen sollen wir Christi Gebotehalten. Städte sollten übersehbar große Gartenstädte sein in denen jeder jeden kennt,
Joseph Smith 1805-1844
was aufkommender Kriminalität entgegenwirken würde.
Gesetzesübertreter sollten nicht in Zellen eingesperrt werden, sondern in
Bildungs-einrichtungen. Bodenschätze gehören allen, nie Einzelnen. Über alledem
muss jedem die Würde des anderen wichtig sein. Und, Gott kann man nicht dienen,
außer man ist dem Nächsten dienlich.
50 Jahre später berichtete ich in meiner
Ansprache an die Mitglieder in Prenzlau von diesem Erlebnis. Danach kamen Edith
Krause und Luise Eckert auf mich zu und nickten bestätigend: „Ja, wir können
uns an diesen Tag erinnern und an die wunderbare Wahrnehmung eines
beglückenden Geistes, den wir deutlich spüren konnten. Es war auch für uns eine
besondere Zeit."
Im Sommer 1948
fand das große „Freud-Echo“ Treffen in Westberlin in der Waldbühne statt. Ungefähr
5 000 Mitglieder der Kirche und
ihre Freunde kamen zusammen. Teile der Ansprache des Präsidenten der
Ostdeutschen Mission, Walter Stover, begleiten mich bis heute, da ich nun im
95. Lebensjahr stehe. „Pflegt das Familiengebet.“ sagte er: „es
bindet eure Herzen stärker zusammen als alles andere in der Welt.“ Jedenfalls
fasste ich seine Rede, so zusammen.
2006 wurde ich auf kuriose Weise an diese
Großzusammenkunft erinnert. Wir standen nach einer der Versammlungen der
Herbstkonferenz unserer Kirche in Salt Lake City zusammen. Etwa zehn oder mehr
Leute bildeten einen Kreis. Die Mehrheit wusste wer ich bin. Wir tauschten
unsere Erinnerungen aus. Ingrid, meine Frau, - die ich zwei Jahre zuvor, fast drei
Jahre nach dem Tod meiner Erika heiratete - stand neben mir. Aus etwa fünf
Metern Entfernung schaute mich eine sehr schlanke Frau intensiv an. Ich zuckte
hilflos meine Achseln. In der folgenden Gesprächspause sagte sie: „Aber
Gerd du weißt doch wer ich bin! Ich bin Hildchen aus Berlin. Du hast doch mit
mir auf dem Heuboden meiner Eltern geschlafen!“
Das Schweigen der Anwesenden und ihre Augen
sprachen Bände. So kannten sie mich nicht. Es dauerte einige zäh hinfließende
Sekunden, - Heuboden? … in Berlin? – Da fiel es mir wie Schuppen von den Augen: „Das
war 1948 während des „Freud-Echos!“ Sie nickte freudig und die andern
schauten immer noch verlegen. „Wir waren damals rund 200 Leute die auf
dem erwähnten riesigen Heuboden deiner Eltern ein Nachtquartier gefunden
hatten.“ Auch Westberlin lag ja damals noch weithin in Trümmern. Wo,
wenn nicht auch an solchen Plätzen hätten wir sonst Platz zum Schlafen
gefunden? Da oben hätte sie – ich weiß es bis heute nicht – direkt neben mir
gelegen. Das Aufatmen der uns umringenden Leute endete mit Lachen.
Im Frühjahr 1949 verließ ich Wolgast und wurde
Lehrling in einer Baumschule in Prenzlau. Max Zander hatte mir das ermöglicht.
Auch er zog nach Prenzlau und wurde Berufsschullehrer, ausgerechnet in meiner
Klasse. Da auch die Familie von Walter Krause nach Prenzlau gezogen war, wurde
ich ihr Untermieter.
Unter dem Titel „Baumschule“ hatte ich mir
etwas ganz anderes vorgestellt. Ich fühlte mich, vom ersten Tag an, wie ein
Sklave und wollte, kaum, dass ich es aufschlug, dieses Kapitel meines Lebens so
schnell wie möglich abschließen. Allerdings sollte es zweieinhalb Jahre dauern,
bis ich meine Ausbildung mit der Note „sehr gut“ beenden konnte. Wie oft, wenn
ich das Rauschen nahe uns vorbeifahrender Personenzüge hörte, rief meine Seele
laut: Ich komme! Bis Rom wünschte ich zu reisen um Geschichte zu studieren.
Aber meine Gegenseele fuhr mir hart in die Gedankenparade: Du bleibst! Das
badest du aus.
Mitte Juli 1949 wohnten wir in den alten, riesigen Armeegebäuden der Stadt, den sogenannten Artilleriekasernen. Dann wurden diese riesigen Gebäude von der neu gegründeten Volksarmee-Armee beansprucht. Drei Monat bevor aus der Sowjetzone die DDR wurde.
Gemälde nach dem Wolgaster Maler Schöngrün
Viele Jungen meines alters ließen sich locken,
in der Armee ein sorgenfreies Leben zu führen. Wo immer sie zuvor beschäftigt
waren verdiente niemand von ihnen monatlich mehr als 250 Mark. Die Werber boten
meinen Alters-genossen 800. Wer ohnehin arbeits-scheu dachte, unterwarf sich
der damit verbundenen Hirnwäsche. Doch selbst dem Dümmsten musste klar sein,
dass der sich ihnen aufdrängende Kommunismus auf jene Unterwerfung aller
ausgerichtet war, die Herr Pfarrer Rößle in seinem Machwerk, der Kirche Jesu
Christi der Heiligen der Letzten Tag unterstellte. Hatte Rößle nicht wörtlich
formuliert: „Das Ziel der Mormonen ist es, alle zu bekehren, um die
gesamte Menschheit zu versklaven. Das gesamte System ist darauf ausgelegt,
dieses Ziel zu erreichen.“ Flossen nicht aus seiner Feder die
denkwürdigen Sätze: „Diese nominell noch kleine, völlig andere Kirche wird
eines Tages globalen Status erlangen. Diese amerikanische Kirche ist ein
gefährlicher, oberflächlicher Glaube mit einem völligen Mangel an biblischem
Wissen, unterstützt durch die Macht Satans. Unter dem Banner des Evangeliums
verbreiten sie ihre Lehren. Aufgrund ihrer satanischen Kräfte wird die
Mormonensekte zu einer Weltmacht und einer großen Gefahr für die Nationen der
Erde werden.“ Zitatende
Die Bolschewisten Stalins strebten die
Weltmacht an. Das Hissen der roten Fahne über den Zentren der USA
war längst beschlossene Sache. Wir lasen nicht nur die über der Ostzone von
Ballons abgeworfenen Flugblätter die aus Händen westlicher Menschenrechtler stammten.
Sie berichteten, wie Angehörige der Kreml - Opposition in Russlands Weiten, als
angeblich unverbesserliche Kriminelle sich zu Tode schuften mussten. Wir hörten
Westsender und vernahmen Berichte von Frühheimkehrern aus sowjetischer
Gefangenschaft. Alle, die sich verkauften, wussten sehr wohl, um was es ging.
Aber Geld stinkt nicht. Dort in den „Alsen-Kasernen“ fanden bis Juli 49, auch
unsere Kirchentreffen statt und direkt über uns versammelten sich die Zeugen
Jehovas. Eine Gruppe von etwa 40 Personen. Gelegentlich besuchte ich ihre
Gemeinde, um zu erfahren, was andere glaubten. Es trieb mich Vergleiche
anzustellen, andere Meinungen zu hören. Wir unterhielten uns freundlich
miteinander und stellten fest, dass unsere Theologien einander ausschlossen,
doch es gab auch Gemeinsames, Verbindendes. Dreizehn Monate später erklärte die
DDR-Regierung die Zeugen Jehovas für verboten. Angeblich wurden in ihrer
Dresdner Zentrale Waffen gefunden – und zwar jene die von hartgesottenen Roten
nächtlich da hineingeschmuggelt worden waren. Kurz bevor das geschah, gab die
kommunistische Administration den „Zeugen“ die Gelegenheit sich zu blamieren.
Ein abgekartetes Spiel sollte folgen. Die leitenden Männer der Zeugen Jehovas
durften, in Prenzlau eine Großversammlung abhalten. Sie durften die Versammlung
nach Belieben gestalten. Ich war dabei als sie wunderbare Jerusalem Lieder
vortrugen. Sie verkündeten: in wenigen Jahren wird Jesus seine Herrschaft auf
Erden antreten... Ungefähr 600 Leute kamen zusammen, - mindestens 500 aus
reiner Neugierde - gegenüber den vielleicht 50 der frommen Gegenseite. Natürlich
musste den Unerfahrenen jeder Satz den die Redner aussprachen weltfremd,
verworren und verschroben erscheinen. Dann kam es zu einem Wortgefecht. Ein älterer
Kommunist erhob sich und erklärte: „Ich saß 12 Jahre im
Konzentrationslager. Ich weiß, dass einige von euch ebenfalls dort waren, als
Opfer der Nazipropaganda. Wir Marxisten mussten mitleiden, wenn zusätzliche
Schikanen auch über uns verhängt wurden, und das nur weil verbohrte „Zeugen“
sich weigerten die Mütze vom Kopf zu ziehen, wenn ihnen ein SS - Mann
begegnete. Wir schämten uns, aber wir übten Disziplin, um nicht eine Steigerung
des Zorns unserer Todfeinde herauszufordern.“ Eine halbe Stunde ging es hin
und her. Die Atheisten gewannen, wie sie sich zuvor schon ausgerechnet hatten,
Pluspunkte, ihre Gegenüber nicht. Es war eine Propagandashow, die mir durchaus
mehr Verständnis für beide Seiten gab.
Wir Mitglieder der Kirche Jesu Christi der
Heiligen der Letzten Tage blieben noch im Duldungsstatus.
Damals, in den letzten Sommertagen, ein Jahr vor
dem Ende meiner Ausbildungszeit, traf ich, auf der Uckerpromenade einen alten
Klassenkameraden wieder, Dieter Kavelmann. Stolz trug er die blaue Uniform der
Volkspolizei. (Kasernierte Polizei) Ich hörte, dass er jetzt in derselben
Kaserne lebte, in der ich einige Wochen lang wohnte. Eine liebliche kleine Dame
schmiegte sich an seinen Arm. Über uns ertönte das Zischen und Dröhnen eines
modernen, düsengetriebenen, sowjetischen Kampfflugzeuges. Er sollte zu einem
der Zeitzeichen der neuen Gesellschaftsordnung werden, die weltweit siegen
wollte. Ich schaute mir Dieters geflochtene silberne Schulterlitzen an. Trotz
seiner knapp 21 Jahre war er bereits zum Oberrat befördert worden. Das
entsprach nahezu dem Rang eines Oberstleutnants. Allerdings wirkte er älter und
reif. Er blickte scheinbar durch mich hindurch und machte eine Bemerkung über
die Zwangsjacke, die ich trug. Ja, ich war nichts weiter als ein armer
Lehrling, der ich noch eine Weile bleiben würde. Er dagegen war schon
jemand! Ich hasste meinen Job fast noch mehr als meine eigenen Schwächen.
Dieter erkannte, dass ich nur aufgrund meiner starken moralischen Grundsätze
nicht den Willen aufbrachte, den Vertrag mit meinem Baumschulen-Chef zu
brechen. Er lachte mich aus. Er sah nicht nur glücklich aus, er war es. „Komm
zu uns!“, lockte er: „du hast dieselbe vormilitärische Ausbildung,
wie ich. Wir suchen solche Leute. Komm und mache mit!“ In meinen Ohren
klang es auf jeden Fall eine Weile, wie Musik. "Ja!", schmunzelte
er: „Du hast einen klaren Kopf für Ideologie. Ich kenne dich doch!“ Er
malte sein fabelhaftes Bild mit leuchtenden Farben. „Armer Gerd,
du verdienst nur 50 Mark im Monat. Wenn du zu uns kommst, erhältst du
stattdessen umgehend fast zehnmal so viel. Verlasse deinen Chef, der dich nur
ausnutzt.“ Während dieses Gesprächs blickte er wieder auf die liebliche
Blondine an seiner Seite herunter. „Nach 6 Wochen wirst du alles haben,
was Männer verlangen. Du kannst reden und siehst gut aus. Mädchen mögen
dich.“ Die Dame neben ihm lächelte wieder. Ich fühlte, wie mein
Gesicht vor Scham und Neid rot wurde. Mir ging danach nur eine Frage durch den
Kopf: „Wenn du, Gerd, die Lehre hinwirfst, wer wird das Sagen haben?
Wer wird dein Gott sein? Kann Lüge die Wahrheit töten?“
Das Einzige, was uns vor Irrtümern und
Verwicklungen bewahren kann, ist der entschlossene Wille, nach mehr Wahrheit zu
suchen. Im Hintergrund erschien die dunkle Gestalt Josef Vissarionovich Stalins
deutlich vor meinen Augen – der kalte Ausdruck seines Gesichts, ein Gesicht,
das an so mancher Straßenecke und in vielen Amtsgebäuden auf Fahnen, Plakaten
und mancherorts als Büsten zu sehen waren. Sonderbar, anscheinend liebten immer
mehr Leute diesen Mann, der wie Hitler das Leben von Millionen Menschen zerstört
hatte. Er war ein Massenmörder. Diese Tatsache wurde, mittels
Propagandatricks, offensichtlich zunehmend verdrängt. Ich schaute Dieter in die
Augen, und dachte angestrengt, natürlich leuchtet für mich, das Licht meines
Mormonismus nicht ununterbrochen hell oder wie selbst Goethe klagte: „Begeisterung
ist keine Heringsware, die man einpökelt auf einige Jahre.“ Das Große muss
täglich neu errungen werden. Ich werde nicht zulassen, dass Menschen in
überbezahlten Diensten mir Stalins rote Farben ins Gesicht malen. Der Wille
eines bösen Mannes, der die Welt unterwerfen will, wird mich nicht zwingen. Rote
Uhren gehen anders als meine. Ich wusste, dass ich nicht dazu geboren war, so
zu sein, wie Dieter. Ich hatte Einsichten gewonnen, die er nie gesucht hatte,
die er bestenfalls für Illusionen hielt.
Doch kurz nach diesem Gespräch gab ich dem
Zeitgeist „ein wenig“ nach. Ich brachte die ganze 30-köpfige Gärtnerklasse dazu
sich der Freien Deutschen Jugend (FDJ) anzuschließen. Wir sollten damit
ausdrücken, dass wir uns den positiven Zielen der neuen Weltordnung nicht
widersetzen. Die FDJ war damals noch eine nichtkommunistische Organisation in
der Kritik und Selbstkritik geübt wurde. Ich selbst war zuvor eingeladen worden
an einer Zusammenkunft von etwa 25 Teilnehmern zu besuchen. Es gefiel mir wie
der Gruppensekretär ein überzeugendes Beispiel gab. Er kritisierte die
Praktiken des aufkommenden Bürokratismus in der DDR. Zu viele Leute liefen mit
Aktentaschen durch die Gegend und zu wenige in Arbeiterkleidung. Was
er unterschlug war die Tatsache, dass es in weiten Teilen Ostdeutschlands kaum
Industrie gab. Hier dominierte der Agrarbereich. Doch vor der superschweren
Landarbeit drückte sich nahezu jeder. Noch gab es zu wenig Technik. Gepflügt
wurde mit Pferden. Noch war monogermes Zuckerrübensaatgut, die das
mühselige Vereinzeln der Pflanzen später erübrigten, ein Wunschtraum.
Mähdrescher wollten in der DDR erst irgendwann gebaut werden. Dafür
liefen immer mehr Polizisten durch die Gegend. In Orten von wenigen Tausenden,
wie Prenzlau, gab es mindestens achthundert. Des prokommunistischen
Sekretärs anschließende Selbstkritik klang ehrlich, er müsse sich noch mehr
bemühen ein perfekter Mensch zu werden. Wie sehr gerade dieser Aspekt doch den
Idealen meiner Kirche entsprach.
Da brach der Koreakrieg aus
Im September
1950, hingen riesige Banner unter den Fenstern unserer ehemaligen Tagungsräume
in Prenzlau, Alsenstr. 1. Diese roten Stofffahnen waren 20 Meter lang. Sie
trugen die Inschrift: „Grüße an unsere Brüder in Korea, die gegen die
US-Imperialisten kämpfen.“ Ich begriff es sofort. Damit sollte darauf
hingewiesen werden, dass die Aggression aus Südkorea und den Hintermännern aus
den USA kam, und dass die friedliebenden Nordkoreaner zu hilfesuchenden Opfern
geworden seien. Sollten die jungen Volkspolizisten, – rund fünfhundert Mann –
allesamt, und wie die in vielen anderen in ostdeutschen Städten, an die Seite
der Nordkoreaner transportiert werden, um mit Karabinern in der Hand zu sterben?
Da war er nackt, der gefährliche Haken, Leute wie mein Dieter könnten von ihm ins
Verderben hineingerissen werden. Dies war der rücksichtslose Griff, der Gesinnungsgenossen
Stalins – in diesem Fall mit Hilfe der Nordkoreaner
– nach der Vorherrschaft auf unserem Globus. Allerdings, mittlerweile, da
meines Wissens weiter nichts Nennenswertes geschah, hatte dieses Ereignis meine
zum Positiven neigende Meinung nicht, noch nicht, völlig geändert. Zu diesem
Zeitpunkt war ich bereits zum Schulsprecher der 600 Lehrlinge gewählt worden.
Ich hielt ein paar Reden vor den Jungen und Mädchen, wollte sie an mich binden
und meiner Stimme Gehör verschaffen. Die Idee von der Völkerfreundschaft die
derzeitig in allen DDR-Medien hochgelobt wurde, musste mir gefallen, obwohl sie
als Propagandamittel missbraucht wurde.
Nach großen spirituellen Erfahrungen im
Evangelium hinkte ich nun auf beiden Seiten. Sonntags war ich engagiertes
Mitglied der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage und im Alltag
Sympathisant der guten Seiten des DDR-Systems. Allerdings wuchs in mir die Zahl
der unbeantworteten Fragen.
Dann zeigten sie uns FDJ-Funktionären im
Prenzlauer Kino angebliche Beutefilme, die beweisen sollten, dass die
verdammten Amerikaner den Krieg angefangen hatten. Nur wer das wirklich
wollte, konnte glauben, dass der angebliche Aggressor Südkorea, der im Bündnis
mit den USA stand, am ersten Kriegstag, dem 25. Juni 1950, um 60 km
zurückgeschlagen wurde. Das schlug dem Fass den Boden aus! Meine Begeisterung
für die FDJ litt unter diesen unzumutbaren Schiefdarstellungen erheblich. Doch
der nicht unentwegt aufmerksame Mensch gewöhnt sich an alles, zumal, wie in
diesem Fall, alles fernab geschah. Sonntags kam gelegentlich ein Ortspolizist
als Beobachter in unsere Versammlungen. Max Zander leitete unsere kleine
Gemeinde von ungefähr 30 Mitgliedern. Die Hälfte waren Jugendliche. Bruder
Fiebig, ein ehemaliger Pferdeknecht und ich fungierten als Bruder Zanders
Ratgeber. Fiebigs Ansprachen mögen simpel gewesen sein, aber sie ließen jeden
erkennen, wie stark seine Überzeugung war und sein Wille der Kirche zu dienen,
die ihn innerlich größer machte. Alle mochten den gut fünfundsechzigjährigen
Alleinstehenden, der nun in einem mehr als bescheidenen Altersheim kümmerlich
dahin lebte.
Uns bewegten die Zeugnisse der Mutter Eckert.
Eine ihrer Schilderungen blieb mir in lebhafter Erinnerung. Sie, aber nicht ihr
Ehemann, schloss sich in den frühen 30 er Jahren der Kirche an, zu einer Zeit
als es in Deutschland sechs Millionen Familienväter gab die seit Jahren schon
arbeitslos dahinvegetierten. Sie erhielten damals nur knapp 7 Mark
Wohlfahrtsunterstützung pro Woche von einem Staat der unter den Versailler
Reparationszahlungen von jährlich 2 Milliarden Goldmark litt. Ehemann Eckert,
obwohl schmal gebaut, verdiente als Grobschmied sein Geld. Er wurde seitens
unserer Missionare befragt, ob seine Frau Teil-Zehnten zahlen
darf. Sie selber hatte kein Einkommen. Schmied Eckert, seinem Wesen
nach gutmütig, sagte zu: „Unter der Bedingung, dass ich immer
ausreichend zu essen habe.“ Dann kam jener Tag an dem Mutter Eckert
ratlos in ihrer Küche stand. Das Wirtschaftsgeld war aufgebraucht.
Hinlänglicher Vorrat, außer einigen Kilogramm Kartoffeln, Salz und Zucker, war
nicht verfügbar. Was sie ihrem Mann vorsetzen konnte wusste sie bei bestem
Willen nicht. In ihrer Verzweiflung betete sie in sich hinein: „Vater
im Himmel, die Missionare deiner Kirche gaben meinem Mann die Verheißung: Du
wirst nie hungrig sein!“ Eine Stunde später klopfte es. Ein Bekannter trug
einen Wassereimer. Er nahm das Tuch herunter. Sie sah bis oben gefüllt
pfundschwere Barsche: „Heute bissen sie wie verrückt!“ Mutter
Eckert schluckte. Er fing sie auf dem nahe gelegenen Uckersee. Seine
Frau hätte noch Barsche vom Vortag: „Mir kam der Gedanke, dass Eckerts
große Fischfreunde sind.“
Der erwähnte Polizist kam nach einer
meiner Reden zu mir. Ich hatte über den großen Evangeliums-Grundsatz des ewigen
Fortschritts meditiert und von Joseph Smiths Lehre von der Notwendigkeit des
ewigen Fortschritts gesprochen. Dem Mann gefielen vermutlich einige
Passagen: „Ich komme nicht zurück.“ Dies bedeutete, dass die
„Mormonen“, nach der Einschätzung dieses Kontrolleurs, keine Staatsfeinde seien,
denn in den Zeitungen stand es ebenfalls geschrieben: Fortschritt ist das
Gesetz unseres Staates. Damit war natürlich gemeint, dass der Schritt vom
Kapitalismus zum Kommunismus ein Fortschritt sei.
Hin und hergezogen nahm ich ein Jahr später im August 1951 an den 3. Weltfestspielen zu Berlin teil, auch weil ich neugierig und lebenshungrig war. Die Einladung zu diesem Großereignis war breit angelegt. Alle Idealisten, die friedens- und freiheits-liebenden Studenten und Jugendlichen aus aller Welt sollten sich in Berlin zusammenfinden und einander näherkommen. Allesamt sollten ihre Talente und Überzeugungen zur Schau stellen. Ich ahnte nicht im Mindesten, dass es die bis dahin weltgrößte Sex Party werden sollte. Wir reisten in Güterwagen, ausgestattet mit Stroh und primitiven Holzbänken. In Berlin angekommen, legten wir einen langen Fußmarsch zurück. Immer wieder stoppte unsere Marschkolonne, aus der ich bald ausscherte. Da saß dann, mitten auf dem grauen Bürgersteig, ein Dreißiger in einem Blauhemd der FDJ, das ich nie trug. Ich kannte den Mann. Er war der Prenzlauer Baptistenprediger! Bei der drückenden Schwüle des Großstadtklimas, war ihm wahrscheinlich vom Umherrennen schlecht geworden. Bleich hockte er auf dem grauen Gehsteigpflaster und stöhnte. Junge Leute umrundeten ihn, ohne mehr als flüchtige Notiz von ihm zu nehmen. Ich ging näher auf ihn zu, sprach ihn an. Wir betrachteten einander verwundert. Was suchst du hier, dachte ich. Du passt hier doch nicht her. Bist du übergelaufen zu den Atheisten? Wenn du wüsstest, was du für ein Bild abgibst. Möglicherweise dachte er dieselben Fragen an meine Adresse. “Ein Mormone bei den Kommunisten?” „Ich will nur studieren und sehen, dann urteile ich!“ rechtfertigte ich mich vor ihm und mir selber. Aber tatsächlich zog mich die “rote” Welt in jenen Stunden stärker denn je zuvor an. Es strahlte der pure Optimismus. Ich hatte mich bei meiner Tante Berta angemeldet die nahe dem Alexanderplatz wohnte, nicht weit entfernt von dem Ort wo der Prediger und ich einander trafen.
Am nächsten Tag sah ich, wie die Menge der Jugendlichen zugenommen hatte. Die blauen Hemden waren die Farbtupfer in dieser sonst grauen Stadt, in der immer noch die schwarzen Ruinenflächen dominierten. Alle Kinos Ostberlin, alle Kulturstätten standen uns unentgeltlich zu Diensten. Ähnlich verhielt es sich mit der Verpflegung. Unvergessen die Stimmung der Tausende, insbesondere als Swjatoslaw Richter, einer der Sendboten des Kremls, im Friedrichstadt – Palast, das erste Klavierkonzert von Tschaikowski im Friedrichstadt-Palast für uns spielte. Wie seine Hände über die Tastatur flogen sah ich erregt, weil ich ihm nahe genug saß. Die Fülle großartiger Harmonien wollte nicht enden.
Es riss uns fast in den Himmel. Ich fühlte wie
die wahrhaft göttliche Musik selbst den geringsten Gottlosen
erfasste. Das bewies die Menge der Hände, ihr rhythmisches Klatschen
danach, in das ich begeistert einfiel. Alle waren aufgesprungen, ebenso die
ausländisch-en Gäste. Und dieser anhaltende Jubel war echt.
Gemeinsam wanderten wir von einem kostenlosen
Konzert (vorgetragen von weltberühmten Künstlern) zum nächsten. Es war ein
erhabenes Gefühl, mit so vielen Menschen in besten Absichten verbunden zu sein.
Die Stunden vergingen wie im Flug. Eine tschechische Blaskapelle spielte im
Freien auf dem Mont Klamott – dem Berg der aus den Trümmern ehemaliger
Wohngebäude entstanden war. Die goldenen Instrumente leuchteten an diesem
späten Tag unter dem noch wolkenlos blauen Himmel. Hunderte Menschen lagen
neben mir im Gras. Dann sah ich neben mir eine zarte, sehr junge Hand. Ohne
darüber nachzudenken, was ich tat, legte ich meine Rechte auf die des Mädchens.
Es vergingen ein oder zwei Minuten, bis ich ihr Gesicht sah. Es lächelte mich
an. Sie muss achtzehn gewesen sein. Wort- und regungslos lauschten wir
gemeinsam den anheimelnden böhmischen Volksweisen. Erst als wir aufstanden,
fing ich an, Unsinn zu reden. Wir begleiteten uns gegenseitig zwei Stunden lang
nach Hause, nachdem die Nacht hereinbrach. Wir umrundeten weite Teile des
Alexanderplatzes. Wir gingen nicht Hand in Hand, sondern lässig Seite an Seite.
Ich weiß nicht mehr, worüber wir sprachen, aber im Laufe des Abends, sahen wir
immer mehr Mädchen und Jungen, die in Hausnischen und anderen Plätzen sich
aneinanderklammerten und ihrer Lust hemmungslos freien Lauf ließen. Irgendwann
blieben wir vor dem Haus meiner Tante stehen, Mehner Straße 9. Es war das
Einzige im Umkreis von zwei- oder dreihundert Metern, das noch intakt dastand.
Zwischen den schweren Ziegelfragmenten hing noch der Brandgeruch längst
vergangener Nächte des Schreckens. Darüber wölbte sich ein klarer
Sternenhimmel. Ich sah im Geist die beiden gelähmten alten Damen, die jahrelang
bei jedem Luftangriff unter den Esszimmertisch gekrochen waren, und Gott wieder
und wieder darum gebeten hatten, beschützt zu werden. Hatten sie es bewirkt,
dass dieser Hausteil noch immer dastand? Oder war es lediglich ein glücklicher
Zufall gewesen?
„Hast du ein eigenes Zimmer?“
Diese Frage war das Ergebnis meines inkonsequenten Verhaltens. Nur ich konnte
so naiv sein. Sie sagte: „Keine Sorge, ich habe einen Gesundheitspass.“
Ich habe mich sofort selbst verdammt! "Ich bin Mormone!“ das
platzte aus mir, ein wenig gequält, heraus. Sekundenlang bereute ich meinen
Status. Dieser winzige Zeitraum jedoch legte offen, wie anfällig ich Mensch für
Versuchungen war. Ich redete wieder. Das ist wahr. Sie verstand
nichts: „Ich bin als Waise unter Jungen aufgewachsen, die mich nie
gefragt haben…“ Mit großer Bitterkeit im Herzen, drehte ich mich um. Ihre
Welt kannte keine Leute wie mich. Ich ließ ich sie einfach dastehen, weil ich
mich in der Dahlemer Gemeinde sitzen sah. Sie musste mich als Idioten
betrachten. Mit den ersten Schritten kam ich mir vor, als würde mich eine
Zentnerlast niederdrücken. Ich hätte wegen der Widersprüchlichkeit meiner Natur
heulen können. Ihren Schmerz verstoßen zu sein, fühlte ich wie meinen eigenen.
Ich durfte mich selbst nicht verraten, und sie? Die ganze Nacht verbrachte ich sehr
unruhig. Am nächsten Morgen, auf dem Weg zur Kirche, zogen mich FDJ-Wachen aus
der S-Bahn am Bahnhof Potsdamer Platz heraus. Es handelte sich um die letzte
Haltestelle Ostberlins. Ich wollte wiederum ehrlich sein, trug zwar nicht das
blaue Hemd, aber immer noch mein FDJ-Abzeichen am Revers. Die leitenden
Kommunisten wussten, welche Anziehungskraft der reiche Westen, gegenüber der
Armut im Osten ausübte. Sie wollten verhindern das ihre Anhängerschaft sich
nach Westberlin begab, wo man Schokolade kaufen konnte, falls man Ost- gegen
Westgeld eingetauscht hatte. Ich bin einen langen Weg gelaufen und
kreuzte dann erst die Sektorengrenze. Nach dann nächster, langer
Zugfahrt sah ich endlich das brandneue Gebäude meiner Wahl in Dahlem. Es befand
sich in der Nähe des Missionsbüros in der Hirschsprungallee. Dieses noble Haus
kannte ich seit 1946. Traurig und innerlich zerrissen saß ich dann
in der Kapelle unter vielleicht 150 Mitgliedern. Ich hatte ziemlich weit vorne
Platz genommen, wo die beiden Damen saßen die als Untersucherinnen gekommen
waren, die kurz vor Beginn, auch von mir wissen wollten, wer Joseph Smith sei. Mein
Gesicht für zwei drei Minuten aufgehellt, musste nun wieder meinen Kummer
widerspiegeln. Jedenfalls nickte mir ein amerikanischer Missionar, etwa meines
alters, ausgesucht freundlich und aufmunternd zu. Das tat mir gut. Er musste es
bemerkt haben, dass auf mir Lasten lagen. Ich schaute noch einmal in seine
Augen. Ja, er meinte mich. Es war das schönste, erhebendste Lächeln, das ich
bis dahin auf dem Gesicht eines männlichen Mitmenschen gesehen hatte, das mir
galt. Sicherlich standen mir meine Selbstvorwürfe der vergangenen Nacht immer
noch ins Gesicht geschrieben. Täuschen konnte ich nie. In der Sonntagsschule
besprachen sie eine Passage aus der Bergpredigt. Ehrlich gesagt interessierte
ich mich viel mehr für mich selbst – ich sehnte mich danach zu wissen, ob es
eine Wahrheit gab, die mich aus meiner schwierigen Situation endgültig befreien
würde.
Ich erinnerte mich der Kriegstage als ich im
Wohnzimmer unserer Flurnachbarin Frau Stolpe stand. Über dem eisernen,
altmodischen Bett ihres dreißigjährigen Sohnes Fritz hing ein Christusgemälde. Der
forschende Blick Christi, den ihr Ehemann präsentierte, war, wie mir schien,
erfüllt von Mitgefühl für unsere Schwächen und schlecht bestandenen
Prüfungen. Mir schien es als heftiger Widerspruch zu sehen, dass in
einem stalinroten Zimmer Christus vorkam. Ich dachte an Situationen die wir
ungefestigten Menschen so leichtfertig auf uns zukommen lassen, statt ihnen
beizeiten aus dem Weg zu gehen. Aber. ER weiß um unsere guten wie um unsre
weniger guten Wünsche und Verlangen – insbesondere diejenigen, die unserer
Seele langfristig schaden könnten. Denn, die Seele vergisst nichts. Das ist ja
der Grund warum wir handeln sollten, wie ER uns liebevoll rät. In diesem Stolpe-Raum
befand sich auch ein Gemälde, das ein schönes Mädchen zeigte, die nackt, in
etwa zehn Meter Entfernung vom Maler, auf einem kleinen Felsen stand. Der
Seewind blies ihr ins Gesicht, ihre langen Haare flatterten, sie aber reckte
sich. Damals war ich wohl erst 13, und doch zog mich ihr Anblick schon magisch
an. Die alte Dame sagte erläuternd: „Es ist ein Symbol für Freiheit!
Meine Absicht, an diesem Sonntagmorgen
in Berlin-Dahlem, war nicht, zu lauschen, sondern vielmehr aus unmittelbarer
Nähe zuzusehen und zuzuhören, wie zwei Missionare interessierten Frauen die
Erste Vision Joseph Smiths erklärten. Plötzlich faszinierte mich das Gespräch.
Ja, es ist wahr. Joseph wusste, was wir nur glauben. Etwas das Menschen wie ich,
immer wieder, als schön empfanden: Gott der Allmächtige und sein Messias
kümmern sich um unser Glück, das uns nicht in den Schoß fällt, das erworben und
auf ihren Rat hin bewahrt sein will.
Was zählte, war nicht so sehr, was diese
jungen Männer sagten, sondern wie sie die Prinzipien erklärten, die nur wenigen
von Beginn an gefallen. Es gab da nicht die geringste Spur von Fanatismus oder
Heuchelei. Auf einfache, anschauliche Weise malten die Missionare die Szene, in
der Joseph niederkniete, wie die Macht des Zerstörers über ihn fiel – und dann
standen in einer himmlischen Vision zwei Lichtpersönlichkeiten in der Höhe über
ihm. Einer von ihnen rief Joseph beim Namen, zeigte auf die Person neben ihm
und sagte: „Das ist mein geliebter Sohn, höre ihn.“ War dies
nicht das große Ereignis, nach dem sich die alten Heiligen gesehnt hatten? War
das nicht jene Gewissheit, die wir uns wünschen? Der kleinere der Missionare
sagte: Die Lehren Christi wurden nach seinem Tod geändert. Menschen wurden seit
Tausenden von Jahren in die Irre geführt. Nicht die frommen Exerzitien sind es,
die Beseligung machen, sondern der zum Guten angewandte Wille. Christus
versprach, dass er zurückkehren würde. „Dies berichtet die Bibel.“ Das
Erstaunen Joseph Smiths muss groß gewesen sein! Mir schien, die beiden
Hörerinnen seien angenehm berührt worden. Falls sie nun zu ihrem Pfarrer
gegangen sein sollten, was zu vermuten ist, wird er so reagiert haben, wie in
tausenden Fällen zuvor andere seiner Amtsgenossen: Um Gottes Willen, die
Mormonen sind eine gefährliche Sekte. „Mormonen sind keine Christen,
das sind Seelenfänger. Mormonen sind gefährlich, weil sie dies und jenes anders
glauben. Diese Kirche lehnt die in Nicäa 325 verkündete Lehre vom Dreieinen
Gott ab.“ “Religion Dispatches“ of May 27th,
2011
Ich Gerd, traf
später in zahllosen von mir gesuchten Diskussionen nicht einen Geistlichen der
auch nur annähernd erklären konnte, was das ist, die Trinität. Damals, 1951,
hatte die Evangelische Kirche Deutschlands noch nicht zugegeben, dass die Lehre
vom Dreieinen Gott in der Bibel tatsächlich nicht vorkommt. Zu diesem
Eingeständnis gelangt sie erst 70 Jahre später. „Die Diskussion um die
Trinität begann im vierten Jahrhundert nach Christus. Sie ist sehr
philosophisch geprägt, da die Lehre von der Trinität in der Bibel nicht
explizit vorkommt.“ EKD 2020
Ich hörte andere Stimmen: „Die Bibel entfaltet keine Trinitätslehre. Es
existiert kein Kapitel in der Heiligen Schrift, das dieses anscheinend wichtige
Thema aufgreifen würde…“ Aleksandar
Vuksanović „Entwicklung der Trinitätslehre in den ersten drei
Jahrhunderten", St. Galler Studientag 2016.
Die Bischöfe zu Nicäa wurden im Jahr 325,
bewusst verleitet – und nach neuesten Erkenntnissen, gezwungen – eines
größenwahnsinnigen Kaisers Fantasiegeschöpf als ihren Gott anzuerkennen. Das
musste schließlich zu Religionskriegen und Ketzerverbrennungen führte.
Konstantins Ansprüchen und Wünschen mussten sich alle beugen oder in die
Verbannung gehen.
Greifswald
Einen Monat
später, nach Abschluss meiner Ausbildung, meldete ich mich zusammen mit
Hunderten anderen Bewerbern beim Berufsbildungsinstitut für Lehrer an. Es wurde
„berufspädagogisches Institut“ genannt. Ich wollte Lehrer in der
Erwachsenenbildung werden. Mir stand vor Augen, mein Wissen in wichtigen
Fächern zu erweitern, um dann meine Einsichten an möglichst zahlreiche zu
vermitteln. Sie sollten, wie ich, nachdenklicher die Frage nach dem Sinn des
Lebens und nach Gott stellen. Ich wusste längst, dass viele in
dieser Sache oberflächlich urteilten. Für das Studium brachte
ich die notwendigen Voraussetzungen mit.
Die Monate vor Weihnachten vergingen so schnell, als wären sie nur Tage. Obwohl weitaus mehr Zeit aufgewendet wurde den dialektischen Materialismus-Leninismus zu lehren als Psychologie und Biologie, fühlte ich mich gut. Endlich hatte ich Zeit für Wissenserwerb, anstatt mich mit Spaten und Pickkacke auf den Feldern, im Regen oder Schnee, im Wind und auf steinhartem Boden abmühen zu müssen. Hier am Institut musste ich nie auch nur einen Finger beugen. Ich habe mich mit Freude ins Studium vertieft. Meine Liebe zur Politik und zur Geschichte machten es mir leicht. Wochentags war ich Student des Marxismus, aber sonntags lehrender Mormone. Zunächst hatte ich keine Probleme damit. Im Fach Biologie wurde Morganismus-Weißmanismus scharf verurteilt, die Lehren von Mitschurin und Lyssenko dagegen seien wissenschaftlich korrekt. Lyssenko behauptete kühn und unredlich, „dass die Eigenschaften von Kulturpflanzen und anderen Organismen nicht zuerst durch Gene, sondern nur durch Umweltbedingungen bestimmt würden.“ Ich sage nicht, dass ich damals schon den Schwindel durchschaute. Ein wenig misstrauisch war ich schon. Lyssenko hatte später mit seinen Thesen in der Sowjetunion zwischen 1953 bis 1960 schwere Missernten etwa in Kasachstan verursacht. Von Stalin geliebt und gefördert, meinte er, drei Monate Sommer würden ausreichen Mais auch über Dauerfrostböden zu ernten. Er lehrte die Pflanzen würden sich sehr schnell an die örtlichen Gegebenheiten anpassen. Aber genau das passierte nicht, auch nicht in der vierten Generation. Mais wurzelt tief, schon bevor die Maiswurzeln auf den Nullgradbereich stießen verkümmerten sie. In Kasachstan taut der Erdboden aber nur bis zu einer Tiefe von 40 cm auf. Die Schuld für örtlich gravierenden Hunger wurde den Bauern zugeschoben die ohnehin nur entsprechend den Weisungen der Partei agieren durften. Indirekt sollte bewiesen werden, dass gesellschaftliches Sein das gesellschaftliche Bewusstsein bestimmt. Angelegt war das Ganze zur Bestätigung anderer Thesen des „wissenschaftlichen Atheismus“ und damit des „wissenschaftlichen Kommunismus“.
Im Herbst 1951 fanden unsere
Kirchenversammlungen in Greifswald in einem separaten Raum einer örtlichen
Kneipe statt. Wir kamen zu sechst zusammen. Manchmal waren auch sieben oder
acht Mitglieder anwesend. Es kam auch immer als positiv eingestellter
Untersucher, ein Altstudent der Ökonomie, zu uns. Herr Dietrich, ein
bescheidener kluger Mann dem die Lehren unserer Kirche seit je zusagten. Wir
liebten ihn. Es störte mich nicht, dass das Lokal klein und voller Rauchgerüche
war, dass es nach abgestandenem Bier roch. Da viele neue Studenten in die Stadt
zogen, bot ihnen die Universität in Greifswald jedes noch so kleine Zimmer und
Zimmer als Unterkunft an. Infolgedessen verweigerten uns die örtlichen Behörden
die Erlaubnis, einen eigenen Treffpunkt einzurichten, sodass unsere
Gottesdienste in dieser Bar abgehalten wurden, die sonntags für die
Öffentlichkeit geschlossen war. Neben dem Ausschank befand sich der Club- und
Schlafraum für die Studenten, mit denen ich das erste Semester am Institut
verbrachte. Da es zwischen ihrem und unserem Zimmer nur eine provisorische
Schiebetür gab, konnten sie während unserer Treffen jedes gesprochene Wort
hören. So fanden sie heraus, dass ich, ihr Mitstudent, ein „Mormonen-prediger“
war. Eines sonntags hielt Bruder Arnold Riemer eine Ansprache. Er
war von Beruf Maler und jetzt Neukonvertit. Als er zu sprechen begann, hörten
wir bald mehr als aufmerksam zu. Zuerst beschrieb er eine Situation, die im
Buch Mormon aufgezeichnet ist. Missionar Ammon kämpfte kraftvoll gegen
marodierende Banditen, wehrte sie effektiv ab und galt aufgrund seiner
ungewöhnlichen Stärke als eine Art Übermensch oder als Inkarnation des „Großen
Geistes“. Als Ammon vor König Lamoni stand – der ebenfalls abergläubisch
auftrat – sagte er einfach: „Ich bin ein (normaler) Mensch; ...der am
Anfang nach dem Bilde Gottes geschaffen wurde. Sein Heiliger Geist hat mich
berufen, dieses Volk zu lehren, damit es weiß, was gerecht und wahr ist.“ Alma
18:34. Das war es. Im Zusammenhang mit jeder
Art Religion und Politik kann es nur darum gehen zu erlernen im Umgang mit sich
selbst und anderen gerecht und wahrhaftig zu sein. Das war die ursprüngliche
Botschaft, eine dringende Forderung, seit Apostelzeiten. Arnold sprach perfekt
über die Grundsätze der Gerechtigkeit. Wie ein Künstler spielte er eine
wunderschöne Melodie auf den Saiten seiner eigenen Seele. Je nachdenklicher ich
zuhörte, desto mehr wollte auch ich Ammon zustimmen, einem Mann, der die
Grundsätze der Tugend vehement verteidigte. Es war einer dieser Vorträge, bei
denen Redner und Publikum Ort und Zeit vergessen. Dieser ungeübte Sprecher
hatte eine unsichtbare Verbindung zwischen uns und einer höheren Welt
geschaffen. Pure Inspiration ließ uns den Kneipengeruch
vergessen. Unsere bisherige politische Welt der Propagandalügen war
nichts anderes als höllische Realität. Ihr Ziel bestand darin die
Machtausübung einiger weniger zugunsten erbarmungsloser Diktatoren zu festigen.
Mir kamen wieder die verheerenden Fehlurteile der Pastoren Zimmer und Rößle in
den Sinn.
Später, im Dezember 1951, hielt Karl
Kleinschmidt, der angeblich berühmte evangelische Domprediger aus Schwerin, ein
Mitglied der atheistischen Partei SED, eine Ansprache an uns Studierende und
Lehrkräfte. Ich machte es mir auf dem Balkon des hässlichen Altbaus,
Stralsunder Straße 1, gemütlich und hatte einen perfekten Blick auf Herrn Pfarrer
Kleinschmidt. Er hielt eine äußerst kontroverse Rede. So wie ich bislang
gelegentlich versucht hatte, Feuer und Wasser zu mischen, tat er es ebenfalls. Mit
großer Energie vermittelte er den
Eindruck, er zöge neue Erkenntnisse aus gewissen Quellen. Wir haben jedoch sehr
wohl vernommen, wie es in seinem Kopf rumpelte. Er erzählte eine Geschichte
über einen seiner Pastoralbesuche bei einem 80-jährigen Mann der freimütig
zugab: „Oh je, Sie müssen wissen, Herr Pastor, Sie sind zum
falschen Mann gekommen. Vor mehr als 20 Jahren bin ich aus der
evangelischen Kirche ausgetreten. Ich bin Kommunist!“ „Na dann“, habe
er, Kleinschmidt, geantwortet: „in diesem Fall bin ich gekommen, um
einen gleichgesinnten Genossen zu besuchen. Glückwunsch! Du liegst nicht
falsch, du bist der richtige Mann. Ich bin ebenfalls Kommunist“
Mir schien, dass nicht nur mir die Art und
Weise missfiel, mit der sich dieser Vertreter des atheistischen Staates und der
evangelischen Kirche verhielt. (Kleinschmidt war
Leitungsmitglied des atheistischen Deutschen Kulturbundes) Ich schaute wieder in
mich: Gerd, versuchst du das nicht ebenfalls? Jemand, aus Reihen der 300
Anwesenden, fragte ihn ob er als moderner Pfarrer damit einverstanden sei, dass
Kleinkinder quasi gegen ihren Willen getauft würden, um so Mitglied einer
speziell ausgerichteten Kirche zu werden. Da dachte ich: „Hier
wird er straucheln!“ Aber zu meiner Überraschung wies sein breites,
flächiges Gesicht nicht die Spur von Überraschung aus. Er zögerte keine
Sekunde, obwohl jeder die Berechtigung dieser Anschuldigung erkannt haben
müsste. Keck wandte sich der 50-jährige Geistliche an den Fragesteller: „Genosse“,
sagte er, „wenn du heiratest und Kinder hast, werden sie dann nicht
automatisch Bürger deines Staates? Ist das ein Verstoß gegen den freien
Willen?“ Seine kühn-freche Hinweg - Erklärung wurde, wohl auch wegen ihrer
Schlauheit, mit viel Applaus akzeptiert. Die Mehrheit in diesem Saal musste eigentlich
doch wissen, dass Pfarrer Kleinschmidt, die Wahrheit frisierte. Aber, der Druck
des Augenblicks wurde, durch den Beifall, auf null reduziert. Nach dem Vortrag
Pastor Kleinschmidts wusste ich, was ich zu tun hatte. Ich werde meinen Beifall
für die nächste Lesung, falls sie ebenso windschief daher kommt verweigern. Kurz
darauf leitete Dozent Kirchberg eine Diskussion über Maxim Gorkis Roman „Die
Mutter“. Er schloss mit den Worten: „Aus Verantwortungsbewusstsein und
Liebe zur DDR sind wir verpflichtet, Provokationen zu unterbinden. Wir müssen,
wenn die Klassenfeinde sich quer stellen Widerstand leisten. Wenn
jemand sich als Feind der DDR erweist muss er den staatlichen Organen
ausgeliefert werden!“ Das hieß im Klartext, zeige jeden
Oppositionellen an, auch wenn es dein Vater oder deine Mutter ist. Kannte
ich das nicht schon, aus der Nazizeit? Ich saß, an jenem Tag, unter den 100
Hörern, in der ersten Reihe. Alle, außer mir, klickten mit ihren billigen
Schuhen oder klatschten. Der elegante 30-jährige Kirchberg starrte mich an. Er
stellte mir sofort die Frage: „Widersprichst du mir?“, zuerst
nur mit den Augen, dann akustisch. Mit seiner kompromisslosen
Ideologie und seiner 1,80 m großen Statur überragte er mich nicht nur
körperlich. Insbesondere alle Frauen auf dem Campus betrachteten ihn als einen
der überlegenen Intellektuellen. Einige Mädchen himmelten ihn an. Seinem ganzen
Wesen nach, schien er nicht der Typ zu sein, der die Peitsche gegen seine
Mitmenschen einsetzte. Bislang nutzte er seinen natürlichen Charme, um
Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Seine hoch gezogenen Augenbrauen bedeuteten
mir, ich hätte meine Weigerung, ihm nicht zu applaudieren, zu rechtfertigen. Es
fiel mir nach der Rede Pastor Kleinschmidts nicht schwer, deutlich Stellung zu
beziehen: „Ich halte es für ungerecht, jemanden nur wegen konträrer
Ansichten Strafe anzudrohen.“ Da ich keine Szene machen wollte, sprach ich
allerdings leiser als sonst. Kirchberg antwortete: „Das ist eine
grundsätzliche Frage! Wir tragen Verantwortung für unsere junge Republik. Wir
haben schon genug Feinde! Hier geht es ums Ganze!” Jetzt brannte es in mir.
Ich würde nicht zurückweichen: „Ein Lump ist ein Lump ob er braun oder
rot ist!“ Kirchberg war alt genug. Er musste wissen, dass es Naziart war
sonst unschuldige Leute hinter Gitter zu bringen die sich lediglich dem
unredlichen Zeitgeist widersetzten. Er war doch ebenfalls Zeitzeuge
ungerechtfertigter Attacken auf redliche Gewissen. Offensichtlich schien
Kirchberg, wegen des Grades der Berechtigung meiner nicht ungefährlichen
Erwiderung, für den Augenblick leicht verunsichert. Jetzt gab es für beide
Seiten kein Zurück mehr. Natürlich wurden wir beobachtet. Meine
Mitschüler hatten den Hörsaal ja noch nicht verlassen. Es hatte sich
herumgesprochen, dass ich „Mormone“ war. Aber es gab noch einen zweiten,
Richard Wunderlich, der nie an unseren Treffen teilnahm und der bis dahin in
einem sächsischen Uranbergwerk gutes Geld verdiente. Beim Abendessen saßen wir
gemeinsam am Tisch, als ein Witz erzählt wurde, der nicht gerade
gesellschaftsfähig war. Ich verließ meinen Platz, Richard blieb dort und lachte
mit den anderen. Er sagte: „Ich bin kein so zimperlicher Mormone wie
er!“ Kirchberg musste vermeiden, im falschen Licht zu erscheinen.
Nämlich, dass ich ihn in eine Diskussion verwickelte, die ihm Unbehagen
bereiten könnte. Also sagte er laut und bewusst unhöflich: „Das
Proletariat wird uns fragen: „Wer wen?“ Ich habe den Hintergrund
dieser dummen Frage sehr gut verstanden. Es war die törichte Machtfrage, die
alle moskautreuen Kommunisten denen stellten, die pro- demokratisch dachten. Ich
hatte bis dahin (Dezember 1951) mit zahlreichen Menschen unter vier Augen
gesprochen. Da war auch nicht einer gewesen, der dem derzeitigen
kommunistischen Regime rückhaltlos positiv gegenüberstand. Aber die Wahlen –
genannt die Volkswahlen – die abgehalten wurden zeigten exakt das unehrliche
Gegenteil. Wer in weitem Umkreis wusste nicht, dass in Russland (in der UdSSR)
angeblich fast 100 Prozent der Bevölkerung den Stalinismus liebte, dass aber
dort die Angst vor Repressalien durch die Staatspolizei (GPU, oder NKWD) die
Tagesordnung bestimmte. Kirchberg beendete das Gespräch mit gedämpfter Stimme:
„Sicher sind Sie klug genug, um zu wissen, dass es keinen Weg zurück in die
Vergangenheit gibt.“ Er sah mich ernst an: „Sie sind
gefährlich für die Gesellschaft. Sie haben hier zu viele Freunde.“ Ich
nickte heimlich. Jeder in unserem Institut hegte, wie ich, seine eigenen
Zweifel. Das alles geschah nur drei Tage vor den Weihnachtsferien. Wir reisten
gemeinsam in die gleiche Richtung zu unseren Familien, setzten die Diskussion
im Zug fort. Beide wussten, dass binnen kurzer Zeit eine Entscheidung fallen
musste. Entweder ich kroch zu Kreuze, oder verlasse das Institut. Mir stellten
sich einige Fragen: Hatte Kirchberg jemals über die Möglichkeit nachgedacht, in
die freie westliche Welt zu fliehen? Hatte er nie Meinungsverschiedenheiten mit
seinen jetzigen Kameraden? Die Flucht in die Freiheit war einfach – man stieg
in den Zug, in Berlin aus und lief mehrere Meter. So einfach war das vor dem
Mauerbau (im August 1961): Als ich Herrn Kirchberg, nach den kurzen Ferien,
meine Entscheidung mitteilte, war er schockiert. An seinem Gesicht konnte ich
erkennen, dass er damit nicht gerechnet hatte. Sondern eher meinen
Gesinnungswechsel. Verärgert bestand er auf gründliche Neubetrachtung unserer
Überzeugungen. Er hatte nämlich zugegeben, dass ich weder bösartig, noch dumm
oder feige bin. Zu dieser Zeit war er anscheinend noch der Überzeugung, dass
seine Ideologie jeden redlichen Bürger gewinnen müsste. Es durfte nicht sein,
dass ein kleiner Frommer über stärkere Argumente verfügte! Außerdem sei ich
doch der „geborene Lehrer!“ Wörtlich: „Ich werde Ihren
Rücktritt nicht akzeptieren, bis wir die Angelegenheit weiter geprüft haben.“ Glaubte
er, er könnte mich umdrehen? Meinte er wirklich er sei
imstande „religiösen Unsinn“, wie er es nannte, zu beseitigen?
Ich nahm sein Angebot für weitere Gespräche an – und auch das überraschte ihn. Kirchberg
sowie der Direktor, Herr Roderich Schmidt und ich trafen uns sodann 5 Abende im
Stalinzimmer, in den Räumlichkeiten des Greifswalder Instituts, Marktplatz 1.
Hin und wieder kam Stanke, der Parteisekretär, hinzu. Die Idee, dass ich das
Institut aus ihnen unverständlichen Gründen verlasse, gefiel auch anderen
Lektoren nicht. Sie erwiesen ihre Entschlossenheit, meinen Glauben an Gott zu
erschüttern. Ihre scharfen Argumente gingen hin und her. Ich hatte allerdings
das Gefühl, dass sie guten Willens seien. Sie bemühten sich, mich von der
verheerenden Rolle zu überzeugen, die das Christentum im Verlaufe der
Geschichte der Menschheit gespielt hatte. Damit konnten sie nicht punkten, das
wusste ich besser als sie. Für mich war Religion sowohl Herzensangelegenheit,
wie der Vernunft.
Am ersten Abend ging es querfeldein. Ich
spürte den Hass der Lektoren auf die Kirchen und ich brachte zum Ausdruck, dass
ich „Mormone“ bin, wegen deren Fehlentwicklung. Es war nicht einfach, diesen
Neuanhängern der „Diktatur des Proletariats“ zu verdeutlichen, dass die
Geschichte der christlichen Religion entgleiste, sobald sich Diktatoren
erdreisteten die Führung der noch jungen Kirche zu übernehmen. Mir war klar,
dass Gewalt und das Evangelium Christi einander ausschließen. Diktatoren sind
immer Todfeinde des Individualrechts jedermanns, gleichgültig was sie sonst
noch vertraten. Andererseits garantiert Christus uns das Recht auf
Entscheidungsfreiheit. Er ist der Erlöser von allen Zwängen. Berühmt sind seine
Worte: „Die Wahrheit wird euch freimachen.“ Joh.
8: 32
Jesus bekannte unmissverständlich, dass ihm
die Hände gebunden sind, wenn wir nicht wollen. Matt.
23: 37
Ein typischer Diktator gegenüber dem freien
Glauben war Bischof Damasus von Rom. Im Jahr 366 beschloss er Papst zu werden.
Er stellte die Machtfrage. Sein Amtskollege Ursinus stand ihm im Wege. Damasus
heuerte einen Schlägertrupp an um die Anhängerschaft des Ursinus zu
vernichten. Beides gelang ihm. Heute zählt ihn die römische Kirche
unglaublicher Weise zu den legitimen Sukzessoren Christi. Ich sah es
meinen Gesprächspartnern an, das wussten sie nicht. „Zu den übelsten
Charakteren der Geschichte zählt ein weiterer Bischof der Kirche: Ambrosius von
Mailand. Er war ein Kriegshetzer, er übte seine Macht als Kaiserberater
brutal aus. Er verbot jede Religion innerhalb der Grenzen des riesigen
römischen Reiches. Nur die von ihm selbst und Damasus von Rom gebilligte
„Kirche“ habe ein Existenzrecht. Griechische Tempel ließ er schleifen. Juden
sagte er den Kampf an.“ Ich sprach
ihnen offensichtlich aus dem Herzen. Jemand gab zu, dass mein Allgemeinwissen
beträchtlich sei, - und notwendig für einen künftigen Mann im Bildungswesen. Ich
biss mir jedoch auf die Zunge und verkniff mir zu sagen: Lenin sei der
Geistgenosse dieser beiden grässlichen Kirchenfürsten. Niemand konnte leugnen,
dass Lenin zum roten Terror aufrief, dass er 1919 den Kulaken, den Ernährern
Russlands einen Brandbrief - eine
Kriegserklärung – schickte, weil sie das Saatgut nicht zum Verkauf anboten und
sonst überhöhte Preise forderten. Aber ich hatte noch ein Beispiel: Bischof
Otto von Bamberg. Viele Historiker rühmen ihn als Muster der Sanftmut. 1128
lässt er, mit dem „Recht“ des militärisch stärkeren, den Herovit Tempel zu
Wolgast, meiner Heimatstadt schleifen, um an seine Stelle die Petrikirche zu
stellen: „Da gibt es einen gusseisernen Brunnen. Er steht auf einer
Freifläche vor dem Rathaus. Am äußeren Rand gibt es 8 oder 10 Bilder die an die
wichtigsten historischen Ereignisse der Stadt erinnern.
Foto privat
Eins davon bezeugte deutlicher als die anderen, wie das „Christentum“ seit dem
4. Jahrhundert handelte. Bis 1128 glaubten die Bürger dieses
alten Herzogtums an Herovit. Nun mussten sie ihn entgegen ihrer wahren
Überzeugung verleugnen. Das konnte nur Heuchelei hervorrufen.
Links ist ein Soldat mit einem riesigen Schwert zu sehen, daneben ein
Mönch-Priester. Er soll diese Heiden in einem provisorischen Zelt taufen. Sie
stehen nackt in einer riesigen Holzwanne, die bis zu den Knien mit Wasser
gefüllt ist. Sie hatten keine Wahl. Bischof Otto von Bamberg segnete sie, doch
in Wirklichkeit ging es nur um die Sicherung politischer Interessen der Herzöge
Wratislaw und Bogislaw. Es war Vergewaltigung von Menschen zugunsten der
Vorherrschaft zweier Diktatoren. Russland wurde schon im Jahr eintausend der
Wille damaliger Diktatoren vom Schlage des Großfürsten Wladimir aufgezwungen... Ich
will frei in meinen Entscheidungen sein.“ Wahr ist, diese Männer zu
Greifswald, verachteten mich nicht. Im Gegenteil. Nur Stalin, dessen Büste den
Raum dominierte, starrte mich grimmig an. Der Hauptpunkt den meine Gegenüber
nun ins Feld führten bestand in den Verweisen, dass wir dem Tierreich
entstammen. Für einen Schöpfer, wie ihn die Bibel beschreibt, sei kein Platz.
In der Tat, das war der fragwürdige Teil auch meiner Weltanschauung. Aber,
der entscheidende Punkt ist die unterschiedliche Definition des Begriffes
„Mensch“. Die allgemeine Vorstellung meint das Sichtbare, - das sterbliche
Wesen - mormonisches und urchristliches Verständnis meint dagegen das Unsichtbare:
„Der Mensch ist Geist.“ Lehre und
Bündnisse 93: 33. Dieser
Geist ist nicht das Produkt der Evolution. Darwinismus ist folglich nur die
Hälfte der Geschichte. Tatsache sei, dass das Buch Mormon durchaus – wenn
auch nur indirekt – zwischen Heutemenschen und voradamitischen unterscheidet. 2.
Nephi 9: 21 und Mormon 3: 20
„Ich habe gehört, dass es eine
christliche Splittergruppe Italiens gab, die Bagnolesen. Sie behaupteten, ihre
Schöpfungslehre stamme aus Apostelzeiten, und die sagt: “nachdem Gott das
Weltall schuf, überließ er die Lenkung der Dinge der Natur.“ Henry
Charles Lea „Geschichte der Inquisition im Mittelalter Bd. I S. 109
Ich sagte zum Schluss sinngemäß: „Allgemein
nimmt man an, dass Zufälle Leben hervorbrachten. Ich halte es für logischer
daran zu glauben, dass alledem ein Plan vorausging.“ Die Antworten die ich
gab, verblüfften. Der Kern der Heilslehre der „Mormonen“ lässt sich indessen
mit wenigen Worten ausdrücken: Wir sind ewige, in ihren Entscheidungen freie,
auf eigenen Wunsch ins Fleisch gefallene „Intelligenzen“. Damals allerdings
verfügte ich noch nicht über die Erkenntnis, dass Origenes (185-254) genau das
lehrte. Er war nachweislich der Spitzen-Theologe der christlichen
Akademie zu Alexandria. Fälschlich werden deren Lehren von
großkirchlichen Theologen immer noch als „Origenismus“ bezeichnet und damit auf
ein Minimum an Glaubwürdigkeit reduziert. Immerhin lehrte und beschrieb
Origenes (185-254) nebst Hippolytos von Rom, die später einheitlich von der
Mehrheitskirche verworfene Theologie: Der Himmel sei die Heimat der Seele jedes
Menschen derer die zur Familie Adams gehören. Handwörterbuch
für Theologie und Religionswissenschaft 3. Völlig neu bearbeitete Auflage
Vierter Band Kop-O
Ich hatte es lange zuvor, 1948, tief in meiner Seele gespürt, dass dauerhaftes Glück in Unfreiheit nicht gedeiht. Was ich allerdings nicht sagte, war, dass unser Prophet Joseph lehrte, dass es Satan war, der „gegen Gott rebellierte und versuchte, die Freiheit des Menschen zu zerstören, die der Herr, Gott, uns gegeben hatte“. Wir sind dafür verantwortlich, das zu behalten, was wir bereits (im vorirdischen Leben) erworben haben – das Recht auf Handlungsfreiheit. Dies ist das Fundament, auf dem die Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage aufgebaut ist. Als ich 1945, während der wilden Russentage, las, wie unverfroren die lutherischen Geistlichen Zimmer und Rößle behaupteten und geradezu schworen: „„Das Ziel der Mormonen ist es, alle zu bekehren, um die gesamte Menschheit zu versklaven”, wusste ich entschieden, das ist gelogen. Ich bin mir nicht sicher, ob ich damals, in Greifswald, hinzugefügt habe: „Euer Staat wurde gemäß der ‚Diktatur einer Partei‘ errichtet.“ In Wirklichkeit diktierte nicht die Arbeiterklasse, sondern ein einzelner Mann, und der sitzt im Kreml. Das wäre allzu provokativ gewesen. Aber, meine Erkenntnis, dass der zu jener Greifswalder Zeit noch andauernde Koreakrieg Beweis genug war zu sagen: Ziel der kommunistischen Diktatur ist die atheistische Weltherrschaft. Mir scheint, ich hätte das angedeutet, denn sie fragten mich: „Du wusstest, dass hier der Marxismus-Leninismus Basis aller anderen Lehren ist, warum kamst du her?“ Ich erwiderte: „Es gibt eine Reihe von Übereinstimmungen. Alle Mitglieder meiner Kirche glauben an den Fortschritt, wie ihr. Dass die Schätze der Erde niemals zugunsten von Kapitalisten ausgebeutet werden dürfen. Sie gehören dem Volk. Wir sind grundsätzlich gegen Ausbeutung Wir sind für eine Weltregierung die künftige Kriege ausschließt und nicht zuletzt sind wir überzeugt, dass Bildung Krisen lösen kann.“ Jeden Abend hatten sie 2 Stunden Überzeugungsarbeit eingesetzt, ich aber auch. Schließlich durfte ich ein letztes Wort sagen, bevor sie mich freiwillig entließen. Mir lag daran noch einmal zu unterstreichen, dass meine Kirche ungemein stark betont, dass Menschenrechte heilig sind, dass unser Verständnis jede Religion oder Ideologie ablehnt die Gewaltanwendung (außer in Kriegszeiten zur Selbstverteidigung) zulässt: Meine Religion lässt sich vielleicht am besten mit den Worten Schillers beschreiben: „Alle Menschen werden Brüder, wo Sein (Gottes) Flügel weilt!“
Ein gefährliches Intermezzo
Am 17. Januar 1952 kam ich im Dorf Cammin an, wo sich für mich eine neue Tür öffnete. Ich wollte meinem Freund Fischermeister Kurt Meyer helfen. Er hatte vom Staat rund 180 Hektar Seefläche gepachtet. Wo sollte ich sonst hingehen? Die Kirche wünschte, dass wir vor Ort helfen sollen Zion zu errichten. Eine Flucht in den Westen schloss ich also aus. Kurt – der wie seine Frau Helga treue Mitglieder waren - sagte zu, mir tausend Quadratmeter Land zu übergeben um den Start zur Bildung einer kleinen Baumschule zu ermöglichen. Im Gegenzug sollte ich ihm unentgeltlich helfen. Meinen Schlafplatz sollte ich im ausgebauten Dachboden des kleinen Meyer-Hauses finden, das malerisch an einem großen See gelegen war. Aber, es wartete bereits das nächste Problem auf mich. In unmittelbarer Nachbarschaft gab es eine sehr freundliche Dame... In den folgenden Wochen ernteten wir Rohr auf den zugefrorenen Seen. Ich schob ein Schneidegerät vor mich her, das die Stängel absäbelte. Am frühen Morgen glitzerte in den ersten Sonnenstrahlen dicker weißer Reif auf den Spitzen des schlanken Schilfrohres. Als wir unter strahlend blauem Himmel unserer Arbeit nachgingen, fielen mir die Eisflocken ins Gesicht, aber ich war glücklich, denn ich war frei. Als Belohnung für meine damalige Arbeit erhielt ich eine kostenlose Unterkunft, sowie herzhafte Mahlzeiten. So wurde ich Teil der Familie Meyer. Nur wenige Wochen später erhielt ich Post von meinen Freunden im Institut. Sie schrieben: Roderich Schmidt, der „Superkommunist“, sei verhaftet worden. Er hatte Stipendiengelder unterschlagen, um eine seiner Schülerinnen zu gewinnen, die jedoch die Geliebte des Parteisekretärs gewesen sei... Einen Monat später kam die Nachricht, dass die Lehrerausbildungsstätte – das berufspädagogische Institut - geschlossen wurde.
Gegen Ende Februar tat die Sonne ihr Bestes.
Sie weichte das Eis auf unseren kleinen Seen. Insbesondere in Ufernähe, brachte
sie es zum Schmelzen. Auf dem brüchigen Eis des Teschendorfer Sees lagen noch
mehr als 400 Bündel Schilf. Kurt indessen musste einen Termin beim Zahnarzt in
der Stadt einhalten, und er sollte und wollte danach noch kranke Freunde
besuchen. Er bat mich, die Schilfbündel zu retten. Beschäftigt mit dieser
Aufgabe, zerbrach das Eis immer wieder und ich befand mich dann knietief im
eisigen Wasser. Obwohl es nicht lebensbedrohlich war, war es sehr unangenehm.
Ich war dankbar für den Schutz, den meine Gummistiefel boten. Mein Bemühen
verlief sehr langsam. Gegen 17 Uhr begann es dunkel zu werden und es lagen
immer noch viele Bündel auf dem Eis. Denn bis zur Straße, von der ein
Weitertransport möglich war lagen fast zweihundert Meter Weg vor
mir. Entschlossen, sämtliche Bündel zu retten arbeitete ich
daher weiter in der Dunkelheit, bis ich meine Arbeit endlich erledigt hatte,
und beschloss dann, nicht über den See nach Hause zu gehen, obwohl einsetzender
Frost das Eis wieder härtete. Ich kam zu dem Schluss, dass ich den sehr viel
längeren Weg um den See herum nehmen sollte. Gut gelaunt trat ich meinen 4 km
langen Marsch zurück nach Hause an. Über mir malten die Sterne ein Bild der
Schönheit und erinnerten mich daran, woher ich gekommen war und wohin ich
einmal zurückkehren wollte. Es machte mir nichts aus, dass ich teilweise bis
auf die Knochen durchnässt daher marschierte. Die Bewegung wärmte mich. Der
Gedanke, dass ich zumindest sowohl in meinem Herzen, wie in meinem Kopf frei
war, machte mich immer wieder glücklich. Als ich durch die letzte Tür eintrat,
sah mich Helga, die Dame des Hauses, an, schockiert. Sie konnte die
Tränen nicht verbergen. Sie stotterte: „Gerd! Und ich dachte, du wärst
ertrunken.“ Aber, was ich erst später erfuhr, unsere Nachbarin bangte an
jenem Abend ebenfalls um mein Leben. Hinter den Gardinen hätte sie gewartet.
Der Nachtfrost kehrte zurück. Kurt und ich
konnten das restliche Schilf auf anderen Seen ernten. Ich grub, sobald der
Boden aufgetaut war, täglich mehr als hundert qm um. Und im März reiste ich in
die Stadt, um die Vorräte zu kaufen, die ich für den Beginn meines kleinen
Abenteuers brauchte. Von einer nahen gelegenen Baumschule ließ ich mir zuvor 1500
Rosenwildlinge, 1 000 Mahaleb (Unterlagen für Sauerkirchen) sowie 1000
Apfelwildlinge des Typs 9 zuschicken.
Im Abteil des Zuges, das ich öffnete saß
unsere freundliche Nachbarin. Mir schien sie sei bekümmert. Ihr gefiel, dass
ich mit ihr, einige Minuten, harmlos plauderte. „Sie sind ein
Schatz!“ sagte sie und fuhr weiter. In meiner Naivität maß ich dem
kleinen Lob keine Bedeutung zu. An diesem Reisenachmittag kam ich zurück, ging
in den kleinen Warteraum, der auch als örtliche Kneipe und als geselliger
Treffpunkt für die Männer des Dorfes diente. Das sollte schwerste Folgen nach
sich ziehen. Ich kann mich nur an ein paar hin und her fliegende Worte
erinnern, weil es mich damals nicht interessierte. Außerdem wurde disharmonisch
gesungen. Bald darauf erfuhr ich, dass der Bürgermeister unseres Dorfes –
Herbert Schindler – verhaftet wurde. Ein Mann in seinen Dreißigern, der seines
Charakters wegen, allgemein hochgeschätzt wurde. Eine Woche verging und
Schindler war immer noch nicht zurückgekehrt. „Gerd, der Bürgermeister
ist nicht zurück“, murmelte Helga, „die Bauern vor Ort verdächtigen
dich.“ Da ich mir keines Fehlverhaltens bewusst war, vergaß ich unser
Gespräch in der Küche und wandte meine Aufmerksamkeit der Arbeit des Tages
zu. Am Ende dieser Woche der allgemeinen Angst um Herbert Schíndler,
spazierte ich auf dem Heimweg vom Dorfkino durch den Park hinter dem alten
Schloss. Aus der Dunkelheit tauchten drei schwarze Silhouetten von Männern auf,
die schnell auf mich zukamen. Meine Augen hatten sich an die Dunkelheit gewöhnt
und ich erkannte Neumann und Schulz, den Dritten nicht, beide kräftige
Gestalten: „Du warst es!“ "Verräter! Mit den Frauen anderer
Leute herum poussieren!“„...Wir werden dich ersäufen.“ In der Tat, das
schwarze Wasser des Camminer Sees war nur zehn Meter von uns entfernt. Es blieb
mir nur noch eines zu tun. Ich musste ihrem Sinn für Gerechtigkeit vertrauen.
Ich musste die angetrunkenen Männer beruhigen. Was die Vorwürfe gegen mich
bezüglich der Ehefrauen anderer Männer und der Verhaftung des Bürgermeisters
angeht, hatte ich wirklich keine Ahnung, außer dass ich ein Stück Kuchen von
einer der Frauen des Dorfes erhalten hatte und mich dafür bedankte. Da ich
ruhig blieb, statt zu zittern, beruhigten sich auch die Männer vorübergehend. „Na
ja“, polterte Neubauer Neumann in höhnischem Ton „wir werden
es schon herausfinden… Alles wegen eines Liedes... Du hast das Geld gebraucht,
nicht wahr? …Die Stasi hat dich belohnt… 60 Mark – Judas‘ Lohn.“ Die
geisterhaften Schatten rückten wieder näher und ich befand mich, wie eine
Fliege, im Spinnennetz. In einem Eid vereint hielten sie mir ihre Fäuste unter
die Nase. Es stimmte definitiv, dass ich so arm war wie eine Kirchenmaus.
Geriet ich vielleicht unter Verdacht, weil ich nie in ihre örtliche Bar ging?
Neumann, der mir wirklich gefährlich erscheinende, stattliche Mann, dessen Sohn
zu seinem Stolz Literaturgeschichte studierte hatte mehrere Versuche
unternommen, Helga, Kurt Meyers Frau, zu umgarnen. Aber sie hätte ihn immer
abgewiesen. Das hörte ich von Kurt. Ich wusste auch: Neumann hasste mich vom
ersten Tag an. Regelmäßig kam er abends an den See, um Fässer zu füllen, die er
im Winter und Sommer auf einem Schlitten transportierte, um sein Vieh zu
tränken. An jenem Kinoabend ließ er mich seine Überlegenheit spüren, indem er
sich demonstrativ streckte und auf mich herab sah Er gab mir das Gefühl, ich
wäre nichts als ein bettelarmer Bösewicht. Plötzlich drehten sie mir den Rücken
zu und stolzierten davon. Mehrere Tage später kam Herbert Schindler zurück. Wie
ich hörte musste er polizeiliche Verhöre über sich ergehen lassen. Er war
wieder da, als wäre nichts passiert, wirkte wieder locker, wie immer. Ich musst
ihn sprechen. Im total verwahrlosten Schloss befand sich sein kleines Büro. Er
bot mir einen Stuhl an. Mit unsicheren Händen zündete er sich eine Zigarette an
und begann dann frei zu reden. Er hätte erfahren, dass die Bauern mich für
einen Verräter hielten. Nun entlastete
er mich: „Ich weiß, wer mich bei der Stasi anzeigte. Du warst es nicht.
Ich habe es schon gewissen Leuten mitgeteilt.“ Er gestand, dass
es von seiner Seite als Bürgermeister und wichtigsten Mann seines Dorfes dumm
gewesen sei, an einem öffentlichen Ort ein natürlich verbotenes, altes
deutsches Kriegslied zu singen: „Wir fliegen gegen England, Bomben auf
England …“ – „Bomben über dem Land der Engel“. Er sei betrunken
gewesen. Sein Song war und blieb jedoch eine Verehrung des Faschismus und ein
Lob auf den Krieg. Die Strafe für solches Verbrechen betrug nach dem
kommunistischen „Gesetz zum Schutz des Friedens“ fünf Jahre Gefängnis. Als ich
an jenem für ihn folgenreichen Nachmittag meinen Kopf kurz ins Wartezimmer des
kleinen Bahnhofes steckte, bestand die Möglichkeit, dass ich ihn bewusst
belauscht haben könnte. Daran erinnerte ich mich natürlich. Dann schaute er mir
direkt ins Gesicht. Er sagte was ich bereits wusste: „Die Männer im
Dorf mögen dich und Kurt nicht!“ Verklausuliert sagte er: Ihr
macht euch mit eurer Religion zu Außenseitern. Mir war klar warum die
Inquisitoren Herbert ungeschoren entließen. Hätte er gesungen „Bomben
auf Moskau“, er wäre jahrelang hinter Gittern verschwunden und ich
wäre verloren gewesen. Doch England und Amerika waren Vertreter des
räuberischen Kapitalismus und damit Todfeinde des Kommunismus. Befriedigt ging
ich meiner harten Arbeit nach.
Am Abend des 5. April ging ich erschöpft und
früh zu Bett. Auf dem Gramelower See hatte ich Stellnetze vom Vortag gehoben
und mehrere große Hechte gefangen, sowie stattliche Barsche von deren Verkauf
ich ein Drittel der Preise erhielt. Das Schwierige daran war stets der
Bootstransport. Ein kleines Geräusch weckte mich, ungefähr um Mitternacht. Jemand
schlüpfte durch die kleine Tür. Sie zischte etwas. „Elise?“ Sie näherte
sich. Es war unsere Nachbarin, eine vom Leben enttäuschte Mutter zweier sehr
junger Söhne. Sie huschte an meine Seite: „Er ist weg!“ Sie trug
einen leichten Morgenmantel, öffnete ihn, als sei ihr zu warm. Ihr Mann, ein
kleiner, erfolgloser Bauer, verließe sie immer wieder, tagelang. "Er
ist kein Unmensch, aber er ist unhöflich zu mir, als wäre ich seine Magd. Er
stellt die verrücktesten Behauptungen auf." Sie wäre für sein
Versagen verantwortlich. Die Schweine würden Rotlauf bekommen und krepieren,
und seine Zuckerrüben wären die kleinsten. Statt ihr Geld zu geben, hätte er
Kunstdünger und Medikamente kaufen müssen. Dann war er auch großzügig und nun
befand er sich wieder irgendwo in der Ferne. Sie möchte geliebt werden...
Ich fasste zu! Doch ehe ich wieder, mich selbst kontrollierend, denken konnte,
wurde ich plötzlich von einer beispiellosen Schwärze überschattet. Die
dunkelste Nacht war nichts dagegen. Dieser Schock saß. Nie zuvor und danach
vernahm ich ähnliches. Ich wusste, dass ich ohne diese Erfahrung schweres
Unrecht begangen hätte. Fest stand, es geht immer um die Folgen… Die Seele vergisst
ja nichts. All unser Tun geht mit uns. Wie sagte mein Vater: „Was
finden die Weiber an dir kleinem Kerl?“ Fünf Monate blieb ich vernünftig. Dann
meldete sich die Natur machtvoll zu Wort. Ich dachte, gegen meine Ideale, wie
die Mehrheit meines alters. Eines Septembertages fragte mich Neumann, einer der
drei Männer, die mich bedroht hatten, ob ich daran interessiert wäre, ein paar
Mark zu verdienen, indem ich sein Feld egge. Es war eine Aufgabe, die ich noch
nie zuvor übernommen hatte. Und da ich nun dachte, dass die Herausforderung
Spaß machen könnte, stimmte ich zu. Vielleicht dachte er, er würde mir einen
Gefallen tun, um sein früheres Verhalten wiedergutzumachen. Um mich
für sich zu gewinnen, war er an den See gekommen, wo ich damit beschäftigt war,
die Fischernetze zum Trocknen über lange Stangen aufzuhängen. Er gab mir
Anweisungen, welches seiner Pferde das Beste sei, aber ich wusste nichts über
Pferde. Wie würde ich nun den Unterschied zwischen einem dunkelbraunen Pferd
und einem Rappen erkennen? Jeder im Dorf wusste, dass ein alter Zigeuner ihn
überredet hatte, den Hengst zu kaufen, den ich dann auswählte. Es war ein
gutaussehendes Biest. Und das stand neben drei anderen. Es war nicht der Gaul,
den ich anspannen sollte. Mir ging es gut und ich war zufrieden mit mir und
meiner Arbeit bis um 16 Uhr. Ich hatte noch einen halben Hektar zu
bearbeiten. Allerdings drehte sich mein Gedankenrad
leidenschaftlicher als je zuvor. Elise, an die ich erneut Tage lang
zurückgedacht hatte, feierte am nächsten Tag ihren Geburtstag und ihr Mann soll
nach Berlin gereist sein. Es war die „derbe Liebeslust“, wie Doktor Faustus sie
nach Goethes Tragödie nannte. Jetzt wollte ich eine heimliche Ehe führen – wenn
auch nur eine kurzlebige. Ich dachte, plante ungeniert Details. Alle
aufkommenden Bedenken schob ich forsch von mir. Ich hatte mich
entschieden. Diesmal werde ich, zum ersten Mal in meinem Leben, vorsätzlich das
hoch Verbotene begehen. Mit diesen Gedanken im Schädel folgte ich dem
kraftvollen Hengst, wie er die fast 4 Meter breite Egge mühelos über das gepflügte
Feld zog. Gerade als ich den Schlusspunkt hinter meine Entscheidung setzte,
fielen mir die viel zu langen Zügel aus der Hand. Ich hatte sie zu kurz und
nicht fest genug gehalten. Ich bückte mich sofort, um sie aufzuheben, aber das
nervöse Pferd rastete aus und der Huf seines Hinterbeins landete in meinem
Gesicht. Ich wusste noch nicht, dass mein Wangenknochen gebrochen
war. Ich flog durch die Luft. Es war erstaunlich, dass ich nicht das
Bewusstsein verlor, sondern mich auf Händen und Knien auf der weichen braunen
Erde wiederfand, während Blut aus meinem Mund und meiner Nase tropfte. Mir kam
sofort der Gedanke: „Schädelbasisbruch.“ Der zweite Gedanke
war: „Das geschieht dir recht. Lieber Gott, vor Jahren bat
ich: sollte ich jemals vorhaben, schweres Unrecht zu tun, bitte
halte mich auf, wenn nötig auf die harte Tour!“ Ich erkannte
selbstverständlich nicht das Ausmaß des Schadens. Alles, was ich spürte, war
ein dumpfer Druck, dessen ganze Auswirkung jedoch noch weit weg zu sein
schien. Und meine Gedanken blieben glasklar, hoffend mir würde der
große Schmerz erspart bleiben. Was mich jedoch am meisten überraschte, war die
Erkenntnis, dass ein so großer, so mächtiger Gott die Wünsche eines kleinen,
gebrechlichen Menschen nicht ignoriert hatte.
Ein Junge, der in der Nähe Gänse hütete, sah
den Unfall. Er stand plötzlich mit offenem Mund vor mir. Zu meinem eigenen
Erstaunen stand ich auf und bat ihn, das Pferd am Kopf zu packen und zum Stall
von Herrn Schulz zu führen. Im Moment musste ich Hilfe für mich selbst finden.
Auch ohne viele Worte hätte der Junge gewusst, was zu tun war. Ich begann zu
marschieren, zunächst tapfer.
Nach etwa 200 Metern hatte ich noch fast 800
vor mir, bis ich nach Hause kam. Unterwegs traf ich den alten Knecht eines
früheren Großbauern. Ich nannte ihn beim Vornamen und nahm das Taschentuch ab,
das ich an meiner rechten Kopfseite hielt, und fragte ihn: „Wie sieht
das aus?“ Er sank zu Boden wie ein Baum der gefällt worden war. Ich
hatte ja keine Ahnung, dass mein rechtes Auge aus der Höhle hing, groß und rot
wie eine reife Tomate. Meine Verletzungen boten also einen beängstigenden
Anblick. Warum sollte ein so kraftvoller Mann sonst in Ohnmacht fallen? Als er
Sekunden danach wieder zu Bewusstsein kam, sagte er kein einziges Wort. Er
rannte davon. Als ich das Haus betrat, warf Helga einen Blick des Entsetzens auf
mich und wiederholte mehrmals, verwirrt, die gleiche Anweisung: „Um Gottes
Willen! Lege dich daher!“ Sie eilte zum nächsten Telefon und rief das
Krankenhaus an, in dem Erika, ein Mitglied der Kirche, als leitende
Krankenschwester arbeitete. Als Helga völlig außer Atem zurückkam, versuchte
sie ihr Bestes, mich zu trösten. Ich brauchte ihre Beruhigung nicht wirklich.
Die Betäubung hielt an. Während sie mich wusch, und meinen Kopf streichelte
sagte sie: „Ich hatte letzte Nacht einen Traum. Oh, oh! - Aber es wird
nicht tödlich sein. Es wird nicht tödlich sein!“ Ich antwortete
ihr nicht. Eine halbe Stunde verging und wir erhielten die
Nachricht, dass Erika und der Krankenwagen im Nachbarort Godenswege angekommen
waren, wo die befestigte Straße endete ... Erika ließ mitteilen: der
Weg nach Cammin sei unpassierbar, „der Fahrer hat Angst, dass wir im
Schlamm stecken bleiben. Bitte findet Pferd und Wagen, um ihn hierher zu
bringen.“ Bald darauf legten sie mich auf einen Karren mit losem Stroh
und transportierten mich über die Hügel und Unebenheiten des offenen Feldwegs.
Über mir spielte der Herbstwind in den riesigen Kronen der Ulmen. Ich schien
ein erweitertes Bewusstsein für alles um mich herum zu haben. Ich sehnte mich
nach medizinischer Hilfe und Schutz und befürchtete nun, dass die Hölle jeden
Moment Realität werden könnte. Zu meiner Erleichterung traf nach wenigen
Minuten der Krankenwagen und Krankenschwester Erika ein, die nicht aufgehört
hatte, den Fahrer davon zu überzeugen, das Risiko einzugehen, uns zu finden. Erika
saß dann schweigend und blass, wie mir schien, neben mir, hielt meine Hand,
fühlte meinen Puls und gab mir dann eine Spritze. Ich kannte sie schon seit
Jahren. Sie war eine sehr große, schöne „Mormonin“, die auf ihrer eigenen Suche
nach der Wahrheit zur Kirche konvertierte – ich hatte sie immer gemocht. Der
einzige Nachteil, den ich fand, dass sie mindestens 10 Zentimeter größer war.
Im Krankenhaus angekommen, legten sie mich auf eine Trage, die sich kühl
anfühlte. Mehrere Ärzte standen um mich herum und schüttelten den Kopf. „Wir
können nichts tun!“ Die anderen waren überrascht wegen meiner
Seelenruhe und den Frieden, der mich zu umgeben schien. Allerdings wusste ich,
woher es kam. Ich hatte die Prügel akzeptiert, und in gewisser Weise machte es
mich glücklich. Hätte ich rebelliert, wäre mein Bewusstsein von einem Schock
zum nächsten gerutscht. Mein Schlaf war tief, drei Nächte lang schlief ich in
den sanften Armen von „Morpheus“. Aber, am vierten Tag schien es ein Pendel würde
an derselben Stelle in meinem Kopf auf eine riesige Glocke schlagen. Ich dachte
nun, ich würde definitiv verrückt, wünschte und bat inständig um weitere
Opium-Injektionen. Der Schmerz raubte mir jeden weiteren Gedanken. “Nein!“ Gegen
Mitternacht bekam ich Besuch vom renommierten Chirurgen, Dr. Kloesel. Ich
versuchte sehr, mich zu beherrschen und hörte auf zu betteln. Er plauderte mit
monotoner Stimme mit der Nachtschwester. Ich konnte nicht anders als zuzuhören
und fiel darüber in einen tiefen Schlaf, aus dem ich am nächsten Morgen nahezu
schmerzfrei erwachte. Am Abend kam Erika zu Besuch und ich fragte sie: „Wie
sehe ich aus?“ Sie sprach leise: „Dein Auge ist fast wieder in seiner
Augenhöhle.“ Sie war immer noch besorgt und kam jeden Abend, der
folgenden Woche nach ihrer Schicht, um eine Stunde mit mir zu
verbringen. Der alte Militärarzt, Doktor Buhts sagte ihr, dass er in 8
Jahren Militärdienst in zwei Weltkriegen so etwas noch nie gesehen hätte. „Wie
kann ein Auge durch innere Blutungen doppelt so groß werden? Man muss meinen,
dass es in diesem Zustand platzen würde.“ Jetzt verstand ich den alten
Traktorfahrer, ich sah aus wie der Glöckner von Notre Dame. Ich musste lachen –
er hatte etwas wie in einem Horrorfilm gesehen. Ich erinnerte mich, als sie nun
allabendlich neben mir saß, an das Jahr 1948 und die seltsamen Gefühle, die
meine Seele damals berührten: Warum bist du so groß? Nach einer Konferenz
wurden wir zu einer Seefahrt, von Warnemünde aus, eingeladen. Erika stand an
jenem Tag nahe mir, an der Reling des Dampfers und schaute auf das bewegte
Wasser der Ostsee. Wir empfanden wohl beide dasselbe: Schade!
Am nächst folgenden Silvester wollten die
Wolgaster mit einigen anderen HLT-Jugendlichen in Neubrandenburg gemeinsam
feiern. Mein Freund Ulrich Chust und ich sind – weil wir nicht genug Geld
hatten – nach Neubrandenburg gelaufen. Natürlich war dieses bescheidene Treffen
nicht zu vergleichen mit dem großen Tanz- und Spielfest im großen „Mormonen“saal
zu Cottbus, das ich aus demselben Grund 1946 besuchte. Jene Mitglieder hatten
diese Veranstaltung mit viel Engagement, Ideen und Charakter
vorbereitet. Aber auch die kleine Party im Jahr 1948/49 hatte ihren
Reiz. Am späten Nachmittag begleiteten uns die 4 Mädels aus Neubrandenburg zum
Bahnhof, der uns entlang der 150 km langen Bahnstrecke zurück nach Wolgast
bringen sollte. Allerdings war die Wanderung, die wir – querfeldein
unternahmen, nur halb so lang. Erika trug an jenem Abend einen beige-braunen
Mantel und ich fühlte mich in ihrer Nähe wohl. Das war so. Damals musste man
Bahntickets kaufen, bevor ein Nichtreisender den Bahnsteig betreten durfte. Erika gab ich zwei. Wir hatten Spaß, lachten
und lächelten uns an. Wortlos wussten wir damals, dass wir einander mehr
bedeuteten, als wir wohl jemals zum
Ausdruck bringen würden.
Jetzt, 4 Jahre später, im Krankenhaus liegend,
schaute ich sie liebevoll an, obwohl sich die Camminer Bäuerin noch in meinem
Kopf befand. Ich habe also bestimmte, einander ausschließende Bilder
gleichzeitig gesehen. Wenn Erika gewusst hätte, was nachts noch in meinem Kopf
und vor erst wenigen Monaten in meinem kleinen Zimmer vorging, hätte sie mich
wahrscheinlich nicht mit ihren Besuchen verwöhnt. Nun, das war ich. Ich hatte
jedoch zuvor nie ernsthaft darüber nachgedacht, sie zu heiraten. Dennoch: ihr
Gesicht mit diesem besonderen Ausdruck strahlte das Licht einer reinen, liebenswerten
Seele aus. So seltsam es auch schien, in den Wochen, nachdem ich nach Cammin
zurückkehrte, war das Gefühl vorhanden, dass Erika trotz unseres
Größenunterschieds die Mutter meiner Kinder sein würde. Es gab Zeiten mit dem
Gedanken sie schon seit einer Ewigkeit zu kennen. Immer wenn ich an die Neubrandenburger
Silvesterparty des Jahres 48 dachte, kehrten diese Vorstellung zurück. Vier
Monate später schrieb ich ihr und fragte ob sie einen Mann wie mich heiraten
würde. Ihr "Ja" kam prompt. Als dies bekannt wurde, erhielt sie
Warnungen aus unterschiedlichen Kreisen: „Heirate diesen Kerl nicht –
er ist ein Charmeur“, „Er ist eine verkrachte Existenz“, „Schau dir nur seine
Vergangenheit an.“ Erika weigerte sich tapfer, diesen Leuten zu glauben. Aber
was nun? Ich hatte zwar über 800 Mark erspart indem ich Versicherungspolicen
einsammelte, doch die Hälfte dieses Betrages verlor ich umgehend, wegen Verlust
einer großen Rechnung. Der Betrag konnte nicht eingezogen werden und ich
haftete dafür, gegenüber der Versicherungsgesellschaft So verlor ich 500. Vom
Rest musste ich einen Anzug kaufen, um auf dem Standesamt angemessen gekleidet
zu sein. Es stand nun die große Frage im Raum: Wo könnten wir wohnen? Auf
keinen Fall in Cammin. Aber in Neubrandenburg bestand Wohnraumknappheit.
Rotarmisten hatten noch in den letzten Tagen weite Teile der Innenstadt
niedergebrannt. Während des Krieges lebten dort 25 000 Menschen, nun infolge
des Zuzugs von 20 000 Flüchtlingen die im Osten alles verloren hatten, lebten
die Menschen zusammengepfercht. Neubauten entstanden nicht, oder nur wenn
jemand genug über Geld verfügte um eigenständig ein Haus zu errichten. Nur
Handwerker, wie Klempner oder Dachdecker konnten Summen um 40 000 Mark
aufbringen. Dennoch setzten wir den 3. Juli 53 als Hochzeitstag fest.
Kurz zuvor wurde Erika, wegen ihres aktuellen
Gesundheitszustandes, abermals untersucht. Das vernichtende Urteil der Ärzte
lautete Endokarditis lenta! Ob es wirklich die damals noch unheilbare Form der
Herzinnenhautentzündung war? Immerhin wurde diese Diagnose jedoch von anderen
Ärzten in Frage gestellt. Wie auch immer. Sie dürfte nicht heiraten. Würde sie
schwanger wäre das ihr sicherer Tod. Sie gab mir ihr Versprechen zurück. Als
Erika mir das mitteilte saßen wir im kleinen Versammlungsraum unserer Kirche
beieinander. Ich nahm es nicht an, wollte glauben, dass ihr die Ehe gut tun
wird. Neuvermählte mussten allerdings generell getrennt leben. Jahrelang. Wäre
da nicht eine Dame gewesen, die Erikas Lage erkannte… eine Altkommunistin die
Erika liebte. Sie besaß hinlänglich Einfluss im Stadtrat und verschaffte uns,
von einem Tag zum anderen, eine kleine Mansarde. Zweimal zehn Quadratmeter
groß, Küche und Wohnraum. Und mein Vater, wieder genesen, schenkte uns eine
Couch. Er würde mir auch zweitausend Mark geben, für meine dreieinhalb unentgeltlichen
Dienstjahre zu seinen Gunsten. Wir konnten die kleine Wohnung noch zwei Tage
vor der Eheschließung wirklich gemütlich einrichten. Welch ein Glück. Zum
Standesamt musste ich in Räuberzivil gehen, da der Schneider meinen
maßgefertigten Anzug erst einen Tag später, statt wie versprochen am Morgen des
3. Juli ausliefern könne. Die Standesbeamtin musterte mich unübersehbar
misstrauisch. Denn, wie sah ich aus? Einem Landstreicher ähnlich, sichtlich
unreifer als die Braut stand ich da. Ich bin ziemlich sicher, dass sie dachte,
diese Ehe hält keinen Monat. Aber sie tat tapfer ihre Pflicht und fügte uns
amtlich zusammen. Erika hingegen ging dagegen ausgezeichnet gekleidet.
Anschließend segnete Walter Krause uns. Auch er hegte sehr wahrscheinlich
insgeheim seine Zweifel. Auf dem Wohnzimmertisch der Mutter Erikas standen
Vasen mit fast einhundert rosaroten Schnittrosen der Sorte „Comtess
Vandal“. Ich hatte sie ja im Vorjahr veredelt, diese eintausend
fünfhundert Wildlinge, nun stand das ganze Feld in voller Blüte und nebenan
gediehen hunderte Apfel-Okulate. Im Herbst sollten sie verkauft werden. Die
Räume die wir als unser Heim beziehen durften, waren früher
Dienstbotenunterkünfte im Dachgeschoss. Unter uns lebten vier hochrangige
Staatsbeamte. Weitere prominente Personen wohnten in unserer unmittelbaren
Nachbarschaft. Sie und wir galten fortan als „Hausgemeinschaft“. Nach
kommunistischen Idealen musste das so sein. Wegen dieses Umstandes sollte
unmittelbar nach der Hochzeit der erste Schritt, nach Beginn meines neuen Lebensabschnittes,
ins Verhängnis folgen.
Tag X
Eine
Hausgemeinschaftsversammlung wurde wegen des gerade mit Hilfe von Sowjetpanzern
niedergeschlagenen Arbeiteraufstandes zu Berlin anberaumt. Exakt vier Wochen
waren vergangen, nachdem Staats- und Militärgewalt den Arbeiterwillen platt
walzte. Es gäbe dringenden Schulungsbedarf. Erika, nichts Gutes ahnend, - denn
sie wusste, dass ich mein Herz auf der Zunge trage, - beschwor mich, in der
Zusammenkunft, die sie schwänzen wollte, den Mund zu halten. Wir konnten uns
vorstellen, dass die hiesigen prominenten Herrschaften die aktuell
politisch-kritische, Lage schönreden würden. Nicht nur in Berlin, in der ganzen
DDR hatten die Arbeiter gestreikt. Sie sollten, laut Regierungsbeschluss, für
weniger Lohn, mehr leisten. Theoretisch hätte das Arbeiterbegehren Maßstab des
Handelns der kommunistischen Regierung sein müssen, entsprechend der Diktatur
eben der Arbeiterschaft. Alles stand Kopf, insbesondere die
Logik. Nach dem Lehrbuch war ein Arbeiteraufstand im Arbeiter- und
Bauernstaat nicht vorgesehen. Die Schuld für das eigentlich Undenkbare musste
dem Klassenfeind zugeschoben werden. Den Spitzenkommunisten war es wichtig,
wieder die Kontrolle über die Massen zu erlangen. Und das, ganz im Sinne Josef
Stalins. Dieser angeblich gütige Vater aller Erdenbewohner war gerade
verstorben. Alle, die zwischen der Beringstraße und der Elbe lebten, sollten
nun erkennbar trauern, obwohl sein tyrannisches Tun und Lassen offen zutage
lag. Aber wen immer ich traf, jeder freute sich. Hoffentlich schmort dieser
Hund in der Hölle!
Der Leiter dieses Treffens (zu dem 20 Personen
kamen) war Herr Wolf, zuvor Oberst unter Generalfeldmarschall Paulus,
Kommandeur der 6. deutschen Armee in Stalingrad (Wolf konvertierte während
seiner Gefangenschaft zum Antifaschismus). Er war clever genug diesen
Gesinnungswechsel zu Geld und Rang zu machen. Im besten Mannesalter stand er
einer der Blockparteien vor, der NDPD, die ehemalige Hitlerfreunde ebenfalls in
Richtung Links umdrehen wollte, indem sie vortäuschte „anders“ als
kommunistisch zu sein. Sie sei nationaldemokratisch orientiert. Wolfs
Wirkungsbereich umfasste ein Zehntel des Gesamtstaates. Ihm diente ein
erheblicher Stab ähnlich Gesinnter. Morgens fuhr sein Chauffeur einen
makellosen BMW vor. Zu dieser Runde gehörte Frau Dr. Edith Ackermann, etwa
35, unverheiratet, die hinreichend gewitzt war, ihren Vorgänger im Amt des
Bezirksarztes wegen dessen häufiger Trunkenheit zu ersetzen. Neben ihr saß die
Kreisärztin Frau Dr. Händel. Dann Herr Kreisvorsitzender Tesch, ein – wie ich
glaube, redlicher Mann. Der Bürgermeister eines nahegelegenen Dorfes, der junge
baumlange W. Eichler, ein Mann von bestem Ruf, neben ihm seine Ehefrau,
Kreispionierleiterin, und andere. Sie saßen geduldig und brav da. Es ging um
die Reinwaschung hoch Krimineller. Herr Guter mit Ehefrau waren ebenfalls
gekommen. Er, eine starke Persönlichkeit. Sie bewohnten ebenfalls eine
Luxuswohnung, immerhin amtierte er als Kreissekretär der SED jener Partei die
aus ehemaligen Sozialdemokraten und Altkommunisten bestand, der niemand
widersprechen durfte. Von vorne herein war dieser Parteien-Zusammenschluss eine
trickreich vorbereitete „Heirat“ von überzeugten Demokraten und
super-überzeugten Antidemokraten gewesen, die unter Normalbedingungen auf
äußerst wackligen Füßen gestanden hätte. Niemals wäre solche Verbindung
zustande gekommen, wäre da nicht die Allmacht und List gewesen die wirkungsvoll
aus dem Kreml und aus dem Hause des obersten deutschen Diktators Ulbricht kam. Entgegen
den auf dem Tisch zutage liegenden Fakten stellte Herrn Wolf den
Arbeiteraufstand unverfroren falsch dar, aber eben so, wie die Regierenden es
wünschten. Wahrheit sei doch ohnehin immer relativ. Dabei blieben die
Tatsachenwahrheiten nach Belieben eingesperrt.
Foto DPA 17. Juni 1953
Der Westen - via Radio RIAS (Radio im
amerikanischen Sektor) - hätte die Arbeiter, zum Tag X, aufgehetzt. Jeder in
diesem Raum wusste, das war eine Erfindung derer die in Erklärungsnot fest steckten,
dass Ulbricht das Unmögliche verlangte: Mehr Fleiß, für weniger Groschen. Die
Normen wurden willkürlich erhöht. Das empörte zuerst die Bauarbeiter
Ostberlins, die erst seit Kurzem mit dem Wiederaufbau der Ruinenstadt begonnen
hatten. Das eigentliche Übel bestand aber im Missverhältnis des aufgeblähten
Staatsapparates mit seiner ungeheuren Zahl an Waffenträgern aller Kategorien zu
den Werteschaffenden. 17 Millionen Menschen lebten in der DDR.
Bereits im Sommer 1952 gab es 100.000 "Kasernierte Volkspolizisten"
(KVP). Diese heimliche Armee war bereits mit Panzern, Flugzeugen und Schiffen
ausgerüstet worden. Auf je 170 Bürger kam 1 Polizist, der mindestens doppelte
so viel verdiente wie ein Arbeiter. (Und gegen Ende der DDR, 1989, gab es
zusätzlich für jeweils 200 Einwohner einen Überwacher bzw. hauptamtlichen Stasimitarbeiter.)
Ich, der zufällig in der gleichen Gegend
wohnte und der einzige, nahezu ohnmächtige Mensch war, hätte schon in der
ersten Minute platzen können. Sie logen einander die Taschen voll. An einer
nicht zufällig vorhandenen Schultafel, malte Exoberst Wolf ein Schema, das
belegen sollte, auf welch angeblich schäbigem Weg die CIA den Tag X - den
Streiktag - vorbereitet hätte. Erikas Bitte hielt mich lange fest. Aber dann
platzte mein Geduldsfaden. In diesem Raum gab es auch nicht eine Seele, die
nicht wusste, dass den Arbeitern bitteres Unrecht geschah. Panzer aus
sowjetischen Wartehallen herbei zu rufen um unbewaffnete Menschen
einzuschüchtern, war ein Skandal Ich protestierte, ich musste: „ihr
würdet anders reden, wenn dieser Staat eure Privilegien einschränken
würde!“ Shakespeares Hamlet befand sich hinter mir: „Sei
ehrlich zu dir selbst und daraus folgt wie Tag der Nacht, du kannst nicht
falsch sein gegen irgendwen.“ Mein Statement war zwar ehrlich, aber
angesichts der Situation - frech und gefährlich, und dennoch angemessen und
notwendig Alle im Raum starrten mich an. Alle waren hin und hergerissen. Ihr
Gewissen wird sich zu Wort gemeldet haben. Erika wäre bestürzt davongelaufen.
Ich jedoch wusste, dass ich nicht vom „Teufel geritten wurde“ und
fügte hinzu: „Mit einer Ausnahme: sie glauben selbst nicht
was hier behauptet wurde.“ Ich konnte es nicht zurücknehmen, ohne mich
selbst zu verletzen, konnte es nicht ungeschehen machen. Ex-Oberst Wolf sah
mich stirnrunzelnd an. Dennoch – ich war der einzige anwesende Arbeiter. Er
versuchte sofort, instinktiv, die Situation zu retten. Ich hatte immerhin die
Elite der beiden besten Parteien der Welt beleidigt. (Dr. Händel und Dr.
Ackermann waren keine Parteimitglieder, unterstützten aber deren Prinzipien.)
Kreisparteisekretär Guter und seine junge Frau, der Landrat und seine Frau
sowie andere schüttelten nur den Kopf. Insgeheim musste selbst dem
Verbohrtesten klar, sein dass meine Anschuldigung zu Recht
bestand. Und sie wussten, dass ich jung verheiratet war. Ich sollte
nun den Namen der Person unter den Anwesenden nennen die ich für unbedingt
DDR-loyal hielt, die glauben konnte, dass 1 und 1 gleich 1 ist. So dumm war ich
nicht, darauf zu reagieren. Eine Entschuldigung wurde mir abverlangt. Aber ich
verweigerte das. Dann sagte Herr Wolf: „Na ja, Sie sind noch sehr
jung!“ Das war Gutwilligkeit. Das wollte und sollte ich bedenken. Es war
ein Schritt zum Bau einer begehbaren Brücke. Er schaute mir in die
Augen, als wollte er sagen: „Sei vorsichtig! Denke an deine Frau und
ihr Glück!“ Vor mir sah ich Erika, die Hände flach vor dem Gesicht. Mir war
klar meiner Widerrede musste eine Strafe folgen. Auch das akzeptierte ich aus
Einsicht. Ich sollte eine Geldsammlung zugunsten der „Nationalen Front“
organisieren. Das war sowohl fair wie unzumutbar. Erika
wartete auf mich“! Stur durfte ich mich nicht aufführen. Eine Sammlung für das
Rote Kreuz wäre mir lieber gewesen.Erika verschwieg ich die dumme Geschichte.
Aufregen durfte ich sie auf keinen Fall. Und sie wollte glauben ich wäre brav
gewesen, so fragte sie nicht nach. Als ich konsequenterweise in den beiden
folgenden Abenden Geld einsammelte, wurde ich verhaftet. Ich hatte von einem
Polizeioffizier eine Spende verlangt. „Zeigen sie mir ihre Lizenz!“
Die besaß ich nicht, nur einen Sammelschein. Er führte mich ab. Im
Hauptquartier der „Volkspolizei“ berief ich mich auf den Auftrag den mir die
Ehefrau des Parteisekretärs der SED gab. Die Polizeichefs lachten. Jetzt
konnten sie mich packen: „Du lügst!“ „Ruft doch Frau Guter
an!“ Sie zögerten zunächst. Beim Ranghöchsten anzurufen war gewagt. Ich saß
nahebei und ihre Stimme war laut genug, dass ich Bruchstücke des kurzen
Gesprächs mithörte. „Lassen sie den Mann laufen!“
Wieder verriet ich Erika nichts
Doch ich gelobte mir, mich, ihretwegen
fortan zu beherrschen, und mich aus allen politischen Belangen herauszuhalten. Es
dauerte nur ein paar Wochen, bis ich wieder in Schwierigkeiten geriet. Erika
nahm meine Hände, sah mich sehr ernst an und gestand: „Ich bin
schwanger.“ Angst packte mich – meine Schuld. Die Ärzte
des Krankenhauses, in dem sie arbeitete, hatten sie gewarnt: Die Geburt eines
Kindes wäre zu viel für sie. Ihr Herz könnte es nicht ertragen. Wenn sie
schwanger würde, müsste sie sofort eine Abtreibung vornehmen lassen. Mit naiver
Überzeugungskraft wollte ich sie ermuntern dem Rat der Ärzte zu
folgen. Sie schüttelte jedoch entschlossen den Kopf und fügte dann
ruhig hinzu: „Ich bekomme unser Kind!“
Der Frühling und Erikas Zeit zur Entbindung
nahte. Otto Krakow, unser Gemeindepräsident, gab ihr auf meine Bitte hin einen
besonderen Segen. Alles würde gut gehen. Stunde für Stunde arbeiteten dieselben
Ärzte, die sie vor diesem Ereignis gewarnt hatten, daran, ihr Leben zu retten.
Ich saß im Flur des Krankenhauses. Dann hielt ich es nicht mehr aus und rannte
draußen herum, ging ins Kino. Nur ein paar Sekunden nachdem ich dort Platz
genommen hatte später rannte ich wieder zurück. Vor dem Kreißsaal legte ich meinen
Kopf in meine Hände und betete und flehte: „Bitte, Vater, sie hat einen
Priestertumssegen erhalten. Lass es wahr werden.” Um elf Uhr nachts
hörte ich keine Schreie mehr. Dr. Klösel kam bald darauf zu mir. Er legte seine
Hand auf meine Schulter. Sie hätten ihr Evipan injiziert: „Sie ist
durch. Sie haben einen gesunden Jungen!“- und mit einem Seufzer fügte er an:
„Gratulation!“ Ich, erleichtert, den Freudentränen nahe, fast
sprachlos, bedankte mich. Sie hatte die schmale Brücke überquert, die sie zurück
ins Leben führte.
Bewundernd sah ich, am nächsten Tag meinen
Sohn. Wie das klang: Mein Sohn. Ich war selig. Er war so zart und schön. Erika
wählte den Namen Hartmut für ihn.
Sie wurde nach der Geburt nicht nach Hause
entlassen. Sobald ich nach ungeliebter Gärtnerarbeit nachmittags konnte, stand
ich vor dem Zimmer in dem sie, neben anderen, neuen Müttern, lag, manchmal
sogar mit Hartmut. Direkt neben dem Fenster stand ein großer Apfelbaum in
voller Blüte. Sie hatten miteinander gute Sicht auf dieses Symbol glücklichen
Lebens. Später erzählte Erika, dass sie in Gedanken meine Hände umklammerte –
dass es meine Liebe und meine Gebete waren, die ihr halfen, eine tiefe, dunkle
Schlucht zu durchqueren. Gemeinsam priesen wir unseren Gott für ihre Genesung,
für seine Barmherzigkeit und Liebe, für Hartmut.
„Wenn du nun nur eine Arbeit finden
würdest, die du nicht hasst!“
Gegen Weihnachten 1953, wurde ich als Gutachter berufen. Ich sollte den Wert einer riesigen, vernachlässigten Obstplantage einschätzen. Es handelte sich um Tollenseheim. 12 km entfernt von unserem Wohnplatz. Es erhob sich umgehend die Frage: Ob ich das 10 ha umfassende Gelände gegen Fest-Entlohnung übernehmen würde. Allerdings besaß ich zur Betreuung nichts als meine beiden Hände, einen, für diese Aufgabe, zu kleinen Kopf und eine Handsäge. Wir handelten einen Monatsverdienst von dreihundert Mark aus. Bislang verdiente ich knapp 200. Erika lobte mich. Zudem verkaufte ich 500 Rosenbüsche und 600 Apfelbäumchen. Das war Geld für mehr Möbel, falls wir eine größere Wohnung bekämen. Wir genossen es Eltern zu sein. Selbstverständlich gaben wir unser Bestes um die kleine Neubrandenburger Gemeinde zu unterstützen, wir, bzw. ich versäumten keine der drei wöchentlichen Zusammenkünfte. Mir gefiel die Nähe zu Bruno Rohloff, damals 65, zu Max Pielmann einem intelligenten Konvertiten des Jahres 49, Otto Krakow und den anderen. Allesamt hatten sie ein ereignisreiches und passagenweise unseliges Leben als Gefangene oder Verwundete und Leidende des Krieges hinter sich. Ottos Knie waren betroffen, doch sein Wille erwies sich als stets optimistisch. Schier unglaublich war die Geschichte Brunos und doch nicht ungewöhnlich. Ähnlich erging es zahllosen, deren Eltern und Freunde aus dem Giftbrunnen gewisser Geistlicher getrunken hatten. Gelernter Buchhändler, schloss Bruno sich 1929, aus tiefster innerer Überzeugung unserer Kirche an, nachdem er das Buch Mormon vom ersten bis zum letzten Satz gelesen und kritisch betrachtet hatte. Sogleich erhoben sich, nach seiner Zuwendung zur Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage, schwere Proteste. Die von kirchlichen "Wahrheitsverkünder" stammenden Klischees kamen bösartig zum Vorschein. Seine Mutter, Anna Zabel-Rohloff, lief in heller Aufregung, als sie davon erfuhr, zu ihrem Pfarrer Wohlgemut in Pasewalk: "Was soll ich tun, mein Sohn hat sich den Mormonen angeschlossen?" Sie versuchte ihr Bestes, und schrieb: „Lieber Bruno, wie wir soeben (Ende Juli 1929) erfuhren gehörst Du nun dem Mormonen Klub an, mehr als das, Du willst Dich von ihnen taufen lassen, und noch mehr, Du wünschst dasselbe für Deine beiden Kinder. Was soll ich davon denken? Hast Du den Verstand verloren? Wir können uns keineswegs Dein Verhalten erklären. Welcher Teufel hat Deine Sinne überwältigt, dass Du Dich einer teuflischen Gesellschaft anschließt? Reicht Dir die lutherische Wahrheit nicht aus? Willst Du damit sagen, Du hättest keine Kenntnis?
Rechts der blinde Vater , Mutter Anna, Bruno und Geschwister
„...Der liebe Gott hat Dir doch einen normalen Verstand geschenkt. Ich kann aus alledem nur schließen, dass Du Dich hier in Pasewalk als Heuchler verhalten hast. Du erwartest von Gott Hilfe und dienst dem Teufel. Aber irre Dich nicht, Gott lässt sich nicht spotten. Wahrlich Du solltest wissen, dass da geschrieben steht. "Wer die Seinen nicht versorgt ist ärger denn ein Heide." Hast Du gar keine Bedenken Deiner Kinder wegen? Du willst Deinen Kindern die Gnade rauben die ihnen bereits durch die heilige Taufe geschenkt wurde? Mehr als das, willst Du einen Fluch auf Dich und Deine Familie und Deine Enkel ziehen? ... Bedenke wer den heiligen Geist empfing und dagegen sündigt kann nicht mehr erlöst werden.... Denke daran welche Herzschmerzen Du uns verursachst. (tatsächlich starb Brunos Mutter fünf Monate später am 16. Januar 1930) Was würde Pastor Wohlgemut dazu sagen, wenn er noch lebte? Wird er nicht am Jüngsten Tag als Zeuge gegen Dich dastehen? ... verlasse diese Sekte! ... Deine Eltern und Arnold“ 1960 Walter Rohloff, „Tagebuch“ bzw. „Under the wing of the Almighty” bei Amazon
Mein
Fazit lautete längst: alle trinitarisch orientierten Kirchen und Gemeinschaften
setzten ihre Vollkraft ein um den „Mormonen“ – der Kirche Jesu Christi der
Heiligen der Letzten Tage – auf „Teufel-komm,-heraus“ – Seitenhiebe zu
versetzen. Ich las damals eine Tolstoi-Biographie. In der sagt der berühmte
russische Graf und Schriftsteller mehrfach, dass er die Lehren und Bräuche der
ROK für puren Aberglauben hält. Seine Kirche, die Russisch-orthodoxe
exkommunizierte ihn 1901, weil er obenan die Existenz eines trinitarischen
Gottes nicht anerkennen konnte. In diesem Zusammenhang fragte ich selbst, warum
die Trinitarier sich nicht scheuen, ihren Trinitarismus als generelles
Bekenntnis hochzustellen, obwohl bekannt ist, dass er der Kirche von
heidnischen Kaisern aufgezwungen wurde. Biblisch ist diese
Glaubensrichtung nicht zu rechtfertigen.
Das bekennt das Athanasianum auch deutlich. Man muss es nur lesen und nicht
gedankenlos nachplappern. Da heißt es, dass der Polytheismus christliche
Wahrheit ist. Das wissen die Theologen sehr wohl, die in Christi Namen
erfolgten Verbrechen gehören zu den schlimmsten der Geschichte.
Wir hätten ein glücklicheres Leben führen können, gäbe es nicht den, eindeutig von Moskau geschürten, kalten Krieg. Er nahm an Intensität, wie uns zeitweise schien, Tag um Tag zu. Wir fühlten die Bedrohung des Friedens permanent. Unsere, die DDR- Nachrichten verfluchten die bösen Amerikaner, die Westnachrichten, die wir mit Erikas kleinem Radio empfingen, sagten das Gegenteil. Moskau polterte, Washington gab sich gelassen. Das Ziel der Sowjetpolitik über dem Weißen Haus die Rote Fahne zu hissen, erschien nicht mehr illusorisch. Mich bedrückte zudem, dass ich meiner neuen Aufgabe nicht gewachsen war. Mehr als sechshundert hochstämmige, uralte Apfel- und Birnenbäume mussten gefällt oder radikal gestutzt werden.
Die Baumkronen befanden sich bezogen auf die Hälfte des Bestandes in zweieinhalb Meter Höhe und wiesen eine Breite von sechs Metern aus. Bienen gab es in weitem Umfeld nicht. Die Ernten würden mager ausfallen. Schädlingsbekämpfung könnte kostspieliger sein als der zu erwartender Ertrag. Jeder Apfel müsste mit einem Stangengerät gepflückt werden. Das einst ansehnliche Gewächshaus lag in Trümmern. Andererseits bestand keine Aussicht einen besseren Job zu bekommen. Zum gesamten Areal der Tollenseheimer Obstanlage, das sich über 600 m Länge und 400 Metern Breite erstreckte, gehörte auch die (spätere Schule für Landtechnik), sowie unfruchtbare Brachflächen. Tollenseheim selbst war ursprünglich als Superhotel konzipiert. Beide Teile waren eng miteinander verbunden.
Dort traf ich auf Herrn Maque, den ehemaligen kommunistischen Kreissekretär von Neustrelitz. Er amtierte nun als Direktor der Polit-Schule für Kader Landwirtschaftlicher Genossenschaften (LPG). Ich unterstand ihm nicht und doch kontrollierte er mein Tun und Nichttun. Er gehörte zum Kreis jener fünf Menschen, von denen ich annehmen durfte, dass sie das DDR-System uneingeschränkt liebten – auch weil es ihn schützte und gut entlohnte. Er erwies sich sehr schnell als kalt berechnender Egoist. Nicht nur die Frauen mochten ihn. Sein gut geschnittenes Gesicht beeindruckte. Und nicht wenige fielen auf seine Werbungen herein. Jeder, der ihn nicht näher kannte, sah in ihm eine starke Persönlichkeit. Gelegentlich hörte ich seinen Vorträgen ungewollt zu, wenn er in meiner Frühstückspause, im Nebenraum seine kruden Ansichten laut genug preisgab. Mit Nachdruck betonte er, dass die Arbeiterklasse des Westens ihrer Verelendung entgegen geht, aber im Osten wird das Gegenteil der Fall sein. Für den Ausbau der künftigen Schul-Gebäude wurden ihm enorme staatliche Fördermittel gewährt. Letztlich soll diese Einrichtung im Wesentlichen der Indoktrination des Marxismus-Leninismus dienen. Ende 1954 verfügte er über einen riesigen Finanz-Überschuss, den er für elementare Vorarbeiten (Aufmaß und Planung) hätte verwenden sollen. Was er damit anstellte? So traf an einem Dezemberabend des Jahres eine große Ladung Sport- und Ruderboote auf ‚Tollenseheim’ ein Mir schien, dass da ein Irrtum vorliegen musste. Hausmeister Paul schob mich beiseite. Der Fahrer nickte nur. Nein, die Papiere besagten eindeutig: Auslieferung an die Bezirks-LPG Schule, Tollenseheim, bei Neubrandenburg. Wir kratzten uns die Köpfe und zuckten die Achseln. Paul Schmidt und ich waren Menschen, die unterschiedlicher kaum sein konnten. Er, eins achtundachtzig, extrovertiert und athletisch gebaut, ich, schmal wie ein indischer Hungerkünstler. Ich liebte es zu meditieren, Paul war lebensprühender Akteur. Ich liebte meinen kleinen Sohn, er seinen Hund. Aber über den Wellenbinder, ein Speedboat, das wir als erstes auf dem großen LKW entdeckten, wunderten wir uns gemeinsam.
Paul begab sich ins Haus um Herrn Herbert
Maque, den Chef, zu informieren. Ich fragte mich in der Zwischenzeit, ob unsere
noch kleine LPG-Schule sich ein Boot dieser Klasse leisten konnte, das
schätzungsweise dreißigtausend Mark kostete. Er kam eiligst an. Herbert M.,
ungefähr fünfzigjährig, schritt auf seinen langen dünnen Beinen schnell und
federnd. Von dem Augenblick an, als er sich dem großen Ferntransporter näherte,
hatte der schneidige SED-Genosse Maque vorübergehend keine Augen mehr für die
vorbei flanierenden, jungen Lehrgangsteilnehmerinnen. Seine Sinne richteten
sich vor allem auf den als Vorderkajütboot ausgestatteten Flitzer. Wie ein
Wiesel rannte er um den LKW herum, schwang sich auf die Pritsche und mahnte nun
auch die anderen zur Hilfe herbeigerufenen Männer: „Vorsicht, Vorsicht.
Seid bloß vorsichtig mit dem Motorboot.” Tatsächlich kümmerte sich
Maque ausschließlich um das teure Luxusboot persönlich. Kaum hatte es Platz
gefunden in seinem wintersicheren Unterstand, wandte er sich wieder höheren
Aufgaben zu, - oder dem was er für lebenswichtig hielt. Etwas, das er überhaupt
nicht verheimlichte. Die Paddelboote, darunter eine teure Vierer-Gig ,
wurden einfach unter einem der alten Apfelbäume gestapelt, so wie man rohes
Holz lagert. Niemand, der ihm auch nur ein paar Minuten lang zugehört hätte,
wie er mit seinem feurigen Temperament die Ausbeuter aller Eigentumskategorien
verurteilte, hätte geglaubt, dass Genosse Maque sich solche Rechtswidrigkeit
gestattete. Auch er bestätigte damit indirekt die Regel, dass sich
die Vernunft der Prinzipienlosen, der Leidenschaft unterwirft. Als ich kurze
Zeit später an der zwei Kilometer von Tollenseheim entfernt liegenden
Fernverkehrsstraße F 96 drei etwa 20- jährige Mädchen weinend sah, ahnte ich
etwas. Ich fragte nach, und die Antwort lautete "Wir waren ihm nicht zu
Willen!" Direktor Maque schickte sie mit einer schriftlichen
Erklärung, die albern war, in ihre Genossenschaftsbüros zurück. Es machte ihm
offensichtlich nichts aus, Tatsachen zu verdrehen. Er galt, schon wegen seines
Parteiabzeichens als respektabler Mensch. Paul und mir musste er nicht
weismachen, er benötige den Flitzer für Besorgungen in Neubrandenburg. Mit dem
Lieferwagen „Framo“, der ihm ja zur Verfügung stand, war er allemal schneller.
Selbst wenn Maque das Schnellboot bis zur Tür eines Lebensmittelgeschäfts hätte
vorfahren können, blieb der Benzinverbrauch eines Wasserfahrzeugs pro Kilometer
Fahrt mindestens doppelt, wenn nicht sogar dreimal so hoch. Eindeutig war es
sein Vergnügungsfahrzeug. Als angeblich ergebener Verteidiger eines
Staatssystems, das sozial gerechter gegenüber seinen Bürgern sein wollte,
agierte er verräterisch. Wie lange kann das gut gehen? Die acht oder zehn
Paddelboote und die Vierergig lagen noch tagelang draußen.
Einer der sie überragenden Apfelbäume bot aber keinen Schutz, vor zu
erwartenden Unwettern. Die hohen Baumkronen boten auch keinen Schutz vor
fliegenden Pfeilen und rotweißen Messstäben. Techniker hatten sie in die Garage
gestellt und möglicherweise längst vergessen. Bedenkenlos wog ich, an einem der
Arbeitstage zwischen Weihnachten und Silvester 1953 eine der speer-ähnlichen
Stangen. Verwegen schleuderte ich sie, aus der offenen Garage, in der, zwischen
zerkrümelten Briketts, auch der Lieferwagen “Framo” stand, Mein Stab flog hoch
über die Boote hinweg vielleicht mehr als zwanzig Meter weit. Paul, mit seinen
strammen Muskeln, ein ehemaliger, wider Willen-Waffen SS-ler, übrigens,- und
sehr selbstbewusst, war überzeugt, er würde gewiss doppelt so weit, wie ich Knirps
werfen. Aber schlecht gepackt, noch mieser geworfen. Krachend bohrte sich die
stählerne Stabspitze in den millimeterdünnen Rumpf der aus Mahagoniholz
gefertigten Vierergig. Sie hatte genau so viel Geld gekostet, wie Paul und ich
zusammen in einem halben Jahr verdienten. Der schwere Mess-stab vibrierte noch,
als wir aufgeschreckt hinliefen um dem entsetzlichen Bersten und Brechen des
dünnen Bootsrumpfes ein Ende zu bereiten. Wir schauten als erstes zum schräg
rechts oben liegenden Fenster des alten Stammhauses, das wie eine Villa aussah.
Weder Herbert Maque noch seine Wirtschaftsleiterin Inge ließen sich blicken.
Sie hatten es also, zum Glück, nicht gehört. Paul, kühn wie immer, verzog keine
Miene seines ohnehin ruhigen, großflächigen Gesichtes. „Schnell!”, sagte
er. Ich half ihm. In meinem Hinterkopf regte sich die Befürchtung, Paul würde
mir die Schuld in die Schuhe schieben. Natürlich wollten wir keinen Skandal.
Gemeinsam schuldbewusst, aber gerissen genug, trugen wir das irreparabel
zerstörte Sportboot gemessenen Schrittes ins nahe liegende ehemalige
Hühnerhaus. Diese Behausung war eine aus morschen Brettern bestehende ziemlich
große Baracke. Schlau gedacht bauten wir sämtliche Paddelboote davor auf. Wenn
es gut ging, kam es nicht heraus, bevor der große Neubau stand und das konnte
noch zwei, wenn nicht drei Jahre dauern. Sollten wir uns irren? Aber zunächst
war da der Gedanke, den wir ebenfalls teilten: Nach uns die Sintflut. Hingegen
sagt ein altes deutsches Sprichwort: “Nichts ist so fein gesponnen, dass es
nicht käme ans Licht der Sonnen!“
Stegebauer
Für das Vorderkajütboot des Herrn Maque musste ein Anlegesteg gebaut werden. Hausmeister Paul machte sich an die Arbeit. Gegen die Grundregel verzichtete er darauf, Leinen zu spannen, an denen entlang die Pfähle zu rammen wären. Sein Machwerk sah dementsprechend aus. Eher einem zufällig entstandenen Schrotthaufen ähnlich, als einem Werk von Menschenhirn und -hand, stand das Unding krumm und windschief da, sogar gefährlich wacklig. Eine Schande! Als ich auf dem von Paul zusammen geschusterten Laufsteg entlang ging, wurde mir schlecht. Meine Mitarbeiterpflicht war, ihm zu sagen, dass er vielleicht ein guter Ehemann und bestimmt ein hervorragender Hundeliebhaber sei, aber vom Stegebau keine Ahnung hat. Danach muss er versucht haben, ebenfalls ohne Schnur, die ungleichen Bretter auf die Verbinder zu nageln. Während ich nun versuchte, meine kritischen Bemerkungen zu relativieren (wie man heute zu sagen pflegt, wenn man aus Gründen der Höflichkeit die Wahrheit zu verbiegen beabsichtigt) kam ein sonderbarer Lehrgangsteilnehmer anspaziert, ein großer, steckendürrer Mann. Von Gesicht und Gestik wirkte er wie ein Sektenprediger des vergangenen Jahrhunderts. Er kam uns vor wie einer, der gerade in einen sauren Apfel gebissen hatte. Für einen Meisterlandwirt hätte ihn wohl niemand gehalten. Der Mann setzte die großen Schritte ganz bedächtig. Als er die Bescherung sah, wurde sein langes Gesicht noch länger. Er schlug buchstäblich die Hände über dem Kopf zusammen und blieb nachdenklich stehen. Soviel Mist auf einem Haufen hätte er noch nie gesehen. „Abreißen!” Dieser Mann war ein Brigadier! Kommandieren konnte er schon. „Abreißen?”, fragte Paul, gleich wutentbrannt.
So etwa war es geplant:
„Rüchtig!”, erwiderte der große Dünne und machte eine weitere abfällige Bemerkung. Paul zog mich beiseite, zu den Pfählen hin, die ungeordnet im Gras herumlagen: „Den Kierl schmiet ick int Woter!” ("Den Kerl schmeiße ich ins Wasser!", flüsterte er. Wahrscheinlich sah Paul selber ein, dass er keine Glanzleistung vollbracht hatte. Nur, er wusste nicht, wohin mit dem Ärger. Ich kannte ihn. Dieses Zucken seiner Augenlider verriet das Ausmaß seines mit Erregung gepaarten Leichtsinns. Hinterhältig fragte er den Bauernbrigadier, ob der für ihn noch einen guten Rat parat habe. Arglos, die hohe Stirn gefurcht, erwiderte der etwas schrullige Fremde zustimmend: Am seeseitigen Ende des Anlegesteges müsste ja sowieso noch der Kopf des Laufsteges gerammt werden. Er, an Pauls Stelle, würde restlos alles ‚abräumen’ und dann da, in dreißig Meter Entfernung einen starken Pfahl hinstellen und von ihm ein kräftiges Seil zum Land spannen und dann... Lebhaft machte der uns beiden so großmäulig erscheinende Mensch die dazugehörigen Arm- und Handbewegungen. Sogar mich reizte sein Befehlston. Paul nickte mir vielsagend zu und fragte den Mann, ob er sich denn auch zutraue, mit ihm und uns aufs Wasser zu fahren, um ihn vor Ort zu beraten. Schließlich käme es ja auf den Eckpfosten an und den könnte man gleich in den weichen Seeboden hineinstoßen. Kurioserweise akzeptierte der Fremde. Warum nicht? Echt treuherzig schaute Paul jetzt drein. Das Mienenspiel unseres künftigen Opfers drückte dagegen eindeutig seine Hilfsbereitschaft aus. Und so machte der Ahnungslose mit seinen Halbschuhen einen eleganten, akkuraten Satz vom Land ins Boot, das sich immerhin in gut einem Meter Entfernung von ihm befand. Er wankte nur kurz, setzte sich dann bedächtig auf die kleine Heckbank, zupfte seine Hosennaht zurecht, zog eine Shagpfeife aus der Hosentasche, stopfte sie aufreizend langsam mit Tabak, entzündete sie seelenruhig, sog den Qualm in sich, blies ihn selbstzufrieden in die blaue Frühlingsluft und schaute sich um. Offensichtlich genoss der ein wenig snobistische Ackerbauer die Aussicht auf die Schönheit der Landschaft, während er paffte und geduldig der Dinge harrte, die kommen sollten. Paul hatte indessen den kräftigsten unter den herumliegenden Pfählen ausgesucht. Er richtete ihn auf. Das war fast ein Mast, dazu knochentrocken und deshalb nicht zu schwer. Scheinbar fachsimpelnd weihte Paul mich in Details seines Planes ein. Als hielte er seinen ärgsten Kritiker schon am Genick, schüttelte Stegebauer Paul den Pfahl, wie man im Herbst einen Pflaumenbaum rüttelt. Wir nickten. Wir meinten bei uns, über dem zwei Meter tiefen Wasser, wenn wir da denn angelangt wären, würden wir den Starkpfahl mit Schwung fast einen Meter tief in den weichen Grund hineindrücken. Paul zog sein flächiges Gesicht schief und kniff sein linkes Auge zu. Auf Plattdeutsch sagte er "Ich trete auf den Bord und du auch." Ich war längst mit dem Späßchen einverstanden und lachte vergnügt. Dieses Bild! „Naja”, dachte ich, „ein Bad im Freien hat noch niemandem geschadet!” Uns beiden war natürlich klar, dass das Oberflächenwasser des Tollensesees Anfang April sich trotz tagelanger Sonneneinstrahlung kaum erwärmt haben konnte. Dafür war der See zu tief. Sobald man bloß die Hand in seinen Rachen steckte, biss das Wasser noch kräftig zu. Mit unseren Gummistiefeln durch Wasser und Morast patschend, trugen wir ein zweites Langholz zum kleinen Ruderboot, schoben es so behutsam, wie es uns möglich war, zwischen die Schuhe und Beine unseres gemütlich rauchenden Gastes. Sobald wir uns von Land abgestoßen hatten, schaukelte der Kahn in den Wellen, die durch das Gelege hindurch wogten. Aber das war ungefährlich, obwohl der Nordostwind auffrischte. Das Schaukeln des Kahns kam uns wie gerufen. Wir überaus erfahrenen und eitlen Bootsmänner grinsten einander an. Vor Ort angekommen nahmen wir den ersten Pfosten, steckten mit ziemlicher Anstrengung seine spitze Nase ins bewegte Wasser und richteten ihn einigermaßen aus. Wir hatten noch so viel Zeit uns an unseren Berater zu wenden. „Rüchtig so!”, bestätigte der kühne Bauer. Das untere Ende unseres Pfahles war vom Eigengewicht bereits vier, fünf Dezimeter tief in den weichen, tonigen Grund eingedrungen. Entschlossen spannten wir unsere Muskeln. Paul griff weit nach oben, allzu weit allerdings. Er wollte die Schwere seiner gut neunzig Kilogramm zur vollen Geltung bringen. Gleichzeitig sprangen wir auf den schmalen Bord, des grünrot getünchten Ruderbootes. Jetzt gab es keine Rettung mehr. Jetzt kippte der lange, aufreizende Kerl samt seiner Shagpfeife über Bord. Jedenfalls war dies die bunte, auch von mir verinnerlichte Illusion. Aber, wieso denn ich? Es machte nur Patsch! „Äh und Bäh!”, schrie ich. Mehr nicht, und ruderte schon gewaltig und peitschte das Eiswasser atemringend, das mich in den Hintern und in den Hals biss, den ich schwanengleich so hoch wie möglich reckte. Dabei genoss ich eben noch das Plinkern dieser himmelblauen Hausmeisteraugen und die Vorstellung, wie der andere das erfrischende Bad nimmt. Urplötzlich hatten meine flatternden Hände äußerst heftig und dennoch sehr vergeblich in die kühlen Frühlingslüfte hineingegriffen. Gewaltig trieben mich die Urinstinkte an. Schnell, schnell! An Land, an Land! Ins Trockene! Mit einem einzigen Blick, während ich noch eisern kraulte, sah ich Paul. Der klebte noch am Pfahl. Mit seinen Füßen hatte er das Boot ungewollt weit von sich gestoßen. Vom Brustkorb abwärts kam ich mir vor wie ein Eisklotz. Dicht unter meinem Bewusstsein dagegen klapperten meine Zähne wie spanische Kastagnetten. Land unter Füßen, wandte ich mich sogleich wieder um. Da! Immer noch, wie ein verstörtes Affenbaby, mit enorm verkürzten Armen und Beinen, klammerte Exelitesoldat Paul sich verzweifelt an den kräftigen und doch nun so unverlässlichen Pfahl. Die Wellenspritzer nässten schon seinen Hosenboden, denn sein Halt neigte und neigte sich, wenn auch ganz langsam. Ich war fasziniert. Noch zwei Sekunden vielleicht. Länger hielt ihn das Holz nicht über Wasser. Da tat er einen urigen Schrei. Heftig, wie ein startender Schwan, mit seinen Schwingen auf das Wasser einschlagend, krächzte er markerschütternd: „Himmel….. und Wolkenbruch!” Weiter kam er nicht. Es verschlug ihm die Luft. Ein paar hastige Bewegungen noch, dann hatte auch er den Schilfstreifen erreicht. Mit wilder Kraft richtete sich der bibbernde Gardesoldat auf. Statt dankbar zu sein, dass sein Herz noch schlug, schrie er, je weiter er in Sicherheit kam, Unanständiges. Der unschuldige Meisterbauer, für den dieses Bad bestimmt war, nahm erst jetzt die Pfeife aus dem Mund. Er machte eine salbungsvolle Geste, bevor er uns Anweisungen gab. Ich hörte es kaum noch und rannte so schnell ich konnte. Später sagte er: Man muss immer versuchen, sicher zu stehen oder sich gut am Boot festzuhalten. Wie er. Er klemmte den Pfeifenstiel zwischen seine roten Lippen, und demonstrierte, wie er sich verhalten hätte.
Die Liegewiese
In den Märztagen 1956 glaubte ich, es
sei gut, das Gras auf der so genannten, eintausend Quadratmeter großen
Liegewiese, abzubrennen. Ohne zu bedenken, dass Feuer im Freien, wenn es
trockene Nahrung findet sich auch seitlich und somit, wenn auch langsam, gegen
die Windrichtung ausbreiten kann. Ich entzündete die Grasfläche mindestens
zweihundert Meter weit von der Hühnerstallbaracke entfernt, in der die
demolierte Vierergig, die Ruderbote, und die Kanus sorgfältig
übereinandergestapelt lagen. Allerdings kam vom Flächenbrand angesaugt, im
Handumdrehen mehr Wind auf. In zwei Richtungen breitete sich das Feuer aus. Das
Hauptfeuer lief auf die versteckten Boote zu. Und schon züngelten die Flammen
in die fünf herrlichen Omorikafichten hinein. Sie standen direkt vor der für
mich so wichtigen Baracke. Wütend auf mich, riss ich die wie
Zunder brennenden Clematis Ranken herunter. Ich entdeckte, erschrocken bis ins
Mark, dass die Flammen schon unmittelbar an den dürren Brettern des flachen
Hauses leckten. Immer wieder warf ich mich mit meinen blauen Latzhosen mitten
hinein ins knisternde Feuer, bis mir die Luft ausging. Ich wälzte mich in den
Flammen. Von bösen Vorstellungen getrieben, hörte ich die Gespenster lachen. So
schnell wie er aufgekommen war, brach der Spuk zusammen. Zwar perlte noch Teer
vom Pappdach, doch er entzündete sich nicht mehr. Mein Kopf sank auf die Brust,
ich atmete tief auf. Herbert Maque sah eine halbe Stunde nach dem letzten
Aufbäumen des gefährlichen Feuers die schwarze Wiese und die teilweise
angesengten Omorika. Er strich, seine langen Beine behutsam setzend, um den
Hühnerstall herum und hielt den markanten Kopf wie ein witternder Fuchs.
Bemüht, die ärgsten Spuren zu verwischen, arbeite ich auf dem Gelände eifrig,
buddelte ein Loch um die wenigen nur halbverbrannten Ranken einzugraben und
dachte besorgt, jetzt zeigt er dir seine Zähne. Doch als Maque näherkam,
schaute er mich eine ganze Weile nur vielsagend an, als wollte er
ausdrücken: Jetzt sind wir quitt! Du begingst, wie ich, nur
eine Dummheit, ohne Folgen. Es war ihm also nicht einerlei gewesen, dass ich
ihn eine Woche zuvor mit einer Dame in bestimmter Position gesehen hatte, als
ich in sein Büro hereingestürmt kam. Das geschah, weil ich meinte, er hätte
mich hereingerufen. Vielleicht wären wir wirklich quitt gewesen. Doch es gab da
die noch nicht entdeckte Gig, und, hätte ich keine weiteren Fehler begangen. Denn,
mich manchmal nur auf mein Gefühl verlassend, redete ich bei Gelegenheit mit
mir unbekannten Leuten offen über meine nicht staatskonformen
Ansichten. Ich selber hatte in den ersten Nachkriegsmonaten zu viel
gesehen. Verschiedene Exbaltendeutsche und andere Augenzeugen, vor allem
ostpreußische Flüchtlinge, hatten mir zudem entsetzliche Geschichten erzählt,
die allesamt bewiesen, dass nicht wenige Offiziere der Roten Armee, die
Raubgier ihrer Soldaten zuließen. So erfuhren wir auch mehr und mehr
Einzelheiten, von Ereignissen in Russland, die Ähnliches bewiesen. Wie brutal
nämlich die kommunistische Allmacht mit Oppositionellen umging. Bei mir waren
all diese Berichte gut aufgehoben. Sie bestätigten mich in meiner Ablehnung und
Gesinnung: diese neue Gesellschaftsordnung darf sich nicht durchsetzen. Ich
werde mich ihrer Ideologie widersetzen, wo ich kann. Mitunter war ich deshalb
unvorsichtig und sprach darüber mit Leuten die ich lediglich für
vertrauenswürdig hielt. Hin und wieder hörten wir, dass es Menschen gab, die
unser Vertrauen nicht verdienten. Was hätte ich antworten sollen, wenn mir die
Männer des DDR-Staats-sicherheitsdienstes jemals die Frage gestellt hätten,
warum verbreitest du Antisowjetgeschichten?
Irene
Schulleiter Maque lud häufig
Gastdozenten in sein Haus. Darunter befand sich eine freundliche,
fünfundzwanzigjährige rotblonde Dame, die Vorlesungen im Fach Philosophie
hielt. Sie hieß Irene K., sah gut aus, war ein wenig korpulent und von ganz und
gar offenem Wesen. Sie lachte gerne, aber sie hatte etwas an sich, das Männer
nicht unbedingt mögen. Sie konnte herausfordernd frech blicken. Maque stellte
sie kurze Zeit später als feste Lehrkraft ein. Am letzten Apriltag 1956 grub
ich, gut dreihundert Meter vom Haus Tollenseheim entfernt, mit einem Spaten
eine Ackerfläche um, die mit Tomatenstauden besetzt werden sollte. Da sah ich
die Philosophiedozentin unerwartet auf mich zukommen. Selbst wenn ich sie nie
gemocht hätte, allein die berechtigte Vermutung, dass sie ihr graues,
gutsitzendes Kostüm für mich angezogen hatte, blieb nicht ohne Wirkung, denn
alle Lehrer und Schüler befanden sich im Kurzurlaub. Nur sie und mich gab
es noch. Ringsum standen im Geviert riesige Birnenbäume, die selten oder nie
Früchte trugen. Das Gelände lag unmittelbar am friedlich blinkenden See. Sie
lächelte schon von weitem, als sie den Weg zwischen den gerade grünenden
Apfelbäumen herunterkam. „Ich muss doch mal gucken, was unser Gärtner
den ganzen lieben, langen Tag so treibt.” Ihre helle Stimme vibrierte.
„Ob er überhaupt was zuwege bringt?”, lachte ich zurück. Sie
schaute mich freundlich an, als wollte sie sagen: Einen Tag vor dem ersten Mai,
am Nachmittag, müsse man es nicht übertreiben. Sie lade mich zu einer Tasse
Kaffee ein. Sie möchte mit mir über die biblischen Paulusbriefe reden. „Es
faszinierte mich, dass du sie kennst!” Einmal hatten wir darüber
gesprochen und ich hatte geäußert, die zweitausend Jahre alten Briefe
enthielten noch so manche, für uns interessante
Botschaft. „Und welche?”, wollte sie daraufhin wissen. „Dass
wir tun müssen und in die Tat umsetzen, wovon wir überzeugt sind, dass es
richtig ist.” „Das liest du da heraus?” „Der Kern der
Paulusaussagen ist keineswegs, was die Protestanten daraus ziehen, sondern eher
umgekehrt: dass der Mensch ernten wird, was er sät.” Ihre Erwiderung
lautete: „Das klingt ja nicht unvernünftig!” Natürlich war ihr
völlig gleichgültig, was ich mit kritischem Blick auf die Lehre beider
Großkirchen meinte. Die Sonne wärmte uns, während wir plauderten. In einer
ihrer nächsten Vorlesungen käme das Thema Glaube und Wissen vor. „Mach’
Schluss für heute, lass uns oben gemütlich Platz nehmen und darüber reden.” Ich
wollte nicht nein sagen. Sie war so höflich gewesen nicht zu formulieren: Was
du denkst, ist trotz alledem kurios.
In ihrem Zimmer umfing mich augenblicklich ein Gemisch aus Nelkenduft und dem Geruch von ‚Großer Freiheit’. Aus der Diskussion über Paulus, Luther, Bauernkrieg und evangelischer Rechtfertigungslehre wurde natürlich nichts. Schade! Denn ich verdammte die Ansichten jener schwachsinnigen Protestanten, die meinten der liebe Gott würde schon alles richten, wenn sie nur an seinem Namen und ihrem vagen Glauben an ihn festhielten. So jedenfalls, mit derartigem Selbstbetrug, kann die Welt kein besserer Wohnplatz werden! Aber eben darum geht es, wird es immer gehen, solange wir uns nicht zum Tierhaften zurückentwickelt haben. Ich war entschlossen, der klugen Dame zu sagen, dass die Welt selbstzerstörerischen Charakter hat, weil ihr Liebe fehlt, jene Liebe die ihre Echtheit durch gewisse Selbstlosigkeit beweist, denn ich war gewillt mich von ihr nicht, auf Kosten des Lebensglückes meiner Frau, einwickeln zu lassen. Vielleicht kann man einmal Herzen ersetzen, die Treue nicht. Auch aus dem Kaffeetrinken wurde nichts, denn ich nahm Selterswasser zu mir. Sie saß, die Beine übereinander geschlagen auf dem Sofa. Ich glaube, dass ich stocksteif an ihrem Zimmertisch saß und halb verlegen, halb verwirrt, mit den Fransen ihrer gehäkelten Decke spielte. Sie sprach über Homers Nymphe Kalypso und in spöttisch lockendem Ton über Männer wie Odysseus, Calypsos Verehrer. Sie sei jedenfalls keine ‚schön dumme’ Penelope, die artig daheimsitze und unentwegt wartend bloß Strümpfe für ihren Mann strickte, während der eine andere bezirze. Sie nickte, als ich sie anschaute. „Meiner sitzt jetzt irgendwo in Rostock bei einem Weibsbild herum und spielt den Seelentröster!” Ich werde nicht einen Augenblick länger hier oben in ihrem Zimmer herumhocken, sondern lieber zu meiner kleinen Familie zurück radeln. Gerd, du bist nicht der Mann, der umfällt. Es ist besser inkonsequent zu sein, als verräterisch. Ich lenkte, abschließend, das Gespräch auf meine Ansichten zum Kommunismus. Man kann leicht von andern verlangen, sich korrekt zu verhalten. Die Dozentin lächelte, aber nur aus Höflichkeit. Sie schätze Leute, die denken können. Nicht gerade versteckt war meine Attacke auf die marxistischen Weltverbesserer, die alles verändern und verbessern wollten, außer sich selbst. Herbert Maque und diese Frau vor mir, würden alles tun, um mir zu beweisen, wie gut und schützenswert die DDR und ihr Sozialismus seien. Gleichzeitig zeigten beide nicht das geringste Schutzinteresse gegenüber seiner und meiner Frau. Würde ich auch nur kurz berühren was mir untersagt ist, müsste ich auf mein Recht verzichten, den Kommunismus vehement abzulehnen. „Die ganze Philosophie nützt nichts, wenn wir sie einfach so deuten, wie es uns momentan passt!“ Obwohl meine Worte wenig präzise waren, glaube ich, dass sie verstand, was ich meinte. Frau Irene sah mich an wie jemand, der über den Rand ihrer Brille schaut. Sie stimmte mir zu, zumindest teilweise, wenn auch mit brüchiger Stimme. Ihre Augen blitzten plötzlich vor Wut, weil ich aufstand. Ich ging davon. Wenige Tage später saß ich wieder an dieser, im Tollenseheim, nach Nordwesten gerichteten, großen Fensterwand und schaute sehnsüchtig auf den weit unten im Tal liegenden langgestreckten, wunderschönen See. Seinen geschwungenen Buchten folgte mein Blick zu gerne. Das herrliche von riesigen Buchen-beständen und seinen großen Hügeln umrahmte Gewässer lockte mich stärker denn je zuvor. Seine ihn umgebenden Mischwaldhänge umrahmten ein Gemälde wie von Claude Monets Hand gemalt. Da kam ein fremder, stattlicher und auffallend gut gekleideter Mann in die geräumige Veranda herein, ein Buchhalter, wie ich richtig vermutete, der mir nur kurz seinen Namen nannte und nach knapper Frage neben mir am Mittagstisch Platz nahm. Ohne uns je zuvor gesehen zu haben, fassten wir zueinander schnell Vertrauen. Ich hätte wissen müssen, dass nur drei Meter entfernt, über uns, ein Lautsprecher hing, in den ein Mikrofon eingebaut worden war. Maque wollte doch unbedingt mithören, was seine Schüler privat sagten. Hausmeister Paul hatte mir das schon Wochen zuvor erzählt und mir, in Maques Abwesenheit den großen metallenen Schaltschrank gezeigt und erklärt wie das funktioniert. Ich wusste allerdings, dass der Herr der Schule und seine blutjunge blonde Geschäftsführerin Inge gegenwärtig, mit dem Kajütboot, sich auf dem Weg in die 10 Kilometer entfernte Kreisstadt Neunbrandenburg befanden.
Foto:
Touristinfo
Neubrandenburg 18 qkm Tollense 4 qkm Lieps
Es war dieses Gefühl von innerer
Übereinstimmung, das mich in den vielen Jahren nie verlassen hatte, das Gespür
wie weit und wem ich mich öffnen durfte und wem nicht. Es dauerte nicht lange,
bis wir die übertriebene Parteiloyalität der Philoso-phiedozentin Irene ins
Visier nahmen.
Er war Theaterkritiker – und ich, sagte ich,
versuche, „Theater“ zu schreiben. Wir kamen kurz zurück auf die
Ansichten der Lady Irene. Ich plauderte aus, dass sie überaus freundliche
Männer gerne hat. Da lächelte er. Er kannte sie. Sie gehöre zum neuen
Frauentyp. Er lachte erneut, aber sein Lachen klang hart. Nach einer Weile des
Schweigens wechselten wir erneut zurück zum ursprünglichen Thema: Über den XX.
Parteitag der KPdSU und die Absetzung Stalins, tauschten wir unser erstaunlich
komplementäres Wissen und unsere Meinungen aus. Wir verdammten den Aufmarsch
von Panzern gegen Unbewaffnete, und dass in Polen antikommunistische
Demonstrationen ebenfalls gewaltsam beendet wurden. Mein Gesprächspartner
wusste, was ich noch nie zuvor gehört hatte, und ich wusste von Ereignissen,
die in sein Bilderbuch passten, als hätte er schon lange danach gesucht. Wir
konnten kaum ein gutes Haar an der Verwirklichung dieses Sozialismus lassen. Warum
kam mir nicht in den Sinn, dass Irene die Philosophielehrerin, eventuell mithörte?
Die Rohheit eines Systems, das uns keine Wahl ließ, quälte uns. Zu viele Leute,
deren Namen und Gesichter wir sehr gut kannten, hatten sich für ihre Karriere
entschieden, obwohl sie ähnlich wie wir dachten und fühlten. Andererseits war
uns bewusst, dass die große Geschichte so chaotisch, wie sie zum Dritten Reich
Hitlers verlaufen war, sich niemals wiederholen darf. An sich war ein
Experiment wie der Sozialismus berechtigt. Aber nicht als Abenteuer ohne
Rücksicht auf Verluste. Bereits der Urgrund, den Lenin in der Sowjetunion
gelegt hatte, erschien uns beiden als unerträglich. Mehr als das. Nicht wenige
kommunistische Funktionäre handelten wie die „Elitechristen“ des vierten
Jahrhunderts. Diese frommen Typen hatten es gewagt, der ganzen zivilisierten
Welt den Stempel eines erbarmungslos-diktatorischen "Christentums"
aufzunötigen. Sie legten die Basis für die spätere Inquisition. Nach diesem
Muster agierten die Staatsmänner des jetzigen Ostens Einmal würden die
Historiker offenlegen, wie viele Millionen Menschenleben zwischen 1917 und 1937
infolge dieser Art der Revolution allein in Russland vernichtet wurden. Beide
Jahrgang 30, hatten wir vieljährige Erfahrungen, mit dem auf uns zielenden
pausenlosen Propagandatrommelfeuer des Stalinismus, hinter uns. Wie so viele
andere hatten auch wir uns wundgerieben an den uns unsympathischen Parolen, die
in uns undifferenzierten Hass auf den “Kapitalismus” hervorrufen sollten. Hass
sollte gesät werden. Er musste als Pflanze des Verderbens aufgehen! Wir
empfanden sehr stark, dass es den maßgeblichen Kommunisten vorrangig um die
Vernichtung der Demokratie ging. Das war es, was uns wie die Vorstufe zur
Sklaverei erschien. Als einziges Mittel zum Überleben unserer prodemokratischen
Ansichten blieb uns nur der Versuch einander in der Ablehnung zu bestärken.
Ähnliches wagten Hunderttausende in diesem Lande, vielleicht sogar Millionen.
Und doch war es nur ein Aufblasen der Backen gegen den gewaltigen Oststurm. Ziemlich
unvorsichtig bezeichnete ich in jener Mittagsstunde Lenins Dekret über den
Boden als glatte Lüge. Lenin habe nie anderes als die schließliche
Verstaatlichung des Bodens gewollt. Die bitterarmen Muschiks jedoch, an die
sich das Dekret richtete, mussten glauben, wenn sie sich auf Lenins Seite
stellten, dann bekämen sie selbst, für immer, ein Stückchen Land zu eigen. Die
vom mörderischen Krieg ausgezehrten, von Heimweh, Hunger, Läusen und Tod
geplagten Russen hörten auch heraus, dass Lenin den Krieg sofort beenden wolle.
Ja, dass sein erstes Dekret überhaupt ihrem ureigensten, dringlichsten Wunsch
entsprach: „Alle Frieden! Frieden!” Von klaren aber auch unnennbaren Hoffnungen
getrieben, mussten sie in Lenin den Erlöser sehen. Vorausgesetzt sie würden
seinen Aufrufen Folge leisten, gelangten sie durch einen einzigen Schwenk ihrer
Hüften aus der Hölle direkt ins Paradies.
Wir beide glaubten, dass Lenin vorsätzlich so verfänglich geschrieben hatte.
Sein wahres Gesicht zeigte er, nur drei Jahre später, in seinem Brief „Tod den
Kulaken!”, den man, wie ich es selbst getan hatte, in jeder Lenin-Gesamtausgabe
nachlesen konnte. Eine ganze Klasse, nämlich sämtliche Mittelbauern Russlands,
gab er - wenn auch aus dem berechtigten Zorn über einige tatsächliche
Verbrecher - unterschiedslos dem Verderben preis. Das waren Millionen
Todesurteile! Jeder mit einer Pistole bewaffnete Neidhammel, der glaubte, er
hätte noch eine offene Rechnung mit diesem und jenem Mittelbauern, kam mit
Leninsätzen daher, um an sich zu reißen, wonach ihn gelüstete. Namens der
Partei und der Wahrheit wurden Menschen aus Machtgründen schutzlos. Bauern
wurde das Saatgut gestohlen, Soldaten sinnlose Befehle erteilt. Nonnen wurden
verhaftet und alle zogen die Köpfe ein, weil angeblich Klassenkampf herrschte.
Wehe dem der aufmuckte. Die Zeitung vom 22. Januar 1956 hatte ich aufgehoben.
Den Ausschnitt trug ich bei mir. Ich zeigte, meinem Gesprächspartner, zwei
Passagen, die mir ins Auge fielen. Auf einer Innenseite der Zeitung des
Zentralkomitees der SED “Neues Deutschland” wurde #berichtet, wie der
Frankfurter Obermagistralrat Dr. Julius Hahn, Mitglied des westdeutschen
Arbeitsausschusses der Nationalen Front aus einer Tagung heraus verhaftet
wird: „Wir sitzen, hatten gerade das Hauptreferat gehört...plötzlich
beim Mittagsmahl stürmen auf ein Trillerpfeifenzeichen 20 uniformierte
Polizeibeamte in den Saal, riegeln ihn ab, verlangen in barschem Ton von den
Anwesenden die Ausweise…” Das Blatt der Kommunisten (der SED) “Neues
Deutschland” beklagte das Ausmaß der Gewalt: den Einsatz von Trillerpfeifen und
das Verlangen Ausweise vorzuweisen. Das sei nicht zu rechtfertigende
Brutalität. Und wie sollen wir das nennen was in 1953 in Ostdeutschland
geschah, als Panzer einen Arbeiterstreik niederwalzten? Und wie das was die
Bolschewisten trieben? Er oder ich fügten hinzu: „Bilder,
Originalbilder aus den Tagen der Nachrevolution müsste man sehen, dann wüssten
wir, was in Russland zwischen 1917 und 1956 wirklich geschah, das wir gutheißen
sollen.“ Das hier, in der Ostpresse, vorgespielte Mitleid galt Dr.
Hahn, den Sympathisanten der Kommunisten: Berthold Brecht, der große
ostdeutsche Theatermann, wurde in diesem Zusammenhang zitiert. Auf dieses
Brechtzitat legte ich den Finger. „Eurem Bruder wird Gewalt angetan,
und Ihr kneift die Augen zu! Der Getroffene schreit laut auf, und Ihr schweigt?
Der Gewalttätige geht herum und wählt sein Opfer, und Ihr sagt, uns verschont
er, denn wir zeigen kein Missfallen. Was ist das für eine Stadt, was seid Ihr
für Menschen? Wenn in einer Stadt ein Unrecht geschieht, muss ein Aufruhr
sein…” „Der gute Mensch von Sezuan“
Wer aber empfand Mitleid mit den nicht
verbrecherisch handelnden Kulaken der Leninzeit? Und was passierte im
sogenannten Arbeiter- und Bauernparadies? Er und ich befanden uns in
Aufruhr. Zunehmend seit Jahren. Wir erlebten hautnah, dass
schon Ende 1945 sämtliche Landeigner die mehr als 100 Hektar bewirtschafteten,
alles verloren: Haus und Hof und Viehbestände. Nun 1956 drohte der Staat
sämtlichen Bauern eine besondere Art der Enteignung an. Die bis dahin
selbständig arbeitenden Besitzer sollten Lohnempfänger werden, indem sie
zwangsweise gemeinsam in Genossenschaften leninscher Art, Weisungen ausführten.
Wir unterschieden sehr wohl zwischen gewaltsamen und freiwilligen
Zusammenschlüssen, die es ebenfalls gab, wenn auch sehr selten. Tag für Tag
flohen DDR-Bürger in den Westen, die ihren Besitz gegen die Freiheit
eintauschten. Meine Gedanken mussten, wegen der Behauptung, die meine Kirche
erhob, dass es bald nach dem Tod der Apostel einen Abfall von den echten
Prinzipien gab, immer wieder zurück in das 4. Jahrhundert wandern. Damals übten
angeblich fromme Männer um Ambrosius von Mailand denselben Glaubensterror den
Lenins Schergen praktizierten. Gnadenlos wurden da wie hier zehntausende
Familien ins Unglück gestürzt, die sich weigerten nach der Pfeife eines
Diktators zu tanzen. Ambrosius und Lenin trieben ihre Fraktionen in jahrelange
Kriege, da gegen Ostgoten, die zu hunderttausenden in Italien siedelten und
Toleranz übten und hier dieselbe Art der Machkämpfe unter sehr stark ähnelnden
Parolen. Ambrosius und Lenin wollten die einzig Guten sein. Wer sich gegen sie
stellte, wollte das Böse. Ambrosius „Kirchen“-politik sollte Menschen bis ins
19. Jahrhundert hinein quälen. Wir sprachen in sehr scharfem
Ton über einen Fall absolut ungerechtfertigter Aufruhr-Niederschlagung in der
SU. Da war der nur wenigen bekannte, jedoch zuverlässig überlieferte Aufstand
der Kronstädter Matrosen, 1921, gewesen. Nur dreieinhalb Jahre nach der
Errichtung der Sowjetmacht klagten die Matrosen der Schlachtschiffe
“Sewastopol” und “Petropawlowsk”, dass die Arbeiter in den Kronstädter
Staatsunternehmen der Sowjetunion „wie die Zuchthäusler zur Zarenzeit” behandelt
wurden. Auf Lenins Befehl hin ließ Kriegskommissar Trotzki die Aufständischen
zusammenschießen. Da hatten Mitmenschen eben nur Mitleid gezeigt, eben das was
Bertolt Brecht sich wünschte, indem er forderte: „Wenn in einer Stadt ein
Unrecht geschieht, muss ein Aufruhr sein!“ Doch gerade die Partei, der
auch Bert Brecht diente, zerschmetterte gnadenlos den Aufstand Mitfühlender.
Wie passte das zusammen? Buchhalter Günter vermochte es mir sehr anschaulich zu
schildern, wie die Truppenteile der Roten Armee über das Eis des finnischen
Meerbusens vorrückten und wie sich die Artilleristen der eingefrorenen
Schlachtschiffe vergeblich gegen den Sturmlauf ihrer in Weiß gekleideten
Waffenbrüder verteidigten. Ich stimmte ihm zu: Wenn das wahr sei! Dann hätte
man Lenin allein für diese Ruchlosigkeit in Ketten legen müssen. Gerade,
als ich das aussprach, fiel mein Blick auf das Gerät zu unseren Köpfen. Vor
Schreck blieb mir der Bissen im Halse stecken. Die Ikone des Kommunismus hatte
ich besudelt. So dumm zu sein, wie ich, musste bestraft werden. Eine Minute
später hörte ich, wie Irene K. die Treppe herunterstieg. Das typische Klappern
ihrer hohen Absätze klang allein schon bedrohlich. Ich sah diese blitzenden
Augen, als sie sich uns näherte und wusste Bescheid.
Als leibhaftiger Racheengel wird sie sich nun
erweisen. Aber wir hatten doch leise gesprochen. „Die Empfindlichkeit
eines Mikrofons der neuen Generation ist beträchtlich.” Dieser Satz
eines Technikers kam mir in den Sinn. Namens der Diktatur des
Proletariats waren wir der Dozentin, wenn sie wollte, ausgeliefert. Ich werde
ihr die Stirn bieten! So, so, sagte der andere Teil meiner Selbst: du wirst
deinen großen Schnabel zuhalten du bist Familienvater und Ehemann. Aber,
trotzte ich ziemlich hilflos, die einzige Diktatur, die mein Gewissen je dulden
wird, ist die meiner eigenen Vernunft über die Leidenschaft. „Dafür schuldet
ihr mir Rechenschaft!”, hörte ich sie schon im Voraus tönen und
sogleich sahen meine inneren Augen Männer der Stasi. Dafür, dass wir uns
herausgenommen hatten, sie persönlich zu kränken. Dafür, dass wir uns
herausgenommen ihre Partei und den großen Denker Lenin beleidigend zu
kritisieren. Sie wusste nun, dass wir Ulbrichts System als seelenknechtend
betrachteten. Ihrerseits gab es, selbstverständlich, keinen Zweifel an der
Richtigkeit des Weges, der Zwang als politisches Mittel einschloss. Sie war
mehr als eine Dienerin des Systems und wir ihre Verlierer. Innerlich
verteidigte ich mich ununterbrochen gegen eine mögliche Anklage: Zwang,
gleichgültig, von wem angewandt, verkehrt die beste Sache der Welt in ihr
Gegenteil. Wisst ihr das nicht? Erniedrigte Frauen müssten unsere Gefühle
verstehen können. Dozentin Irene ging an uns vorbei. Nur einen einzigen, wenn
auch sehr sonderbaren Blick gab sie mir. Es ereignete sich nichts, noch nicht.
Doch Ungewissheit kann schlimmer sein als die ungute Gewissheit. Das war es,
womit sie regierten. Es braute sich etwas Gefährliches gegen mich zusammen. Es
lag in der Luft.
Einige Tage später, Mitte Mai erfuhr ich, dass
mein Gesprächspartner, der Buchhalter Günter, wahrscheinlich verhaftet worden
sei, oder, und das war nicht auszuschließen, er hatte sich in den Westen
abgesetzt. Jedenfalls sei er spurlos verschwunden. Das war natürlich zweierlei!
Im Westen zu sein oder im Gefängnis zu sitzen. Verhaftet! Herbert Maque und
andere hatten es mir schon mehrfach zu verstehen gegeben: Wer gegen die DDR
hetzt, der spricht der Friedensfeinde Sprache. Einige Tage nachdem ich vom
Verschwinden Günters erfuhr, fauchte mich die Philosophielehrerin im Waschraum
an: „So nicht!” Was meinte sie mit diesem unbestimmten,
unvollendeten Satz? Ich holte mein Fahrrad aus dem Keller, wollte heimfahren.
Da sah ich Braun, einen der neu eingestellten Lehrer, neben Irene K. stehen. Er
löste seinen Arm, den er um ihre Schulter geschlungen hatte. Braun kam dann auf
mich zu. Er war klein, sogar ein wenig kleiner als ich. Sein Ausdruck
allerdings war der eines Giganten. Er machte scheinbar vielsagende Gesten. Ich
betrachtete seinen kahlen Kopf, seine glatten Züge, um ihm nicht in die
provokant ausforschenden, hellen Augen blicken zu müssen. Unter dieser
Schädeldecke bildeten sich Worte und Sätze gegen mich. Das war nicht zu
übersehen. Nicht so sehr überraschte mich deshalb, dass er formulierte: „Wir
werden sie wohl hoppnehmen müssen!” (Er meinte wir werden dich hinter
Gitter bringen müssen) Braun schien zu wissen, was ich dachte. Er sagte: „Wegen
subversiver Tätigkeit.” Erst als ich mit meinem Rad davonfuhr
und seine und ihre Blicke im Rücken zu spüren glaubte, fiel ich in Panik. So
leicht hatte der Neue es daher gesagt, als hätte er gemeint, morgen ist auch
noch ein Tag zum Teetrinken. Bezog er sich auf das Abbrennen der
Wiese? Hatten sie die zerstörte Gig entdeckt? War, was
die Dozentin über die Abhöranlage vernahm, nur der I-Punkt? Reimten beide sich
des Buchhalters Günters Bemerkungen wegen noch mehr zusammen? War
Günter ein Spitzel gewesen? Du wirst für die unverzeihliche Sünde bezahlen. Lenin
durfte alles. Im Namen der Revolution durfte er tun, was er für erforderlich
hielt, selbst wenn sämtliche Nicht-roten allesamt daran verreckt wären. Wo
gehobelt wird, da fallen Späne. Ich ließ zu, dass es in mich hinein
hämmerte: „Heiligtümer besudelte niemand ungestraft. Du hast ihre Sache
in den Dreck getreten. Geschieht dir recht, wenn sie dich hoppnehmen.“ Mit
diesem Schock, die Gitterstäbe vor Augen, fuhr ich heim. Ich trat in das
Pedalen und schwitzte vor Aufregung. Otto Krakow, mein Gemeindepräsident und
zugleich mein väterlicher Freund, beruhigte mich. „Subversiv? Was heißt
das? Tollenseheim steht doch noch. Bange machen gilt nicht! Lass dich nicht ins
Bockshorn jagen!” Er hatte gut reden. Das Wochenende verging. Am
Montagmorgen versicherte ich mich, ob Braun die Gig entdeckt haben könnte.
Nein. Es geschah so gut wie nichts, außer dass meine Gefühle
verrücktspielten. Hatte ich mich umsonst aufgeregt? Hausmeister Paul
ging in dieser Woche überraschend von Tollenseheim weg und ich beschloss,
dasselbe zu tun.
Am Sonnabend den 2. Juni 1956
…las ich in der Presse, die in der Veranda der
LPG-Schule auslag, die Produktionsgenossenschaft werktätiger Fischer “Tollense”
suche umgehend zwei Saisonarbeiter, Das schien mir das ein Wink des Himmels zu
sein. Zögern? Nicht eine Minute. Herbert Maque legte sein ernstes Gesicht in
tiefe Falten und entließ mich erstaunlich zurückhaltend sofort aus der Pflicht.
Eigentlich war er nicht mein Vorgesetzter. Die Kündigung hätte ich beim
örtlichen Landwirtschaftsbetrieb Groß Nemerow (ÖLB) einreichen müssen…
Erika schlug die Hände über dem Kopf zusammen: "Das
ist die unterste Stufe auf die du dich dann begibst!“ "Na
und? Das ist meine Chance, wo soll ich sonst hin? In ein Büro wo ich über dem
Studium toter Zahlen einschlafe?" Ich sollte die Männer allesamt
sehr gut kennen lernen. Buchhalter Adolf Voß hob die Stirn als er mich sah und
betrachtete: „Sie gehören hier nicht her. Das sind alles raue
Gesellen…“ Ich lachte. Raue Gesellen haben meistens ein gutes
Herz. „Na, ja,“ seufzte er: „für sechs Wochen!“ „Hast
du schon einmal bei windigem Wetter in einem kleinen Boot gestanden?“ lautete
die Frage des Vorsitzenden Bartel, Überlebender des 2. Weltkrieges und
ehemaliger Gefangener in Russland: „Ja, bei Kurt Meyer, Cammin, aber
schon früher auf der Peene, in Wolgast!“ Für sechs Wochen!“ erwiderte
er.
Es begann mit einer Nachtschicht – und die
hätte gleich die letzte meines Lebens sein können. Es waren allesamt fast
verfaulte niedrige kleine Fischerkähne.
Das waren die Männer mit denen ich lange Jahre zusammenarbeiten sollte:
Görß, dritter von
rechts, war allen in jeder Hinsicht weit überlegen, darüber hinaus furchtlos
und ehrlich.
Beladen mit den Großnetzen ragten sie nur gut
vierzig Zentimeter über dem Wasser-spiegel. Die Netze sahen ebenso verrottet
aus, wie der kleine Schlepper, ein uraltes Motorboot. Der wurde von einem
ballernden 12 PS Dieselmotor angetrieben. Dieser Kutter wies am Bug ein
faustgroßes Loch auf. Seine drei Wasserkammern waren groß genug um 5 Tonnen
Fische aufzunehmen. Aber ich ahnte gleich. 5 Tonnen Fische fangen, an einem
Tag? Dann sähe alles hier, einschließlich der grünen kleinen Baracke, nicht so
primitiv aus. Mir wurde das Heckteil im rechten Kahn zugewiesen. Kaum
einen Kilometer hinaus auf den tiefschwarzen Tollensesee angekommen, zuckten
erste Blitze. Das Wasser geriet in immer heftigere Bewegung. Die nur knapp
einen halben Meter über glattem See aufragenden Bordwände der nebeneinander
liegenden Zugnetzkähne boten nun bei zunehmendem Wellengang wenig Sicherheit.
Da stand ich nun und wurde vom aufgeregten See bespritzt. Ich nahm die vor mir
liegende Schaufel und entleerte mein Boot vom eindringenden Wasser. Vom
aufkommenden Sturm geschüttelt stießen beide Kähne rhythmisch
gegeneinander. Dabei nahmen wir immer mehr Seewasser über. Mein
Partner Kurt, ein wegen Alimentenklagen aus Westdeutschland in den Osten
geflohener Familienvater ärgerte sich über die Spritzer und über mich. Er war
betrunken und nahm an, ich hätte ihm absichtlich eine Ladung Wasser ins Gesicht
geschaufelt. Sofort hob er seine Pätsche (Ruder) und ich duckte mich instinktiv
hinter den Netzballen. Nur deshalb traf er mich nicht. Das Gewitter ging so
schnell es gekommen war vorbei. Was wir mit dem ersten Zug in dieser
Nacht fingen war erbärmlich. Meine Aufgabe bestand darin knapp 200 Meter der
zwölf Meter hohen Netzwände über Bord zu hieven, während die beiden
„Vorder“fischer mit ihren Rudern den Kahn parallel zum Land vorwärts zogen.
Dann liefen die Stahlseile der Winden ab. Nach zweihundert Metern wurde
geankert und das insgesamt 400 Meter lange Zugnetz wurde heran
gewunden. Nachdem das mit Muskelkraft getan war, ruderten wir wieder
aufeinander zu, ankerten erneut im Schilf und zogen mit Windenkraft das Netz
zurück in die Arbeitsboote. Alles in der Hoffnung im riesigen Wadensack zehn
Zentner Fische vorzufinden. Aber es waren nur wenige Kilogramm minderwertiger
Plötzen. Nach vier Nächten Wadenfischerei fühlte ich mich erschöpft, weil ich
nicht gewohnt war, tagsüber zu schlafen. Es gelang mir einfach nicht ins
Traumland zu gehen. In der fünften Nacht, die uns guten Fang bescherte, fiel
ich gegen 3 Uhr morgens auf der Eismiete um. Es oblag mir, aus dem schützenden
Mantel Sägemehl, die im Winter vom See eingesammelten Eisblöcke herauszuholen,
um schließlich die in Holzkisten liegenden Fische zu kühlen. Keine Ahnung, wie
lange ich ohnmächtig auf der weichen Schutzschicht, in dieser warmen
Sommernacht, lag. Dennoch, die Arbeit sagte mir zu, weil es immer wieder die
Nerven spannte, was da mit dem nächsten Hol zu erwarten war. Tatsächlich, eines
Tages, nach längerer erfolgloser Fischerei wurden wir überrascht. Direkt hinter
den Trümmern der ehemaligen Torpedo-versuchsanstalt gelang es uns, einen
Riesenschwarm großer Barsche zu fangen. Alles sah zuvor trostlos aus. Zwei
Tonnen exzellenter und weitere zwei Tonnen kaum weniger wertvoller Fische
füllten die Kammern des dickbauchigen Kutters. Von da an ging es aufwärts. Tag
für Tag brachten wir tonnenweise Qualitätsfische auf die Sortierbank. Wir
belieferten auch Berlin. Und, wie das Leben so spielt: Mikusch, ein
junger Familienvater setzte sich im Juli 1956 alleine in den Westen ab, - als
politischer Flüchtling, wie er sehr wahrscheinlich vorgab - und ich durfte
bleiben und seine Stelle einnehmen… Sie nahmen mich, wenige Wochen später, auf
meine Bitte hin als gleichberechtigtes Mitglied in ihr Genossenschaft auf: „Siehst
du!“ sagte ich mir „nur die Sache ist verloren, die man aufgibt.“ Sie
akzeptierten, dass ich nicht mit ihnen Schnaps oder Alkohol anderer Art trank.
Sie akzeptierten, dass ich sonntags nicht arbeiten wollte, sondern mit Erika
und Hartmut „zu Kirche“ ging. Sie fanden es fremd, dass ich immer ein Buch
mitnahm. Sie akzeptierten sogar meine kleine Reiseschreibmaschine. Wenn wir bei
ungutem Wetter zu sechst in der Fahrerkabine und beim Höllenlärm des großen
Dieselmotors mit seinen gewaltigen Schwungrädern eng beieinandersaßen, hielt
sie der eine oder der andere geduldig auf Knien, denn die Festzeitung, die ich
machte, verhalf ihnen zum Lachen über sich selbst, da ich sie spassvoll
skizierte. Sie fühlten, dass ich sie gerne hatte. Jeder von ihnen
hatte seine Sonnenseite. Kurt, der mich in der ersten Nacht bedrohte, lag nach
einer durchzechten Nacht unter dem großen schäbigen Tisch der Fischereihütte,
allerdings umgeben von fünf seiner Mitfischer. Sie hatten unfertigen „Rumtopf“
konsumiert. Das war es, was mich oft bekümmerte. Kurz danach lag Kurt wieder
betrunken mitten auf dem Netzboden. Einer stieß ihn unsanft mit seinem Stiefel.
Ich sagte: „Wie soll der Mann aufstehen, wenn du ihm in den Hintern
trittst!“, auch das wurde akzeptiert. Kurts unselige, neue Frau, die
Mutter seiner beiden Töchter, weinte sich eines Tages bei mir aus. Er schlug
sie, brach in seiner Wut ihren Arm. Er konnte die vielen Niederschläge die er
in Kriegs- und ersten Nachkriegszeiten erlitt, nicht wegstecken. Nun verdiente
er nicht genug. Wegen der aus dem Westen erfolgreich geführten Alimentenklage
musste er Lohnabzüge hinnehmen. Er wohnte miserabel. Er hasste sich selbst
wegen seiner Alkoholsucht. Dann lag er im Krankenhaus. Die Ärzte wussten keinen
Rat. Ich besuchte ihn. Zum ersten Mal in meinem Leben nahm ich die Hand eines
Mannes um sie länger fest zu halten. Am nächsten Morgen kam Bärbel, seine Frau
zu mir: „Kurt hat die Nacht durchgeschlafen, das Fieber ist wieder
runter. Es geht ihm besser.“ Eigentlich ist es normal. Jeder braucht ein
wenig Anerkennung. Ich hatte versucht, sie ihm zu geben. Fritz
Biedersteadt war ein völlig anderer Typ. Wenn er trank und vom „Dienst“ spät
heimkehrte wurde er gelegentlich vom Ehebett seiner Lebensgefährtin verbannt. Dann
musste er in einer anliegenden Dachkammer seinen Rausch ausschlafen. Darüber
lachte er, sich selbst verspottend und zugleich selbstbewusst. Als
vierzehnjähriger ergab sich für ihn die Möglichkeit hochherrschaftlicher Diener
zu werden und zwar im Berliner Haus der Freifrau von Stein. Nie verwandte diese
Dame von Welt, der er jahrelang angehörte, ein niederes oder tadelndes Wort,
oder gar ein Schimpfwort. Aber es gab im vornehmen Haus einige weibliche
Bedienstete, die einander nicht immer mit Freundlichkeiten bedachten. Er
lernte dort ausgesuchte Höflichkeiten und betont gutes Benehmen einerseits,
andererseits das pure Gegenteil. Er konnte sich elegant ausdrücken,
ausgenommen, nachdem ihm der Alkohol die Selbstkontrolle nahm. Ein ganzes Jahr
hindurch standen wir, tags oder nachts gemeinsam an der eisernen Handwinde und kurbelten
das Zugnetz gegen den Wasser - und Bodenwiderstand ans Ufer, zu uns heran. Er
malte seine Vergangenheit in vielen, aber nie übertriebenen Farben. Fritz
war ein Erzähltalent und Stimmungsmacher. Er gab mir einen Rückblick in die 20
er Jahre der mich zur Frage führte, ob es je unter uns Erdenkindern eine Zeit
gab, in der Menschen ihr kleines Glück, wenigsten für eine beachtliche Weile
ungetrübt durchleben durften? Meister und Fischereipächter Ernst Peters Senior,
stellte ihn 1921 als Hilfsarbeiter ein, nachdem Freifrau von Stein sich
gezwungen sah, ihren Lebensstil zu ändern. Der alte Peters war Neujahr 1929 am
Ende. Der Strick an den er sich erhängen wollte, war bereits befestigt, an
einem Balken seines großartigen Wohnhauses am Neubrandenburger Oberbach. In seiner
Verzweiflung gab er die letzten Pfennige für Schnaps aus. Da fingen seine
Getreuen mit ihren Fangnetzen, die unter Eis von Loch zu Loch gezogen wurden
auf einen Schlag 20 Tonner Brassen allererster Klasse. Fische nach denen die
Berliner Großhändler seit Wochen vergebens riefen. Die Jüdinnen waren versessen
darauf. Für mehr als drei Seiten wurde dieser Fang zum Glücksfall. Zigtausend
Goldmark fielen dem dauertrunkenen Mann in den Schoß. Mit Links legte er dem
Kämmerer der Stadt die Pachtsumme auf den Tisch. Er bezahlte seine
Schulden. Aber ihm und seiner Familie wurde es nicht zum Segen. Der
Teufel Alkohol behielt ihn im Griff. Die Zeit verging wie im Fluge. Aber ich
wollte verantwortungsbewusstes Subjekt sein. Ich wollte so gut es ging gegen Unfreiheit
ankämpfen. Es gab zu viele Anlässe aufzubegehren, um zu schweigen.
Das jedoch war nach wie vor gefährlich. Mehr und immer mehr Bürger sahen, dass
die Lebensweise die ihnen der Staat aufzwang zu einer für sie unerträglichen
Bürde wurde. Sie packten ihre Koffer und flüchteten in die Freiheit. In der Nähe von Cammin begegnete ich,
schon Jahre zuvor, als ich die Hagelversicherungsscheine gegen Provision
verteilte, ein junges Bauernehepaar. Es handelte sich um die Besitzer von 60 ha
Land und Wiesen. Die schmale Mutter trug ein vielleicht einjähriges Kind auf
dem Arm, das Größere hielt sie an der Hand. Sie schaute mich mit einem
Augenausdruck an, der mir unvergesslich blieb. Er stand in Lederstiefeln
daneben, ein Mann wie aus dem Bilderbuch. Er schaute mich ebenso ernst an. Seit
200 Jahren seien sie Bewirtschafter derselben Scholle. Unternehmer, wie er,
waren dem Staat ein Dorn im Auge. Nun spüre er den Druck alles zu verlieren
zunehmend. Ehe das Wirklichkeit wird, müsse er handeln: „Wir
gehen in den Westen!“ Alleine das offen zu sagen war im Land des „real
existierenden Sozialismus“ gewagt. Aber er schätzte mich richtig ein. Einer wie
ich würde ihn nicht verraten. Es war die Summe der vielen kleinen geschickt
oder plump angewandten Schikanen, die ihn forttrieb. Sie wurde von
Leuten ausgeübt, die glaubten nun sei ihre Stunde gekommen. Er wird seine
Kinder nicht Lehrern überlassen, die deutsche und europäische Geschichte
fälschten. Ständig behauptete die SED-Presse, mit der Veränderung
der Besitzverhältnisse in ihrem Sinne, würde mehr Gerechtigkeit geschehen.
Nicht die organisch heranwachsenden Erfordernisse sollten den weiteren
Entwicklungsverlauf bestimmen, sondern die Parteiprogramme Suslows, Stalins und
Ulbrichts. Aber in jeder Ehe würde sich der Partner zu Recht auflehnen, wenn
mit ihm lieblos, „nach Programm“ verfahren würde. Seitens des Staates
flogen die roten Signale und Kommandos rasend schnell. Immer wieder
wurde auch den Bauern vorgeschrieben was sie zu tun und zu lassen hätten.
„Ich weiß selbst was ich als Landwirt zu tun habe!“ Das in etwa war der
Inhalt unseres Gesprächs, ein oder zwei Tage vor der Flucht dieser
liebenswerten Menschen. Hermann Göck, Vorsitzender der
Bezirksparteikontrollkommission der SED, Altkommunist, Bewunderer Ernst
Thälmanns, den er persönlich kannte, war Ehrenmitglied und Berater unserer
Genossenschaft. Ich kannte ihn bereits seit Sommer 1956, kurz nachdem ich ihr
Mitglied wurde. Es gab regelmäßig wiederkehrende Schulungen die in unserer
kümmerlichen Baracke abgehalten wurden. Der überaus gutmütig Bezirksfischmeister
Jochim, eine ehemaliger Ostpreuße hielt sie ab, und Göck kam gelegentlich dazu,
der dringend wünschte, wir würden geschlossen in seine Partei eintreten. Aber
keiner wollte. Im Gegenteil.
Ende August 57
Wir erlebten eine ziemlich deftige Ausein-andersetzung
zwischen Göck und Görß. Otto Görß war, was erst Monate später offen zutage lag,
ein technisches Genie. Er baute dann die erste Unter wasserschneide-maschine die
DDR-weit funktionierte. Kein
Ingenieurbetrieb der DDR brachte das bislang zustande. Obwohl es dafür
dringenden Bedarf gab. Auch er wollte aus dem Elend hochkommen. Er verglich
westdeutschen Wohlstand stets mit der Armut des Ostens. Selten nahm Otto ein
Blatt vor den Mund.
Da saßen wir 14 Genossenschaftler beieinander
in diesem 4 mal 4 Meter kleinen „Kulturraum“ und vernahmen Eduard Jochims und
Hermann Göcks Lobreden auf die Vorzüge des Sozialismus der DDR-Prägung. Göck
eins achtzig groß, schlank von angenehmen Äußeren schwärmte noch, als Otto
Görß, Vater von sechs Kindern, ihn kühn unterbrach: „Ich habe als
Soldat während des Krieges weite Teile der Sowjetunion gesehen, sowohl die
unendlich vielen strohgedeckten Hütten der russischen Kolchosbauern, wie auch
die staatlichen Kulturpaläste.: „Ihr macht alles mit dem Daumen der Gewalt.“
Das sagte er in Plattdeutsch: „Ji moken allens mitn Dumen!“ Dabei
drückte ihn nach unten auf eine unsichtbare Platte, mit leicht gequältem
Gesichtsausdruck. Otto wurde Binnenfischer in der Hoffnung er könne seine
Familie leichter ernähren und neue Fangideen entwickeln. Aber die künstlich
niedrig gehaltenen Fischpreise hinderten ihn zu mehr Wohlstand zu kommen. Die
steinharte kommunistische Machart verursache Magendrücken. Er bekräftigte: die
Rücksichtslosigkeit mit der die Ost-Welt befriedigt aber auch reglementiert und
unterworfen werden sollte, läge brutal offen. Ausgerechnet mich schaute
der Altkommunist so an, als sollte ich ihm Beistand gegen die Argumente Ottos
leisten. Offenbar war Göck unbeirrbar davon überzeugt, dass die neue Generation
gar nicht anders konnte, als seinen umdüsterten Ideen, die er für taghelles
Licht hielt, begeistert zu folgen. Ich gab den aufmunternd gemeinten Blick zwar
freundlich, wie ich glaube, zurück, konnte mich jedoch nicht bremsen. In
mir lebten ja all diese Widersprüche, hier wenige großartige Sowjetsoldaten und
da die ungeheure Masse der Primitiven. Hier die kleine Gruppe Idealisten die
eine bessere Welt unter eigenen Opfern hervorbringen wollen, Männer wie Herr
Kell der uns dummen Bengel vor dem Abtransport nach Sibirien bewahrte. Da
aber war die unübersehbare Menge Karrieristen die nichts weiter wünschte als
persönliche Vorteile erlangen. Leute die nur „absahnen“ wollten, die auch
dann noch wegschauten, als offensichtlich wurde, dass Nordkorea Südkorea
verwüstete, mit dem Ziel die ganze Halbinsel in Besitz zu nehmen, als niemand
mehr leugnen konnte, dass Stalins Direktiven den Hungertod von Millionen
Ukrainern verursachten. Dies geschah in einem Land das prädestiniert war,
riesige Weizenüberschüsse hervorzubringen. Und ich sah im Geist
immer noch das rote Banner am Friedländer Tor auf dem in Großbuchstaben, noch
vor wenigen Tagen frech geschrieben stand: Stalins Geist lebt! Aber, wie
glücklich waren Abermillionen vor drei Jahren zu hören dieser Tyrann, der
wochenlang Todeslisten erstellte, sei tot. Aus vielen Elementen des roten
Parteiprogramms ließ sich, wie aus dem braunen Hitlers, Schaum schlagen,
mehr nicht. Nicht laut, doch deutlich, nach diesen Reflektionen, zitierte ich
die Parteipresse des Vortages: „Da muss sich vieles von Grund auf
ändern! sagte selbst Chruschtschow.“ Göck reckte seinen langen
Hals noch länger. Seine Augen rollten vor Schreck und ich fuhr fort: „Ich
habe auch die Zeitungsberichte des „Neuen Deutschland“ vom 4. März 56
aufbewahrt. Walter Ulbricht erklärte dort, was keiner erwartet hätte:
Stalin ist kein Klassiker des Marxismus. Damit distanziert er sich
vom Persönlichkeitskult um Stalin. Und dann, Chruschtschows Enthüllungen…“
Göck unterbrach mich, ziemlich erbittert: „Welche Enthüllungen?“ Rostig klang
seine sonst klare Stimme. Meinte er wirklich wir seien blind? Mich trieb es zu
sagen: „Und Walter Ulbricht räumte auf der Berliner
Bezirksdelegiertenkonferenz ein, dass Josef Stalin zum
Nachteil der gesamten Sowjetgesellschaft die falsche These vertreten habe: mit
der Entwicklung des Sozialismus verschärfe sich der innersowjetische
Klassenkampf. Das führte zu Mord und Totschlag.“ Göck räusperte
sich, während ich meine eigenen Bilder sah, die ihm nicht gefallen
hätten. Er schaute mich durchdringend an, überrascht, dass da jemand
aus dem Nichts auftauchte und sich herausnahm ihm, dem namhaften Funktionär
Steine in den Weg zu legen. Alle anderen schwiegen, die Augen Otto
Görß leuchteten. Neumann und Gräf, der Brigadier hassten ohnehin alles Neue,
insbesondere was da aktuell politisch passierte. Sie lebten geistig immer noch
im vergangenen Jahrhundert, das hatten sie mir mehr als einmal deutlich zu
verstehen gegeben. Göck irrte. Sein Denken war utopisch. Ich schwieg
jetzt. Aber meine Gedanken gingen weiter In meiner Kirche habe ich gelernt,
dass Unwahrheiten niemals dazu beitragen, ein solides Fundament zu bilden. Die
von loyalen Kommunisten erfundenen „Volkswahlen“ waren im Grunde eine freche
Lüge. Wehe dem, der den ihm ausgehändigten Zettel nicht gehorsam faltete und
unbesehen in den Schlitz einer Urne steckte. Auf jeden Fall standen auf diesem
Papier - Wahlzettel genannt - nur die Namen von Menschen, die kaum jemand
kannte, die sich bereit erklärten, ein Mandat anzunehmen, das selten ihre
wahren, tatsächlichen Überzeugungen widerspiegeln konnte. Die oberste Priorität
dieser gewählten Amtsträger bestand darin, falls sie überhaupt gefragt
würden, den Willen der Mitglieder des kommunistischen Politbüros
durchzusetzen. Sehr selten gab es Ausnahmen von dieser Regel, etwa
wenn es sich lediglich um ein ethisches, also unpolitisches, Problem handelte,
das den Mitgliedern der Volkskammer vorlag, wie beispielsweise im Fall der
Frage ob Abtreibungen generell erlaubt sind. Ja, es gab Wahlkabinen. Doch
jeder, der da hineinging, musste ein „Klassenfeind“ sein, Feind der
herrschenden Regierung. Mit solchem Schritt brandmarkte sich die mutige Person
selbst. Ich sah Göcks hagerem Gesicht an, wie es in ihm arbeitete, wie sehr er
sich ärgerte. „So nicht!“ zürnte er. Aber das änderte nichts
daran, dass die SED-Parteipresse, vieles, - was ich jemals innerlich oder
vorsichtig kritisiert hatte, bereits in den Frühlingstagen des vergangenen
Jahres, - bestätigte. Große Teile der mehrstündigen Geheimrede Chruschtschows
vor Spitzenfunktionären seiner Partei kamen nun Stück für Stück zutage. Lange
hallte in mir ein Satz Göcks nach, den er zum Abschluss dieser Schulungsrunde
formulierte: „Entweder man steht links oder rechts, wer zwischen die
Fronten gerät wird zermalmt.“ Wenigstens das war ehrlich gesagt.
Gewagte Schritte
Ich suchte einen Weg, eher einen Umweg, mich politisch pro demokratisch einzumischen. Vielleicht versuche ich ein Theaterstück zu schreiben, das eben sowohl unverfänglich wie deutlich widerspiegelt, dass es eine Schande ist, Menschen wegen ihrer Gesinnung zu verfolgen. Es musste klar sein, dass erst die Umsetzung einer Bosheit strafbar ist. Ich musste einen weiten Umweg gehen, um die Willküraktionen der Partei wirkungsvoll anzuprangern. Es sollte ein Stück sein, das auch aufgeführt wurde. Bis zu diesem Zeitpunkt hatten ungefähr 1.5 Millionen ostdeutsche Bürger die Flucht ergriffen. Sie flohen, wie der ehemalige Erzkommunist Wolfgang Leonhard, vor dem schmerzhaften Druck den „die Partei“ ausüben durfte. Niemand verließ Haus und Hof, der es sich nicht gründlich überlegte. Niemand ist glücklich, wenn er mit dem Knüppel vorwärtsgetrieben wird, selbst wenn es ein Paradies wäre, das ihn erwartet. Das war meine Grundidee. Ich müsste sie weit in der Geschichte zurücklegen. Die spanische Inquisition wurde schon zu oft und wirkungslos beschrieben, aber nicht die Jahrhunderte währende Drangsalierung der zwangsgetauften Mauren Spaniens durch angeblich linientreue Christen. Ich las alles was erreichbar war und zu dieser Tragödie gehörte. Wahrscheinlich 711, von zerstrittenen westgotischen Fürsten ins Land gerufen, überquerte der Berber Tarik mit einigen tausend Kämpfern die Straße von Gibraltar. Nach sieben Jahren lag ihnen ein Großteil der iberischen Halbinsel buchstäblich zu Füßen. Im Jahr 730 standen sie bereits vor den Pyrenäen. Erst der fränkische Hausmeier Karl Martell stoppte ihren Siegeslauf in der Schlacht von Tours und Poitiers 732. Unbestritten ist, dass die arabische Kunst und Wissenschaft auf ganz Europa positiv wirkte. Im Zuge der Reconquista wurden die Mauren Schritt für Schritt zurückgedrängt, doch sie hinterließen nicht nur großartige Bauwerke, sondern auch erstaunliches Wissen in Sachen Mathematik, Philosophie und Medizin. Was mich aber schon Jahre zuvor beeindruckte war die Tatsache ihrer toleranten Umgangsweise mit denen, die in ihnen ihre Todfeinde sahen. Als die christlichen Reiterheere 1085 Toledo rückeroberten zog ihnen Bischof Bernard von Toledo mit seiner unversehrten, kompletten Gemeinde kreuztragend entgegen. Die Legende „Der Islam oder das Schwert“ erwies sich im Wesentlichen als Christenpropaganda.
Meine Absicht war, großen Arabern, wie den persischen Arzt Zakariyyā al–Razis (865-925), das Wort zu geben, das im Berufungsbrief jedes Politikers und Lehrers geschrieben stehen müsste: „Unser Beruf verbietet uns, jemandem Schaden zuzufügen: Mein Gott leite mich, in der Wahrheit und nichts als in Liebe und Wahrheit zu leben.“ Das sagte er zu einer Zeit als Großfürst Wladimir von Kiew, Ukrainer und Russen mit Waffengewalt in die Knie zwang. Jeder hatte seine sich „christlich“ nennende Diktatur aus politischen Gründen anzuerkennen. Gemäß seinem arroganten Wesen drohte er Menschen den Tod an, falls sie sich seinen Befehlen widersetzten: Ihr müsst euch taufen lassen. „Auf diese Weise wurde das christlich-orthodoxe Bekenntnis zur russischen Staatsreligion.“ Diesen Geist übernahmen die Kremlherren seit je. Diesen Gegensatz zum ursprünglich toleranten Hellenismus und dem Christentum wollte ich herausstellen. Konnte das gelingen? Ein kleiner, armseliger Tollensefischer wagte es, ein bis an die Zähne bewaffnetes Riesenungeheuer zu attackieren?
Wikipedia Commons
Al–Razis lehrte dagegen ermutigend, dass des Menschen Seele nach Vollkommenheit in Freiheit strebt. Rahman III. Dreißig gute Jahre hindurch bis 961. regierte er wie ein Richter des alten Israel, den südlichen Teil der spanischen Halbinsel, das Kalifat Cordoba. Er realisierte das große Koranwort, das auch in der Bibel geschrieben steht: Gott ist Liebe. Schon als zwanzig-jähriger Fürst des Kalifats Cordobas begriff er, was jedes guten Regenten Pflicht ist, nämlich allem Glaubens- und Gesinnungsgezänk zum Trotz anzuerkennen: „dass jeder Mensch unantastbare Rechte besitzt, die Gott ihm gewährte.“ Abd–er Rahman wusste, dass eine Veredlung der Welt unmöglich ist, wenn deren Führer verwildern. Da war mein Bezug: Ideen, gleich wer sie hegt, die irgendeine Form der Diktatur stützen, ebnen der Verwilderung den Weg.
Meinen, vor diesem Hintergrund, verfassten
Dramenentwurf „Philipp und seine Maurisken“ legte ich im
Friedrich - Wolf- Theater Neustrelitz vor. Eine Woche später luden mich die
Dramaturgen zum Gespräch ein: „Sie haben einige sehr schöne Verse
geschrieben, aber von Theater haben sie keine Ahnung. Das Stück ist
unspielbar. Hier, studieren sie Harald Hausers „Himmlischer Garten“ besonders
die Regieanweisungen.“ Danach würden sie mich einladen und mir zeigen,
was sich vom Standpunkt der Theaterleute aus rund um die Bühne herum ereignet. Ich
sah ein, dass mein Vorsatz, im Verhältnis zu meinem Können, zu groß war. Ich
schlug deshalb diese Möglichkeit praktisch aus, - bis auf später. Ich wusste
nicht, dass die Theaterverantwortlichen mich, Horst Blume, dem Leiter der
damals gerade gebildeten Gruppe „Junge Autoren“ empfohlen hatten. So erhielt
ich überraschend eine Einladung zu einer Arbeitstagung. Was ich dort dann
erlebte schreckte mich sofort wieder ab. Es galt auch dort obenan den
Sozialismus Ulbrichts hoch zu loben und selbst das offensichtlich Böse
gutzureden. Es dauerte nicht lange und sie warfen mich vor die Tür, nachdem ich
meine Überzeugung nicht versteckte. Diejenigen die dort das Sagen hatten,
wünschten keine Diskussionen. Sie ahnten, worauf ich wirklich
hinauswollte: „Schreiben kannst du, aber was soll das, deine
Schwärmerei für uralte Herrschaften und den philosophischen Idealismus?“
Der berühmte,
dort anwesende Alfred Wellm meinte es gut mit mir: „Du solltest
schreiben, wie du deinen Glauben überwunden hast. Das wäre doch hoch
interessant!“ Natürlich überprüfte ich unentwegt meine
Glaubensansichten. Die Umstände und meine Wesensart trieben mich immer wieder
an, jeden Satz meiner Grundüberzeugung zu hinterfragen. Jetzt aber wollte ich
es gründlicher wissen. Ich sehe immer noch den unaufgeräumten Dieselschuppen
unserer Fischerei. Ich stand, wenige Tage nach meinem Hinauswurf aus der Gilde
der Jungautoren, den Blick himmelwärts gerichtet: „Lieber, großer Gott.
Ich muss mit Bestimmtheit wissen ob die Kirche, der ich angehöre, die Kirche
Jesu Christi ist!“ Damit unterstellte ich, dass all meine positiven
Erfahrungen, das Produkt meiner Wünsche sein könnten. Was ich bislang erlebte,
reichte nicht aus, im kommenden zähen Kampf um Recht und Wahrheit zu bestehen.
Ich versprach Missionsarbeit zu leisten und Vollzeitmissionare auf einige Jahre
hinaus mit der Hälfte meiner Jahresendauszahlung zu unterstützen. Ich
versprach, wenn ich eine starke Antwort erhielte entsprechend zu handeln.
Zunächst ereignete sich diesbezüglich nichts.
1957
…bescherte uns nicht nur einen kalten Sommer,
sondern auch klägliche Herbstfänge und folglich der Buchhaltung großes Pech.
Obendrein trösteten die wortführenden Männer sich mit allzu schädlichen
Mitteln. Ich sah nun auch meine Fischerzukunft am seidenen Faden hängen. Mitten
in diese miese Situation hinein, schenkte mein Vater Wilhelm meiner Familie
einen besonderen Urlaub in der Schweiz. Den hätte ich uns in den Jahren seiner
Krankheit verdient. Wir hatten, schon ein Jahr zuvor erfreut vernommen, dass
unsre Kirche in der Schweiz einen Tempel eingeweiht hatte. Nur auf Bildern
konnten wir das schöne Bauwerk bewundern. Ich nahm Urlaub und Erika war hoch
erfreut.
Erster Tempelbesuch
Über Frankfurt am Main ging es nach Darmstadt.
Dort legten wir einen Zwischenaufenthalt ein. Wir mussten zum Einwohnermeldeamt
gehen, um die Staatsbürgerschaft der Bundesrepublik Deutschland zu erwerben.
Genau das wusste auch die Stasi. Aber noch konnten sie dagegen nichts
unternehmen. Noch standen die Grenztore offen. Mit unserem DDR-Pass hätten uns
die Zöllner nicht in die eidgenössische Schweizer Republik einreisen lassen. Zu
meinem Erstaunen lief alles problemlos ab. Ich vermute, einige Formalitäten wurden
vorab geklärt. Binnen einer halben Stunde erlangten wir eine zweite deutsche
Staatsbürgerschaft. In diesen dreißig Warteminuten schaute ich mich um. In
diesen Büroräumen hingen flächendeckend Steckbriefe von Mördern, Sie suchten
zudem 18 namentlich bekannte Schwerstverbrecher. Ich dachte, du großer Himmel,
was für eine Welt. Was wird uns die Zukunft noch bescheren?
Die zunehmende Verstädterung der Gesellschaft
entfremdet die Menschen voneinander. Während des Wartens dachte ich, in diesem
Zusammenhang, auch an die Pläne und Lehren des von zahlreichen Großkirchen
verfemten Joseph Smith. Sein Plan war allen Familien 2 000 qm Land als „ewiges“
Erbteil zu übergeben, um dort ihr Wohnhaus zu errichten und den Rest zur
Selbstversorgung zu nutzen. Keine Stadt sollte mehr als 20 000 Menschen haben.
Nicht wenige spotteten. Aber wie sehr sie damit im Unrecht lagen wurde erst sehr
viel später deutlich. In solchen Siedlungen kennt jeder nahezu jeden. Das
musste sich positiv auswirken! Damals konnte ich natürlich noch nicht ahnen,
dass die „Datschenpolitik“ in der Sowjetunion, die ab Stalins Tod, 1953, sich
quasi zunehmend als Retter in der Not erwies. Offizielle Statistiken belegten
bald, dass, diese 600 qm pro Familie, die ihnen der Staat zugestand, die Hälfte
aller Gemüse- und Obstarten des Riesenlandes produzierte. Als wir uns im
Gemeindeheim der Darmstädter Mitglieder meiner Kirche versammelten, überreichte
mir der dortige Hausmeister einen Brief Walter Rohloffs (Erikas Jugendfreund da
sie im selben Haus groß wurden, und der nun in Utah lebte) „Lieber
Gerd, liebe Erika, der Mann der euch diesen Brief aushändigt übernimmt umgehen
eine bessere Stelle. … Geht nicht zurück zu den Kommunisten. Wenn
ihr vom Tempel heimkehrt bleibt in Darmstadt… ich bereite alles vor, dass Ihr
ein Jahr später auswandern könnt…“ Der Gedanke, USA-Bürger zu werden
erschien mir überaus verlockend. Doch Erika widersprach: „Ich lasse
meine Mutter, nicht im Stich…“ Ich musste auch zurück an den
Sommer 1952 denken. Damals besuchte Präsident David O. McKay Berlin. Wir
ostdeutschen Mitglieder vernahmen seine direkt an uns gerichteten Worte: „Bleibt
in den Gemeinden in denen ihr wohnt. Bemüht euch die Kirche dort aufzubauen.
Ich verspreche euch, ihr werdet euere Kinder nicht an die dort wortführenden
Ideologen verlieren, wenn ihr selbst treu seid und eure Familiengebete
pflegt.“ Wie sehr er Recht haben solle. So reisten wir weiter,
Richtung Süden, im Bewusstsein DDR-Bürger wider Wunsch und Willen zu bleiben. Wir
kamen mitten in der Nacht in Zollikofen an. Am Morgen sahen wir noch
nichts von den ragenden Bergen, denn es regnete. Ich ging in den Tempel, fast
wie ein Analphabet in die Schule. Das Interieur im Eingangsbereich entsprach
dem eines Luxushotels. Dieser helle, riesige dicke Teppich, diese wunderbaren
Möbel, Sessel, Stühle und Tische. Große Blumenpracht. Es verschlug mir fast die
Sprache, es war mir zugleich angenehm und fremd. Diese ausgesuchte
Freundlichkeit der in völliges weiß gekleideten Tempelarbeiter die uns, den aus
dem Osten angereisten siebzig Mitgliedern, entgegengebracht
wurde. verstand ich überhaupt nichts. Hauptteil war das sogenannte
„Endowment“, die Begabung. Zunächst war da, für mich, kein eigentlicher
Höhepunkt, keine Manifestation höheren Geistes. Aber da war dennoch etwas, das
mein Leben lang bei mir blieb, die Gewissheit, dass es mehr nicht geben kann,
nicht diesseits. Wir wurden alle in ein Garment gekleidet. mit
Zeichen versehen, getragen als Unterwäsche. Und, es war ein reales, wenn auch
unsichtbares Samenkorn, das in uns gesenkt wurde, dem das Potential innewohnt
unentwegt dem Licht entgegen zu wachsen.
HLT-Tempel
zu Zollikofen, Schweiz
Das ahnte ich bereits während der damaligen
Tempeltage. Mir kam während der Rückfahrt in den Sinn, dass ich
Berichte von abgefallenen Mitgliedern und ausgesprochenen Mormonenfeinden
gelesen hatte. Sie sprachen verächtlich von den Tempelsymbolen, Zirkel und
Rechteck. Das sei, sagten sie, wie das ganze Tempelritual, geklautes Gut aus
dem Vermächtnis amerikanischer Freimaurer.
In der Tat, die Maurer besaßen Ähnliches.
Joseph Smith selbst war wie die engsten seiner Führungsebene, Meister der Loge
zu Nauvoo. Ich fragte mich in jener Nacht: „Woher stammt es wirklich?“ Ich
gelobte mir das herauszufinden. Kommt es aus dem Tempel Salomos? Und ist es
vielleicht noch älter? 40 Jahre später sollte ich entdecken, dass diese Annahme
unumstößlich korrekt war.
1994 las ich Albert Champdors Werk: „Das
ägyptische Totenbuch“. 60 Elemente fand ich, die sich mit den Hauptaussagen des
mormonischen Tempelrituals in erstaunlicher Übereinstimmung befanden. Noch
wichtiger war für meine Familie, dass wir im Tempel nicht nur für Zeit, sondern
für ewig, aneinander gesiegelt, (aneinandergebunden) wurden, was
unverbrüchliche, eheliche Treue voraussetzt. Während wir durch die
Nacht von einem D-Zug mit hoher Geschwindigkeit wieder Richtung DDR befördert
wurden, sah ich im Geist den von Scheinwerferlicht angestrahlten weißgold
leuchtenden Schweizer-HLT-Tempel. Erst jetzt leuchtete es auch in mir, die
Erinnerung an das Ungewöhnliche des Erlebten. Etwas das ich jedem gönne. Und da
hatte sie uns wieder, die DDR-Realität. Und die war, verglichen mit dem
Schweizer Lebensstandard schrecklich mager. Wieder ging es hinaus auf den
geliebten, immer noch geizigen Tollensesee.
Eines Morgens begegneten wir, an der
Einfahrt zum Oberbach, wo alle Boote sehr langsam fahren mussten, Herbert
Maque. Er kam mit seinem Flitzer bis auf zwei Meter Entfernung zu uns heran.
Ich stand auf dem Deck des donnernden Kutters. Er schaute mich mit weit
aufgerissenen Augen grimmig an und sagte mit lauter Stimme, damit es jeder
meiner Kollegen hören sollte: „Da habt ihr nun den Teufel an Bord!“
Wie sich später erwies, hatten sie nicht den Sinn dieser Anklage verstanden.
Sie winkten ihm fröhlich zu, als hätte er sie gegrüßt. Ich jedoch
wusste: Jetzt hat er die kaputte Vierergig entdeckt. Kein anderer als ich kam
für dieses Verbrechen in Frage.
Fritz und Genossen
Schon Ende Oktober 57 bemerkte
Buchhalter Voß lapidar: „Männer, wenn kein Wunder geschieht, sind wir
Weihnachten zahlungsunfähig!” Die nach dieser Warnung folgenden
Fangversuche, mit dem großen Zugnetz auf den kleinen Landseen und der Lieps,
waren so gut wie erfolglos geblieben. Hastig ging es zu. Wir
stolperten und liefen hinter den Traktoren anliegender Genossenschaften her, da
sie unsere Kähne über wegloses Gelände schleppten, oft bis zum späten Abend, um
den nächsten See zu erreichen. Aber unsere Schwerstarbeit wurde nicht belohnt.
Erschöpft schlief ich wieder unruhig. Wer weiß wo sich die Fische versteckten.
Es gab sie doch. Vorsitzender Bartel verkniff das Gesicht. Er zeterte mit denen
die laut stöhnten: Mensch Leute, wer bloß auf den Augenblickvorteil
starrt, der darf sich über kärgliche Ernten nicht wundern: „Ich habe
schon vor Jahren mehr Aal- und Hechtbrut kaufen und in die Gewässer einsetzen
wollen.“ Aber das hätte er nur tauben Ohren gepredigt. Seit eh und je
habe er befürchtet, dass der Pleitefall eintreten könnte. Nur die Camminer
Seen,- die seit kurzem unsere waren, weil der Staat Kurt Meyer die Möglichkeit
einer weiteren Bewirtschaftung entzog,- zeigten sich freigebig. Für die dort
angelandeten Qualitätsfische Zander, Hechte und Schleien erhielten wir fast
fünftausend Mark. Das jedoch reichte nicht hin die Löhne zu zahlen und die
Kosten zu decken. Und nun stand der Dezember vor der Tür und damit die Gefahr,
dass die Seen zufroren, die erst wieder betreten werden konnten, wenn der
Eismantel dicker als 5 Zentimeter war. Dann kann man das große Garn
in einem entsprechenden Loch versenken und per Leinen wieder in gewisser Entfernung
herausziehen, meisten dann allerdings erfolgreich. Unter der Eisdecke,
besonders bei Schneebedeckung, sind die Fische blind. Geräuschvoll trieb der
Nordwest an diesem düsteren Dezember- Nachmittag, die ersten Schneeflocken vor
sich her. Das Jahr war gelaufen. Aus.
Die Genossenschaft war pleite
Für diesen Tag war ohnehin eine Schulungsrunde
angesagt, weil wir es anscheinend nötig hatten auf die von der SED
vorgezeichnete Linie gebracht zu werden. Die beiden Bezirksfischmeister
Jochim und Stöckelt werden uns daneben die Leviten lesen. Wir sahen Fritz
Biederstadt ankommen. Wie ein Treidler gegen das Seil, stemmte sich der
untersetzte, nun gut fünfzigjährige Fritz Biederstaedt gegen den Wind.
Stoßweise zerrte der Sturm an seiner grauen Schiebermütze. Seine Joppentaschen
verrieten, dass er zwei Schnapsflaschen mit sich trug. Die Männer der
Kernmannschaft legten immer zusammen. Dafür reichten die Pfennige allemal. Ich
ahnte, wie die Frauen sie hinterher ausschimpften. Das zum Überleben
Notwendigste konnte man zum Glück einigermaßen billig erwerben. Und dann
brachten wir Fischer ja oft, selbst nach mageren Fängen, Barsche und andere
Fische heim, aus denen die erfahrenen Ehefrauen wunderbare Mahlzeiten
zubereiten konnten. Vieles gab es immer noch nur auf Vorlage der
monatlich ausgegebenen Lebensmittelmarken, deren Abschnitte, von den
Verkäufern, wohl aufbewahrt wurden. Pro Person 1380 g Fleisch, - 46 g pro Tag,
- 815 g Fett und zweieinhalb Pfund Zucker im Monat. Wer mehr haben wollte,
musste es kostspielig in den HO-Läden einkaufen. Meine Mitfischer murrten seit
Monaten und ich hörte dann nur schweigend zu: So viel Arbeit für so wenig Lohn.
Der SED - Staat war ihrer Meinung nach der Hauptschuldige an ihrer Armut, Er
gab ihnen für viele wertvolle Fische zu wenig Geld. Tatsächlich trachteten
die Finanzexperten der DDR - auf Weisung des Politbüros der SED-Regierung -
danach, das Preisniveau der Löhne, Mieten und Nahrungsmittel auf dem Level des
Jahres 1937 zu halten. Das konnte nicht funktionieren. Meine Kollegen
verteidigten sich, als sie getadelt wurden, zu wenig unternommen zu haben, so
hätten sie sich das Leben in der Binnenfischerei, mehr als 10 Jahre nach dem
Kriege, nicht vorgestellt. In den langen Monaten Dezember, Januar, Februar,
März lebten sie - und nun traf es auch mich - von Vorschüssen, die wir im
kurzen Frühling und Sommer wieder abzahlen mussten. (Manchmal ließen die
Verhältnisse das Fischen nicht zu.) Dieses Teufelsloch war groß und die
Hoffnung, da endgültig herauszusteigen, klein. Die Bauernbank gab ungern
Kredite für Löhnung: “Warum investiert ihr nicht? Warum dies nicht,
warum jenes nicht?” So hieß es bei den Bankern. Lieber rannte Fritz
Biederstaedt dann, in seiner Eigenschaft als zweiter Vorsitzender der
Genossenschaft, zum Steuerberater Hermann Köppen, der sich auch als
Geldverleiher hervortat. Köppen nahm zwar höhere Zinsen, doch er meckerte ihn
nicht an. Von Seiten der Bank lautete die Predigt: „Genosse
Biederstaedt, da stellen sie zuerst mal ein Konzept auf, wie sie die
Rückzahlungsraten einschließlich der drei Prozent Zinsen pünktlich leisten
wollen.” „Ück bün (ich bin) aber kein Genosse”, (kein
Parteimitglied) pflegte er sich vor dem Bankchef kopfwiegend zu entschuldigen.
Beim Geldmann Köppen ging das wesentlich kultivierter zu: „Prost, Herr
Biederstaedt, auf gute Zusammenarbeit!” Dieser Mensch wusste, was sich
gehörte. Aus dem Kognakschrank holte der höfliche Geldverleiher stets das
Beste. „Wohlsein, Herr stellvertretender Vorsitzender! Sie werden das
schon machen. Sechs Prozent sind für sie doch keine Hürde.”Diesmal jedoch
sah er sich genötigt bereits im Dezember bei Herrn Hermann Köppen anzufragen. Blödes
Wetter! Die sechs Prozent Zinsen seien keine Hürde, aber der verdammte
Nordnordwest hatte die Fische in unerreichbare Seetiefen gejagt. Was den
Tollensesee betraf konnten, mit den verfügbaren Mitteln, ohnehin allenfalls 5
Prozent der Seefläche befischt werden. Was soll ein Fischer, wie Biederstaedt,
unter solchen Umständen anderes tun, als abwarten und sich dieses Abwarten auf
möglichst angenehme Weise verkürzen? Nämlich da drinnen in der Holzbaracke, wo
seine Mitfischer ihn und das, was er mit sich trug sehnsüchtig erwarteten. Als
Fritz um die letzte Ecke seines Weges bog blieb er stehen, als hätte er einen
kleinen Schlaganfall erlitten. „Düwel uk!“ („Teufel auch!“) Das hatte er vergessen. Der wahre Grund für
seine Vorahnung war klar: Er würde zum Hauptschuldigen erklärt werden, wegen
seiner permanenten Anstiftung zur Trinkerei. Der fast brandneue F 8 des
Bezirksrates verriet, was ihn nun erwartete! Er, der zweite Chef, hätte bei der
angesetzten Besprechung pünktlich zur Stelle sein müssen und dann lammfromm
zuhören sollen und müssen! Wo er so spät herkäme, werden sie ihn fragen. Ob es
Wichtigeres gäbe als eine politische Lektion? Ausgerechnet er,
der aus dem politischen Gefängnis entlassen wurde, musste weitergebildet
werden. Ja, sie ließen ihn 1946 einsperren, nachdem er mit einem, von Soldaten
des Zweiten Weltkriegs weggeworfenen Revolver in der Liepser Wildnis auf
Wildschweinjagd gegangen war, bis einer aus seinen eigenen Reihen ihn verriet.
Niemand sonst wusste, dass er die Waffe in einem Suppentopf seiner Küche versteckt
hatte. Fritz hatte das verbotene Ding gerade geputzt, als die Sowjetpolizisten
hereinstürmten…
Aber der Kommunistenchef Ostdeutschlands
Wilhelm Pieck begnadigte ihn, sowie meine beiden Freunde 49.
Tapfer betrat Fritz den verwahrlosten Vorraum
zum Schulungs- und Kulturraum. Doppelt werden ihm die beiden Parteigenossen nun
zusetzen, es wäre alles eine Frage des gesellschaftlichen Bewusstseins. Und
jetzt erst recht wird die alte Leierei losgehen: “Wann wollt ihr
endlich mehr für eure Zukunft tun? Ihr müsst mehr Satzfische kaufen! Wo man nix
reinsteckt, da kommt auch nix ‘raus! Jetzt ist Karpfenextensivwirtschaft
angesagt“ Lächelnd zwar, aber innerlich ärgerlich, wird er
ihnen die großen, grünlichgelben Zähne zeigen und es zum Scherz ummünzen: „Ganz
meine Meinung!” In Wahrheit aber möchte er sagen und ihnen an den Kopf
schmettern, was er wirklich dachte: „Lüd, woväl Geld häm wie all de Johren
tun Fenster rut, in den See rinner schmeten.” ("Leute, wie viel
Geld haben wir in all den Jahren zum Fenster hinaus und damit in den See
hineingeschmissen. Nämlich die teuren Fischsetzlinge)" Natürlich war
er ein Freund von richtigen Besatzmaßnahmen. Aber, die fünftausend Mark
für die Maränen war auch solch ein Fall von sinnlos vergeudeten Finanzen.Ein
Glück, dass die beiden Genossen auf Kosten des Rates des Bezirkes die Rechnung
für ihre wahnwitzige Idee bezahlt haben. Er dachte an die angeblich fünf
Millionen winzigen Brütlinge, die sie damals in ein Eisloch gegen alle
Vorschrift in Ufernähe geschüttet hatten, weil das Eis so brüchig geworden war.
Laut Lehrbuch hätten sie über tiefem Wasser in die Freiheit entlassen werden
müssen. „So lütt!”, sagte er mir eines Nachts, als wir gemeinsam das
schwere Netz heran kurbelten. Die winzigen Dinger bestanden ja nur aus Augen.
Wie wollten die da unten in der Finsternis ihr Futter finden? Das sollte eine
Beisatzmaßnahme sein? Die beiden angereisten Fischmeister Jochim und Stöckelt
hatten schon vor Jahren Stock und Bein geschworen, es sei hoch an der Zeit, den
Tollensesee mit Maränen-Setzlingen zu spicken, er brächte alle Parameter vor,
die zur erfolgreichen Maränen-wirtschaft führen würden… Fritz hatte wiederholt
den Zeigefinger an die Stirn gelegt: Was für ein Blödsinn! Offensichtlich hatte
er nun, bevor er eintrat, die Flaschen irgendwo versteckt. Ernst Stöckelt, der
erst gut dreißigjährige, unterbrach seine offizielle Rede. Sein schwungvoll
geformter Kopf ruckte herum. Biederstaedt nickte ihm herzhaft zu, zog die
Mundwinkel herauf, ganz verbindlich, ganz der Alte, der nicht verlernt hatte,
wie ein Diener seinem Herrn in einer kritischen Situation zu gefallen
wusste. Er zog unnachahmlich seinen beachtlichen Bauch ein und zwängte
sich durch den engen Spalt zwischen der grauen Zimmerwand sowie den vier
Rückenlehnen der Stühle des Buchhalters, Bartels und der beiden
Bezirksfischmeister. Da musste er partout durchschlüpfen, weil er unbedingt
seinen Stammplatz neben Otto Görß einnehmen wollte, der auf der
entgegengesetzten Tischseite saß. Er hätte ja auch auf der Türschwelle, neben
mir, Platz nehmen können. Während er sich so durchkämpfte, ruhten aller Blicke
auf ihm, wenige missbilligend, die anderen amüsiert. Das genoss er. Erst vor
vierzehn Tagen hatten ihn beide, Reiniger und Bartel, zusammengestaucht. Sogar
sein Freund Otto Görß war ihm grob über den Mund gefahren. Da hatte er nämlich
in Neverin, nachdem sie einigermaßen erfolgreich den Dorfteich abfischten,
heimlich einige Kilo Karauschen gegen eine kleine Flasche hochprozentigen
“Bärenfang” eingetauscht. Weil ihm doch so jämmerlich zumute gewesen sei und er
gefroren habe, indessen er auf sie warten musste. Bis sie endlich mit dem
Fuhrwerk herankutschiert kamen, hätte er sich berechtigt gesehen, etwas gegen
die ihn anschleichende innere Kälte zu unternehmen. Der Fehler bestand darin,
dass nur für Otto ein kläglicher Rest übrigblieb. Das bekamen die
Benachteiligten mit. - Großes Wehgeschrei. Bei solchen Sachen kannten sie kein
Pardon. „Uns hat auch gefroren!” Das musste er in
deftigem Platt- und Hochdeutsch hören. Als Brigadier sei er abgesetzt. Wenn er
sich Ähnliches noch ein einziges Mal erlaube, dann sei es endgültig aus mit
seiner Herrlichkeit als stellvertretender Chef. Es war voraus zu sehen, die
beiden Bezirksmeister werden nun vorrechnen, dass die Anzahl der Fänger
reduziert werden müssten. Das konnte nur bedeuten: Ich fiele durch
die Maschen, wie ein kleiner Fisch. Sich sammelnd kratzte Ernst Stöckelt den
Charakterkopf. Er fragte die Tollensefischer, was sie denn wollten? Niemand
könne mehr Lohn bekommen, als er durch entsprechende Gegenleistung verdient
hätte. So funktioniere die Wirtschaft eben. Man kann aus einem Topf nur
herauslöffeln, was da drin ist. Ihr fangt nur einhundert Tonnen! Das sei
entschieden zu wenig bezogen auf dreizehn Fänger. Das sei umgerechnet auf die
Wasserfläche all ihrer Seen knapp ein Drittel des Machbaren! Fritz
Biederstaedt kniff die Augen zu. Doch da war es wieder, das alte böse Thema,
der Unwert der DDR-Mark. Stöckelt sollte es lieber ruhen lassen. Sah er denn
nicht, wie es in den Gesichtern der Fischer Reiniger zuckte? Otto Görß hob denn
auch sofort den Kopf: „Und de Kasernierten? Und de Aktendaschendräger?” ("Und
die Kasernierten (Polizisten die nichts taten, gar nichts und die
Aktentaschenträger?") Wofür die ihre horrende Summen Gehalt bekämen? Ihren
Funktionären hätte der Staat große Suppenkellen in die Hand gedrückt und den
Arbeitern bloß Teelöffel. Wie eine verdroschene Pauke vibrierte die ungeheure
Anklage. Otto Görß war nie feige, jedenfalls nie besonders vorsichtig gewesen,
wenn jemand ihn nötigte seine Meinung in Sachen Politik zu sagen. Unverbildet
wie er war, sagte Otto, so gut wie immer was er dachte. Das bedeutete, ich mag
euch Kommunisten nicht, weder eure Macht- noch eure Wirtschaftspolitik. Ihn
stinke an, dass die Zeitungen kaum von dem berichteten, was ihn interessiere.
Als Vater von fünf Kindern sperrten sie ihn nicht so leicht ein. Ottos weiße
Wangenknochen schimmerten durch die dünne Haut. Er selbst sollte schuld daran
sein, dass er sich für seine dreihundert Mark monatlich, nur das
Unentbehrlichste kaufen könne? Sein Vater hätte vor dem Kriege,
einhundertundachtzig verdient, aber es sei für ihn als Kind hin und wieder ein
Stück Schokolade abgefallen. Das könne er seinen Kindern nicht bieten. „Disser
Stoot is nich fehig, blot luder Beamte un Pulezisten.” ("Dieser
Staat ist nicht fähig, bloß lauter Beamte und Polizisten!") Obermeister
Eduard Jochim, der sanfte Mann, rutschte unruhig auf dem Stuhl umher. Ungestraft
durfte sich niemand, in seiner Anwesenheit als Staatsbeamter herausnehmen, den
Arbeiter- und Bauernstaat zu attackieren! Otto wies die Finger seiner Rechten
vor. An ihnen zählte er noch einmal die Ursachen für die Teuerung auf. Es gäbe
schließlich zu viele Schmarotzer in diesem Staat der Politkarrieristen. Ein
übergroßer Polizeiapparat sei das Kennzeichen eines faschistoiden Staates. Aua,
das zu hören, tat den Angereisten weh. Eduard strich nervös über seinen kahlen
Kopf. Vielleicht saß unter den dreizehn einer der ihn anzeigte. Irgendjemand
könnte schon am nächsten Morgen im Auftrage irgendjemandes in seinem Büro in
Neustrelitz auftauchen, seinen Dienstausweis zücken oder die ‚Hundemarke’
vorweisen und sagen: ‚Kommen Sie mal mit, Genosse Jochim. Wir müssen
mit Ihnen über das Gesetz zum Schutze des Friedens reden. Sie haben Ihre
Dienstaufsichtspflicht verletzt. Man lässt den Klassenfeind nicht zu Worte
kommen. Schon gar nicht in einer öffentlichen Versammlung.“ Fest stand, ein
einziges Wort gegen den DDR-Staat gerichtet konnte selbst einem Familienvater
von bald sechs Kindern fünf Gefängnisjahre kosten. So das Gesetz. Otto Görß
ließ dennoch nicht ab. Diesmal nicht! Um seinen nun harten Mund zuckte es
spöttisch. Außerdem sei nicht nur er ärgerlich: Das erste neu errichtete
stattliche Gebäude in der Neubrandenburger Innenstadt, die weithin in Ruinen
lag, war das der Polizei gewesen. Ein großes Wohnhaus oder Altersheim wäre
wichtiger gewesen. In breitem Mecklenburger Platt sagte er das.
Stöckelt schaute streng herüber. Warnend waren diese Blicke gemeint. Sie bedeuteten dem Furchtlosen: Warum er immer wieder den Bogen überspannen müsse? Das sei doch kein Geheimnis, dass er jeden Samstag sein Aaldeputat verscheuere - jene knapp drei Kilogramm die sich fast alle Fischer Mecklenburgs selbst zuteilten, was stillschweigend von oben geduldet wurde und wofür sie nur zehn Mark Steuern bezahlen mussten...Das könne nun durchaus Folgen haben. Biederstaedt räusperte sich. Stöckelt ließ ihn nicht zu Wort kommen. Mit nun brüchiger, wenn auch gedämpft klingender Stimme, fasste er zusammen: „Erfüllt erst mal euer Soll, dann reden wir weiter!” Damit war alles Wichtige gesagt. Doch er war noch nicht ganz am Ende seiner vorbereiteten Rede angelangt: „Die Mannschaft ist zu groß! Fünf, mindestens vier müssen raus!" Da war es! Das von mir erwartete, endgültige. Alle Männer schwiegen aus Entsetzen und aus Gründen der Vernunft.
Ich, die verkrachte Existenz, fliege als
Erster hinaus
Nächsten Freitag erwarte er Bericht,
sagte Stöckelt, der Adjutant Jochims, und so fuhren sie davon.Bartel erklärte,
die Sitzung sei nicht geschlossen, „der Vorstand zieht sich zur
Beratung zurück!“ Sie gingen zu dritt ins „Büro“, ein Verschlag von knapp
drei mal drei Metern, Bartel, Görß und Biederstaedt. Ich ging hinaus und
blickte auf den ruhig fließenden breiten, dunkelnden Oberbach: Das war es. Was
jetzt? Abenteuer Fischfang war für mich wie erlaubtes Vabanquespiel
gewesen. Ich liebte es. Deshalb war für mich die Tätigkeit in der
Fischerei, nebst den Berufswünschen, die sich zerschlagen hatten, für mich das
Beste. In dieser langen Beratungspause des Fischereivorstandes ging mir
mancherlei durch den Kopf. Ich war und bin für das Zusammenarbeiten der
Menschen in Genossenschaften. Gerade in einer Genossenschaft - nicht in einem
volkseigenen Unternehmen - in welchem die Gewinne restlos an den Staatshaushalt
abgeführt werden mussten, konnte ein Großfang oder beständig bessere Fänge
allen Beteiligten richtigen Wohlstand bescheren. Ich sah sie dann aus dem
Nebenraum kommen. Den Mienen konnte ich ansehen, dass in der internen Runde die
Würfel gefallen waren. Biederstaedt und Görß kamen auf mich zu. Sie schauten
mich sehr freundlich an: Du bleibst! Einstimmiger Beschluss. Ausgerechnet die
vier Nichttrinker traf es. Neumann, Milster, Sablotny, Müller. Fast ihr
ganzes Leben hatten diese vier als Fänger zwischen offenem Himmel und bewegten
Wassermassen zugebracht. Aus, - das war das abrupte definitive Ende! Mit
einem Mal wurden sie für immer an Land gesetzt. So sahen sie auch aus, als sie
das Urteil entgegennahmen, wie unglückliche Seevögel, die besser schwimmen als
laufen konnten. Für die vier über Fünfzigjährigen erhob sich damit dieselbe
Frage, die mich schwer bedrückt hatte. Selbst wenn ich freiwillig verzichtet
hätte, wäre nur einer gerettet worden. Doch welcher Name folgte als
fünfter? Das stünde noch offen. Von einem Tage zum anderen verloren vier
Prachtkerle ihren Traumberuf. Auch Kurt Reiniger der Westflüchtling durfte
bleiben. Ich sollte die Camminer Fischerei übernehmen. Ich verbiss mir jegliche
Erwiderung. Nein, nicht Cammin.
All das verbarg ich vor Erika, aber ich
versprach ihr: Jetzt muss ich mehr tun. Sie umarmte mich. Sie glaubte an mich.
Der wilde September
Zunächst lief es gut. Mir wurde
gestattet weiterhin den Tollensesee unter Gräfs Regie zu befischen. Gräf
erkrankte, Biederstaedt setzte Stellnetze auf dem Barschberg. Damit waren wir
führungslos. Wir versuchten unser Bestes, doch die Resultate blieben mäßig. Da
überraschte uns der September 58 mit starkem, nicht enden wollendem Südwestwind.
Er blies und blies und hob Wellen bis auf gefühlte Dreimeterhöhen, wegen des
schluchtartigen Charakters der Umgebung in welcher der See lag. Das ertrugen
die morschen Boote allesamt nicht. Dabei sollte der Monat September stets der
Beste für die Zugnetzfischerei sein. Es vergingen mehrere Tage der Untätigkeit.
Wir durften nicht riskieren durch die Brandungszone zu fahren. Wieder nahm
meine Unruhe zu. „Du wälzt dich, statt zu schlafen. Was ist passiert.“ „Nichts,
Erika meine Beste!“
Ich fasste in dieser Nacht zwei Entschlüsse:
- gegen den Willen des Vorsitzenden möchte ich
die Fischereischule in Hubertushöhe besuchen
- und ich werde vier Freiwillige finden die mit mir durch die anscheinend unerbittliche, sogar zunehmende Brandung fahren um am südwestlichen See-ende das Zugnetz einzusetzen. Den Booten kann nichts passieren, wenn ich sie auf meine Weise hintereinander verbinde. Manchmal muss man vom Üblichen abweichen. Am nächsten Morgen wehten die Pappeln wie immer verwegen. Bartel sah, dass Witte und ich die Arbeitskähne bestiegen. Er
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Wilhelm Bartel (1913-1972) |
stand die Hände in die Hüften gestemmt am Bollwerk, schmockte wie immer sein Tabakinchen. Nur kurz nahm er aus den Lippen heraus: „Ich verbiete euch rauszufahren!“ Das sei Wahnsinn. Ich hätte ja keine Ahnung, wie wütend der langgestreckte See werden kann: Die Brandung!
Vier weitere Männer um Hermann Witte nickten mir dennoch zu. Eigentlich hätte Meister Hermann Witte mir Berufsfremden vorgesetzt sein sollen, aber er ordnete sich freiwillig unter - bis ich, vielleicht einen größeren Fehler begehen würde. Wir beluden die Fangboote mit dem großen Garn. Es war ein Umfassungsnetz von zwei Flügeln von je 300 m Länge bei einer Netzhöhe von 13 Metern. Ich gewann Wittes Unterstützung sofort, nachdem ich ihm meinen Plan erklärte: „Wir lassen die Arbeitsboote nicht nebeneinander laufen!“ (weil der Sack in dem sich die Fische zuletzt befinden mittig angeordnet ist), sondern die ganze Fuhre würden wir durch Seile verbinden, so dass Beiboote und Arbeitskähne hintereinander laufen. Wir werden, um den Starkwellen widerstehen, je fünf Meter Abstand von einem Boot zum anderen halten. Dann können sie schaukeln wie sie wollen, der Sturm hält sie auf Kurs. Bartel ballte die Faust, als er unsere Entschlossenheit sah. Er wusste, dass ich der treibende Keil war: „Ich mache dich darauf aufmerksam, dass du gegen meinen Willen rausfährst. Ersäuft das Ganze bis du Schuld. Säuft ein Kahn ab oder zerbricht er, haftest du!" Kurt Reiniger übernahm das Steuerrad. Auch er sah keine andere Chance zu mehr Geld zu kommen. Als wir den Oberbach verließen und in den Meterwellenbereich kamen trafen uns einige harte Schläge. Zu fünft befanden wir uns in der dunklen Kabine. Wir wussten, selbst die heftigsten Schläge können, durch das faustgroße Loch am Kutterbug, nicht mehr als einen Eimer Wasser pressen. Kurt Reiniger stand gelassen da. Sein Faltengesicht blieb ruhig. Er hatte, als Soldat der Fliegerabwehr, schon Schlimmeres erlebt. Nach wenigen Minuten sehr langsamer Fahrt in denen wir beständig die Blickrichtung wechselten, sahen wir, dass wir bei knappem Schritttempo immerhin noch alles in Ordnung fanden. Natürlich konnten man nun schon dreihundert Meter hinter der Brandung, das letzte Boot entweder oben auf dem Wellenberg sehen oder gar nicht. Nach einer viertel Stunde schien es so, als hätten wir es geschafft. So war es. Oben, nach zweistündiger Fahrt im Schritttempo am See-ende, angekommen stellten wir fest, wie die hohen Pappeln die Gewalt des Windes auf den letzten drei- vierhundert Meter völlig brachen. Das Zugnetz wurde wie üblich ausgefahren. Die mit kleinen Rundsteinen bestückten Unterleinen zogen das Netz herunter, während die synthetischen Schwimmer es in die Höhe zogen. Uns umgab tiefster Friede. Wir seilten jeweils zweihundert Meter Drahtseil ab, ankerten am Schilfgürtel warfen die kleinen Motore an. So wurden die Flügel herangezogen. Dann ruderten wir wieder zusammen um den Kreis zu schließen Was uns verwunderte: Der See ist mit solchem Sturm in heftiger Bewegung; dann wird das Netz mit der Strömung fortgerissen. Doch hier herrschte sonderbare Bewegungslosigkeit.
Als hätten die Urgewalten kapituliert holten
wir nun das Netz zurück in die Kähne. Schon bald zeigten sich größere Fische
auf den Seitenflügeln. Dann immer mehr. Aber noch wagten wir nicht auf einen
großen Fang zu hoffen. Doch dann erwies es sich: Wir hatten 5 Tonnen Fische
erster Qualität überlistet, Hechte, große Barsche, Schleie, sowie erste Klasse
Plötzen (Rotaugen), die damals noch in Berlin gefragt waren. Der brüchige
Kutter wurde randvoll gefüllt. Natürlich ließen wir die Arbeitsboote vor Ort.
So schnell würde sich die Windrichtung doch nicht ändern. Falls doch hätte es,
allem Fangerfolg zum Trotz, jene Konsequenzen die der Vorsitzende mir angedroht
hatte. Es dunkelte bereits, als wir heimfuhren, geschoben auch vom noch
sausenden Sturm, diesmal ungefährdet. Nur die Brandungszone noch. Dann hatten
wir es vollbracht. Kurt Reiniger meisterte es, durch geschicktes Manövrieren.
Wir sahen Wilhelm, unseren Vorsitzenden, in der Finsternis dastehen.
Erkenntlich am Glimmen seiner unvermeidlichen Zigarillo und dann den schwarzen
Umrissen. Er wird durch schreckliche Ängste gegangen sein, denn andere
Produktionsmittel, als Ersatz für dieses Zugnetz gab es nicht. Als der sieben
Meter lange Kutter im Oberbach wendete und am verfaulten Bollwerk anlegte, aber
noch, während der knallende Dieselmotor lief, schnarrte der Vorsitzende mich
heftig an: "Wo sind die Arbeitskähne?" Ich beruhigte ihn.
Dann mit einem federnden Satz sprang er herunter und riss den ersten
Schweffdeckel auf. Er ließ, aus freudigem Schreck, sein Zigarillo
aus dem Mund fallen, dann riss er den zweiten und den dritten Deckel auf. „Fünf
Tonnen!“ resümierte er. Kein Wort mehr. Loben durfte er niemanden.
Er fuhr davon, offensichtlich verwirrt und
zugleich erleichtert. Der Sturm hielt noch zwei weitere Wochen an. Und wir
fingen im Windschutz der Riesenpappeln vor Nonnenhof weitere fünfundzwanzig
Tonnen beste Fische. Der Buchhalten und meine Kollegen tätschelten mir den
Rücken.
Von dieser Zeit an, hat mich, außer
selbstverständlich Hermann Witte, niemand mehr wegen meines Glaubens
verspottet. Das war aus. Definitiv.
Wir hatten darüber hinaus mehrseitiges Glück. Das Blatt hatte sich gewendet.
Von diesem Zeitpunkt an landeten wir mehr und bessere Fische an, als zuvor. Ich
hatte ja das obligatorische Fangbuch des letzten Jahrzehnts mit Kopfschütteln
gelesen. Nicht genug damit, ließ sich ein Riesenschwarm sehr großer Brassen von
uns fangen. Es war ein stiller Oktobertag, und wir befanden uns zur rechten
Zeit am richtigen Ort. Es war ein stiller Tag. Der See lag wie ein Spiegel da.
Schon als die ersten Meter des Netztes eingezogen wurden, sahen wir einen auf
zubewegenden Blasenteppich. Die stets in Herden schwimmenden Bleie verrieten sich
selbst und wir konnten sie zurückscheuchen. Die sächsischen Räuchereien machten
aus diesen nicht allseitig geschätzten „Plieten“ Delikatessen. Wer sie einmal
kostete, solange diese goldbraunen Fischstücke noch nicht älter als zwei Tage
waren, und gut gewürzt, der schwor auf sie. Selbst im goldenen Westen hätten
wir sie versilbern können. Solche Geschäfte zu machen, Telefonate mit den
„Klassenfeinden“ zu führen, waren undenkbar und unmöglich, weil vom Staat
verboten. Der Geschmack und der Nährwert dieser Fischart lagen indessen hoch.
Das wäre doch eine von zahlreichen Gegebenheiten gewesen Devisen zu machen. Als
Fänger erzielten wir zum ersten Mal einen beachtlichen Jahres-Überschuss,
nämlich vierundzwanzigtausend Mark. Das ergab eine Barauszahlung für jeden von
2400.-Mark. Was das bedeutet, kann nur ermessen, der weiß, dass DDR-weit
Spezialisten in der Industrie erst seit Januar 1956 durchschnittlich 440 Mark
monatlich verdienten. Nun, da wir von jetzt an fünfhundert Mark Monatslohn nach
Hause trugen, begannen auch die ersten von uns an mehr, und viel mehr an sich
selbst und damit an eine Zukunft unter unseren Umständen, zu glauben. Und das
„Saufen“ hörte auf. Jetzt waren wir imstande neue, und zwar synthetische
Netzballen zu kaufen aus denen wir neue, größer Reusen fertigen konnten.
Ich nahm die Lehren und Ideen anderer dankbar
auf und „baute“ riesige Fischfallen, mit deren Hilfe wir den üblichen
Gesamtjahresfang 20 lange Jahre hindurch stabil verdoppeln konnten. Hermann
Göck streichelte mir den Rücken, nachdem er mir manchmal seine Faust unter die
Nase gehalten hatte, weil ich partout nicht einsehen wollte, dass seine Partei
das Beste von aller Welt sei. Neue Kleidung für die Familie und bessere Möbel
konnten wir uns anschaffen, nachdem wir 59 eine größere Wohnung beziehen
durften. Göck gab mir wiederholt den Aktivistenorden der immer auch mit Geld
verbunden war. Stasileute die wegen besonderer Fischwünsche in unsere immer
noch klägliche Baracke kamen, behandelten mich auffallend freundlich.
Stasi-Oberstleutnant Kindler und andere fanden plötzlich an mir Positives. Dass
ich nach wie vor offen die „Diktatur des Proletariats“ ablehnte, betrachten sie
nun als verzeihlichen Schönheitsfehler. Sie wussten, dass ich meiner
Kirche als Distriktmissionar eifrig und gemeinsam mit meinem Fischerfreund Kurt
Meyer, Cammin, mit gewissem Erfolg diente. In vier Jahren durften wir 4
Menschen taufen. Die Offiziere des staatlichen Überwachungsapparates
wussten auch, (was ich nach der Wende erfuhr) dass ich niemals geheimen
Aalhandel zu meinen Gunsten machte, und, dass ich keine Affären hatte. Aber wehe denen übertraten und erwischt
wurden. Erpressung machte sie zu
Spitzeln.
Auf Umwegen erfuhr ich bereits damals, dass
die Stasi erstaunt zur Kenntnis nahm, dass die etwa 1 000 aktiven, erwachsenen
„Mormonen“, wo immer sie standen, gute bis hervorragende Arbeit
leisteten. Wir wollten nicht betrogen werden, also betrogen wir den Staat
nicht. Die ursprüngliche Annahme, die Kirche Jesu Christi der Heiligen der
Letzten Tage stünde im Dienst des CIA verblasste mit der Zeit.
Nichtsdestoweniger blieben wir, was wir immer schon sein wollten:
Christusverehrende, bemüht seine Gebote zu halten. Den Ehrentitel
„Christen“ sprachen uns nach wie vor lediglich die großkirchlichen Theologen,
aus Arroganz ab.
Was meine Kirche in theologischer Hinsicht und
bezüglich des praktischen Lebens vertrat sah für mich in jeder Hinsicht
vernünftig und obendrein wahr und schön aus, nachdem ich viele Jahre kritisch
hingeschaut hatte. Immer ging es darum glückliche Ehen zu führen und allen
Menschen gegenüber wahrhaftig, bescheiden und freundlich aufzutreten. In
mancherlei Hinsicht waren unsere religiösen Kontrahenten erstaunlich
desinformiert. Das ergab sich aus vielen Gesprächen die ich mit ihnen suchte
und erlebte. Ein Neubrandenburger Pfarrer der mich zu einem Gespräch eingeladen
hatte, sagte nach zwei Stunden. „Es wir keine weiteren Begegnungen geben“
das allerdings widerrief er Jahre später: „Jetzt habe ich das Buch Mormon
gelesen!“
Im Oktober 1958
… besuchte ich einen Gebetsgottesdienst
der Katholiken in Neubrandenburg. Geleitet wurde diese Veranstaltung, an der
fast ausnahmslos ältere Frauen teilnahmen, von Pfarrer Timmerbeil, der, - nach
Aussagen junger Männer, die sie mir gegenüber, von sich aus machten, - ein
Sadist war. Dieser Pfarrer war es auch, der mir nach kurzem Gespräch verbot die
Bibel zu lesen. Grob war er mir über den Mund gefahren.
Das Ave-Maria wurde mit seinen Zusätzen
pausenlos wiederholt. Wie sehr mich das an mittelalterliche Exerzitien
erinnerte. Die Statistiken ‚guter Werke’ wurden damals gewissenhaft geführt.
Das „Vaterunser“ - das zwar nur wenige Worte umfasst - wurde in manchen
Klöstern rund um die Uhr gebetet: Sieben Millionen Ave-Maria hatte „...
die Bruderschaft der 11 000 Jungfrauen auf Vorrat gebetet, dazu 200 000
Rosenkränze und 200 000 Tedeum laudamus, sowie 3500 ganze Psalter“ Gustav
Freytag Deutsche Bilder 2
So gut es gemeint sein mag, das besserte die
Welt nicht, worauf es jedoch ankommt. Wenn Religion Menschen nicht veredelt,
dann taugt sie nicht...
Damals lernte ich Jochen Appel kennen
Er war Mitarbeiter der
Bezirksmordkommission. Er fuhr später so oft wie ihm möglich war mit mir als
Hobbyfischer auf den See zum Fang hinaus. Für ihn wäre es besser gewesen er
hätte mich niemals gesehen. Denn unsere Beziehung endete mit seinem Selbstmord
meinetwegen. Nachdem wir zueinander Vertrauen gefasst hatten, erzählte
Jochen mir mehr über seine Arbeit und ich gab meinerseits zu erkennen, warum
ich schließlich als Fischer arbeitete. Ganz gegen meine Gewohnheit erzählte ich
ihm eines Tages einen der in Frageform gepackten politischen Witze, die damals
schnell jedermann Allgemeingut wurden. Unglücklicherweise plauderte er ihn
einige Wochen später an denkbar unpassendster Stelle aus. Als Offiziersanwärter
auf der Polizeischule zu Gera hätte er besser den Mund gehalten. Die
gefährliche Spottfrage lautete “Was ist der Unterschied zwischen Walter
Ulbricht und einer Rakete? Antwort: Da ist keiner! Beide werden von Moskau aus
ferngesteuert!”
Vierzig angehende Polizeioffiziere hörten es,
während sie auf einem LPG-Acker den Bauern halfen die Zuckerrübensaat
auszudünnen. Gelacht hätten sie allesamt und mehrheitlich der Sache keine
Bedeutung beigemessen. Schließlich gab es schlimmere Anspielungen. Diese zum
Beispiel: Auf die Frage welche Lieblingskomponisten er habe, hätte
Chruschtschow geantwortet: "Liszt, Händel und G(K)rieg!"
Einer seiner Mitschüler zeigte ihn an.
Augenblicklich wurde Jochen zum diensthabenden Offizier beordert. Der Mann wies
ihn scharf zurecht: “Genosse Appel, von einem künftigen Offizier der
Volkspolizei erwarten wir ein klares Bekenntnis zur Arbeiter- und
Bauernregierung! Wer hat ihnen diesen Schwachsinn erzählt?”
Meines Freundes Versuch, sich auf eine ihm
unbekannte Person herauszureden misslang. Sie sahen seinen Augen an, dass er
log. Meinen Namen hätte er preisgeben müssen, um die Feind-Entdeckerlust der Inquisitoren
zufrieden zu stellen.
Jochen sah natürlich die Folgen voraus, falls er reden würde. Er hätte für
einige Minuten ernstlich geschwankt. Denn es ging um nichts Geringeres als um
seine berufliche Zukunft. Allerdings stand auch meine Zukunft und die meiner
Familie auf dem Spiel. Bis zu fünf Jahre Zuchthaus hätten mich erwartet. Ob
Erika das überstanden hätte? Er dagegen wäre für den Freundesverrat sofort
belohnt worden und zwar mit jener Beförderung die der Petzer tatsächlich
erhielt. Ich saß indessen, nichtsahnend, in trügerischer Sicherheit. Als Jochen
mir nur wenige Tage später völlig rückhaltlos mitteilte was sich ereignet
hatte, stockte mein Herzschlag. In breitem mecklenburgischem Plattdeutsch
beruhigte er mich jedoch: “Jung, ick künn die nich veroden!” (Ich
konnte dich nicht verraten) Er hätte mich immer wieder vor sich gesehen, wie
ich während der Fahrt auf dem See in meinem Boot sitze und in der Bibel lese.
(Dabei las ich auf dem See viel häufiger Feuchtwanger.) Er hätte es einfach
nicht übers Herz gebracht.
Sie verhörten ihn gnadenlos. Sie drohten und
schickten ihn weg von der Schule. Nun war er gebrandmarkt. Mit welchen Gedanken
und Gefühlen wird mein Freund, der sich entschieden hatte mich nicht zu
verraten, heimgefahren sein? Den Aufstieg so nahe vor sich, auch den
finanziellen Vorteil, zerrann seine Hoffnung wie Eis in der Sonne. Mit wie viel
Bitterkeit wird er die Ahnung empfunden haben, dass diese dumme Geschichte für
ihn noch längst nicht zu Ende war?
(Nach der Wende erfuhr Jochens Ehefrau, dass
ich die gesuchte Person war. Sie bestellte mich zu sich. Sie atmete tief durch.
Monatelang holten sie ihren Mann zu nächtlichen Verhören. Nichts weiter wollten
sie von ihm als den Namen dessen der ihm den Witz erzählt hatte.)
Jochen nahm sich schließlich das Leben, weil
er die Qualen nicht länger ertragen konnte. Auch das hörte ich erst
später. Die Vision von mir und meiner Bibel sei zu real gewesen.
Die großen, alltäglichen, gefährlichen Lügen –
und eine große Wahrheit
Sogar für mich erhob sich gelegentlich
die Frage, ob sich der Kommunismus aufgrund seiner Gummitaktik nicht doch
allmählich durchsetzen könnte. Natürlich, immer wieder werden die
Spitzenfunktionäre zuerst Fehler begehen und begehen lassen, um unwiderrufliche
Tatsachen zu schaffen, die sie für erforderlich halten, danach müssen sie
irgendwelche Sündenböcke finden, die sie für die unweigerlich eintretenden
negativen Folgen verantwortlich machen. Nikita Chruschtschow tat es
so. Das hörten wir von Westsendern, aber nun standen auch in der
DDR-Presse immer wieder Informationen die das bestätigten.
Zuerst machte Chruschtschow mit, wenn Stalin
Kardinalfehler beging, etwa als der große Diktator, 1929, die Kollektivierung
der Landwirtschaft erzwang, was zu Hungerkatastrophen mit Millionen Toten
führte, dann jedoch, 1956, als der Kremlchef sich nicht mehr wehren konnte
nannte Chruschtschow ihn den großen Sünder und Verbrecher. Stalin habe die
Hungertoten Russlands und der Ukraine zu verantworten. Oder, wie
gesagt im Fall Lyssenko, der „Wunderbiologe“ der Sowjetunion, der ebenfalls
vermeidbare Missernten zu verantworten hatte, weil er log. Aber die Misere
wurde den schutzlosen Befehlsempfängern angelastet. Eingesperrt und gefoltert
wurden die absolut Unschuldigen. Das war das Böse des Systems, das wir
gut finden sollten, aber nicht konnten.
Am 2. Juni 1959 schrieb Dr. Lothar Bolz in
„Neues Deutschland“, dem führenden Organ der Partei der Roten: „Westberlin
darf nicht länger Pulverfass sein.“ Natürlich, jeder DDR-Bürger las
zwischen solchen Zeilen: „Wir Kommunisten (Bolz war nur ein
verkappter) müssen die Situation retten, ehe wir allesamt zur Hölle
fahren. Die Sowjetpanzer sollten doch endlich losrollen und die „Kriegstreiber“
dahin schicken wo sie hingehören.“
Am folgenden Tag und an derselben Stelle hieß
es: „KPD (die westdeutsche kommunistische Partei) fordert
Verzicht auf Gewalt!“, und abermals lasen wir daraus: „Wehrt
euch nicht, wir wollen euch doch nur vor dem Weltuntergang bewahren, der dem
System der westlichen Grundordnung ohnehin bevorsteht.“
Und am 4. Juni: „Westberliner
Spionagezentrum von unschätzbarem Wert“ (für die
Kapitalisten, die Westler, G. Sk.), aber „es
ist militärisch nicht zu verteidigen“, und dann stand da geschrieben: „Franz Joseph
Strauß lässt zivile Fahrzeuge für den Tag X erfassen.“ (Damals war
Strauß Verteidigungsminister der Bundesrepublik Deutschland. Damit stand er der
DDR-Regierung als Todfeind gegenüber) Alle normalen Bürger ostseits des
„Eisernen Vorhangs“, verstanden es: Westberlin wurde von den führenden
Mitgliedern des militärisch hochgerüsteten Ostblocks heftiger denn je, als
Stachel in ihrem Fleisch empfunden. Diesen Peiniger wollten sie unbedingt
loswerden. Westberlin strahlte Wohlstand aus, den im weiter, weiten Osten
niemand kannte Chruschtschow prahlte zeitgleich mit seiner 20 Megatonnen
Wasserstoffbombe – einer Waffe der die Sprengkraft innewohnte eine Stadt wie
New York auszulöschen. Befragt, wem er sie denn zugedacht habe, antwortete er
unverfroren: „Amerika“.
Es gab in meiner Umgebung Leute die sich stolz
reckten: Wir sind die Sieger der Geschichte. Es waren diejenigen die
Posten einnahmen die ihnen Monat für Monat den dreifachen Lohn bescherten. Und,
als wäre nichts von Bedeutung geschehen, schrieb „Neues Deutschland“ am 14.
Juni 59: es gelte, den „deutschen Militarismus zu bändigen“ Immer
hielten sie uns namens des „Friedenskampfes“ in Aufregung. Am folgenden Tag
wagten die dummroten Redakteure im selben Blatt zu fordern: „Bonn (die
damalige Hauptstadt Westdeutschlands) soll die Atomrüstung
einstellen.“ Sowie 2 Tage später: „Empörung über Adenauer
Kriegskurs.“
Im scharfen Gegensatz dazu stand ein kurzes,
sehr aufschlussreiches Gespräch mit dem Altkommunisten Ernst Kay, im Frühling
1960. Kay gehörte zum Sicherheitsapparat des Panzer-Reparaturwerkes
Neubrandenburg, das niemand so nennen durfte, schließlich wollte die DDR ein
repräsentativer Friedensstaat sein. Etwas das insbesondere den Schulkindern
eingebläut wurde. Sie lernten Friedenstauben zu basteln. Alle Klassenzimmer wurden
mit den Symbolen des Guten versehen, die mit der Realität nichts zu tun hatten.
Wegen seines Status gehörte Ernst Kay
sogar zum Leitungsgremium des riesigen Rüstungsbetriebes dem Tausende
angehörten. Er verfügte damit über streng geheimes Insiderwissen und besaß
gesunden Verstand. Zu seinen Aufgaben gehörte es, uns Fischer zu begleiten,
wenn wir im vier Kilometer langen Uferbereich, in dem die Schwimmpanzer übten, unsere
Netze auslegen wollten. An jenem Morgen, im Sperrgebiet, hielt ich Kay die
Zeitung des Tages unter die Nase. Es war das für 20 Pfennige erhältliche SED-Blatt
ND (Neues Deutschland). In großen, roten
Lettern stand auf Seite 1 geschrieben: „Nikita Sergejewitsch Chruschtschow:
Für eine Welt ohne Waffen.“
Welch großartige Schlagzeile! Das sollte und
musste imponieren. Aus seinem müder Faltengesicht warf Ernst einen kurzen,
schrägen Blick auf seine Parteipresse und sagte beeindruckend kühl, aber mit
jener ungeheuren Selbstverständlichkeit, die gewisse Wahrheiten eben begleiten:
„Hei lücht!“ (Er lügt!) Das krachte wie eine platzende Granate! Seelenruhig
setzte Ernst hinzu: keiner der Kremlchefs, samt ihren Beratern, weder Lenin
noch Trotzki, weder Stalin noch Tuchatschewski, geschweige denn Malenko, hätten
jemals dermaßen brutal auf militärische Rüstung gesetzt wie der derzeitige Herr
der Sowjetunion Nikita Sergejewich Chruschtschow. Jedes Wort, das der fast
sechzigjährige Ernst Kay mit seiner heiseren, doch nicht unsympathischen Stimme
so gelassen aussprach, drang mir tief ins Bewusstsein. Dann schnitt er alles,
was er geäußert hatte, auch meine weiteren Fragen, mit der lapidaren Bemerkung
beiseite: aus Frauen und den Militärs mache er sich nichts mehr. Und fast im
selben Atemzug: „Prost!“ Er trank etwas, das wie Wasser aussah. Er betrachtete
den Rest des Inhaltes traurig und steckte die kleine Flasche zurück in eine
Tasche seines weiten Jacketts, wo er sie hergeholt hatte, wobei er mich mit seinem
weltmännisch klugen Blick auf die letzte Schlussfolgerung seines bewegten
Arbeiterlebens hinwies: für ihn sei die pünktliche Einnahme seiner
Seelenmedizin immer noch das Wichtigste. Ich nickte unwillkürlich. Sein Wort: “Hei
lücht!“, wog tonnenschwer.
Eines Tages, als ich von der Arbeit mit meinem
Fahrrad heimkehrte traf ich Herrn Wilke wieder. Mein Mitarbeiter Kurt Meyer und
ich hatten Wochen zuvor von ihm eine Einladung zu einem Gespräch erhalten. Er
wirkte als Katechet der evangelischen Kirche. Wir gingen am
vereinbarten Tag hin. Uns war klar, er hatte sich vorbereitet und mit dem
anstehenden Thema vertraut gemacht. Er würde also nichts aus “dem Hut heraus” posaunen.
Kaum saßen wir da, lehnte der etwa dreißigjährige freundliche Mann sich in
seinem Sessel zurück. Er schaute an die Zimmerdecke, schloss die Lider und
sagte dann: “Es tut mir leid meine Herren, dass ich heute ihren Glauben
zerstören muss.” Kurt schaute mich augenrollend an, ich hob die Stirn. Und
dann kam der Satz: “Es ist unchristlich, dass die Mormonen ihren
Propheten Joseph Smith anbeten!”
Ich bin nicht sicher ob wir höflich genug
waren, nicht laut aufzulachen. Was sollten wir machen? Nun an diesem Tag stieg
vom Fahrrad ab grüßte ihn und fragte nach, ob er das Buch Mormon gelesen hat,
das wir ihm übergeben hatten. Mir ist nicht mehr in Erinnerung was er dann
sagte, aber ich werde nie vergessen, dass ich ihm sagte: Wir alle müssen, wie
Petrus, Gott um eine Antwort bitten, wenn es um wichtige Fragen unseres Lebens
geht, und zitierte Matthäus- Evangelium: 16, die Verse 13-17 „Da
kam Jesus in die Gegend von Cäsarea Philippi und fragte seine Jünger und
sprach: Wer sagen die Leute, dass der Menschensohn sei? Sie sprachen:
Einige sagen, du seist Johannes der Täufer, andere, du seist Elia, wieder
andere, du seist Jeremia oder einer der Propheten. Er sprach zu ihnen: Wer
sagt denn ihr, dass ich sei? Da antwortete Simon Petrus und sprach: Du bist
der Christus, des lebendigen Gottes Sohn! Und Jesus antwortete und sprach
zu ihm: Selig bist du, Simon, Jonas Sohn; denn Fleisch und Blut haben dir das
nicht offenbart, sondern mein Vater im Himmel.“
Ich wiederholte, dass wir, gleich Petrus,
durch die Macht des Geistes Gottes bedeutende Wahrheiten erfahren können.
Das gerade ausgesprochen, ergoss sich über mich pure Freude und Licht. Der
Eingebung lauschend, war es die Gewissheit nun erhört zu werden. Umgehend
verabschiedete ich mich, stieg nicht aufs Fahrrad, sondern sagte, während ich weiter
ging, in tiefen Gedanken: „Mein Gott, nun hörst du mich.“ Sofort
kam es zurück, machtvoll im besten Sinne des Wortes, und erhebend. Ich schritt
die etwa 800 Meter zu meinem Heim langsam. Bis ich dort ankam, war es wieder
und wieder über und in mir, die Bestätigung auf meine oberste Frage: „Herr,
war Nephi eine historische Persönlichkeit?“ Mit großer Kraft kam es wortlos
positiv zurück. In diesen zehn, fünfzehn Minuten nannte ich jeden Namen von
denen das Buch Mormon Bericht gab. Jeder Name wurde mir auf dieselbe Weise
bestätigt. Da war es was ich fast drei Jahre zuvor erbeten hatte. Ich kam oben
in meiner Wohnung an, warf mich in den Sessel und sagte tief bewegt zu
Erika: „Jetzt weiß ich mit Bestimmtheit!“ Aber es hatte seinen
Preis, zuvor musste ich beweisen, dass die Verpflichtungen die ich einging, von
mir erfüllt wurde. Mir kam seither oft in den Sinn, dass Nephi, wenn er vor
Gott seine wichtigsten Fragen stellte, nicht einfach ein paar Worte plauderte,
sondern er stieg auf einen hohen Berg. Damit war er Gott räumlich nicht näher,
aber innerlich. 1. Nephi 17:7
Bei aller Erkenntnis müssen wir des Alltags
Mühen durchleben
Wir erlebten im Frühling 1961, wie
hunderttausende Kleinbauern, - oft Flüchtlinge die in Hinterpommern und
Ostpreußen ihre Existenzgrundlage verloren hatten - infolge der Enteignungen
der Großbauern, Eigentümer von durchschnittlich 10 Ackerland, Wiesen und Wälder
wurden, nun erneut alles verlieren sollten. Die Aktion lief unter dem Namen
„sozialistischer Frühling“. Alle erdenklichen Mittel wurden eingesetzt die
Eigner zu überzeugen und letztlich zu zwingen ihr Eigentum aufzugeben. Sie
sollten nun als Genossenschaftler gemeinsam wirtschaften. Sie wiesen den heftig
drängenden SED-Agitatoren ihre Besitzerurkunden vor. Vergeblich. Sie beriefen
sich auf den DDR-Staatschef Walter Ulbricht, der im Herbst 1945 versprochen
hatte, dass "den Bauern, die den Boden haben, keine Macht der Welt
ihn wieder wegnehmen könne.“ Es half alles nicht. Die „Partei“ hatte
beschlossen, dass ausnahmslos alle „Neubauern“ ihr Land und Vieh zusammenlegen
mussten. Natürlich brachte die gemeinsame Bewirtschaftung große Vorteile, aber
es war der Zwang, der sie niederdrückte. Bislang waren sie ihre
eigenen Herren, nun wurden sie degradiert zu Befehls- und Lohnempfängern. Sie
hatten sich zu beugen. Viele flohen daraufhin in den Westen.
Am 13. August 1961
errichtete die Partei die Berliner „Mauer“ über Nacht und zuerst nur mittels Stacheldrahtes, und umgehend mit Beton. Es bestand die Gefahr, dass den Herrschenden eine weitere Million Menschen oder sogar mehr, die teilweise kostspielig gut ausgebildet waren, davonlaufen würden.
Im Monat Juli waren es schon 30.000 und
am 12. August 1961, also an einem einzigen Tag, flüchteten 3.200 Personen. Großeltern
die ihre Kinder in der angrenzenden Straße besuchen wollten standen hilflos da.
Ich selbst hatte das Gefühl, dass sich hinter mir eine Gefängnistür für immer
schloss. Walter Krause beruhigte mich: Präsident David O. McKay habe gesagt.:
Es kommt nicht zum Krieg. Ausgerechnet zu dieser Zeit, oder wenig später gab es
ein fischereiliches Großereignis. Wir gingen Tag um Tag derselben immer neuen
Arbeit mehr oder weniger erfolgreich nach.
Es kam der November herauf
Wilhelm Bartel und ich wurden zum Rat
des Kreises bestellt. Dort legte man uns ein Papier vor. Es handelte sich um
einen -Aufruf zur Planerfüllung und Übererfüllung. “Wettbewerb für
sozialistische Genossenschaften” stand da oben geschrieben. Wenn wir die
staatliche Planauflage allseitig erfüllten, dann erhielten wir die Summen
oberhalb einhundert Prozent aus dem Betriebsgesamtplan steuerfrei als
Nachzahlung. „Das gibt es nicht!”, erwiderte Wilhelm Bartel fast
erschrocken und steckte sich an dem heruntergebrannten anderen ein neues
Zigarillo an. Üblicherweise unterbrach er das Rauchen nur für zehn Minuten.
Diesmal nicht.
Wir fuhren mit unseren Fahrrädern wieder
hinunter zur Fischereibaracke. Während wir radelten, rechnete er mir, bereits
wieder desillusioniert und überzeugend vor, dass es uns ohnehin leider nicht
betreffen würde. Wir könnten allenfalls den Finanzplan, auch noch den
Konsumfischplan erfüllen und übererfüllen, aber im Bereich Feinfische blieben
wir, wie üblich, weit vor dem Ziel stecken. Schade. Wann gäbe es eine Chance
wie die uns soeben angebotene wieder? Steuerfreiheit für Gewinne? Nie!
Biederstaedt bekräftigte dieses Unmöglich! Von den geplanten 28 Tonnen
Feinfischen (Edelfischen) fehlten zehn. Die Fehlmenge war, nur finanziell
allerdings, durch vermehrte Anlandungen anderer Fischarten ausgeglichen worden.
Im November ereignen sich keine Fangwunder mehr. Jedenfalls nicht in dieser
Größenordnung. Das sei gewiss. Auch er zog die Achseln bedauernd und schüttelte
den Kopf. Wunschträumen gäbe er sich in seinem Alter nicht mehr hin. Gegen uns
drehte sich sogar der Wind. Er blies in den ersten acht Novembertagen heftig
aus Ostsüdost. Der durch ihn erzeugte Tiefenstrom würde allenfalls die großen
Barsche in Zugnetzbereiche treiben. Aber zehn Tonnen große Barsche gab der
Tollensesee selbst in besten Fangjahren nicht her. Das leuchtete mir ein,
obwohl ich erst fünf Jahre dabei war. Vom langgestreckten Tollensesee konnten,
mit den uns derzeitig verfügbaren Mitteln, etwa 85% der Gesamtseefläche
fischereilich nicht erfasst werden. In diesen Rückzugsgebieten bleiben die
besten Fische stets ungestört. Bartel versuchte uns zu ermutigen, dennoch das
Mögliche zu tun. Die Lieps habe ihre Mengen zwar längst abgegeben. „Doch
wir haben den Krickower und den Neveriner See noch nicht abgefischt.” Zusammen
könnten und würden uns die beiden Gewässer zwei Tonnen Feinfische bescheren. Wo
jedoch ließe sich eine dritte, vierte, achte Tonne Feinfische fangen? Da zuckten
alle resignierend die Achseln. Nirgendwo!
Das Zugnetz und die Kähne wurden zunächst
eiligst nach Neverin transportiert, wo - auf dem 12 ha kleinen Gewässer
mit bekanntlich hoher Produktivitätsrate - tatsächlich, wie vorausgesagt, eine
Tonne Zander gefangen wurde. Anschließend ging es nach Krickow. Phantastische
Gedanken- und Zahlenspielereien zogen durch unsere Köpfe. Aber bei genauer
Betrachtung kamen immer nur Minuszahlen heraus: zum Schluss werden uns, selbst
im günstigsten Fall, mehr als sechs Tonnen fehlen. Eifrig, begleitet vom Sausen
des starken Ostwindes, setzten wir die Netzteile im steilscharigen Krickower
See aus. Sofort, als wir das große Netz in Bewegung brachten, ging das von
Plasteschwimmern an der Seeoberfläche gehaltene Garn der rechten Seite unter.
Es hakte. Die Männer, die diesen Flügel zogen, begaben sich so schnell wie sie
konnten an jene Stelle der Netzwand die zuerst abgetaucht war. Dort musste ein
Hindernis in der Tiefe liegen. Eine Stunde lang wühlten und stöhnten sie. Es
kam nach und nach ein sonderbarer Aufbau, schließlich eine ganze komplette
Kutsche zum Vorschein. Fünfzehn Jahre lang muss das Netz günstiger ausgelegt
worden sein. Der Riss, von der versenkten Kalesche verursacht, konnte schnell
ausgeflickt werden, doch alle Mühen waren schließlich vergebens. Denn Feinfische
gab es dort nur kiloweise. Wir rochen die Frostluft. Das Ende der Saison stand
uns also aus Witterungsgründen unmittelbar bevor. Bartel zog das schiefe
Gesicht wieder gerade. Er hatte es ja gleich gesagt. Er habe sich nun endgültig
damit abgefunden, dass schöne Träume bleiben, was sie sind. Nur Witte und ich
wollten es noch einmal mit dem Einsatz des Zugnetzes auf dem Tollensesee
versuchen. Einige beschimpften uns als Spinner. Es habe ja doch keinen Zweck.
Zehn Tonnen Hechte oder große Bleie fing man nicht mehr im vorgerückten
November, schon gar nicht bei Ostwind, sondern höchstens die minderwertigen
Plötzen. Wir zankten uns. Es dunkelte bereits, aber schließlich mit
Unterstützung anderer, die mir gegen alle Vernunft halfen, verluden wir das
Zeug, verbissen, in der Hoffnung auf ein Wunder, um dann zur Nachtzeit die
nächsten erforderlichen Voraussetzungen für weitere Züge zu schaffen.
Der 13. Novembertag des Jahres ‘61 begann trist. Nur weil es ihre Pflicht forderte zu fischen, fuhren auch die Spötter mit uns auf den See. Meine Hoffnung brannte noch lichterloh. Natürlich, manchmal gibt es nichts mehr zu hoffen und man rennt dennoch. Wir legten das große Zugnetz, auf halbem Wege zwischen Neubrandenburg und Buchort vierhundert Meter, von Land aus. Je zweihundert Meter parallel zum Uferstreifen. Allen Bemühungen zum Trotz fingen wir innerhalb fünf Stunden nur vier Stück Kleine Maränen, eine Art Forelle. Namens Coregonus albula, Stückgewicht bis 400 Gramm höchste Qualitätsstufe, wenn geräuchert eine seltene Delikatesse Das war noch nicht einmal ein einziges Kilogramm Fisch. Die einen freuten sich, wir andern zogen die Mundwinkel herunter. Die Klügeren hatten Recht behalten. Enttäuschung ist wahrscheinlicher als Erfüllung. Bösartig argumentierend könnte man sagen: der See sei bereits „überfischt“ worden. Die Uhrzeiger rückten auf die zweite Nachmittagsstunde vor. Winterluft wehte wieder spürbar. Der Wind blies nun aus Nordwesten. Doch so plötzlich wie er aufgekommen war, legte er sich wieder, wie das an Nachmittagen häufig üblich ist. Selbst Biederstaedt verspürte nur noch wenig Lust, noch einen weiteren Zug anzulegen. Sie entmutigten einander und ich gab ebenfalls auf. Wir dachten an die uns bevorstehende Freizeit. Also fuhren wir, die nächste Enttäuschung hinter uns lassend heim. Der Motor brummte. Kurt Reiniger legte den Gang ein. Schäumend wirbelte des Kutters Heckwasser. Kurt mied die gefährlichen Steine unterhalb des Steilufers von Belvedere. Er steuerte auf Augustabad zu. Dieser kleine Umstand sollte große Folgen haben. Denn da, fünfhundert Meter von Land, passierte etwas. Da, noch einmal! Das dürfte keine Täuschung gewesen sein. Fast unbemerkbar, wie ein Lamettafaden aufblitzt, der in der Dunkelheit der Nacht in einhundert Meter Entfernung nur kurz vom schwachen Mondlicht beleuchtet wird. Wieder! Und wieder. Diesmal zwei oder drei dieser winzigen nur für den Bruchteil einer Sekunde erscheinenden Silberstreifen, aber bereits nur noch sechzig, siebzig Meter von uns entfernt. Sie kamen uns entgegen!, rissen mich aus der Lethargie in die Höhe. Biederstaedt bemerkte es ebenfalls. Er legte die Hand beschattend über seine starken Augenbrauen. Wir starrten nun zu zweit. Wie elektrisiert und in Hochspannung versetzt und abwartend wandten wir unsere ganze Aufmerksamkeit der plötzlich sich völlig glättenden Wasserhaut zu. Fritz Reiniger stieß die rechte Hand vor. „Maränen!”, rief er. Auch er erregt. Jetzt erschienen vier, fünf Silberfunken auf einmal, mehrten sich. Alle sahen nun das sich unglaublich schnell entfaltende Bild. Immer mehr Fische sprangen aus dem Seespiegel heraus. „Maränen, Maränen! Überall Maränen.” Nur der Kutterfahrer Kurt Reiniger ahnte nichts. Er saß in der Kabine und hatte lediglich den stumpfen Turm der Marienkirche im Blick. Purer Übermut trieb diese auf Hochzeit gestimmten Winterlaicher. Nur für zehntel Sekunden ließen sich die Einzelexemplare blicken. Mit großer Geschwindigkeit sausten sie knapp über den schnell durchschnittenen Wasserspiegel hin. Geräuschlos für uns, noch, solange der Kuttermotor lief. Von meinem Arbeitskahn aus schlug ich mit ziemlicher Wucht und mit der flachen Seite meines Ruders auf das Dach der Fahrerkabine, unseres neuen Kutters. Jäh aus seinen Träumen gerissen wandte sich Kutterfahrer Kurt Reiniger um. Wütend stieß er das kleine, hintere Fenster auf. Seine Stirn furchte den Ausdruck unbeherrschter Wut. Sein stets gebräunt wirkendes Grobschmiedsgesicht schien Hass zu sprühen. Er fauchte mich an und ich fauchte zurück: „Bist du blind?” Ringsherum spritzten die Silberlinge inzwischen zu Tausenden immer mutiger, immer höher hinaus, immer weiter, übermütig, wie es schien. Fritz Reiniger, Kurts Bruder, gab ihm Weisung, er möge sofort wenden. Seinem älteren Bruder laut zu widersprechen, hätte Kurt nie gewagt. Doch offensichtlich immer noch in Zorn zog Kurt sich zurück. Ich vermutete richtig, dass er da im Motorenraum maßlos vor sich hin geflucht hat und dennoch gehorchte. Er muss das Steuerrad aus Ärger gefühllos herumgerissen haben, denn sofort schleuderten die Kähne bedrohlich scharf nach außen. So sind selbst schon höherbordige Boote zum Kentern gebracht worden. Noch befanden wir uns vier-, fünfhundert Meter von der Einfahrtsrinne zum Oberbach entfernt. Da war der See noch tief genug. Noch konnte Kutterfahrer Kurt einen Halbkreis mit Vollgas ausfahren. Das mutete er uns auch zu. Wir gerieten unnötigerweise in diese Schieflage. Lediglich Millimeter fehlten und das schäumende Wasser wäre nicht nur spritzerweise, sondern massiv in die Arbeitskähne hineingeschlagen. Wo das passiert war, da gab es bereits der Netze wegen, die dann automatisch über die Gekenterten hinweggeschleppt werden, Tote. Das war mancherorts geschehen. Dem Umkippen immer noch nahe, noch während des hitzig ausgeführten Wendemanövers wiederholte sich das Schauspiel unmittelbar neben uns. Aus den von uns verursachten Wellen sprangen nun die kostbaren Fischchen und zeigten sich jetzt in voller Pracht ihres Gruppenfluges. Das war einmalig betörend. Als wir auf Höhe der Linie Belvedere - (ehemalige) Torpedoversuchsanstalt ankamen, warfen wir das Netz zum zweiten Mal aus. Die Sonne färbte den Horizont bereits rötlich zu Rot, dann violett zu herrlicher Farbenvielfalt. Von der Trommelwinde fuhren wir jeweils ungefähr vierhundert Meter Drahtseil ab. Dann im flachen Seebereich steckten wir unsere Haltepfähle in den sandigen Seeboden, kurbelten die kleinen Dieselmotoren der Maschinenwinden an und warteten eigentlich eher ungewiss darauf, wann das zwar recht lange, aber nicht sehr tiefe Netz endlich auftauchen würde. Denn durch den Wasserwiderstand, der den Maschen entgegensteht, baucht das Fangnetz während der Windephase beträchtlich aus. Manchmal ist es dann nur noch sechs Meter hoch. Reduziert um fast die Hälfte der theoretischen Stauhöhe. Solange also die Flottenleine nicht an die Seeoberfläche stieß, war den Fischen der Ausbruch durch einfaches Überschwimmen des Netzes allemal möglich. So können selbst die größten Fischschwärme bis auf den letzten Schwanz entkommen. Ihrem Instinkt folgend haben sogar die in Laichstimmung hineintaumelnden Fische stets noch ihre Fluchtchancen. Deshalb sahen wir dem Zeitpunkt des Netzauftauchens eher gelassen, als mit hochgespannter Erwartung entgegen. Zu oft hatten wir es erlebt, dass selbst Großfische mitten auf dem ‚Zug’ im scheinbar sicher eingekreisten Bereich aus Lust oder Erregung herausplatschten und dann war es doch nicht gelungen, sie zu fangen. Die Unberechenbarkeit der stets nur teilweise eingekreisten Fische machte die Arbeit so spannend. Trotz enormen Fleißes unsererseits blieb sie ein Glücksspiel, und deshalb gewöhnte man sich nach und nach, selbst bei allerbesten Anzeichen ab, irgendeine Fanghoffnung zu übersteigern. Doch, wo immer die ‚Springer’ ihre Anwesenheit demonstrierten, da bemühten wir uns auch, sie zu fangen. Es geschah in diesem Augenblick bereits das nächste wunderbare Ereignis. Wie von Geisterhand bewegt flog das Netz plötzlich auf einem guten Drittel seiner Gesamtlänge, also auf einer Länge von etwa zweihundert Metern in die Luft. Wie mir schien, einen halben Meter hoch. Ein Silberrand ohnegleichen. Das war eine Sensation. Mir ging vor Staunen der Mund auf. Noch nie hatte ich - sowie meine Kollegen - Vergleichbares erlebt. Gegen das Gesetz der Schwerkraft kann das tonnenschwere Netz sich nicht aus dem Wasser in die Lüfte erheben, nicht einen einzigen Millimeter. Und doch war es so. Die Männer vom nebenan liegenden Boot schrieen jubelnd: „Wir haben sie.” Was war wirklich geschehen? Es gab nur eine Erklärung: Alle Energie, die von aufgerüttelten Maräneninstinkten zur Überlebenssicherung in zehntausenden Fischen zeitgleich freigesetzt wurde, verlor sich im gemeinsamen Anrennen gegen die Netzwand.
Die Vorderen rasten mit ihren spitzen Köpfen in die Maschen, die nächsten stießen gegen die aufgeregt weiterschwimmenden, aber schon gefangenen und die letzten, meisten, taten das Übrige. So schob eine Fischwelle die andere in Panik vor sich her und verursachte auf diese Weise das sensationell sichtbare Ergebnis dieses Massenansturmes. Unmittelbar hinter den schon kahlen Buchenkronen und der Silhouette von dem im klassizistischen Stil erbauten, tempelartigen Belvedere zog sich schon die Sonne zurück und färbte den hinter dem Zugnetzsack liegenden Seeteil von violett zu blaugrau, strengen Frost ankündigend. Über dem Wadensack in nahezu noch dreihundert Metern Entfernung flatterten tausend Seeschwalben und Möwen. Wie aufgewirbelte, weiße, schnell ihre Konturen ändernde Wolken wogten die Vogelscharen. Immer wieder stießen die Räuber aus der grauweißgesprenkelten Höhe herab und zerrten mehr oder weniger erfolgreich an den mit ihren Silberleibern in den Netzmaschen steckenden Fischen. Rings herum tönte dieses wilde Kreischen. Inzwischen fuhren wir mit unseren pechschwarzen Arbeitskähnen mittig im Flachwasserbereich zusammen, um schließlich die Arbeit des Garneinholens vorzubereiten. Noch lag die von weißen Ekazellflotten umrahmte Seefläche spiegelblank vor uns, als sich plötzlich, ohne Windeinwirkung, eine erhebliche Woge auf uns zubewegte. Ozeanische Massen Maränen! Niemand konnte sie aufhalten. Jedes Stellnetz, das wir vielleicht als Sperre hätten einsetzen können, wäre von ihnen binnen Sekunden zu Boden gerissen worden. Unter dem Verlust einiger hundert Leiber hätte sich die Masse freie Bahn gebrochen. Das müssen hunderte Zentner gewesen sein. Sie erschwammen sich ihre Freiheit durch Gleichzeitigkeit ihrer Flucht. Wir sahen im niedrigen Wasser unter uns die zahllosen Fische, die Leib an Leib gedrückt schnell dahinschossen. Entzückt und zugleich von Ärger betroffen sahen wir staunend diese unglaublich großen, blauschimmernden Scharen. Oft stand mir später dieses Bild vor Augen und irgendwann kam mir der Gedanke: Keine totalitäre Regierung der Welt, könnte ihre Grenzzäune halten, wären fluchtwillige Menschen fähig ihre Verstandeskräfte zeitgleich einzusetzen.
Endlich, bei allmählich schwindendem
Tageslicht konnten wir den Kreis schließen. Von dem Augenblick an, wenn die eng
beieinander liegenden Fangboote das Zeug einholen, mindern sich für die
restlichen, im Umfassungsraum herumschwimmenden Fische die Möglichkeiten zu
entkommen erheblich. Die beiden Netzwände kamen nun wie ein silbern genoppter
Teppich heran. Nach und nach, während des Zuladens des fischgespickten Garns
brachte die beiden Kähne fast zum Sinken. Wie Hirschgeweihe stießen die
Vordersteven unserer Boote in die Höhe, während die Heckteile nahezu mit der
glücklicherweise nun völlig ruhigen Wasseroberfläche abschnitten. Wir durften
uns kaum noch bewegen, sonst gingen wir unter. Massenweise versuchten die
verbleibenden Maränen im Wadensack Platz und Durchkommen zu finden. Da
schwammen sie zwar noch, waren aber, wie die in den Maschen steckenden,
endgültig gefangen. Anders wären wir der Fischmassen nicht Herr geworden.
Einhundertundsechsundsiebzig Zentner Maränen konnten wir in dieser Nacht aus
den Weiten des Wadensackes herauskeschern. „Fast neun Tonnen!“ jubelte ich, -
ich glaube laut. Glücklicherweise sanken die Temperaturen in den Minusbereich.
Wir fühlten uns mehr als beschenkt. Biederstaedt schlug lachend, wuchtig und
kreuzweise die steifen Hände und Arme über der Brust zusammen.
„Dat sünd de ollen Tieden!”, ("Wie in guten alten
Tagen!") frohlockte er. Sein flächiges Gesicht strahlte: „Dat
sünd de teigen Tunnen!”
Und mir kam zweierlei in den Sinn, die
Bibelpassage als der Auferstandene die von ihrem Fangergebnis enttäuschten
Jünger auf dem See Genezareth ermutigt: „Werft das Netz auf der rechten
Seite des Bootes aus und ihr werdet etwas fangen. Sie warfen das Netz aus und
konnten es nicht wieder einholen, so voller Fische war es.“ Das war
zugleich eine Metapher: Geht ihr Menschenfischer und fangt mit dem
Evangeliumsnetz so viele wie ihr tragen könnt.
Ich schaute Fritz Biederstaedt an: wir beide
irrten: Da hat die Partei, die wir beide nicht mögen, doch etwas Gutes zustande
gebracht, in dem sie 1953 darauf drang in unseren See 5 Millionen
Maränenbrütlinge einzusetzen. Das musste ich dankbar anerkennen.
Es war nur sonderbar, dass wir während der
Fangperioden über Jahre bloß hin und wieder ein paar Silberlinge gefangen und
sonst nichts von ihnen bemerkt hatten. Plötzlich schien der See von Maränen
überzuquellen. Geheimnisse der Tiefe. Sie hatten sich gesammelt. Aus den Weiten
der siebzehn Quadratkilometer Fläche, verteilt auf die durchschnittliche
Wassersäule von sechsundzwanzig Metern waren uns die Kleinen Maränen in letzter
Minute glücklicherweise entgegengeschwommen. Sie hatten gezeigt, dass es sie in
Massen gibt und ich erkannte, wie wenig wir vom Geschehen unterhalb der
Wasserhaut wussten.
In den folgenden Jahren setzte sich der
positive Trend fort und ich konnte mehrere fachliche Abschlüsse erwerben.
Verlockendes Angebot
Prillwitz liegt am malerisch schönen Südufer der Lieps
Bild: Wikipedia
Dieses Gewässer ist eines der vielen blau und grün-bunt schillernden Pfauenaugen in der Mecklenburger Landschaft. Dieter Helm, Vorsitzender der PGH “Heinrich Hertz” spielte mit seiner goldenen Posaune zum Betriebsfest der Fischer auf. Seine kleine Kapelle tönte herrlich. Aber nun schon weit nach drei Uhr morgens, an diesem Junitag des Jahres 1964, konnten selbst die schönsten Töne keinen Tänzer mehr auf das Parkett des Festsaales locken. Ich ging langsam und nachdenklich zur Anlegestelle für die Fahrgastschiffe hinunter. Da lag die “Fritz Reuter”, das weißblaue Passagierschiff im Dunst des heraufdämmernden Tages und wartete auf uns. Ich wandte den Blick zum roten Gebäude, indem unser kleines Betriebsfest stattgefunden, und wo ich die Verse meiner humorige Spottzeitung vorgetragen hatte. Es war das vielleicht schönste der Schlösser der ehemaligen Mecklenburg-Strelitzer Herzöge, das ich sah. Es schimmerte durch die Stämme und das Blätterdach einiger weniger, aber gewaltiger Platanen hindurch.
Dann sah ich beide Göcks ankommen. Auch sie
erschöpft, wie man sah, aber beide in heiterer Stimmung. Hermann ging wie stets
ein wenig nach vorne gebeugt. Sie untersetzt und von sehr fraulicher
Molligkeit. Als sie eingestiegen waren lächelten sie freundlich. Am
Nachbartisch nahmen sie Platz. Nach ein paar Minuten der Entspannung schaute
Hermann herüber: „Setze dich zu uns!” Ich nahm die Einladung
an. Ich mochte beide wegen der Herzlichkeit, die sie mir nun entgegenbrachten.
Die Sonne, im Begriff aufzugehen, rötete den Himmel im Nordosten und seine
Widerspiegelung befand sich am Horizont links über dem Areal, wo das versunkene
Wendendorf Bacherswall einst gelegen hatte. „Wie geht es deiner Frau?” Es
klang mir nicht nur angenehm, es war echt. Es erinnerte an die
erste Begegnung, als Erika mit unserem damals zweijährigen Sohn Hartmut neben
Göcks auf der Fischerinsel im Schatten der hohen rauschenden Pappeln an einer
Festtafel Platz nahm. Fritz Biederstaedt hatte sie so herrlich arrangiert. Gekonnt
war die aus einfachen Klapptischen bestehende, teilweise mit weißen
Tischtüchern abgedeckte lange Tafel dekoriert und hergerichtet worden. Die
frischen Räucherfische dufteten. Die Menge der Delikatessen bot einen
verlockenden Anblick. Die Gläser blitzten im Gefunkel der vom nahen See
spiegelnden Sonnenstrahlen. Nicht weniger beleuchtet sahen wir die je dreißig
Teller und Tassen. Für jeden gab es einen ganzen, goldbraun geräucherten Aal.
Das sei ja unglaublich, hatte Helene Göck gerührt ausgerufen, als wir gebeten
wurden ungeniert zuzugreifen. Erika trug an jenem Nachmittag ihr schönes blaues
Kostüm, Hartmut eine rotweiße Bluse. Helene Göck nickte, als ich es erwähnte.
Sie denke ebenfalls sehr gerne an diesen Tag und die Harmonie der Feststunden
zurück.
Wie es Erika jetzt ginge? „Danke für die
Nachfrage!”, erwiderte ich. „Von der letzten Herzattacke hat
sie sich erholt. Es geht wieder bergauf.” Hermann sagte: „Grüße
sie von uns!” Dann fuhr er fort: „Wir haben Dich beobachtet.” Seine
Augen blitzten auf, als er feststellte: „Du hast dich korrekt verhalten.”
Er meinte wahrscheinlich, ich hätte die Gelegenheit des Betriebsfestes nicht
genutzt, um mit hübschen Damen zu flirten. Ich dachte mir meinen Teil. Die
anderen kamen inzwischen den nur etwa einhundert Meter kurzen Weg vom Schloss
zur Anlegestelle herunter. Hermann Witte paffte eine Zigarre. Er trug einen
braunen Schlips zu seinem hellen Anzug und machte ein Gesicht wie ein
kerngesunder VEB-Direktor, jedenfalls war er auffallend runder geworden. Wenn
er so ging, die Beine nach außen aufsetzend und dabei langsam, genussvoll den
Rauch seiner Kubazigarre in die Luft blasend, signalisierte er, dass sein Glück
vollkommen sei. So standen nun mehr als zehntausend Mark auf seinem Konto. Er
besaß ein neues Motorboot und hatte einen Bungalow in schöner Uferlage gebaut.
Von Woldegker Zeiten war keine Rede mehr, als Fischkisten dreiviertel seines
Wohnzimmer Mobiliars ausmachten. Immerhin war ihm im Ausstickungswinter 63 die
Idee gekommen, mittels einfacher Stalllaternen, die er an die Eislöcher
stellte, die taumelnden nach Sauerstoff ringenden Fische anzulocken um sie mit
den vielen vom ihm speziell konstruierten Senken zu fangen. Sonst wären sie
verreckt. In einer einzigen Nacht war ihm gelungen, fast dreißig Zentner
hochwertiger Schleie zu überlisten. Augenblicklich gefroren sie zu Stein. Das
tötete sie nicht, nicht alle jedenfalls. Denn vierundzwanzig Stunden später,
begannen einige der noch in hölzernen Kisten im Sortierraum stehenden Fische
wieder zu zappeln. Ganz allmählich waren sie aufgetaut. Hermann Witte schuftete
immer, sobald er sah, dass es sich lohnen würde. Sein Pflichtbewusstsein hätte
Faulheit gar nicht zugelassen. An diesem Morgen nach durchfeierter Nacht muss
ihm der Gedanke zu Kopf gestiegen sein, dass er nun wer geworden war.
Der Motor des Fahrgastschiffes begann
beruhigend zu schnurren. Das Boot legte ab und nahm eine Kurve beschreibend
langsam Fahrt an. „Wie wäre es, Gerd Skibbe, wenn du den Vorsitz in der PwF
übernimmst?” Obwohl mich dieses Angebot Hermann Göcks nicht wirklich
überraschte, schmeichelte es mir. Er war Mitglied der Bezirksleitung der SED,
genauer gesagt Göck war der Vorsitzende der Bezirkspartei-Kontroll- Kommission
und hätte die Macht gehabt, mich im Verlaufe der nächsten Monate an die Stelle
des gesundheitlich doch schon recht angeschlagenen Wilhelm Bartels zu setzen. Wilhelm
hatte seine sowjetrussische Gefangenschaft, die mit dem Desaster der
Stalingradkapitulation begann, mit Ach und Krach einigermaßen überstanden. Doch
sein Dauerrauchen ruinierte ihn. Selbst als Gefangener tauschte er nach eigenem
Bekenntnis sein Brot gegen Machorka.
Mittlerweile erreichten wir den „Alten Graben“,
den sechshundert Meter langen Kanal zwischen Tollensesee und Lieps. Was beide
Göcks eigentlich wissen mussten: ihre, wenn auch unausgesprochenen Bedingungen,
die sie vor meine Beförderung setzten, konnte ich nicht akzeptieren. Durch die
Scheiben schaute ich hinaus, sah die Birken, die den Wall der schmalen, gerade
wieder ausgebaggerten Wasserverbindung säumten, und dachte, nun bist du
vierunddreißig. Das ist ein guter Zeitpunkt noch mehr aus deinen Möglichkeiten
zu machen. Hermann Göck könnte dich sogar noch weiter nach vorne bringen. Ich
käme meinem Ziel, einen Studienplatz an der Fischerei-Ingenieurschule in
Hubertushöhe zu bekommen, näher. Zudem ging es in der DDR sichtlich voran. Wer
es sich leisten konnte, fuhr ein Auto, zumindest einen aus Plaste bestehenden P
50. Die Schließung der Grenze lag jetzt drei Jahre zurück und je länger ich das
Eingesperrtsein erlitt, umso mehr gewöhnte ich mich an diesen Dauerschmerz, der
immer mehr abnahm. Nachdem ich mir ersparte, immer wieder bewusst dem Verlust
der Freiheit nachzutrauern, konnte ich ganz gut mit den Verhältnissen leben.
Schließlich bedeutete mir meine Frau und meine beiden Söhne das höchst denkbare
Glück.
Die Göcks betrachteten mich geduldig. Ihnen
war klar, dass es mich reizte, ihr Angebot anzunehmen: „Du kannst doch
mehr als Fische zu fangen. Komm zu uns in die Partei! Wirf deine Bedenken
einfach über Bord.” Bis jetzt hatte ich mich ziemlich eng an Polonius guten
Rat gehalten: „Sei dir selber treu!” Und das hat seine Konsequenzen: „Daraus
folgt wie Tag der Nacht, du kannst nicht falsch sein gegen irgendwen.” Zwanzig
lange Propagandajahre hatte ich mich aus meinen Gründen gegen den auch mich
gelegentlich nicht wirkungslos anfallenden Atheismus gestellt. Kaum eine andere
Sache hatte mich mehr beschäftigt als die dazu gehörenden Fragen. Mein Fazit
war, dass meine Mitmenschen nicht als Folge von Bemühungen Atheisten geworden
waren, sondern nach meiner Erfahrung ist es umgekehrt. Nach Formulierungen
König Benjamins im Buch Mormon, ist der Atheismus ein Naturgewächs. Es
entspringt unserem Wesen und diesem Wesen entspricht, dass wir wie Wasser den
Weg des geringsten Widerstandes suchen. Kulturgeschöpfe aber, wie der Glaube an
einen liebenden, planenden Gott, müssen sich gegen den Selbstzerstörungstrieb
der menschlichen Natur wehren. Schlimmer! Meinem Verständnis nach war und
ist der allgemeine Atheismus, eben weil er natürlich ist, das Einfallstor für
Opportunismus und inneres Chaos. Viele Genossen waren Opportunisten, auch wenn
sie das vehement bestritten. Wenn ich sie an dem maß, was sie mir unter vier
Augen sagten, glaubten die meisten den Direktiven und Parolen ihrer Partei nur
partiell. Sehr viele ordneten sich ihr nur aus taktischen Gründen der
Vorteilsuche unter. Sozialismus war für sie und mich dasselbe. Nämlich eine
künstlich erzeugte, erpresste Realität. Wie überstrenge, herrschsüchtige Väter
ließen die Protagonisten dieses Systems, keine andere Meinung neben ihrer
gelten. Es gibt keinen Menschen, der das mag. Gemäß rotem Lehrbuch will der
Kommunismus jedes Erdenland erobern, um es nie wieder preis zu geben. Auf
dieses Ziel ausgerichtet balancierten seine Cheferbauer Lenin, Stalin und
Chruschtschow frech am Rande des Untergangs der noch freien Menschheit. Die
Kubakrise von 1962 bewies das.
Es darf nie vergessen werden, dass wir damals
allesamt vor dem völligen Aus standen. Zuerst schossen die Kubaner einen
US-Aufklärer ab. Ich hörte, glaube ich, die Nachricht am frühen Morgen des
nächsten Tages, weckte Erika und äußerte meine Bedenken. Das lassen sich die
Amis doch nicht gefallen! Und so war es. Wenig später überraschte uns die
Information, sowjetische Raketenstellungen bedrohten von Kuba aus die USA. Luftaufnahmen
bestätigten das. Ein Blick in den Atlas genügte. Von Santa Clara bis Miami war
es nur ein Katzensprung. Anstelle des bis dahin anscheinend eher harmlosen
Inselstaates Kuba, befand sie plötzlich ein mit tödlichen Waffen gespickter,
unsinkbarer Flugzeugträger der Roten Armee unmittelbar vor Florida. Jeden
Kommentar von Ost und West, den wir hören konnten, verfolgten wir angespannt. Das
war mehr als ein Wortekrieg. Tatsächlich erging von Präsident John Fitzgerald
Kennedy Weisung ans Pentagon: „Sofort sind die Sowjetschiffe mit Kurs Kuba
im Bahamabereich zu stoppen“. Er bestehe auf sofortigen Abzug der
sowjetischen Raketen von Kuba, sonst... Sonst? Wer da nicht gezittert
hatte, wusste nichts. Wir ahnten, dass die härter gesottenen US-Militärs von
ihrem Präsidenten die umgehende Besetzung Kubas verlangten. Das hätten die
Russen mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln unterbunden. Heute
wissen wir. Sie hätten Atomwaffen eingesetzt.
Stunde um Stunde setzten sie einander und uns unter Hochdruck. Es mag ja
Menschen geben, die selbst den Tod nicht fürchten. Doch wer am Leben hing, wie
wir, die in Verantwortung für ihre Familie standen, der verfolgte jede Nuance
im Wechsel des hochpolitischen Ränkespiels, das zwischen Moskau und Washington
Zug um Zug mit äußerstem Einsatz an Willenskraft und Intelligenz durchgezogen
wurde. Ein Fehlerchen hier oder ein Fehler da, und schon verbrannte die
entfesselte Atomkraft die ganze Welt. Seit Hiroshima stand fest, wer sich im
Besitz von Massenvernichtungsmitteln befindet, der ist auch bereit sie, als Ultima
Ratio, einzusetzen. Wird Chruschtschow nachgeben? Oder wird er
seiner Atlantikflotte befehlen die Bahamaroute gewaltsam offen zu halten? Eins
zieht das Andere hinter her: Eingekreist waren die alliierten Truppenteile in
Westberlin, draußen nur durch ein paar hundert Meter Mauerwerk und Luftlinie
voneinander getrennt, standen die zig hochgerüsteten Sowjetdivisionen. Sie
waren allemal bereit Moskauer Befehle umzusetzen. Vier Tage und Nächte lang
zerrte die Ungewissheit an uns allen. Nicht wenige DDR-Offiziere wurden nervös,
das konnten viele nicht verbergen.
Bemerkenswert ist, sobald wir die Schwelle zu unserer
Versammlungsstätte überschritten, war die Bedrückung gewichen!
Chruschtschows Militärstrategen errechneten
sehr wahrscheinlich, dass sie die heraufkommende Auseinandersetzung nicht
eindeutig für ihre Seite entscheiden konnten. Der Kremlführer gab folglich
nach. Daran dachte ich an jenem frühen Morgen, während ich an diesem
herrlichen Sommermorgen in der Ecke der blaugepolsterten Sitzbank auf dem
blinkend neuen Fahrgastschiff saß.
Wir fuhren nun der gleißenden Sonne entgegen.
Der Tollensesee hatte uns wieder. Das Fahrgastschiff nahm große Fahrt an. Das
Seewasser rauschte wieder kräftiger. Beide Göcks recht ermüdet sagten
schließlich übereinstimmend: „Lasse dir Zeit, Gerd. Überlege es dir.”
Wenn ich mich an diesem frühen Morgen nach Hause begeben würde, werde ich an mindestens zwölf Schrifttafeln vorbeigehen, alle gefüllt mit den SED-Parolen die auf mich und jeden, nach dem Prinzip „steter Tropfen höhlt den Stein“ einwirken sollten. Die erste Botschaft würde mir bereits auf der Anschlagtafel am letzten Bootshafen begegnen: „Ewige Freundschaft mit der Sowjetunion! Von Freunden lernen, heißt zu siegen!“ Ich würde sie nicht lesen, Alle kannten die Texte längst auswendig. Dann rückte bereits am Haus der ‚Gesellschaft für Sport und Technik’ der zweite SED-Spruch, einigen Quadratmeter groß, in mein Blickfeld. Es war die Aufforderung, den Frieden wehrhafter zu machen. In der Lessingstraße empfing mich dann die dritte Losung. Zwei weitere wollten meine Aufmerksamkeit schon wenige Schritte später beanspruchen. Sie hingen an der Frontseite der EOS (erweiterte Oberschule): „Die SED ist die führende Kraft der Arbeiterklasse. Sie gibt uns Rat und Weisung! ”
Irgendwo nahebei schrie uns die Behauptung an, dass die Bonner Ultras auf Kriegskurs sind. In meiner Aufzählung, die ich schweigend vornahm, kamen nun die nächsten Schlagworte an den Gebäuden des Wehrkreiskommandos ins Blickfeld. Da hieß es, dass der Weg zum Sozialismus – Kommunismus gesetzmäßig sei. Unausweichlich! Unentwegt fielen diese Sätze über uns her. Niemand entkam diesem Einfluss. Wie die Luftfeuchtigkeit war der Parteigeist allgegenwärtig. Es war unentwegt die Machtfrage: Wer wen? Fortschritt durch Diktat!
Doch, wo bewirkten Zwang und Indoktrination jemals Gutes? Als wir anlegten am Steg vor dem Badehaus und von Bord gehen wollten, umfasste Hermann Göck mit seiner Rechten meine Schulter. „Bleibe ruhig. Sage mir, wenn du soweit bist!” Seiner Überzeugung nach hing mir eine überholte Denkweise an, wie einem alten Galeerensträfling eine verrostete Kette. „Du musst dich befreien!” Ihm war auch nicht annähernd klar, was er forderte. Allein seine Vorstellung, dass selbst vermeintliche Erkenntnisse fesselnde Funktionen haben sollen, verwunderte mich. Er war unfähig zu erkennen, wie viel mir die Freiheit des Handelns und Denkens bedeutete.
Meine Familie um 1964, hier im Garten unseres
Gemeindeheimes in Neubrandenburg. Hartmut war im neuen Jahrtausend Bischof in Berwick-Ward,
Packenhamstake, Melbourne, an Mutters Hand. Matthias jetzt 2024 Ratgeber in der
Tempel-präsidentschaft Freiberg.
Erika verstarb im November 2001
2004 heiratete ich Ingrid. Wir leben nun
in der Nähe zu Hartmut und der Familie des Enkels Daniel Skibbe, der seine
Mission in Brisbane erfüllte.
Vaters Tod - Honolka
Im Januar 1965 wurde ich zum Distriktpräsidenten des Bereiches Mecklenburg - Vorpommer berufen. Das war natürlich ein ehrenamtlich zu leistender Dienst, nachdem ich zuvor in anderen Unter-Organisationen der Kirche gedient hatte. Wir zählten damals nur dreihundert eingetragene Mitglieder, die über das sehr große Land im Norden der DDR verstreut, in sechs kleinen Zweigen wohnten: .
Darunter befanden sich eine ehemalige Hochseil-Artistin namens Rostock, die auf der Insel Rügen, in einem Senioren-Heim zu Bergen wohnte, frühere Entertainer, wie Max Ahlwardt, Demmin, dem seine drei Wohnhäuser russischen Brandstiftern zum Opfer fielen. (Das konnte ihn nicht niederwerfen. In seinem großen Gartengrundstück baute er aus den Steinen und Ziegeln seiner Ruinen umgehend und eigenhändig ein neues Zuhause.) Sanitäter, Bankbeamte. Einer, der kurz zuvor mit seiner Familie nach Dresden verzog, Willi Schlüter, war technischer Direktor der „Matthias - Thesen - Werft zu Wismar, Witwen, junge Leute, einfache Arbeiter… gehörten dazu. Ulrich Chust, Wolgast war zunächst nur Gelegenheitsarbeiter, aber seine Stegreif-Ansprachen, verblüfften wie die seines gerade konvertierten Vaters. Meine Hauptaufgabe sah ich darin meine Überzeugungen vor allem den Jugendlichen nahe zu legen. Sie standen, mehr oder weniger, unter gesellschaftlichem Druck den die Schulen partiell ausübten. Atheistischerer Propaganda zum Trotz, galt es Glauben zu bewahren und zu entfalten, ein ihnen gemäßes inneres Fundament zu bauen. Mein Vater amtierte, zu dieser Zeit als Zweigpräsident in Wolgast. Er nahm sich im November dieses Jahres, 60-jährig, in einer Phase tiefer Depression das Leben. Wahrscheinlich waren das die Spätfolgen seines Kindheitstraumas. Mutter Wilhelmine verstarb 38-jährig. im Januar 1906. Für meinen mutterlosen 10 Monate alten Vater brach eine schlimme Zeit an. Er hatte zum Glück eine ältere Schwester die sich um ihn kümmerte.
Sein Vater Franz Skibbe, ergab sich als trostloser Witwer dem Alkohol. Er verstarb 53-jährig 1922. Da war mein Vater siebzehn. Zuvor war Großvater Franz ein vermögender Hersteller von Holzpantoffeln, mit zeitweise 20 Beschäftigen. Mein Vater sprach in meiner Anwesenheit nie über diese schwarze Vergangenheit. Aber ich fand und las eine Antwort auf einen seiner frühen Briefe, die erkennen ließ wie es, bereits in den 30er Jahren um seine seelische Verfassung stand. Absender war der damalige Distriktpräsident Helmut Plath, Stettin. Diese Zeilen stehen bis heute vor meinen inneren Augen. Sie waren sowohl positiv ausgerichtet, wie aufschlussreich.
Nach seiner Gefangensetzung im Mai 45, kamen
als Folge unerträglicher Monate der Zwangsarbeit unter Tage, die Sorge um die
ferne Familie hinzu. Psychiater hätten ihm nach seiner Heimkehr helfen können,
möglicherweise schon durch ein aufhellendes Medikament. Das lehnte er rigoros
ab. Danach gab es nur noch mich. Ich wäre der einzige Mensch gewesen, der es
hätte verhindern können. Keiner wusste so deutlich wie ich, dass es nur ein
scheinbarer Widerspruch war, - eine fixe Idee - die ihn zu zerbrechen drohte. Das
aber wurde mir erst klar, nachdem das Unglück passierte. Ich haderte mit Gott
und mit mir. Soweit hätte es nicht kommen dürfen. Wäre ich doch häufiger nach
Wolgast gefahren um ihn zu besuchen. Hätte ich doch länger Urlaub genommen.
Hätte ich doch mehr mit ihm gesprochen. Denn ich verstand den Ansatz seiner
niederdrückenden Gedanken. Mein Verständnis für ihn riss ihn zeitweise heraus
aus dem Kreis seiner eher unbegründeten Selbstanklagen und Ängste. Es tat ihm
sichtlich gut, statt in der Stube sitzend und liegend zu grübeln, mit mir
spazieren zu gehen und über ihn zu reden. Meine Fehleinschätzung, er benötige
mich nicht länger, hatte dieses vermeidbare Ende mitverschuldet.
Beladen mit dieser Last besuchte ich damals
die Abendschule, um mich auf ein Fachschulstudium vorzubereiten. Es war
anstrengend, die Gedanken nicht immer wieder abschweifen zu lassen. Nächst mir
saß, im Herbst 1965, in einer Klasse der Volkshochschule, ein junger, hochgewachsener
Feldwebel. Er kam aus methodistischem Elternhaus. “Das muss aber keiner
wissen!” sagte er. Mich wunderte seine Schamhaftigkeit. Mich ärgerte,
dass der große, kluge und gutaussehende junge Mann den Kopf einzog, wenn das
Gespräch sich diesem Punkt auch nur näherte. Da beschloss ich eines Tages, vor
allen Anwesenden unserer Vorbereitungsklasse, bei nächst passender (oder nicht
passender) Gelegenheit eine Diskussion zur Berechtigung des Glaubens an Gott
auszulösen. Schneller als gedacht, wurde aus einem Funken ein Feuer. Unser
Physiklehrer, namens Lasse, sprang
sofort auf meine provokatorisch gestellte Frage an, ob es heute etwa ein
Verbrechen sei, seine Kinder religiös zu erziehen. “Selbstverständlich ist
das ein Verbrechen!”, erwiderte Hauptmann Honolka, der wie sein
Banknachbar Oberstleutnant Leumann, in voller Pracht ihrer Uniformen zwei
Reihen vor mir Ihre Plätze einnahmen. Er schaute sich um und schüttelte den
Kopf. Mit dieser Kurzantwort die offensichtlich von allen Anwesenden geteilt
wurde, hatten sie sich schon verstrickt. Sie wussten wirklich nicht
wovon die Rede war. Andere Altgediente der Nationalen Volks-Armee, die in ihren
Offiziersuniformen dasaßen, wandten sich ebenfalls in scharfer Form gegen meine
ebenfalls knapp dargelegten Ansichten. Aber als ich sie daran erinnerte, dass der
Chefideologe der DDR Walter Ulbricht zum Meinungsstreit aufgefordert habe, und
da sie vermutlich nicht traurig darüber waren, dass der Unterricht und damit
die fällige Klassenarbeit verzögert wurde, ging es nun zwei Stunden lang hoch
und heiß her. Mein ursprüngliches Anliegen war, herauszufinden, ob ich meiner
eigenen Logik trauen durfte und ob sie harter Kritik nicht nur widersteht,
sondern mir zu einem kleinen Sieg im nun aufkommenden Meinungsaustausch
beschert. Und nebenher wünschte ich dem Methodisten zuzusichern, dass sein
Glaube, zumindest sein Glaubensansatz, doch in Ordnung war. In Honolka fand ich
meinen schärfsten Kontrahenten. Er zielte genauer als die meisten meiner
Gegenspieler. Ich hielt dagegen und verteidigte zunächst nur die Richtigkeit
der Morallehren Christi. Honolka grummelte: „Aber an die haben sich die
Kirchen nie gehalten.“ Das sei wahr, erwiderte ich. Tatsächlich
ging es insbesondere dem Vatikan, viele Jahrhunderte hindurch, nur um den
Erhalt eben der Macht, auf die Jesus verzichtete. Ich warb mit aller Kraft um
Akzeptanz. Eindringlich kritisierte ich die
allgemein vorherrschende Leichtfertigkeit mit der gerade die
„fortschrittlichsten“ Leute, mit ihrer Politik der Rigorosität oft über
bewährte Prinzipien wie Wahrhaftigkeit, Selbstbeherrschung und Güte, wie über
ein Nichts hinwegschritten. Es mangelte zu oft des Respekts vor der Meinung Andersdenkender.
Dann kamen wir zum Thema Schöpfergott. Der
martialisch auftretende Honolka pochte darauf, dass die Fakten der
Evolutionslehre schon längst keinen Spielraum für den Glauben an einen
Schöpfer-Gott mehr zulässt. Jede Verteidigung von Glaubenspositionen meiner Art
sei chancenlos. Unmittelbar vorher hatte ich aber das Buch des katholischen
Evolutionsforscher Freiherr von Hüne “Phylogenie der niederen Tetrapoden”
gelesen, der Indizien dafür fand, dass Evolution gesteuert verlief. Allem Leben
liegt ein Plan zugrunde. Dieser Hinweis war stark. Das war ja das Wesen des
Kommunismus: Oben wird geplant, unten ausgeführt – allerdings auf Teufel komm
heraus! – wenn es sein muss mit Gewalt. Mein sonst in der Kirche inaktiver
Bruder Helmut, Mittelschullehrer für Biologie und Philosophie, in Wolgast, hatte
mich dankenswerterweise darauf hingewiesen. Das Wissen um diese Zusammenhänge
half mir nun in dieser Situation, des
Physiklehrers und Honolkas Hauptargumente abzuschmettern. Ich sagte nämlich: „Neues
Deutschland“ das kommunistische Sprachrohr, „warf gerade
vorgestern die Frage auf, ob wir alleine im Weltall sind. Es gäbe Signale aus
den Tiefen des Universums, die nahe legten, dass es andere Intelligenzen gibt.“ Der
Hauptmann drehte sich erneut verärgert zu mir: „Na und?“ Mein
Konter lautete: „Wer will beweisen, dass wir nicht ihre Ableger sind…?
Natürlich ist das reine Spekulation, das will ich gar nicht bestreiten. Aber
das Gegenteil ist ebenfalls nur Spekulation.“ Ich baute das aus: „Die
Sowjetunion schickt seit Gagarin, 1961, Planeten ins All. Ist es abwegig zu
glauben, dass Menschen eines Tages, vielleicht auf dem Mars siedeln könnten?
Dann sind wir eine Art Gott, zumal die Möglichkeit besteht, dass wir Leben aus
der Retorte zaubern können!“
Honolkas Augen rollten. Er zeigte sich beeindruckt,
besonders als ich begann von der Watson-Crick-Spirale zu reden, dass ihre
Entdecker Watson und Crick, 1962 den Nobelpreis für ihre Arbeiten erhielt. Damit
stand fest, dass die Theorien des Sowjetstars Lyssenko falsch waren. Es sei
unwahrscheinlich, dass alleine die blinde Natur das Erbgut festschreiben
konnte, dass umgerechnet zehn Buchbände zu je eintausend Seiten benötigt würden
um mit unseren Worten sozusagen eine Bauanleitung zur Herstellung eines menschlichen
Embryos zu verfassen. Dozent Lasse nickte. Honolkas Wut schwand allmählich. Er musste
davon gehört haben. Ob sie alle wussten, dass es Aminosäuren sind, die das
Skript schreiben, war unwahrscheinlich. Beide gaben, wen auch zögernd zu, dass
es erlaubt ist zu fragen, ob die Natur, wenn auch in Jahrmilliarden jeweils ein
perfektes Lexikon für jede Pflanzen- und Tierart zustande bringen kann. Nach
und nach kamen wir zu mehr Ruhe. Dann sagte ich: „Meine Kirche lehrt, dass
viele Planeten bis in die entferntesten Galaxien bewohnt sind.” Das sei
meine persönliche Interpretation, fuhr Honolka erneut auf. “Nein!” Ich
konnte beweisen, dass es Teil unserer festgeschriebenen Religion war,
festgehalten seit 1830 im Buch Köstliche Perle, das ich vorlegen könnte. Auf
diesem Umweg gelang es mir, ihren Blick darauf lenken, dass der Atheismus nur
eine erst etwa einhundertjährige Modeerscheinung war. Das zeige sich in der
Leichtigkeit mit der er geglaubt wird. Es kostet keinerlei Mühe, mit der
Einstellung zu leben, dass es keinen Gott gibt. Aber jeder weiß, dass die
Entwicklung nach vorn und nach oben Anstrengung und Kraft erfordert. Dem
letzten Satz stimmten meine 30 Mitschüler allesamt zu. Wir kamen einander immer
näher, als sie sahen, dass wir gemeinsam glaubten, es sei richtig sich zum
Guten anzustrengen und zu erwarten, dass solches Bemühen uns auf eine höhere
Stufe auch der Freiheit führen wird. Ich konnte weitere positive Argumente ins
Feld führen die sie nachdenklich stimmten.Dieser rasche Wechsel aus Widerspruch
und Übereinstimmungen bewirkte, dass uns die zwei Stunden wie Minuten vorkamen.
Physiklehrer Lasse fasste schließlich zusammen: “Genossen, ich habe
nicht geglaubt, dass es eine Religion geben könnte, die ich vernünftig finde.
Ich kann nichts dagegen sagen. Oder seid Ihr anderer Meinung? Das war positiv.”
Es gab keinen Widerspruch! Sogar Honolka nickte und dann auch sein Banknachbar
Leumann.
Ich ging an diesem späten Novemberabend
nachdenklich nach Hause. Hatte ich zu viel gesagt? Beruhigend jedoch kamen mir
plötzlich die Worte aus dem Prolog des Johannesevangeliums in den Sinn: “Im
Anfang war das Wort (Jesus, der Gesetzgeber per Wort), und das
Wort war bei Gott, und Gott war das Wort. Dasselbe war im Anfang bei Gott. Alle
Dinge sind durch ihn gemacht und ohne dasselbe ist nichts gemacht, was gemacht
ist.” 1,1-3.
Die Sterne glitzerten. Ich hob den Kopf,
dachte an das unselige Ende meines Vaters und plötzlich empfand ich ein Gefühl
großer Dankbarkeit, obwohl ich im Grunde immer noch tief traurig war. Ich
spürte etwas Erhabenes und Tröstliches. Ich erhielt das sichere Gefühl, ich
würde ihn wieder sehen. Ich war ihm immer verbunden gewesen, ich liebte die
Lehren die er mir übermittelt hatte, denn sie machten mich frei und reich.
Vielleicht hätte er über meine Argumentationsweise den Kopf geschüttelt, doch
ich empfand wunderbaren Frieden.
Immer wieder in den folgenden Jahren und sogar Jahrzehnten sprachen mich ehemalige Klassenschüler an. Sie hätten nichts vergessen. Es sei vor allem die Atmosphäre gewesen, die sie so nachhaltig beeindruckte: „… da war etwas Besonderes!“ Ausgerechnet der Exkatholik, Hauptmann Honolka, der nebenbei gesagt, mit seiner straff am Leib sitzenden Kleidung eine gute Figur abgab, setzte sich nach der Zeugnisausgabe, die wir in einer nahegelegenen Gaststätte ein wenig feiern wollten, zum Gespräch neben mich. Er schmunzelte. Er mit einem Bierglas in der Hand, ich mit meiner „Selters“ stießen die Gläser zusammen. Anschließend schlug er mir mit der flachen Hand aufs Knie und lachte. “Was Du gesagt hast, war eigentlich verrückt. Einfach zu behaupten, dass Gott der Vater der Evolution ist! Das hat mir noch keiner gesagt. Damit könnte ich leben – und wie Du Das gesagt hast…” Sein noch junges, wen auch stark gefurchtes Gesicht blieb mir für immer in Erinnerung.
Fritz
Er war gelernter hochherrschaftlicher Diener, der sich stets nobel benahm, außer wenn er zuviel getrunken hatte. Er lachte wenn andere verzwifelten. Er verbreitete gute Laune an schlimmen Tagen.
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Fritz (1905-1965) |
Im Januar 1965 eröffnete er mir, dem fünfundzwanzig Jahre jümgeren, völlig unerwartet, er würde jetzt in die kommunistische SED eintreten. Aber, er bleibe ihr Erzfeind. Er habe sich für die letzten zwanzig Jahre seines Lebens noch viel vorgenommen. Strahlend optimistisch, wie es aussah, behauptete er, noch könne er sein Leben in vollen Zügen genießen, erst recht mit dem Rückenwind der Partei. Er verband das Fantastische mit dem Gegenteil. Es sprudelte nur so heraus aus ihm, dabei schimpfte er unentwegt auf den Oberkommunisten und Stalinisten Walter Ulbricht, den niemand leiden konnte. Fritz lachte sich selbst aus, während wir an den Rändern der Torflöcher mit kleinen Sicheln Rohr ernteten. Uns umrundeten die von uns geschaffenen, zwei Meter hohen Wände aus gelbem Schilf. Ich hielt ihm vor: “Fritz, wenn Du so denkst, dann kannst Du doch nicht in seine Partei eintreten!” Rückhaltlos versicherte er mir, seine innere Einstellung werde sich nicht ändern. Nach wie vor dem hasse er den Kommunismus, das heißt er verachte die SED, wegen ihrer Lügen, er mag den ganzen politischen Quatsch nicht. Dennoch, an diesem Abend werde er sich von der Parteisekretärin Helene Göck umarmen lassen. Sein unbedingter Wille war, bewusst das Falsche zu tun. Natürlich war mir klar, dass seine schmucke Lebensgefährtin Emmi ihn drängte Vorsitzender der Genossenschaft zu werden, was bedeutete er hätte ein höheres Einkommen. Meiner Kritik widersprach er auf Plattdeutsch: “Wenn Du wat warn wisst, denn mößt Du dat!” („Wenn du etwas werden willst – in diesem Staat - musst du zu Kreuze kriechen“) Was konnte er mehr sein als ein Mann, der bei seiner Ehre und bei der Wahrheit blieb? Fritz fasste, im nächsten Augenblick sein scharfes Werkzeug noch fester. Seine hochschäftigen Lederstiefel patschten im schwarzen Sumpf des Torfes. Seine braunen Augen funkelten. Es war ein Ausdruck, als wollte er niedermähen, was seinen Aufstieg behindern könnte. Nur der blaue Himmel war unser Zeuge. Wir sahen ihn beide nicht, den Todesengel, der schon lauernd hinter ihm stand. Wir ahnten gar nichts. 146 Lebenstage lagen noch vor ihm.
Prager Frühling 68
Alle Herzen, auch die der Mehrheit der echten
Partei-Genossen, fühlten mit den Tschechen als während unserer Studienzeit an
der Fischerei-Ingenieurschule zu Hubertushöhe, der Prager Frühling aufkam. Wir
lernten dort von unseren Lektoren was wir eigentlich nicht brauchten. Aber
immerhin es schulte unser Denken und Planen. Unterschiedslos alle die am
dreieinhalbjährigen Kursus teilnahmen, - und das waren 25 Herren, sowie ein
junge Dame - freuten sich darüber, dass Parteichef Alexander Dubcek die Grenzen
nach Österreich durchlässiger machte. Begeistert verfolgten wir den
Demokratisierungsprozess in der Tschechoslowakei. Die bedeutenden Literaten des
Landes und Bürgerrechtler hatten mit Duldung der Regierung Dubček ein Manifest
zur Konstituierung eines Gremiums verbreitet, das für die Respektierung der
Menschenrechte in der CSSR eintrat. Diese Forderungen wurden später als Charta
77 bekannt. Mit ungeteilter Zustimmung und Staunen verfolgten wir im
Februar 1968 die Entwicklung zur Verwirklichung größerer Bürgerrechte,
sozusagen vor unserer Haustür. Dubček hatte unglaublicher Weise die
Pressezensur aufgehoben! Unerwartet für nicht wenige wurde der Wunsch nach
mehr Freiheiten, plötzlich auch in der DDR immer lauter. Hoffnung kam auf, auch
wir dürften in den Westen reisen. War das nun ein diesmal akzeptables
Sozialismus-Modell, da sich da vor unseren Augen und Ohren entpuppte? Kam nach
dem endlos grauen Morgen endlich ein neuer Tag herauf? Würden auch wir wieder
ungestraft sagen dürfen was wir meinten und wollten? Wer die Hoffnung schon
aufgegeben hatte, erhob wieder den Kopf. Demgegenüber stellte sich den empörten
Machthabern des Kremls die Frage: Was tun? Die aus ihrer Sicht einzig denkbare
Antwort. lautete: Mit Gewalt einschreiten! Natürlich schraken nicht wenige
linientreue Mitdenker vor den daraus resultierenden Folgen zurück. Kann man es
nach dem Panzerkrieg gegen Deutsche 1953, und gegen Ungarn, 1956, nur zwölf
Jahre später, noch einmal wagen? Darf man, mitten in Europa, vor den scharfen
Augen der Weltöffentlichkeit, erneut eine Armee gegen Friedliche schicken? Was
werden die ohnehin kritischen Genossen dazu sagen? Bis auf den heutigen Tag
wissen wir nicht, wie viele oder wie wenige unter den rücksichtslos
linientreuen Kommunisten wirklich eine militärische Intervention wünschten.
Angeblich wollten sie Diener des Friedens sein, und nun Befürworter eines Krieges,
wenn auch eines kleinen? Ich glaube, dass nur die
obersten “Arbeiterführer” in den Hauptstädten Moskau, Berlin und Sofia
pro-Moskau Extremisteneingestellt
blieben. Ihr Militär wird den Kremlweisungen allerdings gehorsam folgen, so
wie die Jesuiten ihrem General, auch wenn ihr Weiß, unleugbares
Schwarz ist. Das, - den bedingungslosen Gehorsam, - hatten sie ihren Offizieren
und Mannschaften in unendlich vielen Schulungen und mittels der guten Gehälter,
beigebracht: nie Fragen zu stellen, wenn die Partei befiehlt.
Spät in der Nacht zum 21. August 1968 marschierten Soldaten Polens, Bulgariens und der Sowjetunion in das modernisierte Land ein. Ihnen wurde gesagt: „Es geht um den Weltfrieden. Der Kapitalismus will sich im Osten wieder durchsetzen. Das dulden wir nicht.“ Etwa eine halbe Million Soldaten wurden benötigt, um die unbewaffneten Demonstranten in die Knie zu zwingen. Deshalb rollten sie wieder, die Panzer der Russen.
Foto: Landeszentrale für politische Biödung, Baden- Würtemberg
Vor und nach unserer Moskaureise
Gegen Ende meiner Fachschulausbildung
kam mir die Idee, Maränenbrut groß zu ziehen, so ähnlich wie wir Hechtbrütlinge
in Plasterinnen vorzustrecken begannen. Es müsste möglich sein, bei niedriger
Sterberate, sie wenigstens an Länge und Gewicht zu verdoppeln. Bei Forellen
funktionierte das doch ebenfalls.
Andernfalls würden mindestens 90 Prozent
dieser Winzlinge den Hungertod erleiden. Im letzten Studienjahr betrachteten
wir Neubrandenburger Binnenfischer dieses Vorhaben zwar gemeinsam, aber auch mit
gewissen Bedenken. Was verloren wir,
wenn uns gelingen sollte, die winzigen Maränen mit selbst gefangenem
Zooplankton in den für die Hechtanzucht bereits genutzten Plasteaquarien
anzufüttern und so viele wie möglich vor dem frühen Hungertod zu schützen? Denn
genetisch besitzen sie allesamt dieselben Über-lebenschancen. 1971 versuchte
ich das Experiment. Dreihunderttausend Stück frisch geschlüpfte Kleinmaränen
setzten wir in sechs Rinnen mit jeweils etwa sechshundert Liter Wasservolumen
ein.
Das Neubrandenburger Leitungswasser erfüllte
glücklicherweise die erforderlichen Voraussetzungen, zumal wir es über eine
kleine Kaskade von Brettchen laufen ließen, um es so mit Sauerstoff
anzureichern. Die schnell und problemlos angefertigten großen Planktonnetze aus
Müllergaze fingen Hüpferlinge in Massen. Ich verkannte allerdings einen
entscheidenden Punkt, nämlich dass der Anteil der für uns interessanten
Vorstufen der Kleinkrebse, - der Nauplien - die sich noch in ersten
Häutungsstadien befinden, zu gering war. Es kam deshalb trotz großer
Futtermengen zu einem entsetzlichen Maränen-Massensterben.
Allmorgendlich lagen mehr und mehr tote
Fischchen auf den Böden unserer je vier Meter langen Rinnen. Erst der Biologe
Dr. Manfred Taege, genannt Männe, ein Verehrer des legendären Che Guevara,
Tiefseetaucher und persönlicher Freund des Bruders Fidel Castros, Buchautor und
Mitarbeiter des Institutes für Binnenfischerei Berlin-Friedrichshagen fand umgehend
heraus, dass wir kleineres Lebendfutter fangen und fortan sieben müssten. So
einfach sah die Lösung aus, die Realisierung dagegen war kompliziert. Ehe wir allerdings
die Erfolge erzielen konnten, von denen ich in meiner Staatsexamensarbeit zu
reden gewagt hatte, wäre ich doch noch um Haaresbreite aus der Genossenschaft
‚geflogen’.
Das kam so: Mit unseren Ehefrauen planten wir einen 5-Tageausflug nach Moskau. (Früher wurden Unsummen in alkoholischen Getränken angelegt. Jetzt floss das Geld des Kulturfonds in andere Richtungen.) Gewisse Umstände oder Zufälle sollten einen großen Krach heraufbeschwören. Hermann Göck übernahm die Rolle des Reiseleiters und das mit einer seinerseits überspannten Erwartungshaltung. Zumal als Ehrenmitglied der PwF “Tollense” lag es nahe, ihm das Vergnügen zu gönnen, für ein paar Tage unser Herr und Meister zu sein, aber nicht mehr. Der geradlinige Altkommunist hielt allerdings die Zeit für gekommen, endlich den Rest von Vorbehalten unsererseits gegen seinen geliebten Arbeiter - und Bauern - Staat auszuräumen. Er hoffte und glaubte, wir würden Moskau mit seinen Augen sehen und anschließend wünschen, seiner Partei beizutreten. So stand Hermann Göck am Morgen des Tages unserer Abfahrt auf den breiten Stufen des “Hauses der Kultur und Bildung” und ermahnte uns, in der Weltmetropole des Kommunismus als würdige Vertreter der DDR aufzutreten. Wir landeten in Scheremetjewo 1 und das gegen Abend. Um zu unserem Hotel in Ostankino zu gelangen mussten wir mit einem Bus quer durch Moskau fahren. Natürlich hatten wir uns oft gefragt, wie die Menschen in der Sowjetunion lebten. Eigentlich glaubten wir, dass wir in Moskau ein Stück sozialistischer Zukunft erkennen würden. Moskau werden sie als Schaustück hergerichtet haben, als Modell der Zukunftsplanung, dachten wir. So wie den Moskauer Menschen jetzt, könnte es uns später einmal im vollkommen verwirklichten Kommunismus ergehen. Wie in einem Spezialfilm erhielten wir während der späten Busfahrt Einblicke in eine Vielzahl Wohnungen, da sie sich, fast ausnahmslos ohne Gardinen erwiesen. Wir sahen die Winzigkeit der von sehr schlichten Lampen erhellten Stuben, die Armseligkeit der Ausstattung der Räume. Die ganze Atmosphäre, in die ich auf diese Weise hineintauchte, wirkte beklemmend. Ein Tisch, ein Wohnzimmerschrank, einer wie der andere gleich, vier Stühle, ein Fernsehgerät. Diese elenden Löcher in den Massenquartieren sollten der Gipfel der Errungenschaften sein? Aber was hatten wir denn erwartet? Das jedenfalls nicht! Ich könnte es nicht in passende Worte fassen. Doch andererseits: du hast es immer gewusst: Das Individuum tritt im weiten, roten Osten, vor der Masse Menschen in den Hintergrund. Der Einzelne ist den führenden Kommunisten gleichgültig. Mir war die Ungeheuerlichkeit solcher Anklage zwar irgendwie bewusst, doch ich fand sie hier bestätigt. Hermann Witte, der neben mir saß, stieß mich unentwegt an. „Süh di dat an!” ("Sie dir das an!") Seine Art und der Rhythmus, in dem er mir seinen Ellenbogen in die Seite rammte, hieß, „hesst du di dat so vörstellt?” ("Hast du dir das so vorgestellt?") Trotz vieler Negativberichte die ich zuvor im Verlaufe der Zeit erhielt, hatte ich diese Primitivität in ihrer Gesamtheit dann doch nicht erwartet. Gemessen an der Formensprache durch die tempelartigen Hausriesen, die wir von Bildbänden her kannte, war die individuelle Wohnkultur kläglich. War, was wir sahen, der ganze Ertrag des Arbeitens zweier Generationen. Das als Resultat von Arbeit und Tränen? Natürlich, dazwischen war der Krieg gewesen. Was dagegen gelang den „Kapitalisten“ in diesem Vierteljahrhundert aus den Ruinenstädten West-deutschlands zu machen? Am folgenden Tag besuchten wir den Roten Platz und in den beiden Freizeitstunden gingen zwei Ehepaare mit Erika und mir in die naheliegende Kirche des Sergius von Radonesch, dann fuhren wir, per Taxi, zur Epiphanienkathedrale. Die niedrige schlicht in braun bemalte Decke des Hauptraumes beeindruckte uns. Alfred Voß unser Buchhalter und seine Frau die aktive, evangelische Christen waren, staunten mit uns, was dort Jahr 1922 durch Malkunst ausgedrückt wurde. Wir wussten es ja: im Ringsum dieser Kirche herrschte zu dieser Zeit nicht enden wollender Bürgerkrieg und Hunger.
Es war die Geschichte von der
Samariterin am Brunen. Zwölf Einzelbilder zeigten und erzählten was sich
ereignete. Hingebungsvoll sagt uns der Maler, wie Jesus eine Frau anspricht,
die fünf Männer gehabt hatte und die nun unverheiratet mit dem sechsten
zusammenlebte, was Jesus wusste. Ihr Erstaunen: „wie kannst du als ein
Jude mich eine Samariterin um Wasser bitten”, beschwichtigte er. All
das fand hier seinen schönen Ausdruck. Das war zeitloser Realismus der uns
sagte, wie tiefgläubig der Künstler war. Sowohl die Einfachheit wie die
Ausdrucksstärke der Gesichter Christi, der Samariterin und anderer sagten uns
sehr zu. Ehrfurcht erfüllte uns. Plötzlich laute, unangenehme Stimmen. Drei
oder vier ältere schwarz gekleidete Nonnen beschimpften uns. Ich verstand
nichts, aber Alfred Voß. Er hatte während seiner Jahre der Gefangenschaft in
Russland immer wieder gewisse Flüche gelernt. Auf meine Nachfrage sagte er: „Sie
hält uns für rein neugierige Gottlose. Wir sollen verschwinden.“
Draußen standen Mütter mit ihren in Decken
gehüllten Kleinstkindern Schlange, teilweise geschützt durch einen Holzzaun.
Sie brachten ihre Kleinen, die mindestens 40 Tage „alt“ sein sollten, zur
Taufe. Taufe ist ein dehnbarer Begriff. Er stammt aus dem griechischen
baptízein Untertauchen. Dreimal wird deshalb der winzige Erdenbürger durch
einen Priester, in einer Taufwanne, ganz und gar untergetaucht. Wir sahen
wenige Autos die vermutlich privat gefahren wurden. Dafür gab es zahlreiche
Taxis. Für wenige Kopeken konnte man von Ort zu Ort gebracht werden. Aber, das
Bemerkenswerte war: dass alle zweihundert Meter ein Kilometer (Werst)
Fahrstrecke angezeigt wurde. Billig war es dennoch.
Bereits am zweiten Tag unserer Anwesenheit
erhielt Hermann Göck die auch ihm peinliche Information, dass wir am Mittwoch,
statt Freitag, abzureisen hätten. Moskau richte gerade einen internationalen
Ärztekongress aus. Es fehlten Hotelbetten und Verpflegungskapazitäten.
Unglücklicherweise saß ich am Morgen des rücksichtslos vorverlegten
Abreisetages neben einem Holländer, der mich angesprochen und in ein Gespräch
verwickelt hatte. Ich verabschiedete mich von ihm. Er stutzte, stellte
Nachfragen. Ich antwortete wahrheitsgemäß: „Wir haben nichts zu wollen. Uns
ist nur mitgeteilt worden, dass wir vorzeitig heimfahren müssen.” Der
Mann erwiderte: „Das gibt es nicht! Ihr habt doch einen Vertrag!” „Vertrag
hin, Vertrag her. Was sollen wir machen?” Im unpassendsten Augenblick,
als ein neuer mir nicht gerade gut gesonnener Kollege an uns vorbeiging äußerte
der Niederländer: „Dann müsst ihr eben streiken! Niemand darf euch zwei
Urlaubstage stehlen” Der Neue hatte schon immer gute Ohren gehabt und
mir bereits früher vorgeworfen, ich hätte ihn schon oft beleidigt. Ich sah es.
Meine Blicke verfolgten ihn. Sofort ging mein neuer Mitfischer P. zu
Hermann Göck. Seine Frau saß an Göcks Tisch und er hätte ohnehin zu ihm gehen
müssen. Doch ich fand, dass er sich sehr beeilte. Ich sah, wie sie miteinander
tuschelten. Meinem Eindruck nach redeten sie ziemlich intensiv über mich.
Hermann Göck würde nicht nur erfahren, dass und wie ich mit einem westlichen
Ausländer über einen Streik in der DDR gesprochen habe, sondern auch von anderen
Übertretungen, die ich mitunter beging. Ich sah, wie sie nebeneinander hockend
wiederholt zu mir herüberschielten. Mir schien, ich könnte Hermann Göcks Ärger
sogar verstehen. Er war mit dermaßen großen Wünschen hierhergekommen und nun
sah er seine Hoffnungen rapide schwinden. Er liebte dieses Land, diese Menschen
und das System. Er glaubte nun, ich würde alles verachten. Aber ich missachtete
weder Land noch Leute. Im Gegenteil. Ich mochte nur nicht, wie in diesem Land
mit Menschen umgesprungen wurde, was die kommunistische Führung ihnen zum Leben
übrigließ, was sie ihnen zumutete. Jeden Rubel den sie für ihre Militärmacht
einsetzten ging zu Lasten des Wohlstandes der normalen Bürger dieses
Riesenlandes. Wie erst würde es im Hinterland aussehen? Wie lebten sie in den
Dörfern Sibiriens? Hermann Göck hatte gehofft, wir würden von seinem Moskau
begeistert sein und so fühlte er sich nun verspottet. Ich spürte, dass Hermann
den Zorn aus maßloser Enttäuschung kaum noch unterdrücken konnte. Doch er fraß
den Ärger vorläufig in sich hinein. Er schwieg und grollte. Ich musste ihm ja
bald, wenn wir erst wieder daheim angelangt waren, über den Weg laufen.
Wir besuchten jedoch noch Lenin. Das wurde uns als Trostpflaster zugestanden.
Vorbei an riesigen Menschenschlangen von Menschen aller Couleur, die allesamt
den einbalsamierten großen Revolutionär in seinem Mausoleum sehen wollten,
wurden wir bevorzugt. Zig Tausende mussten wohl stundenlang warten, während wir
an ihnen schnurstracks vorbeizogen. Da lag er nun. Und ich starrte auf seine
geballte Rechte. Wir sahen sie, wie er sie – in Dokumentarfilmen – reckte und
seine Thesen verkündete, die das Land in noch tiefere Krisen stürzen sollte.
Mich überkam Kälte. Ich sah Lenins Kommissare mit der Pistole und dem Strick
agieren. Die Göcks dagegen zeigten sich ergriffen. Ahnst du nicht, was ich
fühle und denke? Natürlich war ich stets bemüht zu differenzieren. Ich meinte,
ich könnte mich in die damalige Situation ein wenig hineinversetzen. In diesem
riesigen Land musste damals, 1917, nach dreijährigem, sinnlosem Blutvergießen,
zugunsten der tatsächlich Unterdrückten etwas Entscheidendes geschehen. Eine
Clique gnadenloser selbstherrlicher Gutsbesitzer, Zaristen und Pfaffen übte die
absolute Vorherrschaft aus und forderte frech die Gerechtigkeit heraus.
Unheiliger konnte eine Dreifaltigkeit kaum sein. Viel zu lange schon verlief
die Grenze zur Unmenschlichkeit mitten durch das zaristische Russland. Das
konnte so nicht ewig weitergehen. Große Änderungen waren zwingend erforderlich.
Aber doch nicht so, wie du dir ausgedacht hast, Lenin. Bis dahin empfand ich
einen gewissen Grad Respekt vor diesem Giganten der Weltpolitik. Das war mit
einem Schlag vorbei. Auch Stalins balsamierten Leichnam hätte ich gern gesehen.
Aber einige Jahre nach Chruschtschows Geheimrede 1956 war der zum Verbrecher
erklärte Tote an der Kremlmauer beigesetzt worden. Dort sahen wir nur die
Grabstelle und die vielen frischen Blumen, die seine Verehrer, wie wir hörten,
täglich erneuerten. Nur die Büste Stalins zu sehen, brachte mir nichts. Ich
empfand weder Abscheu noch Kälte, als ich dann unmittelbar vor ihr stehen
blieb. Er war mir in dieser Situation nur gleichgültig.
Da wir in Ostankino im Hotel wohnten, wo möglicherweise immer noch die bittersauren Weintrauben in unserem Zimmer auf dem runden Tisch liegen, die wir gekauft hatten, weil sie reif aussahen, durften wir hinauffahren zum Restaurant des gleichnamigen Fernsehturms.
Wild Wikipedia Gesamthöhe: 540 m
Wir bewunderten die ingenieurtechnische Leistung. Denn die Kuppel drehte sich einmal in der Stunde um die Achse und bot einen herrlichen Ausblick über die riesige Stadt und das sich weithin ausbreitende Grün.
Bild Wikipedia: Blick über den Westen Moskaus
Auf der Busfahrt zum Flugplatz fragte mich Helene Göck was ich denke. Sollte ich ihr wirklich sagen, was mir Lenin so unsympathisch erscheinen ließ. Er kultivierte lediglich eine andere Variante der Willenseinschränkung. Aber Menschen sind ausnahmslos freiheits- und liebebedürftig. Doch Helene Göck gegenüber drückte ich meine Gedanken nicht so scharf formuliert aus. Hermann Witte dagegen ließ seinem Unmut auf der Rückreise freien Lauf. Er schimpfte und spottete darüber, dass sie sich herausgenommen hatten, Vertragsbruch zu begehen und uns, mir nichts dir nichts, abzuschieben und wegzujagen wie Geschmeiß. Hemmungslos beklagte Witte, dass es in einer Weltmetropole kein Bier gab, jedenfalls nicht für sein Geld, dass es dort für Rubel nichts Billiges zu kaufen gab, außer Brot und Salz und Kofferradios. Die Schuhe und diese Preise, die Möbel. Tausend Tische in einem Riesenladen, aber einer wie der andere. Hundert Wohnzimmerschränke, alle gleich, so gleich wie die Partei, die von ihnen regierten und dirigierten Menschen machte. Hermann Witte war einer von der Art Leute, die, wenn sie zu lästern beginnen, nicht wieder aufhören können. Wie ein alberner Schulbengel reizte er mit dem scharfen Gegluckse seinen Lehrer. Vor allem während der Fahrt von Berlin zurück nach Neubrandenburg hörte man im D-Zugwagen seine durchdringende Stimme quäken und dröhnen: „Wenn dat de ganze Kommunismus is, denn führt ji nächstes Mol alleen, lot mi man an Land.” ("Wenn das der ganze Kommunismus ist, dann könnt ihr nächstes Mal ohne mich dahinfahren. Lasst mich an Land!") Wenn er es für angebracht hielt, nahm er kein Blatt vor den Mund. Einmal griff mich ein mit uns auf den See hinausfahrender Stasioffizier, an. Ein Mann der mich persönlich nicht kannte. Das hätte er unterlassen sollen.
Ausnahmsweise sitze ich am Steuerrad eines der beiden stählernen brandneuen Kutter
Zum ersten Mal in meinem Leben hörte ich Hermann hochdeutsch reden: „Skibbe attackierst du nicht! Der ist dir überlegen!“
Helene und
Hermann Göck schwiegen und schämten sich wegen Wittes Spott. Nachdem
wir wieder daheim angelangt waren und unmittelbar bevor wir uns voneinander
verabschiedeten, kündigte Hermann Göck für den kommenden Montagabend seinen
Besuch in unserer Fischereibaracke an. Er wünsche mit allen Männern zu reden.
Das ist Hermann. mein langjähriger Kollege,
Hermann Witte, Geburtsjahr 1915, gewesener Frontsoldat im Osten, der die
anbefohlene Sprengung eines Gebäudes verweigerte, nachdem er als
Stosstruppteilnehmer, bis in die Schlafräume russischer Soldaten eindringen
konnte. Er hörte sie schnaufen und war unfähig seine Mitmenschen, die ihm
nichts zuleide getan hatten, zu zerfetzen. Nicht nur einmal teilte er mit mir
das letzte Stück Brot, wenn wir nach einer Havarie nachts, mitten auf dem See,
stecken blieben. Er arbeitete fast dreißig Jahre lang im rechten Kahn, ich eben
solange im linken. Hermann hatte drei Jahre lang, als Lehrling im
Mormonenhaushalt der Familie Paul Meyer, - des Vaters von Kurt - Cammin gelebt
und wusste nahezu alles, wie er meinte, von unserer Religion. Bei seinem
Naturell wurde dieses „Wissen“ zu einem nie versiegenden Quell seines Humors.
Manchmal war es peinlich, manchmal trieb sein Leichtsinn ihn hart an die Grenze
des Anständigen. Stilblüten aller Art in die Welt zu setzen, waren seine Selbstverständlichkeit.
Wo und wann immer ihm danach zumute war, mich zu verspotten tat er das auf
unnachahmliche Weise. Um Sachlichkeit ging es ihm selten oder nie, immer nur um
den Klamauk, ums Lachen der Anderen in das er mit listig blitzenden Augen und
breitem Grinsen einstimmte. Er selbst war zu schallendem Lachen unfähig und
eigentlich sehr mitfühlend, kameradschaftlich und durch und durch ehrlich.
Allerdings in Worten rigoros.
Der Montag kam und ich wünschte am Morgen,
dass es schon Abend, und alles vorbei, wäre. Schließlich saßen wir beklommen
da. Alle spürten die Gewitterluft. Der hochgewachsene Herr Gück kam, begrüßte
jeden, lächelte sogar ein wenig. Das bleiche lange Gesicht mit der
Thälmannfalte verhieß wirklich nichts Gutes. Reinhard Lüdtke, der neue
Vorsitzende, eröffnete die Zusammenkunft. Das Unbehagen war auch ihm
anzumerken. Blond und beherrscht saß der dreißigjährige Vorsitzende da,
hilflos. Wie wir, sah er voraus, dass gleich die Fetzen fliegen würden. Da war
nichts abzuwenden. Er gab dem Gast, der kein Gast, sondern stets als
gleichberechtigtes Mitglied behandelt sein wollte, sehr bald das Wort. Hermann
Göck dankte. Zunächst grummelte es nur verhalten aus seiner erregten
Seelentiefe hervor. Der alte Vorsitzende Bartel, seit Jahren Mitglied der
Partei, senkte den Kopf. Auch er hatte seine Lektionen erst bei dem
Ehrenfischer Göck lernen müssen. Der fragte nun Hermann Witte, ob es ihm selbst
nicht peinlich gewesen sei, so furchtbar kindisch auf die Sowjetunion zu
schimpfen und herumzulamentieren. Im Zug, vor fremden Ohren, die glauben
müssten, er wäre in Moskau miserabel behandelt worden. Solche faustdicken
Lügen! Unerhört. Ob er nicht hervorragend verpflegt worden sei. Hermann Witte
saß den Buckel gewölbt, schuldbewusst und schweigend da. Den kräftigen Kopf mit
den auffallend großen wasserblauen Augen nach vorn ausgestreckt, steckte er die
Rüffel ohne Widerrede ein. Rot war er angelaufen. Natürlich leuchtete ihm längst
ein, dass er überzogen hatte. „Kein Bäär, kein Bäär!”, (Kein
Bier, keine Bier) versuchte Göck sich in Wittes unnachahmlichem Tonfall. „Mensch
kein Bäär! Säufst doch auch sonst nich jeden Tag Bäär!” Betroffenheit
breitete sich aus, erfasste auch die Unschuldigen. Unser Reiseleiter und
Ehrenmitglied ließ nicht locker: „Da ist wohl noch viel Unkraut und
mancherlei reaktionäres Zeug in den Köpfen einiger! ... Du, Hermann Witte,
hast...” Von mangelndem Ehrgefühl und nicht dem geringsten Empfinden
für Takt und Anstand war die lange Rede.
„Ich hätte mehr von dir gehalten!” Ob Hermann Witte klar war, dass
die Schelte ihm nur in zweiter Linie galt? Ich wusste, Hermann Göck meinte
mich. Sein weißes Gesicht bekam Farbe. Mir schwante es: Dass ich mit einem
Westdeutschen oder einem Holländer offen DDR-feindlich geredet habe, hielt er
sowohl für erwiesen wie auch für die Spitze denkbarer Bosheit. Ich war der
Hauptverderber dieser in mehrfacher Hinsicht misslungenen Reise. Ich konnte
nicht mehr abwarten. Was er mir sagen wollte, solle er denn auch direkt an mich
richten. Sofort, als ich ihn so aufforderte doch unverblümt zu sagen, was ihn
in Wahrheit bedrücke, brach es mit elementarer Gewalt aus ihm hervor. Krachend
flog der Vulkankegel weg. Er schrie mich an und spuckte minutenlang Feuer und
Lava. „Beleidigung der Sowjetmenschen. Hast du überhaupt keinen blassen
Schimmer, was diese Menschen gelitten haben... du... Streik... Rausschmeißen
aus der Genossenschaft. Boykotthetze...Reiseverbot für ewige Zeiten.” Seine
Liebe für Menschen, Land und vor allem zu seiner Partei trieb ihn in diesen
Irrtum, aber auch seine bedingungslose Hingabe an die große Idee, die ich in
Frage zu stellen wagte. Ich, der Erdenwurm, hatte mir erlaubt sein Heiligtum zu
besudeln. All das war eins für ihn. So viele Jahre hatte er vergeblich um mich
geworben.
Seine Bitterkeit schmeckte auch mir wie Galle. Er konnte und wollte nicht
tolerieren, dass ich seine sozialistische Staatengemeinschaft nicht
wertschätzte. Besseres als sie konnte es nicht geben, - für ihn. Da war es
wieder, was ich hasste, diese Unterstellung, wer seine Partei und die
Sowjetunion nicht liebte, der sei ein Volksfeind. Er goss seinen Zorn in neue,
immer stärkere Worte. Er beschuldigte mich weiterer Vergehen. Alles sehr laut
und im Brustton grenzenloser Empörung. Was er nun sagte, ich achte die
Sowjetfrauen nicht, war ihm ebenfalls geflüstert worden. Eindeutig! Nur einem
bestimmten Mann aus meiner Nachbarschaft, hatte ich, einen Tag nach der
vorzeitigen Rückkehr aus Moskau geschildert, wie ich, bei unserem Ausflug in eine
Leningedenkstätte, bei einem Schrankenstopp gesehen hatte, dass acht Frauen
eine mächtige Eisenbahnschiene schleppten. Tapfer hielten sie das Hebezeug und
sie gingen Schritt für Schritt über den Schotter. Ich konnte spüren wie diese
Trägerinnen sich aufeinander absolut verlassen konnten, wie ruhig sie nämlich
arbeiteten. Nur, rechts und links der Schwerlastträgerinnen befanden sich zwei
Männer, die jeder mit einem Signalhorn bewaffnet seelenruhig mitanschauten, wie
die Mütter und Ehefrauen sich abquälten. Genüsslich indessen bliesen die beiden
Herren der Schöpfung den Zigarettenqualm in die blaue Luft. Diese
Selbstverständlichkeit auf beiden Seiten hatte mich ziemlich schockiert. Jetzt
hörte ich von Hermann Göck, ich wäre ein Feind der großartigen Idee von der
Gleichberechtigung der Frauen. Mir wäre es ein Gräuel zu sehen, dass die Männer
für die Sicherheit im Schienenverkehr sorgten. „Das sieht dir
ähnlich!”, schimpfte er. Ich hätte auch kein Recht, mich über die
Preise einfacher Schuhe aufzuhalten. „Botten!”, sagte er höhnisch. Ich hätte
sie ‚Botten’ genannt statt Schuhe. Das stimmte! Aber woher wusste er das? Jetzt
war ich gänzlich sicher. Nur Siegfried H. gegenüber, unserem Nachbarn, der an sehr
verantwortlicher Stelle im Rat des Kreises Neubrandenburg saß, war ich, am Tage
der Heimkehr, so offen gewesen, sowohl die Schwerstarbeit durch Frauen, wie
auch die ungeheuren Preise für so grobe ‚Botten’ zu beklagen. Dieser
Opportunist S. H. hatte mich also bei Hermann Göck angezeigt. S.H. war nicht
ehrlich. Als Staatsfunktionär durfte er keine Westpakete erhalten, auch nicht
indirekt. Diese gingen, da er sie, wenn auch illegal, empfangen wollte, an die
Adressen seiner Verwandtschaft auf dem Lande. (Über Kindermund war diese
Tatsache an meine Kinder bereits seit Jahren ausgeplappert und an meine Ohren
getragen worden: „Ätsch! Unsre Sarotti kriegen wir doch! Die holt Papa
immer von unserer Oma ab!” Diesem S. H., der nach außen hin so glatt
und rot war, und so tat, als würde er von allen der Linientreueste sein, als
habe er die Weisheit löffelweise gefressen, hatte ich mit diesen beiden
Schilderungen lediglich eine gewisse Frage gestellt: Ob er nicht manchmal
Mitleid empfände mit den in der Sowjet-Union lebenden Menschen, die sich in
erster Linie für das ungeheure Rüstungsprogramm des roten Imperiums abschuften
mussten. Hätte er mir daraufhin nicht eine sachliche Antwort geben können und
mir ruhig erläutern können, wie er das sieht? Statt hinzurennen ans Telefon und
wutentbrannt die Göcksche Nummer zu wählen? Ich gebe zu, ganz unschuldig an
dieser Verpetzung war ich nicht. Als ich nämlich am Samstag nach der Rückkehr
aus Moskau einem meiner Hausmitbewohner erzählte, dass ich S.H. mit gewissen
Tatsachen konfrontiert und mit heiklen Fragen attackiert habe, lachte dieser
und erzählte mir ebenfalls eine uns beide erheiternde Geschichte über S.H., der
auch ihn schon einmal auf so arrogante Weise behandelt hatte. Während wir
herausfordernd über ihn lachend im Vorgarten beieinanderstanden und
hinaufschauten zu einem gewissen Fenster in der Nachbarschaft, erschien
zufällig das Gesicht des Mannes im Fenster, auf dessen Kosten wir uns
amüsierten. Wir beide wussten nämlich die Sache mit den Westpaketen, die S.H.
klammheimlich empfing. S.H., obwohl er kein Wort gehört haben konnte, musste es
erspürt haben, dass wir ihn auslachten. Daraufhin ist er hingegangen, um mich
bei Hermann Göck anzuzeigen. Dass es so war, lag nun auf der Hand. Denn Hermann
Göck erwähnte zu alledem, nämlich in seiner anhaltenden Schimpfkanonade, ich
wäre ein verbohrter großer Esel, der nicht begreifen will, dass die
gigantischen sowjetischen Rüstungsanstrengungen den Menschen dort nicht weh
täten und dass niemand sie deshalb bemitleiden müsste. „Jawohl! Aber
wer sozialismusfeindlich eingestellt ist, wird das nie verstehen können...”
Ich wollte ihm nun in die Parade springen, kam jedoch nicht zu Wort.
Mir schien, ich dürfte nichts auf mir sitzen lassen, dem auch nur der Geruch
von Unrecht anhaftete. Er redete und redete. Er habe mir ein für alle Mal
verständlich zu machen, was ich anscheinend nicht begreifen wollte: „Millionen
haben im Befreiungskampf gegen den Faschismus ihr Leben verloren und du, du
...” Viele Worte prasselten weiterhin auf mich und uns herunter. „...
endlose Opfer... verbrannte Erde...” Wie durch einen Lautsprecher
dröhnte er und alle andern saßen wie versteinert da. Hermann Göck erklärte, ich
sei unwürdig Genossenschaftler zu bleiben. Das war der Augenblick, an dem es
für mich gefährlich wurde. Zwei, drei wirkungsvollen Sekunden lang stand seine
Forderung wie ein Ausrufungszeichen im kleinen ‚Kulturraum’, mit immer noch
demselben vollgestaubten Radio aus der Frühzeit der Genossenschaft. Mich packte
ein ungeheures Gefühlsgemenge aus Wut und Mut, aus Angst und Stolz. Zehn
Dezibel lauter als er, gab ich nun meine Gegenerklärung ab: „Ich bin maßlos
enttäuscht, wenn das, was wir gesehen haben, das ganze Ergebnis von sechzig
Jahren Kommunismus ist. Das will ich dir sagen, Hermann Göck, auch wenn du das
anders hinstellen möchtest. Mich dauern all diese zahllosen durch willkürliche
Eingriffe zerstörten Familien, es tut mir weh zu sehen, dass in Kriegs- und
Friedenszeiten Abermillionen für ein fast Nichts an Verbesserungen ihr Leben
hingegeben haben und jetzt für den Weltfrieden immer noch zuerst
Panzer und Kanonen bauen müssen, müssen, müssen. Ich weiß auch um die guten
Sachen im Sozialismus. Aber die decken nicht die Mängel und die Wunden zu. Ich
kann die Menschen dort nicht beneiden.” Weil ich unnatürlich laut und
viel redete war meine Wortwahl nicht gerade die Beste, feinste. In Wahrheit
schrie ich, nur weil ich meine Bedenken zu überwinden hatte, ich käme zu spät
zu Wort. Er setzte zu einer Erwiderung an. Es sei unerhört, dass ich nicht
reuig in mich ginge.
Nun aber ließ ich ihn nicht zum Zuge kommen. Entschlossen mich zu behaupten
riss es mich hin zu behaupten: „Deine niederträchtigen Informanten kenne
ich!” Er stutzte. Ich nannte ihm beide Namen. „Dieser S. H.
und dein P. hatten beide nicht den Mut, mit mir Auge in Auge ins Gericht zu
gehen! Da haben sie dich vorgeschoben! Das ist Feigheit vor dem Feind.” Ich
wiederholte dröhnend die beiden Namen und exakt das, was er nur von dem einen
und was er von dem anderen vernommen haben konnte. Viel lieber als mich so
meiner Haut zu wehren, wäre ich in ein Mauseloch gekrochen. Doch ich blieb
fest, ich würde keinen Millimeter von dem, was ich geäußert hätte, abweichen.
Meine Kollegen schauten mich betroffen an. Reinhardt Lüdtke rutschte auf dem
harten Stuhl hin und her. Ihm fiel nichts ein, die Richtung der immer noch
unberechenbaren Auseinandersetzung zu beeinflussen. Reiners Augen rollten, als
wollte er mir bedeuten sofort den Mund zu halten. Mein Trotz würde alles nur
verschlimmern.
Mir blieb aber keine Wahl. Mir blieb nur übrig, mich mit Hilfe der Wahrheit zu
verteidigen. Meine Tatsachen hatten ihre Wirkung auf meinen hocherregten alten
Freundfeind nicht verfehlt. Sie verschafften sich Gehör und Raum. Ihn
beeindruckte offensichtlich, dass ich immer noch zu dem stand, was ich gesagt hatte: „Der
Sozialismus hat bessere Seiten als die von mir kritisierten.” Nun
konnte ich ruhig hinzusetzen und erklären, was mein Intimfeind nicht richtig
verstanden, aber dennoch an ihn weitergegeben hatte: „Von einem Streik,
Hermann Göck, habe nicht ich, sondern der Holländer gesprochen. Ihr habt doch
für fünf oder sieben Tage bezahlt, lasst euch das nicht gefallen. Das ist doch
wohl ein Unterschied wie Tag und Nacht!“ „Aber das hättest du dem
fremden Mann ja auch nicht auf die Nase binden müssen.” „Darum geht es
ja gar nicht!”, hielt ich dagegen, „ich bin genau so traurig wie
du! Ich habe mich lediglich von meinem Tischnachbarn verabschiedet!“ Göck
schaute mich nun aus großen Augen an, wie ich ihn. Seine, meinerseits
befürchtete endgültige Erwiderung blieb erstaunlicherweise aus. Er wiederholte
betroffen und mit auffallender Verwunderung den Namen S.H. Deshalb schwenkte er
um. Er sagte plötzlich, aber wieder in normaler Lautstärke: „Ich werde
S.H. fragen, warum er vor dir gekniffen hat.” Er kratzte ein
Ohr. „Den kaufe ich mir!”, erwiderte er. Er werde ihm den
Marsch blasen! – „Ich! … ” So heftig wie die Aussprache
begonnen hatte, so jäh endete sie. Plötzlich war von seinem Antrag auf meinen
Ausschluss aus der Genossenschaft keine Rede mehr. Die ungeheure Macht der
Partei, die hinter ihm stand, bedrohte mich nicht mehr direkt. Dass S.H. ihn
vorzuschicken gewagt hätte, nahm er ihm übel. Wort für Wort hatte ich in dieser
Zusammenkunft unter zehn Zeugen offengelegt, was ich S.H. gesagt habe und wie
hinterhältig er reagierte. Die Westpaketgeschichten gehörten hier nicht her und
so vergalt ich es ihm nicht. Mir lag daran, die Situation weiter zu entspannen.
Ziemlich behutsam äußerte ich deshalb, dass mir stets gewisse Bilder vor Augen
stünden. Darum ginge es. Alles andere sei mir gleichgültig. In riesigen
primitiven Arbeitslagern hätten unschuldig inhaftierte russische Menschen
jahrzehntelang hausen und darben müssen. Fernab ihrer Familien mussten sie sich
aus einem einzigen Grund zu Tode rackern. Nämlich um Workutas Straßen zu bauen.
Alles wegen Stalins Größenwahn. Sogar in unserer DDR-Presse wurde der Wahnwitz,
als „Personenkult“ bloßgestellt. Wortwörtlich konnte ich
wieder und wieder aus seinem “Neuen Deutschland” zitieren. Ihm aber weitere
Grobheiten ins Gesicht zu schmettern, nahm ich mir nicht heraus. Man muss ja
nicht unentwegt im Klartext formulieren. Inmitten der Worte schwingen ohnehin
die Töne des echten Gefühls. „Ja, der verfluchte Krieg!”, erwiderte
Hermann, und ich war froh, dass er es so deutete. Als er schließlich
davongegangen war, ebenso mattgekämpft wie ich, klopften mir Witte, Fritz Sack
und andere Kollegen auf die Schulter. Dem hätte ich es aber gegeben. Das jedoch
war nicht meine Absicht gewesen. Es ging um mehr. Äußerlich erschien ich
wahrscheinlich gelassen, doch meine Knie zitterten und auch mein Gemüt bebte
nach. Dass es Verleumder gibt, ist eine Tatsache, dass man mit ihnen leben
muss, ist schwer. Mir wäre eine ruhige Auseinandersetzung auch lieber gewesen.
Die Angst der Ungewissheit blieb eine Weile bei mir. Mein Glück, dass
Mitfischer P. an diesem Tag elend genug zumute war und sich in dieser
Versammlung nicht sehen ließ.
Erst einige Wochen später sah ich Hermann Göck wieder. Mir schien, er ginge gebeugter als sonst. Langsam setzte er seine langen Beine. Er kam aus Richtung des Krankenhauses in der Külzstraße. Ich wich ihm nicht aus, sondern ging auf ihn zu. „Lenchen liegt im Koma!” teilte er mir mit und streckte mir die Rechte hin. Die innere Erschütterung stand ihm ins Gesicht geschrieben. Seine Frau war stets nur freundlich zu mir gewesen. Ich wusste, wie sehr beide aneinanderhingen. Unter den Blättern und hängenden Zweigen einer bereits herbstlich eingefärbten Birke stand er mit seinem weißen, sorgfältig gescheitelten Haar. Ein gebrochener Mann. Unerwartet muss ihn mit Härte die Erkenntnis getroffen haben, dass uns allen Grenzen gesetzt sind. Als alte Freunde, die ihren Streit längst vergessen hatten, redeten wir miteinander. Es war auch ihm, denke ich, angenehm, dass wir einander nichts nachtrugen, sondern damit leben konnten, dass unterschiedliche Menschen grundsätzlich andere Denkansätze hegten.
1973 - und die Ungarnreise 1974
Meine Kirche hielt in Europa ihre
3. Gebietsgeneralkonferenz in München ab. Nur wer aus der DDR durfte
daran teilnehmen? Fünf Männer im arbeitsfähigen Alter waren wir, Henry
Burkhardt der Missionspräsident, Gottlieb Richter, sein 2. Ratgeber und drei
Distriktpräsidenten, Lothar Ebisch, Walter Schiele und ich, - mehr Nichtrentner
durften nicht nach München, in den kapitalistischen Westen reisen. Wir hörten
beglückt Präsident H.B.Lee und den Tabernakelchor! Es war großartig. Es
erinnerte mich an jene große Konferenz in Berlin 1937 mit Heber J. Grant. Da
erklang damals eine jubelnde Fanfare von der Nachbarloge unserer Tribüne. Unten
saßen die Missionarinnen auf dem Podium. An sie kann ich mich erinnern, weil
einige von ihnen schluchzend weinten. Als Siebenjähriger konnte ich noch nicht
verstehen warum man bei einem freudigen Ereignis Tränen vergießen muss.
Um Haaresbreite wäre ich in München nicht dabei gewesen. Zehn Stunden vor der Abfahrt mit dem letztmöglichen Zug wusste ich noch nicht, ob die Regierung grünes Licht geben würde. Kurz vor Mitternacht ruderte ich vom schwarzen See zum nächsten Telefon in einer Gaststätte. So erfuhr ich gerade noch rechtzeitig, dass ich darf. Unvergessen für immer, rührte uns die Ansprache von Gordon B. Hinkley: „Das Haupt das die Krone trägt ruht nicht bequem.“ Bei der Rückreise wurden wir kontrolliert. Die ostdeutsche Zöllnerin fand mein kleines Liederheft, schlug es auf und las den Titel „Mehr Heiligkeit gib mir”. Ihre Augen rollten. Sie blinzelte mich leicht spöttisch fragend an. Ich zuckte mit den Achseln und dachte in ihr angenehmes Gesicht hinein: nun ja, wir bemühen uns! Unter Heiligkeit verstehen wir mit Paulus, unseren Frauen auch in Gedanken nicht untreu zu werden. Sie fragte wortlos zurück: Das glaubst du wirklich? Dann: „und worüber haben sie Sechs sich noch eben, kurz bevor ich eintrat, so köstlich amüsiert? Lothar Ebisch der in Sachsen eine Papierfabrik leitete, hatte einen politischen Witz erzählt…Das musste sie nicht wissen. “Wir hatten Spaß miteinander!” Hätten wir erwidern sollen, wir freuen uns wieder in den Käfig zu kommen?
"Dolly"
Schon vor den Tagen des frühen Herbstes 1974, noch bevor wir unseren Betriebsausflug ins Land der Magyaren starteten, erinnerte ich mich deutlich der jüngeren, traurigen Vergangenheit dieses Landes.
Das tragische Schicksal des damaligen Ministerpräsidenten Imre Nagy und seiner Unterstützer stand in Bildern vor mir. Menschen meines Schlages konnten und wollten nicht vergessen, dass 1956 in Budapest, wie drei Jahre zuvor in Berlin, demokratisches Denken und Wünschen mit Waffengewalt niedergewalzt wurde. Die breite Mehrheit der Ungarn wollte sich von beklemmender, sowjetrussischer Bevormundung befreien, und der reformwillige Kommunist Nagy ließ zu, dass seines Volkes Forderungen nach freien Wahlen straffrei erhoben werden durften.
Es ist wohl wahr, dass die Rote Armee, 1944/45, Ungarn von faschistisch und antisemitisch orientierten „Pfeilkreuzlern“ und deren Gesinnungsgenossen befreite: Aber, dass diesem Land der Bauern und Studenten anschließend die Lenin-Stalin-Ideenwelt aufoktroyiert werden sollte, lehnten, laut Ergebnissen der ersten und einzigen freien Wahl 1945, 83 Prozent ab. Die Partei der Kommunisten erhielt nur 17 Prozent der Stimmen. Mit List und Tücke, - sehr ähnlich wie Kuckuck-Babys ihre Mitkücken, als Überlebenskonkurrenten, brutal ins Verderben stießen – behauptete diese Minderheit bald die absolute Oberhand.
Aus Sicht Erz-kommunistischer Politiker hätte Imre Nagy insbesondere den jungen und alten Intellektuellen niemals freien Lauf zugestehen dürfen. Diesen Ideenträgern hätte, - so die Ansichten der Total-Roten, - die vom Kreml gebilligte Regierung Nagys, Paroli bieten müssen.
Was er zuließ, galt als Verrat an den „hehren“ Prinzipien der „neuen Gesellschaftsordnung“. Alle Menschen unter russischer Vorherrschaft mussten hinlänglich indoktriniert werden. Dissidenten zu gängeln, war oberste Pflicht jedes Parteisoldaten. Nun aber erhoben sich zehntausende Ungarn und demonstrierten mit Plakaten für Presse- und Meinungsfreiheit. Die Erhebung nahm um den 23, Oktober 56 Fahrt auf. Es kam seitens der Budapester zu Ausschreitungen. Parteizentralen wurden gestürmt, deren Personal angegriffen. Chruschtschow tobte und schwor Rache. Am 4. November rückten 15 Divisionen der Sowjetarmee mit 2.000 Panzern und etwa 200.000 Soldaten ein. Sie zerschlugen in den darauffolgenden Tagen den Aufstand unter erbittertem Widerstand. Mehr als 2 000 Menschen, zumeist die unter 40-Jährigen kamen bis zum 11. November zu Tode. Gnadenlos bestraften die sogenannten „Sieger der Geschichte“ zuerst die Aufständischen, dann Nagy. Er wurde erhängt.
Auch wenn die große Tragödie fast zwanzig Jahre zurücklag. Diese fernen Ereignisse gehörten nicht nur für mich zum Schlimmsten, was die Roten in Friedenszeiten jemals verbrochen hatten.
Es war ein warmer Septembertag, 1974, an dem wir DDR-Fischer-Touristen in Budapest eintrafen.
Wir freuten uns auf Weintrauben, die es bei uns selten oder nie gab. Nach durchschwitzter Hotelnacht holte uns ein Bus ab. Sightseeing war angesagt. Am Budapester Platz der Nationen stiegen wir aus. Dort hielt unsere Dolmetscherin, - eine temperamentvolle, charmante und auffallend gut gekleidete Fünfzigerin, - in recht geschwindem Deutsch einen Kurzvortrag zu zwölf deutsch-österreichisch-ungarischen Kaisern und Herrschern, deren Statuen und Köpfe auf uns herunterblickten. Ehrlich gesagt, sie hatte den Vortrag heruntergeleiert, wohl in der Annahme, dass es uns ohnehin nicht interessieren würde. Ich stellte eine Nachfrage, weil mich Kaiser Matthias (Ungarns König) Handeln interessierte, hätte er doch die politische Weichenstellung, die dann bedauerlicherweise zum 30-jährigen Krieg führte, auch anders vornehmen können. Der ganze Jammer wäre vermeidbar gewesen. Wütend fuhr mich die Dame an, die sich selber als „Dolly“ vorgestellt hatte: “Passen Sie nächstes Mal gefälligst auf! Ich habe ihnen die Frage längst beantwortet!”
Sich auf den Hochhacken ihrer schicken Schuhe abdrehend, stürzte sie auf unseren himmelblauen Bus zu. Ich war schneller. Ihre Mimik warnte mich, sie anzureden. Ihr war anzusehen, was sie dachte. Es war unter ihrer Würde, einfachen Fischern, statt Hochschullehrern oder Künstlern zur Verfügung stehen zu müssen. Nicht der nicht vorhandene Geruch, der unserem Berufsstand anhaften sollte, sondern eher ihre Vorstellung davon war es, was sie möglicherweise als so unangenehm empfand. Glaubte sie im Ernst, dass sie mich durch ihre rigorose Unhöflichkeit abschrecken könnte? “Da fehlt aber der dreizehnte Nationalheld!” sagte ich. Sie stutzte. Ihre Augen rollten. Ihr Atem stockte, als ahne sie bereits, dass ich nicht nachgeben würde. Sie zog die Lider hoch. “Und der wäre?” Noch verriet ihr Gesicht, dass sie unerfreut war. “Imre Nagy!” erwiderte ich prononciert: „Notsch“
Imre Nagy 1896-1958 und Familie
"Um Gottes willen!”, stöhnte die Dame. Ihr Ausdruck änderte sich völlig. Sie griff halt suchend nach meinem Ärmel, schaute sich von offensichtlicher Angst erfüllt um. Zugleich war da das schöne Aufleuchten ihrer grauen Augen: “Die Redaktion!” flüsterte sie. Die Redaktion, das war ihre Umschreibung für Leute des ungarischen Staatssicherheitsdienstes oder solcher die ihm zuarbeiteten. Wenn das einer der „Redakteure“ gehört hätte! Ich wäre sofort festgenommen worden. Verblüfft hörte sie mir zu. Imre Nagy letzte, erhaltenen, auf Tonband gesprochene, Worte lauteten: „Ich bitte nicht um Gnade!“
Kaum war ich in den Bus eingestiegen und hatte ziemlich weit hinten, neben Erika Platz genommen, kam sie zu uns. “Darf ich mich nach dem Befinden Ihrer Gattin erkundigen? Sitzen Sie bequem? Kann ich etwas für Sie tun?” In mir lachte es vergnügt. Im Traum wäre ihr nicht eingefallen, einen einfachen Fischer und seine Fischerin so zuvorkommend zu behandeln. Aber so unverhofft einem deutschen Gesinnungsfreund zu begegnen, nun da doch alles längst Geschichte war, zu einer Zeit, da selbst den nachgeborenen Ungarn strikt verboten war, daran trauernd zurückzudenken. Es hatte sie überwältigt. Da kommt ein kleiner DDR-Bürger und erklärt seine Sympathie für ihren großen und geschmähten Helden. Erika lachte leise und zufrieden, ahnte jedoch nicht, wie sie zu dieser netten Geste kommen konnte. Ich verzog, hoffe ich, keine Miene. “Vielen Dank, alles OK.” erwiderte ich und tat viel bescheidener, als ich in Wahrheit war, und nickte ihr zu. Innerlich jubelte ich: Na also, lagen wir doch dieselbe Wellenlänge.
Ja, wir wussten es: Zumindest einigen unter den 2 000 sowjetischen Panzerfahrern, die am 4. November 1956 In Budapest einrückten,
Bild: History Collection
wurde weis gemacht, sie befänden sich in Ägypten, wo die Briten zeitgleich kämpften, um der bereits Ende Juli 56 erfolgten Verstaatlichung des Suezkanals entgegenzuwirken. Ohne Absprachen mit London und Paris zu führen, hatte das mit der Sowjetunion befreundete Ägypten am 26. Juli dieses Krisenjahres die Suez-Kanal-Gesellschaft entmachtet. Es traf die Rechtsnachfolger der Macher und Finanzierer dieser Wasserstraße.
Irgendwie bestand eine Verknüpfung dieser beiden, fern voneinander liegenden Ereignisse, die unter den Augen der kommunistischen Machthaber stattfanden. Denn, zeitgleich weitete sich der überwiegend friedliche, aber antikommunistische ungarische Studentenprotest aus. Im hoch-katholischen Polen rumorte es um diese Zeit ebenfalls heftig. Chruschtschows Geheimrede, die er nur wenige Wochen zuvor, Ende Februar 1956, als neuer Kremlchef vor seinen hochrangigen Genossen hielt, war längst im Westen und in vielen Kreisen der Ostblockstaaten nicht mehr geheim. Alle Oppositionellen witterten Morgenluft. Chruschtschow hatte Stalin unversehens als Verbrecher oberster Kategorie klassifiziert. Gefängnisse öffneten ihre Tore und Rehabilitationen zahlreicher politischer Gefangenen erfolgten öffentlich. Tauwetter war angesagt. Jetzt wollten immer mehr Menschen noch mehr Freiheiten erlangen. Imre Nagy sagte diese Entwicklung durchaus zu, während Nikita Chruschtschow hoch besorgt sah, wie erheblich das Anwachsen der Lawine war, die seine Macht bedrohte. Obendrein bombardierten Großbritannien und Frankreich am 31. Oktober, ägyptische Flughäfen. Umgehend unternahm Israel einen Vormarsch; gegen Ägypten. Knapp eine Woche später, am 5. November, einen Tag nach dem Beginn ihres Einmarsches in Ungarn, drohte die außenpolitisch unter Druck stehende Sowjetregierung gegenüber Frankreich und Großbritannien, „mit der Anwendung von Gewalt die Aggressoren zu vernichten und den Frieden im Nahen Osten wiederherzustellen.“ Chruschtschow und sein engster Vertrauter Bulganin, damals Ministerpräsident, sprachen sogar von der Zerstörung der westlichen Hauptstädte mit Atomwaffen. Das bestätigten einige Quellen. Alles Wissen um diese Zusammenhänge wurde, nach dem blutigen „Sieg“ der rabiaten Supermacht, geschickt und so gut wie möglich unterdrückt und überspielt. Die Drohung Atombomben einzusetzen war auch eine Warnung an den „Westen“ sich Ungarn betreffend mit Kritik zurückzuhalten. Das war die Auswirkung der Ideenkombination von Panslawismus und Bolschewismus. Man wollte vergessen machen und herrschen…
In den folgenden Tagen überbot Frau Dolly sich uns Gutes zu erweisen. Am Programm des Abschiedsabends nahm ich allein, und nur für eine Stunde teil, weil es Erika bei der drückenden Hitze nicht gut ging. Als unsere Dolmetscherin bemerkte, dass ich aufbrach, winkte sie ein Blumenmädchen heran, kaufte schneller als ich begreifen konnte, einen Rosenstrauß und gab ihn mir mit besten Genesungswünschen für meine geliebte Ehefrau mit auf den Weg.
Für mich war es, im weit entfernt
erscheinenden Hintergrund, der kleine bösartige, unsichtbare Mann, der die “Königreiche
erzittern machte und der das Haus seiner Gefangenen nie öffnete”, wie er im
Jesaja Buch und dem Buch Mormon beschrieben wurde. Er stand hinter
diesem kuriosen Modell und Schicksal, dass er allen Nationen zugedacht
hatte. Jedenfalls gab es sie, diese schwarze Allmacht, die uns immer
wieder bis in die Nachtträume hinein begleitete und verfolgte. Es gab weitere
furchtbaren Pläne in den Schubladen der Moskauer Militärs, den Gegner auf
seinem eigenen Territorium zu schlagen.
(Wie sich nach der Wende zeigen sollte,
setzten die Russen auf den durch Westeuropa führenden Transit-LKW-Routen häufig
Panzerfahrer ein, damit die sich schon, en passant, ein Bild vom künftigen
Operationsgebiet verschaffen konnten.)
Jürgen
1974 kamen Wolfgang Sittig, Gunnar Tews und Jürgen zu uns. Der erste als
Lehrling, der zweite als Diplomingenieur für Fangtechnik/Hochseefischerei, der
dritte als Gehilfe, der sich in der Ausbildung zum Meister befand. Gunnar, 24-,
und Jürgen, 30-Jährig, brachten großen Elan mit. Künftig mit den dreißig
Quadratkilometern Wasserfläche experimentieren zu können, würde ihnen einen
Riesenspaß bedeuten. Aber es sollte alles ganz anders kommen.
Gunnar war bei einer früheren Operation mit Hepatitis B verseuchtem Blut
infiziert worden. Seine Krankheit wollte sich nicht heilen lassen. Sie drohte
chronisch zu werden. Jürgen dagegen trug einen anderen Keim mit sich, den
wir natürlich nicht erkannten. Jürgen größer als eins neunzig, mit einem
Gesicht eindrucksvoll wie ein Senator, schien von Beginn an fest von Charakter
zu sein. Wir fanden bald, dass er entschlossen im Verfolgen seiner Ziele und
der ihm gestellten Aufgaben war. Er wurde von uns als Fangleiter für die vielen
rings um den Tollensesee liegenden kleineren Seen eingesetzt. Wir konnten nicht
ahnen, dass er grausam sein konnte, und dass er überheblich war. Er geriet sehr
schnell mit den ihm unterstellten älteren Kollegen in Konflikt. Er mochte
insbesondere Horst Gruß nicht, der bereits kurz vor mir Mitglied der
Genossenschaft wurde. 45-jährig strebte Gruß danach ein eigenes Wohnhaus zu
kaufen. Er war durch und durch Praktiker mit Einfallsreichtum. Er könnte ein
Sinti gewesen sein. Horst und Jürgen ähnelten einander in ihrer Arbeitsweise.
Sie konnten sehr geschickt mit Nadel und Messer umgehen und schneller als alle
anderen Männer, die nicht unkomplizierten Fanggeräte herstellen. Eines Tages
beorderte Jürgen, Horst Gruß an eine bestimmte Stelle im Kastorfer See, der
fast rundum und aufgrund seiner Geometrie eine besonders breite rohrbewachsene Uferzone
bot.
Wir bewirtschafteten dieses Gewässer zum ersten Mal. Der Rat des Bezirkes hatte uns die etwa 80 ha Wasserfläche übertragen. „Hier baust du die Kastenreuse ein”, wies Jürgen den zwanzig Jahre älteren Fachmann, bereits mit rüdem Ton an. Horst tat, was ihm aufgetragen wurde. Jürgen selbst arbeitete in ungefähr dreihundert Metern Entfernung mit Gruß um die Wette. Den großen Kerlen zuzusehen, wie sie mit den teilweise sechs und acht Meter langen Reusenpfählen umgingen, war ein Vergnügen. Anderthalb Stunden dauerte es durchschnittlich für die Schnellen, wenn sie wollten, die jeweiligen Großreusen einzubauen. (Im Gegensatz zu früheren Reusen, die nur einen ein Quadratmeter messenden Eingang hatten, wiesen diese eine sechzehnfache Fläche vor.)
Beide Männer wünschten es einander zu
beweisen. Sobald sein Fangeschirr stand, kam Jürgen angerudert. Elegant mit
über Kreuz gefassten Griffen an den Rudern, wuchtete er mit seinen langen Armen
den kleinen grünen Plastekahn voran. Als er den jungen Mann ankommen sah,
ahnte Gruß schon, er würde kritisiert werden. Jürgen verzog sein Gesicht. Er
schüttelte den Kopf missbilligend. „Die Reuse steht schief!” Gruß
nahm die Zigarre, die er sich gerade angesteckt, ruhig aus dem Mund und blies
den Rauch sehr langsam aus. Diese Frechheit riss seine Seele aus der
Verankerung. Er war außer sich. Er hätte brüllen können. Seine Reuse stand
exzellent da und exakt an dem ihm zugewiesenen Platz. Kein Fisch käme an ihr
vorbei. Jürgen kommandierte. „Ausbauen?”, fragte Gruß
ungläubig zurück. Seine verwirrten, braunen Augen schauten genau hin
um herauszufinden, wie viel Spott da im Spiel sein mochte.
Schon zweimal waren sie aneinandergeraten. Das erste Mal, als sie gemeinsam mit
der Handelektrode und mit dem tragbaren Stromaggregat unterwegs gewesen waren,
um Aale zu fangen. Da hatte Jürgen sich ebenfalls angemaßt, ihn
ungerechtfertigt zu rügen. Er sei nicht schnell genug. Man müsse den eiligst
aus dem Spannungsfeld fliehenden Aalen die Stange mit der Anode schneller
hinterher stoßen, um sie zu lähmen und anzuziehen. Stets entkam ohnehin
mindestens die Hälfte aller Fische dem Stromkreis, und zwar von denen, die
nicht bereits vor den ihnen ja bekannten, nahenden Geräuschen die Flucht
ergriffen hatten. Beim zweiten Mal ließ Gruß sich zu einem Fehler hinreißen. Er
wagte es Jürgens Vater zu tadeln. „Gewiss! Den Murks baust du wieder
aus.”
Gruß zögerte eine Weile. Schließlich gehorchte er, wenn auch zähneknirschend,
weil Jürgen ihn beim Vorsitzenden Lüdtke noch schwärzer malen könnte.
Er drehte und zog und wuchtete die mehr als einen Meter tief in den Seegrund
gerammten Reusenpfähle wieder ans Tageslicht. Stück für Stück. Dreißigmal
dieselbe Last und Plage, dieselben gestöhnten Flüche. Es ist allemal eine
ungeliebte Arbeit Großreusen ausbauen zu müssen, weil sich damit keinerlei
Fängerhoffnungen verbinden. Horst Gruß wusste, das war auch die Rache für
den Streit, den er einige Zeit zuvor vom Zaune gebrochen, indem er den
Genossenschaftsvorsitzenden wüst beschimpft hatte, weil der in sein Fangrevier
eingefallen war. Jürgen stand an jenem Tage noch in voller Manneshöhe hinter
seinem Vorgesetzten. Was Lüdtke geschehen war, das konnte ihm passieren. Dem
wollte er vorbeugen. Hier sollten ein für alle Mal die Weichen und Signale
gestellt werden. Definitiv wollte er die Macht- und Rangfrage entscheiden.
Dabei herrschte ringsherum tiefster Friede. Still wie ein Spiegel lag der
schöne See. Aller Lärm der Straßen und Plätze rauschte fernab. Rings um sie
herum breiteten sich die Bilder mit den weißstämmigen Birken, den Erlen, Eschen
und den friedlich grünenden Büschen aus. Wer die beiden Männer so gesehen,
hätte meinen müssen, gegen solche Harmonie könnten sich Vernunftbegabte nicht
stemmen. Gruß, der sodann zum zweiten Mal das Geschirr in den See stellte,
bemerkte, dass Jürgen ihn beobachtete. Noch einmal dürfte der ihn nicht
kritisieren. Das Maß war voll. Getraute er es sich dennoch, dann spränge er dem
Lulatsch an die Kehle. Dann wäre es eine offensichtliche Schikane.
Die wird er nicht hinnehmen. Nach genau anderthalb Stunden kam Jürgen
erneut angerudert. Mit denselben Bewegungen, mit eben demselben aufregend
abweisenden Gesichtsausdruck. Na, Freundchen, mach’ dich nicht
unglücklich.
Gruß glaubte zu ahnen, was sich im Innersten des jüngeren Mannes abspielte. Er
spannte sich. Erkannte sein Brigadier nicht, dass er zurückschlagen wird?
Nein!
Der wollte seinen Kopf durchsetzen. Als Jürgen den erfahrenen Altgesellen
Gruß abermals anmeckerte, stieß der seinen Arbeitskahn jäh vorwärts, um das in
seine Nähe vorgerückte kleinere Boot mitsamt dem hochmütigen Menschen zu
rammen. Jürgen wich diesem Angriff geschickt aus. Mit zwei kleinen, aber
kräftigen Ruderzügen drehte er das Wassergefährt auf der Stelle.
Grußens Angriff stieß ins Leere. Damit war die endgültige Feindschaft zwischen
ihnen erklärt. Für Horst Gruß hatte Jürgen sein Konto weit überzogen.
Gruß bekam Rückenwind, mit Ausnahme von Willi Krage und Reiner Lüdtke. Gruß war
nicht irgendwer, sondern eine Persönlichkeit mit großem Kredit bei den anderen
Kollegen. So bildeten sich innerhalb der Genossenschaft zwei
Parteien. Wenig später stellte sich auch Dieter Giesa auf Jürgens Seite.
Hermann Göck rang die Hände hilflos, als er irgendwann bemerkte, wie die Dinge
sich entwickelten. „Wie ist das möglich?”, klagte er. „In einer so kleinen
Truppe, da muss doch Einigkeit herrschen.” Es herrschte die
Unausgewogenheit, die mich selbst einbezog und demnächst vor unlösbare Probleme
stellen sollte. Nicht der kühle Verstand, die hitzigen Gefühle
herrschten vor. Jeden Morgen, jeden Abend gab es fortan ohrenbetäubenden
Krach. Nichtigkeiten wurden aufgebauscht, Worte wie Waffen
benutzt. Jürgen hätte erkennen müssen, dass sich niemand jemals völlig
unterwerfen lässt. Wer sich die Köpfe und Herzen nicht geneigt machen kann, der
zerbricht eher die letzten Brücken als den Willen eines Menschen. Um das zu
wissen war er noch zu jung und zu hart.
Die nächste größere Auseinandersetzung musste kommen. Sie kam sehr schnell. Es
ging zunächst nur um eine Frage, die Gruß seinem Brigadier stellte. Der
verstand sie falsch, glaubte, er wäre wieder einmal attackiert und gekränkt
worden. Er fühlte sich herausgefordert. Vielleicht hatte Gruß die Frage
ausgeklügelt. Jürgen sollte umgehend Auskunft geben über den aktuellen Stand
der Aalplanerfüllung. Bekannt war, dass Brigadier Jürgen seine Zahlen nur
ungern preisgab. „Albern“, fanden das selbst seine besten Freunde. Denn jeder
konnte die Summen, wenn auch ein wenig aufwendig, zusammentragen. Ein Wort gab
das andere. Gruß sagte, Jürgen könne wohl nicht bis drei zählen. Jäh in
Wut geraten, griff der große, junge Mann unbeherrscht zu. Er zog Horst Gruß an
seinem ohnehin langen Hals in die Höhe. Das war unerhört, und es war
gefährlich. Wollte er ihm das Genick verrenken oder die Halswirbel auseinanderreißen?
Empört berichteten mir Horst Gruß und der immer streitbare Werner Hansen, ein
Choleriker ersten Grades, (dabei von voller Männergröße und mit Pfoten die
schon mehr als einen ausgewachsenen Keiler aus dem Gebüsch zur Straße
geschleppt hatten,) was vorgefallen war. Ich kam gerade aus dem Kühlhaus und
war über siebzehn leger dastehende, mit Karpfen gefüllte, Fischkisten
gestolpert. Beide Männer empfingen mich mit hochroten Gesichtern.
Jürgen musste kurz zuvor diese zehn Zentner Karpfen auf die Leichtkühlfläche
gestellt haben, statt sie tief zu frosten. Wer sonst? Das kann man für
eine Nacht machen. Aber nicht drei Nächte und Tage hindurch. Denn es war ein
Freitagnachmittag, an dem sich alles zusammen ereignete. Mir oblag es, das
Kühlhaus zu kontrollieren, und da Reiner sich im Urlaub befand, musste ich
handeln.
Hier ging es um Gedeih und Verderb von hochwertigen Nahrungsmitteln, für deren
Behandlung es einen Katalog von Vorschriften gab.
Und es ging nun auch um Gedeih und Verderb der Genossenschaft.
Jürgen zog sich gerade an. Er streifte sein weißes Hemd über den Kopf, als ich
ihn zur Rede stellte. Sofort gereizt erwiderte er, was ich mir erlaube,
ihn vollzunölen. Er wüsste sehr wohl, wer mich vorschickte. Jetzt nütze ich die
Gelegenheit aber aus, den amtierenden Vorsitzenden zu spielen, wozu ich ja
sonst nicht käme. Alt genug und demzufolge hinlänglich einsichtig, hätte
ich mich von ihm nicht provozieren lassen sollen. Seelenruhig hätte ich ihm
sagen müssen, er möge, obwohl bereits umgekleidet, die Karpfen in den Tiefkühlteil
stellen und betreffs des körperlichen Angriffs auf Horst Gruß bekäme er von mir
einen schriftlichen Verweis. Aber mich juckte es, den arroganten jungen
Mann anzufahren.
Denn knapp zwei Wochen vorher hatte er mich blamiert.
Was ein Hermann Witte sich erlauben durfte, mich meiner religiösen
Grundeinstellung wegen, lächerlich zu machen, das nahm er, der fast zwei
Jahrzehnte Jüngere, für sich nicht ungestraft in Anspruch.
Hermann Witte hatte den Zuschauern beim Fischfang in Strasburg, dem
wahrscheinlich gesamten Kollektiv des Landambulatoriums, detailliert
mitgeteilt, was ich für ein Sonderling sei. Er brachte die Lacher damit
natürlich auf seine Seite. Nur Jürgen musste noch eins obendrauf setzen
und erklären, „Sonderling” sei wohl nicht der rechte Ausdruck, ich sei ein
frömmelnder Worteverdreher. Das traf mich, denn ich gab ihm kaum Anlass zu
diesbezüglicher Kritik. Es klang nicht nur so, er meinte, ich lüge wie
gedruckt. In der Öffentlichkeit wollte ich damals diesen Streit nicht
austragen. Aber jetzt kam ich unklugerweise darauf zurück. Ich sprach
nicht gerade ausnehmend höflich mit ihm. Da fiel er in seinem
unbeherrschten Zorn lautstark über mich her, glaubte wir seien unter vier Ohren
und er wäre der mir ohnehin Überlegene. Ungehemmt bezichtigte er mich der
Unlauterkeit. Jürgen schrie mich aus der Turmhöhe an, ich könne ihm den Buckel
kreuzweise herunterrutschen. Es musste ihn jemand, der Rang und Namen besaß,
gegen mich aufgewiegelt und ihm den Rücken gestärkt haben. Es so zu formulieren
war der Gipfel der Unverfrorenheit. Überhaupt, was ging ihn mein
religiös motiviertes Engagement an? Was hatte das mit den 500 kg Karpfen zu
tun? Da betraten seine beiden Kontrahenten den Umkleideraum.
„Aha!”, höhnte er, raffte seine Siebensachen und verschwand ins Wochenende.
Da wir die zehn Zentner Karpfen nicht verkommen lassen konnten, brachten wir
die gefüllten Fischkisten in den Tieffrostraum. Mühsam beherrscht schrieb ich
den Verweis.
Gruß kündigte. Satt vom Gezänk, erwog auch ich
ernsthaft das Kapitel Binnenfischerei aus meinem Leben zu streichen. Da
verunfallte Reinhardt Lüdtke, während er sich auf dem Weg zu einer
Fischereifachtagung befand. Im Gegenverkehr raste er mit seinem Wartburgkombi
unter den Anhänger eines W 50. Durch die Wucht des Aufpralls riss sein Auto des
Anhängers Achse aus der Verankerung. Lüdtkes Fahrzeug wurde in diesem Vorgang
die Kabine komplett weggeschnitten. Sie haben den Schwerverletzten, der wie ein
zusammengestauchtes Bündel dalag, mühsam aus dem Pedalraum herausziehen müssen.
Die Gesichtshaut war ihm vom Kinn an bis in Augenhöhe gerissen worden.
Wäre er angeschnallt gewesen, hätte Reiner den Unfall nicht überlebt.
Zufällig war ich nur wenige Stunden später an der Unglücksstelle
vorbeigefahren. Verwundert bemerkte ich die Trümmer eines Anhängers und eines
Autos, die verstreut im Straßengraben lagen. Ahnungslos, um wen es sich
handelte, dachte ich: Das war ein tödlicher Unfall. Sofort, als ich davon
erfuhr, beeilte ich mich, ihn im Krankenhaus in der Pfaffenstraße zu besuchen.
Als sie mich, am dritten Tag zu ihm ließen, sah ich nur die Kissen,
die weißen Binden und eine kleine Öffnung um den Mund herum und seine Augen.
Er sprach langsam, war jedoch klar bei Bewusstsein. Reiner sagte mir an
jenem Tag etwas, das ihm wichtiger als alles andere zu sein schien. Er sprach
zwar leise und langsam, doch mit gewissem Nachdruck. Es betraf
erstaunlicherweise nicht das innerbetriebliche Klima. Es ging um seine
Einstellung zur SED.
Er habe keine Wahl. Beitreten werde er der Partei wohl müssen: „Aber
mache dir keine Gedanken!”, setzte er hinzu. „Eingestiegen bin
ich dennoch nicht. Sie haben es versucht.” Redete er von der Stasi? „Ja,
davon. Sie wollten, dass ich mit ihnen zusammenarbeite.” Er stockte: „Nein.
Da waren sie bei mir an der falschen Adresse.”
Reiner atmete schwer. Leise setzte er hinzu: „Sei versichert, dass aus
mir nie ein Kommunist wird!” Natürlich begriff ich, was er meinte.
Nachdem er noch mehr dazu gesagt, schwieg er und ich saß eine Weile ratlos.
Immerhin galt für mich, er dürfte sich nicht aufregen. Im Begriff
aufzubrechen gab er mir ein Zeichen. Er möchte mir noch etwas mitteilen.
Es dauerte, bis Reiner wieder reden konnte. Er zögerte auch. Natürlich, da war
es wieder. Diese Beklemmung derer, die den Wunsch hegten, sich mir
anzuvertrauen. Es gab Themen, die enorm vorsichtig behandelt werden mussten.
Man konnte nie wissen, was sich aus einem einmal geäußerten Wort entwickelte.
Jede, auch die kleinste Kritik am Regime konnte sich zu einem Ungeheuer
auswachsen. Aber das Umgekehrte gab es ebenfalls. Lautstarke Attacken auf den
Staat DDR verhallten manchmal auch folgenlos. Mochten solche Tatsachen von
Zufällen abhängen oder Taktik sein, die furchteinflößende Ungewissheit spielte
ihre Rolle in jedem Falle wirkungsvoll. Man konnte nie wissen...
Ich kannte einen Oberst, der wurde eingesperrt und musste danach lange
einsitzen, nur weil er sich herausnahm, während der Tage des Prager Frühlings,
Alexander Dubcek einen tapferen Mann zu nennen. Ein anderer teilte mir mit,
welche Arbeit er im Kurierdienst zwischen kommunistischen Bundesbürgern und
‚der Firma’ (dem Staatssicherheitsdienst) leisten sollte, und dass er es strikt
abgelehnt hätte, seinen guten Namen als Deck- und Briefkastenadresse
herzugeben. Danach fiel er in Panik, weil er sich plötzlich fürchtete, mir
gegenüber allzu offen gewesen zu sein. Kaum jemand war mit seiner
SED-Mitgliedschaft glücklich. Viele, die im Verlaufe der Jahre der Partei
beitraten, glaubten eine Möglichkeit zu sehen, sich durch diese Zugehörigkeit
in verschiedene Prozesse einmischen zu können. Danach jedoch quälte sie das
Gefühl, damit direkt oder indirekt einer Sache zu dienen, die nicht sauber war.
Einige Genossen gaben unumwunden zu, dass sie immer wieder mit sich selbst im
Hader lagen, ob und wie weit sie sich mit der SED einlassen durften und ob sie
die Herrschaft eines Systems stärken durften, das wahrheitsgemäße
Differenzierung wie die Pest mied, das nur die Farben Schwarz und Weiß kannte,
und Weiß bedenkenlos für sich allein beanspruchte. Reiners Bedenken gingen
ebenfalls in diese Richtung. Er hasse die Bespitzelung und erst recht diesen
Geist der Unredlichkeit, in dem die Partei Berichte fälsche, um ihre
Wirtschaftspläne wenigstens auf dem Papier zu erfüllen. Zu jedem schäbigen
Trick würden sie greifen, um ihre Führungsrolle zu sichern und zu
rechtfertigen. Reiner verurteilte die Privilegiensuche nicht weniger
maßgeblicher Genossen und distanzierte sich von solchem Benehmen. Dann machte
er eine vorsichtige Handbewegung und setzte hinzu: „Ich will versuchen
sauber zu bleiben, aber ich komme nicht umhin Genosse zu werden. Ich wollte dir
nur sagen, dass ich deshalb nicht blind bin.”
Wir und der §5, Landbauordnung
Trotz erzwungener Beteiligung an
Fischveredlungsprojekten des Kooperationsverbandes “Qualitätsfisch der
Mecklenburger Seenplatte” dem wir anzugehören hatten, war uns gelungen trotz
Überweisung von sechshunderttausend Mark, bis 1975 weitere achthunderttausend
Mark anzusparen.
Diese Summe hätte ausgereicht, um eine neue Spundwand rammen zu lassen, die wir
dringend benötigten und dann endlich ein mittleres
Wirtschaftsgebäude hinzustellen, denn noch hausten wir in derselben uralten,
kleinen Holzbracke, wo die immer größer ausfallenden Reusengeschirre
angefertigt und repariert wurden.
Geld floss nach der zweiten Agrarpreisreform
reichlich. Nur wir konnten dafür nicht kaufen, was wir wünschten oder
benötigten. Wir mussten unsere finanziellen Mittel in zwei Kategorien
teilen. Es gab dem Grunde nach verfügbares und nicht verfügbares
Eigenkapital. Die zweite Agrarpreisreform war ein Trick.
Zahlenjongleure sollten und wollten Wirtschaftswachstum vortäuschen. Das waren
Anzeichen für das fortgesetzte Kriseln der DDR-Wirtschaft. Wir hätten zehn
Millionen auf dem Betriebskonto haben können, solange sie nicht in den Bilanzen
der zuständigen Kreis- oder Bezirksverwaltungen vorkamen, entsprach ihr
effektiver Wert Null. Das war seitens der Obrigkeit gewollt. Sämtliche auf
dem Akkumulationsfonds geparkten betrieblichen Finanzen konnten erst nach und
durch einen vor dem Finanzministerium der DDR zu verteidigenden Gesamtplan zum
Zahlungsmittel befördert werden. Statt wie früher für eine Tonne Kleine
Maränen 1700,-Mark einzunehmen, erhielten wir nun über 9100,-Mark. Das war fast
das Fünffache.
Anstelle von früher 3,50 Mark je Kilogramm Karpfen, bekamen wir 14,00 Mark und
das unter Beibehaltung der Endverbraucherpreise (EVP).
Selbstverständlich konnte das nicht gut gehen. Niemand dreht an der
Preisschraube willkürlich und zugleich ungestraft. Günter Mittags
Finanzwissenschaftler, die gehofft hatten ihre Agrar- und Industriepreisreform
sei die rettende Idee, forcierten damit lediglich die bereits angelaufene, sich
verselbständigende, sozialistische Inflation. Wir erhielten jedenfalls,
trotz unserer guten Finanzlage keine Baukapazitäten vom Rat des Bezirkes. Es
gab zwar Versprechungen, weil wir so nicht weiterhausen konnten, aber eben
keine Planziffer dafür. Der Dachdecker und Bauingenieur Jürgen Krüger gab
mir, als wir wieder einmal gemeinsam zur Nacht fischten, den guten Rat: „Baut
doch nach §5, Landbauordnung.” „Und das wäre?” „Ihr baut in
Eigeninitiative!” Beim Rat des Bezirkes wurde unser Antrag positiv
gewertet. Sie gaben uns grünes Licht. Die Ratsleute freuten sich über jede
Eigeninitiative. Das war bekannt, einer der will, kann zehnmal mehr
erreichen als der, den sie antreiben müssen.
Zunächst musste einem von uns der Hut aufgesetzt werden. Ich wollte ihn
unbedingt haben und bekam ihn auch. Dann berieten wir im Vorstand, wie
viel Aale ich zur Beschleunigung des Vorhabens, Bau einer Betriebsstätte, zur
freien Verfügung hätte. Falls es partout nicht weiterginge, beabsichtigte
ich mit Räucheraalen nachzuhelfen. Rigoros wollte ich das kuriose Geschäft
betreiben, allerdings in keinem Falle anders als ausschließlich zugunsten des
Betriebes. Ich wollte vom Sozialismus nicht betrogen werden, also betrog ich
ihn auch nicht. „Hundert Kilo höchstens.“, sagte Reiner. Mir
schien ich käme mit fünfzig hin.
Schließlich sollten es zweihundert werden. Das erste Problem bestand
darin, dass ich niemanden fand, der umgehend die zum Zweck der
Baugrunduntersuchung erforderlichen Bohrungen auf unserem Torfgelände ausführen
würde. Wir vermuteten, wir stünden über ungefähr fünf Meter Torf.
Hier und da gab es Achselzucken. Kein der markanten Bauunternehmen wollte
meiner Bitte nachkommen. Dann ging ich zu einer Firma in der Katharinenstraße.
Wieder hing das Kinn des Zuständigen tief herunter. Das kannte ich schon. Sie
seien auf viele Monate hin ausgebucht. Deshalb lamentierte ich nach
Kräften: „Wir haben es satt in der Hütte am See zu sitzen und
Wintertags zu frieren.” Die Antwort lautete: „Andere Leute
frieren mitunter auch!” Mutig schoss ich hinterher: „Aber ich
habe Räucheraale zu bieten!” Kopfrucken. „Wie bitte?”
„Na, ja, wir fangen welche, wenigstens die Grünen...” Der
betreffende Brunnenbauchef schaute mich noch einmal an, und ich hielt dem
argwöhnisch prüfenden Blick selbstverständlich stand. Kess lachte ich ihm
ins runde Gesicht: „Für jeden Mann ein Kilo Räucheraale gratis.” „Moment
mal!”, lautete die nicht unfreundliche Erwiderung. „Ich muss
mal in den Kalender sehen... tja da haben wir... da hätten wir, ... sagen wir
nächste Woche...” Sie kamen sofort, bohrten von Hand, primitiv wie vor
hundert Jahren und stellten fest, dass wir sogar über sechs Meter Torf bauen
mussten. Die Bohrkerne mussten analysiert werden. In einem Labor im
Industrieviertel gab es unerwartet freie Kapazitäten, nachdem ich erklärte,
Sonderwünsche nach Fisch könnte ich erfüllen. Ebenfalls kein Problem die
fünfundvierzig Stück, zehn Meter langen Stahlbeton-Rammpfähle zu kaufen.
Rammkapazitäten standen uns desgleichen zur Verfügung, wenn auch nicht
sofort. Auch die Eisenbieger mussten nicht überredet werden, da wir zur
Ausführung der Flechtarbeit die Genehmigung erhielten, Fachleute für die
Feierabendtätigkeit zu werben und sie leistungsgemäß zu entlohnen. Aber
dann stellte sich uns das erste größere Hindernis in den Weg. Beton erwies sich
als Engpass. Denn wir benötigten 180 Kubikmeter in einem Ritt. Alle Lockungen
mit Räucheraalen halfen nicht. In der ganzen Umgebung gab es keine
Mischanlage, die uns außerplanmäßig den Beton für die Fundamentplatte liefern
konnte. Der April des Jahres ‘78 verging, der Mai und der halbe Juni. Keine
Aussicht. Hartmut Wißmann vom Tiefbaukombinat machte mir dann wieder Hoffnung,
zugleich winkte er verächtlich ab. „Du mit deinen Räucheraalen!”, kritisierte
er scharf. „Soll ich mir die 200 Kubikmeter aus den Rippen schneiden?
Ende Juli eventuell.”
Wenn die neue, aus dem Westen kommende Mischanlage getestet würde, dann...
vielleicht. Ich rechnete. Wir hassten es, daran zu denken, dass wir noch
einen Winter in der Holzhütte zubringen sollten. Im Juli, das ginge noch. Wir
könnten es schaffen, im Januar ins neue Gebäude zu ziehen. Im Juli
erkrankte die Großmutter des Mannes, der die Westtechnik installieren sollte.
Im August wurde desselben Mannes Nichte krank. Im September gab es noch ein
Problem.
Mir leuchtete durchaus nicht ein, dass von der Gesundheit unbekannter
Westnichten und Westomas unser Wohlergehen abhängen sollte. Hartmut
Wißmann ärgerte sich ebenfalls. So sei das mit den Abhängigkeiten von
BRD-Importen. „Hast du denn schon die Steine und die Fensterrahmen? Hast
du die Dachbinder und die Klempner-, die Elektriker- und Fliesenlegergewerke
sicher?”
„Ich habe Zusagen.”„Zusagen sind keine Steine. In Eggesin kann man
gelegentlich Hohlbetonsteine erwerben.” Telefonate. „Ne, sie
kommen in diesem Jahr zu spät. Wo denken sie hin? Steine sind Goldstaub!” Ich
schluckte. „Aber sie haben mir doch gesagt...” „Gesagt, lieber
Mann, gesagt habe ich gar nichts, nur mal nachgedacht, wie ich ihnen helfen
könnte.” „Ich habe Räucheraale!”
„Mögen wir gar nicht. Aber wenn sie Zeit und Leute mitbringen, dann produzieren
sie sich die Steine selbst.” Mir stockte der Atem.
Dem Vorsitzenden sagte ich: „Reiner, wir müssen mit ein paar Mann nach
Eggesin fahren und Steine machen.“ „Ihr habt Fische zu fangen, ... aber wenn’s
denn durchaus sein muss...” Wir setzten uns zu viert in meinen kleinen
Trabant Kombi und fuhren nach Eggesin, in fünfzig Kilometer Entfernung. Dort
schütteten sie uns den Fertigbeton auf ein Freigelände hin. Von Hand
schaufelten wir die Mischung in die Formen am Fuß der von uns gemieteten
Rüttelmaschine. In jeweils ungefähr je fünf Minuten stellten wir vier
Hohlblöcke her, die nur noch abbinden und trocknen mussten. Das Gerät
schüttelte uns genauso zusammen wie das leblose Material. Noch im Schlaf
spürten wir die Rüttelei.
Am letzten Tag, an dem wir die noch fehlenden dreihundert Stück fertigen
wollten, ließ sich plötzlich mein Trabantgetriebe nicht mehr schalten. Immerzu,
sooft ich es versuchte, es rastete der vierte Gang nicht ein.
Wieder Telefonate hin und her. Wir mussten uns beeilen. Schließlich mussten wir
auch unseren Fangplan erfüllen. „Im Augenblick haben wir keine
Ersatzteile!”
„Auch nicht für Räucheraale? Naja! Zwei, drei Kilogramm hätte ich übrig.“
„Tut mir leid.”, erläuterte Werkstattmeister Roland. „Zwei Kilo
kostet mich schon die Überredung im Hauptlager.“ Mit Ach und Krach
gelangte ich bis zur Reparaturwerkstatt.
„Dann baut mir doch bitte auch gleich eine neue Auspuffanlage ein.”
Großes Stirnrunzeln. „Mein lieber Mann, wir haben zwar zehn Stück
Vorschalldämpfer bekommen, aber nicht einen einzigen Hauptschalldämpfer...”
Am zweiten Oktober gossen sie endlich die Bodenplatte, am fünften legten die
Maurer der bunt zusammengewürfelten Feierabendbrigade den ersten
selbstgefertigten Hohlblock auf die als Sperrschicht dienende Dachpappe.
Für Feierlichkeiten und große Reden war an diesem späten Nachmittag des
Baubeginns keine Zeit. Es dunkelte bereits. Noch konnte man die Zeichnung des
Architekten Robert Brenndörfers lesen. Große Lampen hatten wir bereitgestellt.
Doch die erhellten das Baugelände nur partiell taghell. Den
betriebsfremden Handlangern und Maurern sagten wir eine Prämie zu. „Wenn
Ihr den Rohbau bis zum 20. hochgezogen habt, dann...” Löthe, wie sie
ihn nannten, der Baubrigadier, maulte, „na, ja, bloß Geld...” Ich
tröstete ihn. Es lag doch offen, was er wünschte. „Jeder bekommt zwei
Kilogramm geräucherte Aale obendrauf.”
Da rief „Löthe” schallend: „Männer, rangeklotzt, es gibt was für
Muttern!”
Am siebenten ging es mit voller Kraft weiter. Zum Glück war das ein Feiertag
und wir hatten ganze zehn Stunden vor uns. Reiner, unser Vorsitzender wuchtete
und schob von früh morgens bis spät abends das Baumaterial heran. Er lief, als
wäre Steinekarren sein Hobby. So keimte wiederum die Hoffnung auf, dass wir es
bis zum Frosteinbruch doch noch schaffen könnten. Inzwischen stand fest,
dass wir die Dachbinder der geforderten Abmaße und Norm nirgendwo erwerben
könnten. „Meines Wissens hat die Tischler-PGH ‚Vorwärts’ in
Neubrandenburg Beziehungen zu einer der Herstellerfirmen in Anklam und
Pasewalk. Die sind zumindest im Besitz der Nagelpläne.” Ohne weiteres
erhielt ich in Anklam außer den Nagelplänen noch ein paar gute Ratschläge, doch
niemand ließ sich von mir verleiten, die erforderliche Menge Latten und Bretter
zu verkaufen, um daraus die Brettbinder herstellen zu lassen. Die Tischlergesellen
waren bereit, eine Sonderschicht einzulegen, zumal ich unmissverständlich eine
besondere Delikatesse in Aussicht stellte. Nur konnte ich durchaus keine
Bretter bekommen.
Vorsitzender Emil Tilp zuckte mit den Achseln. Er möchte, könne uns aber nicht
helfen: „Material musst du mir schon anliefern!” Sein
Holzkontingent sei voll ausgelastet. „Geh zum Rat des Bezirkes, die vergeben
mitunter noch freie Kapazitäten! Aber du musst dich durchsetzen.” Jürgen
Meyer, den Leiter des Bereiches Binnenfischerei, suchte ich da zuerst
auf. „Wärst du doch ein Jahr früher gekommen, ich hätte dir die dreißig
Festmeter Holz besorgen können.”
„Mensch, Jürgen, ich brauche sie jetzt...” „Tut mir leid. Geh mal
zu Horst.”
Horst G., der an diesem Tag in der Abteilung Forstwirtschaft seinen Dienst
versah, hörte mich zwar geduldig an, schüttelte jedoch hinterher missmutig den
Lockenkopf. „Dat ihr Kerle auch immer auf die letzte Minute
angekleckert kommt. Bin ick die Feuerwehr?” Leider war das bezirkliche
Forstamt nicht so schnell wie die Feuerwehr, aber ich stand unter Druck wie ein
erhitzter Dampfkessel über Flammen. In meiner Naivität hatte ich zu lange
geglaubt, Binder problemlos einkaufen zu können. „Glaube macht selig,
backen macht mehlig!” den Kinderreim hörte ich bis zum Verdruss. An
jenem Nachmittag im Spätherbst ’78 verließ ich das weiße Gebäude am
Friedrich-Engels-Ring mutlos. Weder wortreiche Überredung noch Betteln noch
meine massiven Bestechungsversuche hatten mir den ersehnten Erfolg beschert. Da
trollte ich mich nun niedergeschlagen davon, besaß zwar die Nagelpläne und die
Zeichnung für das planmäßig mit Eternitplatten zu deckendes Dach, hatte sogar
Räucherdelikatessen und konnte mit alledem nichts anfangen.
Ärgerlich rollte ich meine Papiere zusammen und fluchte, weil ich mit leeren
Händen dastand. Vor Wut hätte ich explodieren können. In diesem
Augenblick sah ich einen stattlichen, mit geflochtenen Achselstücken
geschmückten Forstmann auf mich zukommen. Der kam mir gerade recht. Wie
durch ein Zielfernrohr visierte ich ihn durch meine dreiviertelmeterlange Rolle
meiner Pläne an. Als er bis auf zwei Meter herangekommen war, fuhr ich ihn
an: „Euch Förster müsste man samt und sonders erschießen!” Er
stutzte. Er musterte mich. „Genosse, was hast du denn für Probleme?” Und
wie mitfühlend er das sagte! „Genosse!” Zum ersten Mal, wie
mir schien, verstand mich einer und litt mit mir.
„Ich muss spätestens im November das Dach auf unser neues Wirtschafts-
gebäude setzen. Wir haben nach § 5 gebaut. Niemand in deinem Haus gibt mir ein
Holzkontingent. Uns wird der Winter dazwischenkommen.”
„Wo kommst du her?” „Von Der Fischerei…so und
so!“ Er nickte: „Komm mal mit!“ Mir war zumute, ich wäre
in die Kindertage zurückversetzt worden und Mutter hebt mich hilfeschreienden
Knirps liebevoll vom kalten, nassen Fußboden auf. Genosse
Skibbe!... Wären alle Menschen der Welt so wie der da, mit seinen dicken
Achselklappen... Ich las das Schild an seiner Tür. Nur wenige Sekunden
telefonierte er, der Oberlandforstmeister Siegfried Schreib, mit irgendjemand.
Dann stand es fest: „Also dreißig Festmeter Lärche oder Fichte! Die
kriegst du! Für deinen Betrieb allemal.” Das war es, was die Besten
unter den ‘Kommunisten’ wollten, Solidarität. „Wann bekomme ich das
Holz?”
„Eingeschlagen ist es schon... muss nur noch gerückt werden.” Es
läge da und da in den Tiefen der Neustrelitzer Forsten. „Du kannst die
Stämme ab übermorgen abfahren lassen!” Welch ein Wort und
doch biss ich mir sofort auf die Zunge: „Wir fahren übermorgen nach Leningrad,
Betriebsausflug.” Er schmunzelte, statt mich auszuschimpfen. Ich
lachte innerlich, das war die Sorte Leute, die ich mochte. „Wird dir
die Zeit knapp, was? Muss ja noch geschnitten werden und noch genagelt, nich?” Ich
nickte ein bisschen hilflos, vielleicht tauschen sie. Er winkte ab. „Keine
Experimente! Ich lasse dir die Stämme nach Zwiedorf ins Sägewerk schaffen!” Er
setzte sich an einen anderen, mit Papieren übersäten Schreibtisch, schob den
Aschenbecher beiseite, nahm einen Kalender zur Hand und schrieb etwas
auf. „Hier hast du den Termin für den Schnitt.”
Mit Schrecken sah ich, das war die hohe Zeit für die Nachtfischerei auf
Maränen.
Meine Reaktion fiel ihm auf. Er fragte nicht lange. Nur ein kurzer Blick.
„Ich sehe schon. Diesmal fahrt ihr in den Kaukasus. Hier hast du einen neuen
Termin fürs Sägewerk.” Ich war gerührt: „Dafür gebe ich dir
fünf Kilogramm Räucheraale!”
Er schüttelte den geröteten, breiten Kopf. „Deinen Aal will ich nicht.
Es war mir eine Freude, dir helfen zu können.” Bescheiden wehrte er
ab: „Ach was“, auch weil ich ihn lobte und mich bedankte: „Sieh zu,
dass du das Dach draufbekommst!”
Mitte Januar, einen Tag bevor der Winter richtig zuschlug, zogen wir in
unseren durch Nachtspeicheröfen herrlich beheizten Neubau ein. Es gab im
Sozialismus tatsächlich noch Freude.
Coregonus lavaretus oder nasus?
Unmittelbar nach der Moskaureise entwickelte sich aus der Idee, Kleine Maränen
vorzustrecken, der Gedanke, eine neue Fischart einzubürgern.
Erika, meine Frau, äußerte ihre Bedenken. Vor allem wegen der Art, wie ich es
tun wollte. Ich aber schwärmte von den Möglichkeiten, die sich uns böten.
„Du musst dir vorstellen, dass der Seeboden des Tollensesees, das Profundal,
mit Zuckmückenlarven rot übersät ist. Wo immer der kleine Greifer einen
Ausschnitt der Bodenoberfläche aus der Tiefe heraufbeförderte, zählte man
zehnmal mehr Chironomiden als auf anderen vergleichbar großen Seen.” Das
ganze Jahr hindurch ist somit der Tisch für die ‚Friedfische’ überreichlich
gedeckt. Nur, es ist da unten zu kalt für die meisten Fischarten. Deshalb wird
diese Kinderstube dieser nichtstechenden Mückenart kaum aufgesucht und ihre
Bewohner werden deshalb nicht dezimiert.
Deshalb staunt der bootsfahrende
Beobachter und Naturfreund, wenn im Mai, der sonst überwiegend blaue See
plötzlich schwarz aussieht, obwohl die Sonne scheint und die Himmelsfarben sich
auf ihm spiegeln müssten. Abermilliarden vier, fünf millimeterlanger
Larvenhüllen schwimmen auf der Wasserhaut und dazwischen bevölkern ebenso
viele, ebenso lange schwarze Geschöpfe die riesige Fläche. Ehe sich die aus der
Tiefe aufgestiegenen Insekten in die Lüfte erheben können, stehen sie
mehrbeinig auf der Seeoberfläche und lassen sich vom Wind leicht dahintreiben.
Ihre verhältnismäßig großen, sehr unterschiedlich gestalteten, gefiederten,
büschelartigen Fühler dienen ihnen dabei als Segel.
Seeschwalben und Möwen stürzen sich zu Tausenden auf die soeben ins Tageslicht
aufgestiegenen Zuckmückenmassen. Sie picken sie als Delikatesse auf oder
vielleicht ist es nur Notnahrung, was sie da als winzige Häppchen aufnehmen.
Sobald die Sonne etwas höher kommt, surrt es in den Lüften. Wie wehende
Rauchfahnen stehen die Zuckmückenschwärme ab der elften Tagesstunde über den
Wipfeln der ufernahen Bäume und halten Massenhochzeit. Im Fluge paaren sie sich
und wenig später treibt sie der Wind und ihr Instinkt über die Seefläche hin,
dann werfen sie ihre befruchteten Eier aus der Höhe ab. Ein neuer Kreislauf
beginnt. Dreimal im Jahr vollendet sich dieser Kreis, aber nur einmal, im
Frühling, in dieser Pracht und Fülle. Von allen in Europa vorkommenden
Wildfischen ist nur die Große Maräne, die Bodenrenke, geeignet, da in die kalte
Tiefe hinabzutauchen und die Larvenbestände abzuweiden. Zwei Typen gibt es
unter den Maränen, erstens die im freien Wasser lebenden Kleinmaränen und
zweitens die großen bodenständigen, Chironomiden-fressenden. Letztere wollte
ich in den See einsetzen. Lüdtke unterstützte meine Idee Wo aber gäbe es die
Brut dieser Spezies Edelmaränen? Und würden wir einen Weg finden, sie zu
erwerben? Die Antwort kam aus unserem Nachbarbetrieb in Prenzlau. Am Madüsee,
in der Nähe Gollnows, das jetzt Golienow heißt, gibt es eine leistungsfähige
Fischbrutanstalt. Sie stünde unter der Leitung des Szczeciner
Landesanglerverbandes. Herr Marczinski sei der Chef.
Aber haben die polnischen Kollegen auch Edelmaränen aufgelegt, das war die
Frage und würden uns die Polen zu vertretbarem Preis Brütlinge verkaufen?
Kurt Reiniger sprach fließend polnisch und ich besaß außer der Lust aufs
Abenteuer einen Trabant Kombi. Wir wollten einfach hinfahren und sehen, was
sich machen lässt. Lediglich Geld benötigten wir noch. Mit Reiner Lüdtkes
Einverständnis versuchte ich unseren Buchhalter Alfred Voß, Adi, zu überzeugen.
Mit Adi konnte sich niemand erzürnen. Er war gerade Altersrentner geworden,
aber noch im Dienst. Er schaute mich freundlich nachdenklich an. ‚Schwarze
Kasse? ’ Er schmunzelte: „Wozu schwarze Kasse? Wenn die Sache ok ist, gibt es
keine Probleme.” Nun ja, die Polen wünschten, wie wir aus Erfahrung wussten,
Bargeld ohne Quittung und Belege. Ob ich auch dazu Reiners Genehmigung
hätte. „Ich will ihn da nicht in diese Geschichte verwickeln.“ Irgendwie
sei es doch eine Art von Spitzbüberei, was wir vorhatten, eine Nacht- und
Nebelaktion. Eigentlich hätten wir erst Anträge stellen müssen, Zertifikate für
den grenzüberschreitenden Tiertransport besorgen, lauter bürokratische Hürden
nehmen müssen und dann vertagte sich unser Anliegen um Wochen. Doch in einigen
Wochen gibt es keine Großmaränenbrütlinge mehr, sondern gerade jetzt, noch.
Außerdem stünden die Plasterinnen seit der Beendigung der Aalbrutüberwinterung
zur Verfügung. Besser sei, Reiner als Vorsitzender bliebe ‚außen vor’. Adi
schmunzelte und dieses sonderbare, stets überlegen wirkende Spötteln aus seinen
Augenwinkeln und aus seinen immer freundlichen Gesichtszügen heraus war harte
Kritik für mich. Es besagte, was würdest du dazu sagen, wenn du der Vorsitzende
wärst und würdest auf diese Weise überfahren? Muss er nicht schließlich alles
wissen, was im eigenen Betrieb passiert? Er zog die Augenbrauen nur um ein
Winziges in die Höhe. Das war seine Art zu kritisieren. Durch Mienenspiel,
Stirnrunzeln dirigierte er uns. Ich konnte mir gut vorstellen, wie er es
damals, als Frontsoldat auf Urlaubsfahrt in die Heimat einer gewissen, schönen
Wienerin erklärt hatte, dass ein Mann wie er immer nein sagen wird, wenn sein
Gewissen auf dieses Nein besteht.
Übrigens, als Buchhalter Adi Voß uns
anderthalb Jahre später, im September ’73 verließ, überreichte er uns unter
anderem einen alten Briefumschlag. Das war die in zwei Jahrzehnten gefüllte,
nie angetastete, niemandem außer ihm bekannte ‚Kaffeekasse’, Geld von Kunden,
die berechtigt waren, Kleineinkäufe vor Ort zu machen und die Pfennigbeträge
nach oben aufrundeten. Der Inhalt war 312, 73 Mark. Nie gab es in seinen
Bilanzen echte Differenzen. Ehrlichkeit ist bares Geld, pflegte er zu sagen,
dabei zeigte er seine kräftigen Zähne. Das war seine tiefste Überzeugung: Ohne
Ehrlichkeit geht die Welt zum Teufel.
Reiner nickte, als ich ihm beichtete, sofort Zustimmung: „Wie viel
Schwarzgeld benötigst du?” „Schätzungsweise eintausendzweihundert!” Eine
Stunde später hielt ich die zwölf Hunderter in meiner Hand. Gemessen an unseren
Preisen hatte ich mir ausgerechnet und vorgenommen, dafür eine viertel Million
Brütlinge zu bekommen und diese schwarz über die Grenze zu schmuggeln.
Reiner meinte, dass wir wahrscheinlich nur fast ausgebrütete Eier erhalten
würden. Dieser Hinweis war wichtig. Wir mussten also Zugergläser aufstellen.
Versehen mit einigen großen Plastetüten fuhren
wir am nächsten Tag nach Szczecin. Die Zeit drängte. Für den Nachmittag würde
Herr Marczinski uns zur Verfügung stehen. Mehr wollten wir fernmündlich nicht
vereinbaren. Denn wir waren es gewohnt, stets daran zu denken, dass Telefonate
abgehört wurden. Wer weiß, zu welchen Schlüssen die Horcher gelangt wären, wenn
sie zufällig unsere Absprache mitbekommen hätten. Szczecins Anglerpräsident
Marczinski saß in seinem gelblich eingetönten Büro an seinem ebenfalls gelb
schimmernden Schreibtisch unter einer präparierten riesigen Madümaräne, die auf
einem gewaltigen Bücherschrank einen zentralen Platz einnahm. Acht Kilogramm
oder mehr muss dieser Fisch einst gewogen haben. Kurt und ich waren sehr
beeindruckt. Immer wieder gingen unsere Blicke dahin. Genauso große Fische, der
Art Coregonus lavaretus, wünschten wir uns. Ich wunderte mich laut darüber,
dass Madümaränen zu so stattlichen Exemplaren heranwachsen könnten. Marczinski
nickte, während Kurt übersetzte. Zwei- dreimal erwähnte er, mich unterrichtend
oder berichtigend: „Coregonus lavaretus nasus.” Nasus, nasus, dachte ich, das
ist eine Spezies, die wir nicht haben wollen.
Marczinski wies mit dem Daumen nach oben, hinter sich: Ostseeschnäpel! Oje.
„Keine Ostseeschnäpel, die benötigen zum Gedeihen Brackwasser.“
Ein Schwall anscheinend wohlmeinder Worte fiel in Polnisch über uns her. „Sie
können sogar in Teichen, in Süßwasserteichen! mit Nasus wirtschaften!”
Ich glaubte ihm nicht. Kurt zuckte die Achseln. Da saßen wir nun, mit
unserem DDR-Geld. Was tun? Ich konnte Marczinski aber auch nicht das Gegenteil
beweisen. „Probieren wir es? Kurt?” Kurt, der Mann mit der
großen Stupsnase nickte. Aus dem vielfach gekerbten Gesicht, das in hohem Maße
der Ausdruck seines von vielen Nackenschlägen durchkreuzten Schicksals war, kam
das schulterzuckende Einverständnis. Marczinski nahm ein Stück Papier zur Hand
und rechnete schnell. „Dreihunderttausend Eier erhalten sie dafür.
Schlupfreife!” Es sei höchste Zeit.
Hatte Reiner also Recht. Wir müssten denn
sofort aufbrechen, um nach Golienow zu fahren. Da es noch März war, begann es
früh zu dunkeln. Mir schien, die vierzig Kilometer würden nie enden. In einer
dunklen Waldecke
angekommen, lauteten die Weisungen rechts fahren, rechts, na prawo, na prawo.
Was ist, wenn ich viermal rechts herum fahre? Überall nur Bäume wie es schien.
Mattes Scheinwerferlicht erhellte nur den Sandboden, indessen schimmerten die
Gehölze an den Seiten umso dunkler, wie schwarze Wände. Plötzlich zeichneten
sich neue schwarze Konturen gegen den sich öffnenden Nachthimmel ab. Kurt
übersetzte: „Die Brutanstalt!” Jemand musste die winzige
Hofbeleuchtung angeschaltet haben. Eine nicht große, leicht gebeugte Gestalt
erschien. Ob die Person männlich oder weiblich war, ließ sich noch nicht sagen.
Wir stiegen aus. Völlige Stille umfing uns. Der gebeugte Mensch schritt auf
Herrn Marczinski zu. Ich erkannte, dass es ein alter Mann war, ein kleiner mit
fester Hand und weicher Stimme. Als er bemerkte, dass ich außer „dobri
vetschor“ nichts verstand und auf Kurts Dolmetscherdienste angewiesen war,
wechselte der sympathische Alte in einwandfreies Deutsch. Er drückte sich sehr
gewählt aus. Siebzig Maränenarten gäbe es auf der nördlichen Erdhalbkugel,
vielleicht noch mehr, wer könne das noch auseinanderhalten? Vom Omul im
Baikalsee bis zu der kurioserweise im Sommer laichenden Spezies in den
Feldberger Tiefseen, der Coregonus albula baunti, reiche das Artenspektrum.
Mein Problem bestand darin, dass ich auch ihm zunächst nur schwer glauben
konnte. Sollte der Ostseeschnäpel das von uns begehrte Objekt sein? Dass dieser
Wanderfisch, der schwach salziges Wasser bevorzugt, in Seen und Teichen
ausgesprochen gut zu halten sei, bezweifelte ich. Allerdings hatten wir den
Kauf bereits perfekt gemacht. Eine große dunkle Tür öffnete sich vor mir und
das vertraute Wasserrauschen ließ sich vernehmen. Da plätscherte es aus den
Zugergläsern. Je sieben Liter Wasser befanden sich in je einer dieser
vielleicht siebzig überdimensionierte Kopf stehenden Seltersflaschen, die in
mehreren Reihen in Gerüsten aufgestellt dastanden. Fortwährend wälzten sich in
jeder der unentwegt überlaufenden Flaschen zehntausende bernsteinfarbener
Maräneneier. Alle nur etwas größer als Stecknadelköpfe. Mit einer Pipette
entnahm der alte Herr ein paar dieser vor dem Lampenschein goldschimmernden
Coregoneneier. Er hielt sie mir dicht vors Gesicht. Deutlich sah ich die
Zuckungen der Ungeborenen, dann die schwarzsilbernen Embryonenaugen, den
Dottersack mit dem Fettauge, das dem Ei die Farbe gibt. Immerzu drehten und
wanden sich die noch in ihren Umhüllungen gefangen gehaltenen Schnäpelchen. Mit
dem Zählglas literte der alte Herr uns dreihunderttausend Maräneneier aus, und
zwar ziemlich genau wie wir später bemerkten. Wir kannten nur das Zählverfahren
für Brütlinge.
Sprudelndes Wasser füllten wir in die auf Reißfestigkeit geprüften fünfzig
Liter fassenden Plastesäcke und entließen dahinein die je
einhundertund-fünfzigtausend Eier. Obenauf, beim Vorgang des Schließens der
Tüten, gaben sie uns einen Schuss reinen Sauerstoffs aus einer
Pressluftflasche.
Dann machten wir uns schleunigst auf den Heimweg.
Die Stimmung war gut. In Szczecin wollten wir Herrn Marcinski absetzen.
Kurz bevor wir die Stadtgrenze erreichten ging es zwischen Kurt Reiniger und
unserem Geschäftspartner plötzlich laut zu. Ich spitzte die Ohren. Was mochte
der Streitpunkt sein? Mir schien, dass ich den Begriff Katyn wiederholt
vernahm. Mich einzumischen wäre unhöflich gewesen. Teilnahmslos dazusitzen und
nur Gas zu geben unmöglich. „Was ist los, Kurt?”
„Er wirft mir vor, ich wäre ein Überläufer
gewesen! Kann doch nischt dafür!” Ich ahnte, um welchen Vorwurf es
ging. Hatte ich ihn doch einmal auf einem Foto als jungen Mann in polnischer
Uniform gesehen. Es lag alles weit zurück, über dreißig Jahre. Die Emotionen
gingen auf beiden Seiten hoch. Für beide Männer schien der Sprung über eine
fast vierzigjährige Epoche nur ein winziger Schritt zu sein. Sie erregten sich
sehr. Kurt Reiniger war tatsächlich auf polnische Fahnen eingeschworen worden,
1939, und bald darauf, nach der großen polnischen Niederlage, von der Deutschen
Wehrmacht auf Gestellungsbefehl eingezogen worden. Ein Schicksal, das er mit
Tausenden Halbdeutschen teilte, die damals im Raum Bromberg gewohnt hatten.
Dass sein Familienname Reiniger lautete, deutsch war, ließ Marczinski nicht
gelten. Den Polen ginge es immer um die Ehre ihrer Nation! Das zu verstehen,
sei Kurt Reiniger wohl nicht gegeben. Kurt war wirklich gekränkt. Immer hackten
sie auf ihm herum. Wenn es nicht dies war, dann jenes, das ihnen an ihm
missfiel. Den einen trank er zu viel, den andern zu wenig.
Es ging um Katyn! Und um Marczinski Bruder. Das ließ ich mir übersetzen. Wenn
sie sich schon aus politischen Gründen zankten dann wollte ich auch wissen,
warum. Der Bruder des Anglerpräsidenten habe zu jenen tausenden polnischen
Offizieren gehört, die durch Stalins Heimtücke in sowjetische Gefangenschaft
geraten waren. Eine Schande an sich. Sie hätten sich entschieden geweigert,
ihre Pistolen und Ehrenabzeichen an sowjetische Schergen auszuliefern. Die
Russen seien der Republik Polen 1939 zugunsten Hitlerdeutschlands brutal in den
Rücken gefallen, auch weil diese „verfluchten Kommunisten“ Landräuber
allergrößten Stiles wären. Finnland hätten sie beklaut, das ganze Baltikum sich
einverleibt, Moldauer Gebiete, Ostpolen. Vor Verrätern wollten sich die
Gefangenen in Katyn nicht demütigen. Schließlich seien sie ausnahmslos
erschossen worden.
Ich hatte richtig gehört.
Marczinski verfluchte den russischen NKWD als
faschistische Mörderbande. Hitler hätte mit den Sowjets, damals, als Kurt in
die Deutsche Armee übergelaufen sei, gemeinsame Sache gemacht. Mich
interessierte das Thema brennend. Im letzten Urlaub hatten wir mit Freunden das
Verbrechen von Katyn sehr konträr diskutiert. Es ging ganz einfach um die
geschichtliche Wahrheit, und die Frage, ob Hitlers Männer oder die Kommunisten
die nichtaufständischen, wenn auch sturen polnischen Kriegsgefangenen
massenweise erschossen hätten? Mich wunderte damals, Monate zurückliegend, auf
Usedomer Strandsand mit Freunden diskutiert zu haben, dass es überhaupt Zweifel
an der sowjetrussischen Täterschaft gab. Sogar mein Bruder Helmut war der
Auffassung, dass es eher Hitler als den Russen zuzutrauen gewesen wäre, das
Massaker anzurichten. Für uns war es ohnehin eine ungeheure Vorstellung, dass
Menschen so miteinander umgehen können. Mit Fanatismus habe das nichts mehr zu
tun, sagten wir damals, sondern nur mit den atavistischen Neigungen
degenerierter Kerle, die von dem einen oder dem anderen System bewusst
gefördert wurden. „Ich kann es Ihnen nachfühlen, Herr Marczinski.”, erklärte
ich, wusste aber nicht, was Kurt übersetzte. Ziemlich böse äußerte
Marczinski: „Rückfälle haben immer schlimme Folgen.“
Auf meine Nachfragen reagierte er
leidenschaftlich. Diesen Angriff auf die Blüte der polnischen Nation werde
Polen den Sowjets niemals verzeihen. Das werde niemals verjähren. Daran möge
ich mich später erinnern.
„Sie wollten die polnische Intelligenz und damit die Seele der Nation
ausrotten! Nicht mehr und nicht weniger. Die Sowjets fürchten immer noch ein
starkes Polen, so wie sie es früher zu Zeiten des Zaren hassten.” Beide
Seiten, die deutsche und die russische, hätten deshalb gemeinsame Sache gemacht
um Polen von der Landkarte zu tilgen. Marczinskis Gefühle in allen Ehren. Warum
war er wütend auf uns, warum auf mich? Ja, die Preußen! Gemeinsam haben die
Preußen Polen mit den Österreichern und Russland 1772, 1793 und schließlich
1795 in Stücke gefetzt. Es loderte wie das Feuer eines
Hochofens: „Sehen Sie sich an, was die mit uns anstellten: Ausrottung,
Löschung jeder polnischen Existenz.” Marczinski erklärte mir die
Landkarte Polens, während der von ihm erwähnten Teilungsjahre: Zuerst nahmen
die Preußen den Polen den Bromberger Raum bis Danzig weg, die Österreicher
kamen bis vor die Tore Krakaus, das zaristische Russland nahm Wittebsk. Ein
Jahr darauf einverleibte Russland sich Minsk und Pinsk, die Preußen Posen und
Thorn. Und schließlich verschwand das Land Polen 1795. Der Funke sprang zu mir
über. Das Viertel Teil Slavenblut in mir erhitzte sich. Ich erinnerte mich in
verschiedenen Napoleonbiographien gelesen zu haben, dass auch der große
Bonaparte die Polen zwar als Elitesoldaten in all seinen Feldzügen an den
schwierigsten Kampfabschnitten einsetzte und dass er sie stets mit neuen
Versprechen zu höchsten Mutleistungen zu motivieren vermochte, doch dass er
wahrscheinlich niemals ernsthaft daran gedacht hatte, Polen mit jener
Souveränität auszustatten, welche die hochherzigen Söhne des jahrhundertelang
immer wieder in Abhängigkeiten gestürzten Landes so heiß begehrten. In dieser
Märznacht 1972 fragte ich mich erneut, ob dem Kreml jemals die echte
Integration, der so genannten Volksrepublik Polen, in ihren Herrschaftsbereich
gelingen könnte. So viel unverhüllt ausgedrückten Unmut und Widerstand, wie ich
ihn von Seiten Herrn Marczinskis gegen den Sozialismus spürte, hatte ich bisher
nur selten erlebt. Kurt übersetzte, während wir den Stadtrand Stettins erreicht
hatten, fleißig, und wie ich annehmen durfte, auch einigermaßen präzise. Herr
Marczinski ließ mir sagen, wir wären angelangt. Ich stoppte und schaltete den
Motor ab. Er drückte mir die Hand und sagte zum Abschied: Wie er dächten und
empfänden alle Polen: „Wir werden frei sein oder tot!”, und dann
erklärte er etwas, das Kurt mir lachend mitteilte: „Noch ist Polen nicht
verloren.” Herr Marczinski sang es und Kurt stimmte ein. Unser Partner
stieg nun an dieser unbelebten, recht trostlos erscheinenden Straßenecke aus.
Er winkte, wir winkten zurück und fuhren langsam davon. Mich beschlich, als wir
ihn zurückließen, wiederum das ungute Gefühl, dass wir schlechten Zeiten
entgegen gingen. Jeden Tag, jeden Abend überschütteten uns die östlichen wie
die westlichen Sender direkt oder indirekt mit Verdächtigungen, die andere
Seite plane den großen Krieg. Manchmal schien es uns, es gäbe gar keine anderen
Themen mehr. Schließlich war die Gefahr, dass der so verheerend in Vietnam
tobende Krieg, aus denselben Gründen, auch in andere Erdteile getragen werden
könnte, sehr real. Noch lagen der Süden Afrikas, Angola, und der November des
Jahres 1975 scheinbar in weiter Ferne. Sechzehn lange Jahre hindurch sollten
dort jedoch die sowjetisch-kubanischen Interessen und die südafrikanischen
Absichten tödlich kollidieren. Millionen Afrikaner sollten Flüchtlinge werden,
hunderttausende Unschuldige würden den vollen Preis zu entrichten haben für die
Leidenschaft der Großmannssucht beider Seiten. Der Ausbruch größerer Feindseligkeiten
musste auch im süd- und mittelamerikanischen Raum erwartet werden. Dies alles
wegen des allgemeinen Konfliktes zwischen Ost und West. Hatte Beier-Red oder
einer seiner Genossen es nicht per Zeichnung prophezeit?
Auf diesem Globus kann nur eins der beiden
Systeme überleben. Noch waren auch die Tage fern, in denen die DDR-Presse
ausführlich über die blutigen Grenzgefechte zwischen den sozialistischen
Bruderarmeen Nordvietnams und der Volksrepublik China berichten würde. Noch
ahnten wir nicht, dass die Pekinger Kommunisten beweisen würden, dass es ihnen
ernst war mit ihrer Betrachtungsweise, Atombomben wären ja bloß Papiertiger.
Wie wenig ihnen das Einzelwesen bedeutete, zeigten sie nicht nur während ihrer
Kulturrevolution, in der es sogar bei Strafe der Verbannung verboten war,
Schach zu spielen oder eine westliche Sprache zu erlernen, oder sogar gebildet
zu sein. Die Minenfelder ihres südlichen Feindes ließen sie auf ihre
höchsteigene Art und Weise räumen. Sie befahlen ihren Soldaten anzutreten.
Schulter an Schulter laufend opferten die Söhne chinesischer Mütter ihre
Gliedmaßen und ihr Leben. So schonte Mao die teure Technik. Die Stasioffiziere
Kindler, Zachow, Zander, Plauschinat und andere, die als Hobbyfischer in unserer
Baracke am Oberbach aus- und eingingen, waren verlegen, wenn ich sie fragte,
wer begreifen kann, was die chinesischen Marxisten trieben: „Niemand kann
verstehen, dass ein kommunistisches Land ein kleineres, ebenfalls
kommunistische Land weg ein paar Quadratkilometer Erde mit Krieg
überzieht.“ Müde und in Gedanken versunken, die nur wenig mit
unserem Vorsatz der Einfuhr einer neuen Fischart in den Tollensesee zu tun
hatten, näherten wir uns der Grenze. Obwohl mir bewusst war, dass selbst
millionenfache Friedenswünsche gar nichts am großen Geschichtsverlauf ändern
können, stand mir deutlich vor Augen, dass wir andererseits jedoch selbst
entscheiden, ob wir innerlich frei und sicher mit mühsam gesuchten eigenen
Einsichten bleiben, oder ob wir uns verlocken lassen den Weg des geringsten
Widerstandes in die Verstrickung zu wählen.
Außer durch die Zollbeamten, die
möglicherweise doch einen Blick in unser Auto werfen würden und dann nach den
nicht vorhandenen Zertifikaten fragen könnten, stand für uns und das
Wohlergehen der Coregonen nicht viel zu befürchten. Natürlich war es verboten,
was wir taten. Falls sie unbequeme Fragen stellen sollten, wollten wir den
polnischen und den deutschen Zöllnern weismachen, es handele sich unserer
Auffassung nach nicht um Tiere sondern um Laichprodukte und das Wasser aus der
polnischen Brutanstalt mische sich in der Ostsee ja sowieso mit dem deutschen,
noch innerhalb der Grenzen. Ganz schön frech war unser Plan, der darauf baute,
dass die gerade von beiden Regierungen beschlossenen Freizügigkeiten im
Grenzverkehr auch funktionierten. Daheim würde dank Reiner Lüdtkes Hinweis
alles vorbereitet sein. Beide komplikationslos ans Stadtleitungsnetz
angeschlossenen Zugergläser konnten und sollten unsere ungefähr 300 000 Eier
aufnehmen. Zudem hatten wir unsere Gläser in zwei der knietiefen Plasterinnen
gestellt. Es war wohl um Mitternacht, als wir am Zollkontrollpunkt ankamen.
„Was wünschen Sie auszuführen?”, fragte der polnische Offizier in
Deutsch. Er leuchtete mit seiner Taschenlampe nach hinten und betrachtete die
auf dem Hintersitz meines Trabant-Kombi und auf der Hutablage liegenden und
anscheinend vom harten Stopp noch erheblich nachbebenden Fünfzigliterplastesäcke.
Beide waren bedeckt von zwei dünnen Wolldecken um die Temperatur konstant zu
halten. „Jaikas!”, sagte Kurt. „Jaikas!” wiederholte
der Zöllner und in seiner Stimme schwang das Schüttern mühsam zurückgehaltenen
Gelächters. Er dachte wohl an zerdepperte Eierschalen. „Eier! Na, denn
winsche ich guutte Fahrt!” Im Rückspiegel sah ich, wie er sich
amüsierte. Die Vorstellung von Rühreiern muss ihn schier überwältig haben.
Jungs, so eine große Pfanne haben nicht mal die Berliner!
Auch die deutschen Grenzer behandelten uns großzügig. Gegen zwei Uhr morgens,
wenige Minuten, nachdem wir sie in unsere Zugergläser gegeben hatten,
schlüpften die Großmaränen. Die zweifache Umstellung auf neuartige Verhältnisse
binnen weniger Stunden löste wahrscheinlich diese “Frühgeburtssituation” aus.
Über die an die Gläser geschlossenen Kopfringe und Abflussstutzen samt
Gummischläuchen strömten sie zu zehntausenden in die neue Welt. Der zweite Akt
ging somit erfolgreich zu Ende.
Wichtiger als alles andere war nun, die kostbare Brut mit Lebendfutter zu
versorgen. Mit Schleppnetzen aus Müllergaze und getrieben von Kutterkraft
siebten wir bereits acht Stunden später einige tausend Kubikmeter Tollense
Seewasser aus. Hüpferlinge mussten wir fangen, Kleinkrebse, Cyclops.
Am ersten Tag ihres Fischlebens visierten unsere “Nasus”- Maränen die vor ihren
Mäulern herumschwimmenden Krebschen nur an und probierten lediglich, wie sie
denn zuschnappen könnten. Aber schon vierundzwanzig Stunden später ging die
wilde Hatz los. Drei-, viermal nehmen sie Anlauf, beugen den Schwanz wie ein
Hecht und schießen dann, ihre Muskeln streckend, mit weit geöffnetem Rachen auf
ihr Opfer zu. Eine größere Nauplie - ein im vorletzten oder letzten
Häutungsstadium befindliches Kleinkrebschen oder auch schon ein ausgewachsener
Hüpferling verschwindet zwischen den Kiefern der kleinen Fresserin wie eine
handlange Plötze zwischen den Zähnen eines Hechtes. Drei lange Wochen ging
alles problemlos, verlustlos! vor sich. Nicht wie bei unseren vorherigen
Versuchen mit den Kleinmaränen, die während der ersten Vorstreckphase zu
hunderttausenden verreckten, obwohl sie inmitten von Wolken zuckenden,
springenden Futters standen. Ehe wir damals dank “Männe” Taeges Untersuchung
erkannten, dass unsere Kleinkrebse die maulgerechte Größe bereits weit
überschritten hatten, war es für die meisten unserer Kleinmaränenbrütlinge
bereits zu spät. Großmaränen sind da von Anfang an im Vorteil. Als Brütlinge
sind sie nur etwa zwei Millimeter größer, aber das reicht zum Überleben aus.
Wie eine Armee hüben und eine andere drüben standen sich in unseren beiden
Futterrinnen die Fronten im klaren Wasser gegenüber. Hier die geübten,
verwöhnten, überlegenen mittlerweile bereits zwei Zentimeter groß gewordenen
“Nasus”, da die vor den unersättlichen Fressern zurückweichenden Hüpferlinge,
die instinktiv zusammenhalten wie Schafe, die von Hunden umkreist werden. Da
sie sich so im Schwarm bewegten, gab es keine Schwierigkeiten, die Plasterinnen
sauber zu halten. Ganz anders als bei den einzelgängerischen Hechten erwischte
der Abfallsauger fast nie eine der geschickt ausweichenden Maränen. Blitzsauber
konnten wir so die Vorstreckaquarien halten. In der vierten Woche passierte es.
Wir waren bereits hochmütig geworden. Bis zum Nachmittag des 22. April kamen
sie, die Berliner, Prenzlauer, Warener Kollegen, auch die Nichtfachleute von
der Bezirksleitung SED Neubrandenburg. Alle klopften uns auf die Schultern und lachten,
wenn wir ihnen vom Husarenstreich erzählten, wie wir die langatmigen Prozeduren
der Beschaffung von Zertifikaten umgangen hatten. Wir prahlten schon, dass wir
die Fische fingerlang machen könnten, ausgedünnt natürlich unter
Inanspruchnahme mehrerer Rinnen. Denn über die verfügten wir ja. Es waren
nämlich vier weitere da, und das Futter fiel uns in jenem Jahr fast von selbst
zu. Wir hätten mit wenig Aufwand täglich hundert Kilogramm Nauplien und die
ausgewachsenen Hüpferlinge fangen können. Unsere Maränen fraßen wie die
Scheunendrescher und sie gediehen prächtig, bis zu jenem schwarzen Aprilmorgen
des 23., an dem wir achtzig Prozent tot vorfanden. Die Stadtwerke hatten das
Leitungswasser mit Chlor behandelt! Anruf! „Nein! Chloriert wurde
nicht!” Was dann? Die Taumelbewegungen der überlebenden zwanzig
Prozent Nasus zeigten an, dass auch sie nicht überleben würden. Wie ein Blitz
schlug die schlechte Nachricht im Institut für Binnenfischerei in Berlin-
Friedrichshagen ein. „Los! Der Fischseuchendienst des VEB Prenzlau muss
sofort nach Neubrandenburg fahren. Ursachenermittlung! Vorsorglicher Einsatz
von Trypaflavin in für Aufzuchtbecken üblichen Konzentrationen! Neue Weisungen
für gezielten Medikamenteneinsatz abwarten.” Wir hatten alle guten
Voraussetzungen übermütig als gegeben hingenommen. In je zehn Minuten
Kutterschleppnetzeinsatz hatten wir Unmengen Zooplanktonten gefangen. Wir
konnten mit dem besten Futter der Welt aufwarten. Unsere Rinnen waren perfekt
sauber. Das Leitungswasser wies ideale Parameter auf. Und nun ordnete das
Institut eine Überprüfung an, ob Großalarm für die Ostseeküste ausgelöst werden
müsste. „Wahrscheinlich sind die in den Großhälteranlagen stehenden
Forellenbestände gefährdet, durch Einschleppen einer noch unbekannten
Krankheit. Jedenfalls ist ein Übergreifen auf sämtliche Lachsartigen im
Territorium nicht auszuschließen.” Deshalb müsse festgestellt werden,
was die Zertifikate besagen.
Achttausend setzten wir schließlich aus. Sie
müssen überlebt haben, denn ihre Nachkommen fingen wir überall im See. Bereits
sechs Jahre später gingen uns kiloschwere Exemplare ins Netz. Und alle
Altersgruppen. Eine Delikatesse wenn sie geräuchert wurden, sogar eine
Extraklasse, auf die wir ein wenig stolz sein durften.
Im Sommer 78
von meinem Zweigpräsidenten Otto Krakow wurde ich gebeten Gustav Briel zu besuchen. Er hatte sich als alter Mann der Kirche angeschlossen und wohnte nun wieder, nach fünfzigjähriger Abwesenheit, in Penzlin. Er war aus Westdeutschland in seine Heimatstadt zurückgekehrt, hatte hier noch einmal geheiratet. Wir sahen sofort, dass Bruder Briel seiner siebzigjährigen Frau und erst recht seiner steinalten Schwiegermutter nicht gewachsen war. Die Uralte saß im Ohrensessel und jedes Mal, wenn ich den Mund aufmachte erwiderte sie: “Wissen Sie nicht, dass es ungehörig ist, das Wort zu nehmen bevor die Dame des Hauses es Ihnen erteilt?” Wir wurden extrem scharf abgewiesen.
Die wortgewandte Uralte starb.
Danach unternahm ich zwei oder drei weitere
Versuche um mit Briels ins Gespräch zu kommen. Doch wie zuvor, wies mich Frau
Briel stets brüsk zurück. “Da ist die Tür!” Die Mormonen seien
eine furchtbare Sekte. Sie wünsche keine Diskussion. Bruder Briel neigte sich
bekümmert, geleitete mich die Treppe hinunter und bat: “Bitte, kommen Sie
nie wieder! Ich weiß, dass die Kirche wahr ist, aber ich will in Frieden leben.
"
Aber selten zuvor hatte mich eine Aufgabe mehr
gereizt, als die diese Tür zu knacken.
Eines Tages kam ich von einer
Fischereitagung aus Waren, musste also auf dem Weg nach Neubrandenburg durch
Penzlin fahren. Ungefähr zehn Kilometer vor dem Ortsschild habe ich - ich denke
die Art war ziemlich ungebührlich - im Auto laut gerufen: “Lieber Vater
im Himmel. Ich bitte dich und bestehe darauf, mir zu helfen, eine Tür in
Penzlin zu öffnen.” Jedes Detail erwähnte ich, Namen und Vornamen
meiner Seelenfeindin, die Straße, die Hausnummer, die Umstände und
konzentrierte meine ganze Gedankenkraft auf dieses Ziel. Vor dem Wohnhaus, in
der Bahnhofstraße 19, angekommen, stieg ich aus meinem Trabant und nahm die
Stufen, zwar hoffnungsvoll, doch nicht ganz so schnell wie sonst. Ich klopfte.
Sie öffnete. Ihr Gesicht sprach absolute Ablehnung und Härte. Durch den kleinen
Türspalt, den sie noch zuließ, sah ich ein Bild in ihrem Zimmer. Sie folgte
meiner Blickrichtung. Sie schaute mich an. Sie hätte ja fragen können: “Warum
stecken Sie Ihre dämliche Nase immer in fremde Angelegenheiten?” Aber
zu meiner Verwunderung hörte ich: “Das ist mein erster Mann. Kommen Sie
herein!”
In den nächsten zwei Stunden erfuhr ich alles,
was in dieser Sache für mich zu wissen wichtig war. Der Mann mit der
Pickelhaube, den sie als junges Mädchen geliebt hatte, war eine Woche nach der
Eheschließung im letzten Jahr des Ersten Weltkrieges an der Westfront gefallen.
Auf den zweiten Jugendfreund, Gustav Briel, hatte sie fünfzig Jahre gewartet.
Kaum erneut verheiratet, bemerkte sie, dass sie ihn mit einer furchtbaren
Organisation teilen sollte, deren Anliegen war, ihn eines Tages ganz von ihrer
Seite zu reißen. Lehre und Struktur der Mormonensekte seien dementsprechend
beschaffen. Alle die sich dieser Geheimorganisation anvertrauten, würden total
vereinnahmt. Ihr Anti- Mormonismus oder das was sie dafür hielt, ließ sie nicht
im Zweifel.
Ich konnte nicht anders, als manchmal
verstehend und einmal sogar zustimmend zu nicken, was sie wiederum verwunderte.
Das sei zwar so. Dieses Ganz-oder-gar-nicht
Prinzip wirkte. Halb Mitglied dieser Kirche zu sein war praktisch unmöglich.
Nur, das bedeutete nicht, dass sie, als Ehefrau eines Mitgliedes, dadurch einen
geringeren Platz einnehmen würde. Denn die wichtigste Aufgabe jedes Mitglieds
meiner Kirche war und ist treu zu seinem Ehepartner zu stehen, gleichgültig ob
der die Glaubensansichten teilt oder nicht.
Das formulierte ich so gut wie möglich und
gewann wohl einen kleinen Punkt.
Im Wesentlichen irrte sie sich natürlich. Aber
wer weiß, wessen mehr oder weniger tendenziöse Bücher sie über Mormonen gelesen
hatte? Aus ihrer Perspektive gesehen, stellte sich die, meines Wissens, beste
Philosophie der Weltgeschichte als Ungeheuerlichkeit dar. Sie brachte es
schnell auf den Nenner: „Warum weigert mein Mann sich mir alles über
die Zeremonien im Mormonentempel zu erzählen? Warum trägt er Unterkleidung mit
Geheimzeichen? Was verschweigt er mir?
Um mich korrekt zu verhalten musste ich weit
ausholen…
Als ich heimfuhr, war mir klar, dass ich nicht
nur ihr Ohr, sondern ein bisschen die Zuneigung dieser nicht unbedeutenden Frau
gefunden hatte. Sie war zu Beginn der dreißiger Jahre Lyzeums Direktorin
gewesen und verfügte über eine wunderbare Beredsamkeit. Ich musste ihr
versprechen, wiederzukommen.
Von da an besuchte ich sie und ihren Mann
monatlich mindestens einmal. Immer wurden es Vier-, Fünfstundenrunden. (Meine
Söhne als meine Heimlehrerpartner erledigten in dieser Zeit jeweils ihre
Hausaufgaben oder Korrespondenz mit ihren Freundinnen und manchmal sind sie mir
immer noch ein wenig gram, weil ich sie in entsetzliche Langeweile getrieben
habe. Aber ich bin unschuldig! wann immer ich nach einer halben Besuchsstunde
aufbrechen wollte kommandierte sie, das sei pure Unhöflichkeit.)
Jahrelang ging es gut, immer besser.
Eines Tages erklärte sich mich für ihren
Freund: „Bitte bringen Sie ihre Frau mit!“
Das geschah zur Zufriedenheit beider
Damen. Ich war, ehrlich gesagt, stolz solche Freundin zu haben. Sie las
irgendein mehrstrophiges Gedicht zwei- oder dreimal und sagte es dann
fehlerfrei auf. Da war eine Szene, die mir so lebhaft schilderte,
die mir bei entsprechender Gelegenheit, so lebhaft vor Augen stand, wie sie im
Sommer 1945, damals noch als Hitlers Parteigenossin Pfaffenberg vor der Warener
Entnazifizierungs-kommission und als Nummer 146 auftrat. Ein dort amtierender
Erzkommunist fragte sie höhnisch: “Na, Frau Pfaffenberg, Sie haben also
auch der Nazipartei beitreten müssen!”
Sie hätte heftig zurückgeschnarrt: She snoreed
back.
“Ich bitte mir aus, nicht in diesem Ton mit
mir zu reden. Ich war eine überzeugte Nationalsozialistin! Ich, Martha
Pfaffenberg habe gewusst, was ich tat. Der Führer war mein Ideal. War, meine
Herren, habe ich gesagt! Das merken sie sich bitte!” Das
muss sie recht laut und mit dem ganzen Nachdruck ihrer starken Persönlichkeit
gesagt haben.
Alle schläfrig vor sich hindösenden Mitglieder
der Kommission seien plötzlich hochgeschreckt und hätten sie mit geweiteten
Augen angestarrt. Das war für sie ganz und gar ungewohnt, wie jemand sich auf
solche Art und Weise zum zu Recht verfemten Nationalsozialismus Hitlers
stellte.
“Jawohl, ich war Hitlers treue Parteigängerin
solange, bis er gegen die Juden vorging. Ich war sehr wohl für die Verweisung
bestimmter Juden in ihre Grenzen, aber niemals für ihre Verfolgung. Als ich das
sah, habe ich dem Führer mein Parteibuch vor die Füße geworfen.”
Die vor den untersuchenden Herren sich
aufreckende Frau muss ihnen Hochachtung abgenötigt haben, umso mehr, da sie so
häufig auf Waschlappen stießen, die jammervoll beklagten, sie hätten keine
andere Wahl gehabt und seien wider Willen der Hitlerpartei beigetreten.
Der Vorsitzende der „Reinwaschungskommission“,
allerdings ließ sich wenig beeindrucken. “Ja, und? Man weiß, dass
Sie bis zuletzt Mitglied der NSDAP waren.”
“Meine Herren, ich schulde ihnen gar nichts.
Aber wenn sie wie ich einen gefährdeten Vater gehabt hätten...”
mit anderen Worten sie musste Rücksicht auf Familienmitglieder üben.
Der Gauleiter Pommerns Swede-Coburg, hatte
ihren 1938 erfolgten Parteiaus-tritt nicht anerkannt und gedroht, man könne
sich dann an ihren Vater halten. Eine Lyzeums Direktorin durfte die Partei
nicht verlassen. Diese Androhung von Sippenhaftung brach ihren Mut. Aber sie
habe sich seit 1938 als Nichtmitglied betrachtet, daran lasse sie nicht
rütteln, gleichgültig ob die Fakten für oder gegen sie sprächen. Mir erzählte
sie, wie sie ihren Glauben an Gott in den Hitlerjahren verlor. Was sie bewegte,
war nicht so sehr das Unheil an sich, das Gott zuließ und das schließlich nur
feige Menschen einander zufügt hatten, sondern es war die Zänkerei unter den
beiden Ortsgeistlichen. Wann immer sie selbst als dritte Partei im selben
Wohnhaus Zeuge der gehässigen Auseinandersetzungen unter Theologen wurde,
verlor sie Glaubenssubstanz. Bis nur noch ein Rest von Religion in ihr übrig
geblieben sei. Wörtlich fügte sie hinzu: “Heute glaube ich nur noch
zehn Prozent von dem, was mit traditionellem christlichem Denken zu tun hat.”
Für mich schrieb und sang sie. Sie hatte an
den Mormonen fast nichts mehr auszusetzen. Bis ihr Ehemann, - nicht ich - einen
Schritt weiter ging, als sie nachzugeben bereit gewesen war. (Sie vergaß
niemals irgendetwas, das für sie von Belang war.)
In seiner Naivität hatte er seiner Frau
begeistert erzählt wie gut es ihm getan hatte wieder eine Versammlung unserer
Kirche besucht zu haben. Er beichtete ihr, dass er an jedem Tag in der
Vergangenheit innerlich auf der Seite seiner Kirche gestanden hätte, auch
damals als sie es ihm strikt untersagte. Das Ihr Mann sich plötzlich stark
machte, verkraftete sie nicht. Sie fühlte sich überfahren. Die Erregung über
die Entdeckung, von mir überlistet worden zu sein, raubte ihr den Schlaf. Sie
beorderte mich nach Penzlin.
Unser mühevoll gemeinsam errichtetes Haus der
Übereinstimmung riss sie mutwillig ein, indem sie ihrem Mann und mir verbot
noch irgendeinen Satz zu wechseln. Sie verbot mir endgültig ihr Haus zu
betreten.
Zum ersten und letzten Mal seit Beginn der
Jahre unserer Freundschaft erwies sie sich wieder vom Scheitel bis zur Sohle
als die unflexible alte Oberlehrerin die sie stets gewesen war. Dabei hatte
meine Seelenfreundin Martha Briel immer gezählt wie viele Menschen zu ihrer
Beerdigung kommen würden. Sie war damit nie weit gekommen, wie sie mir schon
früher anvertraut hatte. Ihr harter, schnurgerader Charakter hatte sämtliche
Menschen mit ihren scheinbar windschiefen Ansichten längst für immer
beiseitegestoßen. Sogar ihr Bruder mied ihren Umgang. Zu erneutem Betteln
fehlte mir die Lust.
Nie hat Joseph Smith gesagt, er hätte das
Mittel, das aus dem Labyrinth führt, selbst gemacht. Wenn er das behauptet
hätte, wäre er ein angesehener Mann geworden. Zu sagen, es sei ihm von Gott
geoffenbart worden, sollte ihm das Genick brechen. So sind wir nun einmal, das
uns leichter Zugängliche und Verständliche ziehen wir allemal vor.
Leningrad
Es war den Genossenschaften erlaubt 5 % des Umsatzes auf den Kulturfond zu überweisen. So gelang es, bei steigender Produktion erhebliche Summen anzusparen um uns zu ermöglichen, im drei-Jahres- Rhythmus, mit unseren Ehefrauen Wochenurlaube im Ausland zu verbringen. So sahen wir den Smolny
und den Winterpalast der Zaren.
Im Smolny befanden sich
die Büros der regionalen Parteizentrale. Im Smolny wurde einer der engsten
Mitarbeiter Stalins erschossen, Kirow. Ich löste um Haaresbreite einen Eklat
aus, weil ich der dolmetschenden Stadtführerin die Frage stellte, ob es
tatsächlich andere führende Leningrader Kommunisten waren die den Tod Kirows zu
verantworten haben: „Wie kommen sie zu dieser Frage, woher wissen sie
davon?“ Der Ton war scharf und vorwurfsvoll. Ich konnte mich nur
beglückwünschen, dass ich nicht fragte, worum es mir eigentlich ging: Nämlich: „Ist
Stalin selbst schuld daran?“ Denn einige sonst vorsichtige nicht
staatskonforme Leute ließen mich wissen, sie hätten gewisse Literatur. Ich
erhielt für zwei oder Tage zur Ausleihe das Buch des Dissidenten Wolfgang
Leonhard: „Die Revolution entlässt ihre Kinder“. Spannend
geschrieben vermittelte es uns eine Fülle von Informationen aus erster Hand.
Leonhard kam mit seiner Mutter als 13-jähriger, 1934, in die Sowjetunion. Die
Lyrikerin Susanne Leonhard war auf die russische Propaganda hereingefallen. Wie
viele andere Idealisten, erkannte sie desillusioniert die Hintergründe des
Systems und wurde als "kommunistische Abweichlerin" in ein
sowjetisches Straflager in Sibirien verbannt. „Ihr Sohn Leonhard bekam
eine strenge Ausbildung an der Komintern-Schule und wurde dort für spätere
Führungsaufgaben innerhalb der Kommunistischen Partei vorbereitet. Zusammen mit
der "Gruppe Ulbricht" (Ulbricht: "Es muss alles demokratisch
aussehen…") schickte man ihn 1945 als Polit-Kommissar ins zerstörte
Nachkriegs-Deutschland. Die Zwangsvereinigung von KPD und SPD in der SBZ gab
ihm den Anstoß, 1950 siedelt er dann in den Westen über.“ Heike Mund
„Deutsche Welle“
Im erwähnte Werk Wolfgang
Leonhards stand der Satz geschrieben: „Seinen Rivalen, den Leningrader
Parteichef Kirow, ließ Stalin 1934 ermorden.“ nachdem Kirow auf
dem XVII. Parteitag der KPdSU desselben
Jahres hinnehmen musste, dass 292 Delegierte gegen ihn stimmten und nur drei
gegen Kirow. Dies betrachtete Stalin als unverzeihliche Demütigung. Kirow
sollte ihm überlegen sein? Wir erfuhren durch verschiedene Kanäle, dass mit der
Untersuchung dieses Mordfalles, auf Weisung Stalins die berüchtigten
Schauprozesse in der Sowjetunion begannen, die tausende Unschuldige zum Tod
durch Erschießen verurteilten. Ich antwortete der jungen Dame, als
wir auf den Stufen dieses Gebäudes standen: „Die Parteipresse in der
DDR hat viel darüber berichtet!“ Sie schwieg, sie fühlte sich
unsicher, und lenkte ab. Beweise für Attentatspläne oder den Mordauftrag an
Kirow gab es nicht - der ganze Prozess basierte auf erzwungenen
Geständnissen. "Ich fordere, diese tollwütigen Hunde zu
erschießen, jeden Einzelnen von ihnen", forderte der oberste Richter
Wyschinski dieses Prozesses als vorgebliche Rache für Kirows Tod. Am 25. August
1936 wurden die obersten des bisherigen Regimes Kamenew und Sinowjew im Keller
des Moskauer Lubjanka-Gefängnisses erschossen. All das war den Oppositionellen
des Kremlsystems wichtig. Ich glaube, dass sich neunzig Prozent der Bevölkerung
der DDR eingeengt und eingesperrt fühlten.
Abends gab Erika mich frei, während sie sich
niederlegte und ich besuchte einen Gottesdienst der orthodoxen Kirche. Da
standen hunderte und schauten mit mir zu wie die feierlichen Exerzitien
vollzogen wurden. Einem „Mormonen“ war all das sehr fremd. Ähnliches kennt er
nicht. Ich sah nur wenige Männer in der Besuchermenge. In meinem bräunlichen
Mantel, und überhaupt nach meinem Aussehen fiel ich auf. Mindestens zwei ältere
Herren verdrückten sich, nachdem ich sie musterte. Ich glaube sie hielten mich
für einen Geheimpolizisten. Anschließend küssten die Anwesenden eine größere
Ikone die unter Glas ausgestellt worden war. Alle Münder berührten wohl
dieselbe Stelle. Am nächsten Morgen wollte ich zur selben Kirche gehen, die
nicht weit entfernt dastand. Da traf ich einen alten Mann mit auffallend mildem
Gesichtsausdruck. Wir verständigten uns radebrechend. Ich konnte sehen, wie
ernst es dem intelligent wirkenden Mann mit seiner Religion war. Immerhin trägt
die Russisch-orthodoxe Kirche zwei Gesichter, das äußere mit ungeheurem Pomp
und das Innseitige der echten Frömmigkeit. Ich werde ihn nie vergessen, diesen
etwa dreißigjährigen, hünenhaften Goten im Gewand eines russisch-orthodoxen
Priesters dort. Sein junges, weißes Gesicht, der ganze wunderbare Ausdruck
seiner Persönlichkeit. Ein hakennasiger Sechziger, mit langem, schmalem Gesicht
und gewisser Hoheit, der ein Intellektueller sein musste, kam mit anderen
Besuchern nach vorne. Der junge Geistliche nahm ihn unter die Stola und gab ihm
wie ich vermute einen Segen. Beider Männer Mienenspiel bewies mir ihre ganze
Ergebenheit gegenüber Gott.
Utah
1982 erlaubte mir die DDR-Regierung, die
Einladung meiner Kirche anzunehmen um an der 152. Generalkonferenz in Utah
teilzunehmen und drei Wochen dort bleiben zu dürfen. Ich trug nun schon seit
fast achtzehn Jahren für die wenigen hundert Mormonen in Mecklenburg gewisse
Verantwortung. Der wiederum für mich zuständige Abschnittsbevollmächtigte der
Volkspolizei kam in meinen Betrieb und stellte, wie ich später erfuhr, noch
Nachfragen an den Vorsitzenden der Fischereigenossenschaft Reinhardt Lüdtke,
dessen Stellvertreter ich seit langem war. Das konnte ich selbst nicht glauben,
dass sie mich und meine Frau nach Amerika reisen lassen würden. Es stellte sich
denn auch zum Schluss heraus, dass Erika leider nicht mitfliegen durfte. Ihr
Flugticket war bereits bezahlt, die Hotelplätze für die Konferenztage bestellt.
Nichts da. Die Ehefrau blieb zurück, als Faustpfand. Dabei wären wir zur Not zu
Fuß über die Beringstraße zu unseren Kindern zurückgekommen. Noch als ich
bereits in der auf dem Schönefelder Flugplatz stehenden KML - Maschine
saß, dachte ich, es könnte immer noch ein Aufruf kommen: 'Herr Skibbe, bitte
nochmals zur Passkontrolle. Bedauerlicherweise ist uns ein Versehen
unterlaufen. Sie müssen noch etwas klären.' Aber dieser Aufruf kam nicht,
unglaublicher Weise rollte das Flugzeug mit mir zum Startplatz. Wir flogen fast
über Neubrandenburg hinweg. Da, damals, bei KML-Maschinen die Tür zum Cockpit
noch offenstand, versuchte ich einen Blick auf die Armaturen zu werfen. Der
Kopilot lud mich ein, näher zu kommen und erklärte mir geduldig, was ich zu
wissen wünschte.
In Amsterdam hatten wir Zwischenaufenthalt.
Schon das war überwältigend für mich. (Ebenso die Summe von zweihundert Mark
für ein Bett im Hilton Hotel des Amsterdamer Flughafens.)
Zum Glück musste ich die nicht zahlen. Ich
bekam allerdings vor der Weiterreise von meinem Missionspräsidenten Henry
Burkhardt einhundert Dollar ausgehändigt. Mein Taschengeld! Von wegen. Ich
schwor mir, es unangetastet in die DDR zurück zu bringen. Mineralwasser für
vier Westmark? Lieber trank ich klares Leitungswasser. Nachdem ich meine Füße
bewusst auf amerikanischen Boden setzte, lief ich zwei Stunden lang neugierig
auf die Gerüche der neuen Welt im Flughafenbereich Chicagos umher. Schrieb dann
- als echt naiver DDR-Bürger - in mein Reisetagebuch: “Amerika ist
faszinierend! Vielleicht aber nur, weil alles neu ist. Doch schon allein dieser
Umgang miteinander! Das Verhältnis des Verkäufers zum Kunden. Er wird
angelächelt, der kleine Mann, obwohl er nur kritisch prüft, statt zu kaufen. Da
wird in den noch nicht gekauften Magazinen ganz ungeniert geblättert, alles
wird angefasst, Bonbons werden auf Eignung und Konsistenz hin befummelt und zum
Schluss bleibt der ganze Kram liegen, aber die Damen und Herren Ladenbetreiber
verlieren weder Hoffnung noch die Geduld...”
Ein Mann um die 40 hatte ein Pornoheft in der
Hand. Mir schien, er hielt es mir absichtlich unter die Nase. Es
stellte sich mir die Frage, warum duldet eine Frau solche Aufnahme? Als wir am
späten Nachmittag der Sonne hinterher fliegen, etwas langsamer als die Erde
sich dreht und es ganz allmählich zu dunkeln anfängt, sehe ich aus elf
Kilometern Höhe die unendlichen Weiten Nebraskas unter mir dahingleiten. Ob das
da unten der Platte-River ist, an dem die Mormonenpioniere vor fast anderthalb
Jahrhunderten mit ihren Planwagen ihrem unbekannten Ziel, das irgendwo in den
Felsengebirgen liegen sollte, entgegen gezogen sind? Über sechzigtausend
Mormonen haben bis zur Fertigstellung der Eisenbahn die Prärien zu Fuß
überquert. Die ersten 1846, nachdem rabiate Andersdenkende die ersten
vierzehntausend zwangen, ihre eigenhändig errichtete Stadt Nauvoo in Illinois
zu verlassen. Mitten im Winter.
Was für ein Stoff für kommende Generationen
von Dokumentaristen und Filmemachern.
Zumeist zogen sie in Gruppen bis zu
zweihundert oder dreihundert nach Westen. Ich denke an die Martin- und die
Williegruppe, die 1856 mit selbstgebauten Handkarren die Strecke von Iowa nach
Salt Lake City zu überwinden hatten. Mein Flugzeug wird dafür zweieinhalb
Stunden benötigen, und während ich eine Mahlzeit zu mir nehme, überqueren wir
ebenso leicht wie ahnungslos ein Gebiet, in dem sich, vor 126 Jahren die
erschütterndsten Tragödien abgespielt haben. Denn zweihundertzweiundzwanzig
Mitglieder der Kirche, die in jenem Jahr auf dem letzten Teil der Strecke von
Schneestürmen und Wagenzusammenbrüchen heimgesucht wurden, sollten nie
ankommen.
Einige meiner Freunde, die im Verlaufe der Zeit ausgewandert waren, holten mich vom Flugplatz in Salt Lake City ab, darunter waren Edith und Walter Rohloff sowie Siegfried, ebenfalls ein Exneubrandenburger, der nun hier erfolgreich ein Delikatesswarengeschäft betrieb. Er stellte mir, ganz und gar ein erfolgreicher Geschäftsmann die für mich kaum glaubhafte Frage: “Von den drei Wochen hast Du fast vierzehn Tage für Dich. Was wünschst Du zu sehen? Wollen wir nach Kalifornien fliegen zum Meeresangeln?” Ich wünschte natürlich vor allem zur kircheneigenen Brigham -Young - Universität nach Provo zu gehen, um mit Professor Hugh Nibley zu reden, einem deutschsprechenden Altsprachler, von dem ich eine Anzahl, allerdings nur kurze Aufsätze, gelesen hatte.
Das Verwaltungsgebäude der BYU
Mich interessierten seine Ansichten zu einer Reihe spezieller Fragen. Über den Norddeutschen Rundfunk war wieder einmal eine negative Information über uns verbreitet worden. Drei Mormonenstudenten hätten in ihren Studien herausgefunden, dass die in "Köstliche Perle" veröffentlichten Faksimiles aus dem ägyptischen Totenbuch von Joseph Smith aus dessen genereller Unfähigkeit heraus falsch interpretiert worden seien. Der siebzigjährige Nibley, ein nicht sehr großer, fast dürrer Mann, sprang behände auf, als ich ihm die Angelegenheit vorstellte. In einem dreihundertseitigen Buch hätte er zu dieser Thematik grundsätzlich Stellung genommen. Sämtliche verfügbaren Belege hätte er darin der Öffentlichkeit unterbreitet. Es sei nicht wahr. Nicht irgendwelche drei Studenten hätten die offizielle Version attackiert, sondern ein Hochschullehrer für Anglistik, der wegen Ehebruch in einem Ausschlussverfahren der Kirche steckte und sich so abzureagieren versuchte. Nibley erläuterte mir, dass die Ägyptologen ohnehin herausgefunden hätten, dass es zum Faksimile Nummer eins in "Köstliche Perle", eine Unzahl unterschiedlicher Interpretationen gäbe. Das sei die Art der alten Ägypter gewesen, gewisse Dinge im religiösen Bereich mehrdeutig darzustellen. “Sehen Sie mal,” sagte er “für uns ist doch wichtig zu wissen, dass Gott ein Gott der Offenbarung ist. Immer wieder hat er zu bestimmten Menschen gesprochen, Konfuzius, Buddha, Lehi. Und genau das behaupten die alten Ägypter und die Hebräer, auch Joseph Smith und wir mit ihm. Deshalb besteht zwischen den ältesten Überlieferungen ein Grundkonsens.”
Nibley, der den mit mir vereinbarten Termin
zunächst buchstäblich verschlafen hatte, wurde immer munterer. Sein schmaler,
langer Kopf ruckte hin und her. Er wies mich auf den ältesten, enträtselten,
den Shabakostein hin, der bereits von der Notwendigkeit des Erlösungsplanes
Gottes spricht. “Sehen sie mal”, erklärte er, ging an die
Tafel und nahm Kreide in die Hand. “Die Kernlehren verschiedener Religionen
Asiens, Afrikas und Amerikas bestätigen einander tatsächlich. Ganz besonders
weist die Religion der alten Ägypter auf den gemeinsamen Ursprung aller
Religionen hin. Sie reden alle vom Schöpfergott und alle verlangen, dass wir
Gott verehren sollen, indem wir seine Gebote halten. Den Weihrauch braucht er
nicht, nicht die Liturgien, sondern unser Herz und Verstand soll sich ihm
zuwenden. Das vierte Gebot von den berühmten zehn wird bereits im ägyptischen
Papyrus Eber erwähnt, einem der ältesten Schriftdokumente überhaupt: 'Schön ist
es, wenn ein Sohn seines Vaters Rede wohlaufnimmt, Gott wird ihm dafür ein langes
Leben gewähren.' Das sei ein deutlicher Beweis, dass das Evangelium viel älter
ist, als bisher angenommen wird.
Im Buch Abraham, das Joseph Smith nicht
unumstritten übersetzte, heißt es in 1, 26” Dr.
Nibley zitierte aus dem Gedächtnis: “(der erste) Pharao, der ein
rechtschaffener Mann war, begründete sein Königreich und richtete sein Volk
weise und gerecht, alle seine Tage, und er trachtete ernsthaft danach, die
Ordnung nachzuahmen, die von den Vätern in den ersten Generationen aufgestellt
worden war, in den Tagen der ersten patriarchalischen Regierung...”
Nibley fuhr fort: “Diese Aussage, von
Joseph Smith formuliert, kann in ihrer Bedeutung nicht überschätzt werden!
Dieser Text hat nicht nur für den Insider große praktische Bedeutung, weil er
zeigt, dass viele Religionen und ihre Tempelkulte, sowie das Freimaurertum (wie
schon Schikaneder und Mozart in der “Zauberflöte” zeigten) im Altägyptischen
wurzeln. Damit sei zugleich klar, dass es falsch ist zu behaupten, die
mormonischen Tempelrituale seien dem Freimaurertum entlehnt. Denn die
erheblichen Unterschiede legten den Schluss nahe, dass das verloren gegangene
Original einen vorägyptischen Ursprung hat. Das sei von größter Bedeutung,
etwas, das leider mitunter sogar vorsätzlich übersehen werde.”
Nibley sagte mir, die Allgemeinattacken auf
den Mormonentempel werden von der Mehrzahl der großkirchlichen und der
jüdischen Tempelforscher nicht geteilt.
Zwei volle Stunden hatte sich der
Vielbeschäftigte für mich Zeit genommen.
Mit dankbarem Gefühl verließ ich sein Büro.
Ich sah mich in Salt Lake City gründlich um. Wir fuhren auch zum
Immigrationscanyon. In der Nähe stand ein Denkmal, mit dem die hiesigen
Mormonen aller Siedler und Pioniere gedachten, die auf dem Oregon - Trail
zunächst bis hierherkamen oder wie ihre Glaubensgenossen, die tapfer im
unwirtlichen Land blieben, um es urbar zu machen.
Mein Blick glitt über viele tausend
Einfamilienhäuser der Millionenstadt und es fiel mir schwer, mir vorzustellen,
wie es damals war, bevor die ersten Siedler das Wasser aus den Bergen
herableiteten, um den harten, dürren Boden aufzuweichen, damit sie ihn
bestellen konnten.
Am meisten zog mich der Tempelplatz in Salt
Lake City an. Mir sagte die Atmosphäre dort sehr zu. Ich dachte nur,
hoffentlich gibt es das und diese freundlichen Menschen noch in tausend Jahren!
In der Vorfreude auf die Teilnahme am Organ Recitals, das um die Mittagsstunde herum täglich im Tabernakel stattfindet, hegte ich meine Gedanken. Ja, ich rief meine Moskauer Eindrücke wieder herauf. Während des Konzertes verglich ich wieder einmal alles. Keine Frage wer das Original hatte.
Bild Wikipedia Tabernacle - Konferenzraum
Wenn es doch möglich wäre, gute Musik in
überzeugende Worte zu übersetzen.
“Schade, Erika,” schrieb
ich in mein Tagebuch: “dass Du es nicht miterleben durftest.“ Plötzlich
umströmte uns Zuhörer eine wunderbare Tonflut. Schöne Akkorde rauschten auf uns
zu. Es folgte ihnen ein behutsames Streicheln und Zufriedenstellen der Seele
nur durch Töne. Präludium und Fuge in G-Dur von Johann Sebastian Bach. Ihr
folgte Henri Mulets Toccata in F-Moll, dann noch einmal Bach: “Christus lag in
den Banden des Todes”. „Dreißig Minuten lang hörst Du inmitten der
Felsengebirge des wilden amerikanischen Westens himmlische Musik. Du fragst
Dich, wie es möglich ist, dass Du Mensch, der du unausgesetzt und oft mit
gewaltigem Aufwand nach mehr Glück trachtet, das Schöne und Gute so billig
bekommen kannst.
Wir strömten ins Grüne, der Himmel strahlte im tiefen Blau, die Sonne schien. Es ist nur schwer vorstellbar, dass es Menschen gibt, die andere Menschen hassen.”
Am nächsten Morgen stand mein
Exneubrandenburger Siegfried mit seinem Land Rover vor Walters Tür im Schnee,
der in der Nacht auf die gelbleuchtenden Forsythien Sträucher gefallen ist. Er
will mit mir nach Brighton gehen, auf die Skifahrerpiste für Anfänger. Als Kind
hatte ich schon einmal, in Wolgast, auf primitiven Brettern gestanden und
natürlich war ich Wintertags noch nie im Gebirge gewesen. “Das macht
nichts”, ermutigte Siegfried mich. “Wir borgen uns die richtige
Ausrüstung und Du wirst schon sehen, wenn uns der Lift hinaufgefahren hat, dann
rutscht Du wie von selbst ins Tal runter." Recht hatte er. Meine
glatten Untersätze fuhren, als es soweit war, von allein los und nahmen mich
mit. Ich brauchte bloß aufpassen, nicht umzukippen. Vorher allerdings hätte er
mir erklären müssen, wie man, wenn das Tempo zunimmt, wieder anhält. Plötzlich
sah ich nämlich eine Gruppe Kinder und Jugendlicher vor mir. Als ich dann
wieder auf meinen Beinen stand, übte ich für den Ernstfall. Denn beim nächsten
Mal bot sich wahrscheinlich nicht wieder eine Schneewehe als Gelegenheit an, da
kopfüber reinzusegeln.
Ich sah mich auch in den Gemeinden um. Mich
störten die auffallend vielen kleineren Kinder und die von ihnen verbreitete
Unruhe nicht. Das wird zu Christi Zeiten kaum anders gewesen sein. Wenn er
sprach, wird er die Mütter nicht angefahren haben, dass sie ihre Kleinen
gefälligst stumm zu stellen hätten. Im Gegenteil! Wie Matthäus so anschaulich
mitteilt, winkte er die Kinder zu sich heran. Drei Tage vor Beginn der
Konferenz zog ich ins Hotel Utah um, das lag näher an den Tagungsstätten. In
einer vom Präsidenten des Rates der Zwölf, Ezra Taft Benson, geleiteten
Schulung für Regionalrepräsentanten der Kirche, an der Henry Burkhardt, mein
Missionspräsident und ich als Gäste teilnahmen, erfuhren wir, dass Erhebungen
ergeben hätten, dass die Belastungen für aktive Mormonenfamilien bis fünfzig
Prozent ihres Budgets betragen würden. Das sei nicht in Ordnung. Das Gesetz der
Kirche laute: zehn Prozent, nicht mehr. Einmal im Monat sollten die Mitglieder
der Kirche fasten und den Gegenwert des Ersparten zum Zweck der Linderung von
Not über den Zehnten hinaus opfern. Außerdem würden sie ihre Kinder weiterhin
auf eigene Kosten “auf Mission” schicken. Das sei mehr als genug, sie dürften
fortan nicht mehr aufgefordert werden, sich an der Bildung anderer Fonds zu
beteiligen. Ab sofort übernehme die Kirche die volle Finanzierung für den
Neubau von Kapellen und der Sporteinrichtungen, sowie deren Unterhaltung. Links
neben mir saß Dieter Berndt, er ist an der TU in Berlin Lehrer, ein Fachmann
für Verpackungstechnik, rechts der Bürgermeister von Las Vegas.
Wir gingen vom Kirchenverwaltungsgebäude zu Tisch ins Löwenhaus, in dem einst Brigham Young mit seiner Großfamilie gewohnt hatte.
Bild: Wikipedia: das Löwenhaus
Deshalb die ungewöhnliche Anzahl Fenster und die vielen Zimmer. Mit einem Philippini, der in Köln Wirtschaft studiert hatte, kam ich ins Gespräch. Es sei weltweit dasselbe, wer zu dieser Kirche gehöre, der engagiere sich voll und ganz - oder gar nicht. Es gäbe etwa fünfzig Prozent heiße und fünfzig Prozent kalte Mormonen. Halbherzigkeit sei fast nie anzutreffen. Wer komme mache richtig mit. Die andere Hälfte Mormonen stehe leider nur in den Büchern.
Anderntags befanden wir uns im bescheidenen
Büro Präsident Monsons. Als er uns hereinkommen sah, erhob er sich zur fast
Zweimeterturmhöhe, kam hinter seinem Schreibtisch hervor, reichte uns, Henry
Burkhardt und mir die Hand. Schon nach wenigen Worten fragte er, welchen Wunsch
ich hätte. Ich war überrascht. Ich war doch nicht als Bittsteller hergekommen,
sondern freute mich, dass er sich für uns eine halbe Stunde Zeit genommen
hatte.
Mein Blick fiel auf die Totenmaske des
Propheten Joseph Smith, die im Fensterrahmen stand. Wie elektrisiert sah ich
das erstarrte, junge und bartlos glatte Gesicht eines der bedeutendsten Männer
der letzten zweihundert Jahre zu meiner Rechten. Unwillkürlich fragte ich mich,
warum halten dich so viele für einen Lügner?
Es gibt keine dritte Möglichkeit! Entweder
hatte er und weitere elf die golden aussehenden Platten in Händen gehalten oder
nicht. Entweder logen die zwölf Männer oder sie hatten die Wahrheit in
wichtigster Hinsicht gesagt. Dann ist dieses Leben nicht alles.
Mir fiel ein, ich könnte Thomas S. Monson
bitten, der Einladung nachzukommen, die Hermann Kant, der Präsident des
Schriftstellerverbandes der DDR, erst vor kurzem an ihn ausgesprochen hatte,
nachdem er in Salt Lake City als willkommener Gast an einer Tagung der
Generalkonferenz teilgenommen hatte. Unser Gastgeber, dessen Herz für die in
Altenheimen lebenden Witwen schlägt, nickte zustimmend. Er rief seine
Sekretärin herein. Einen Augenblick lang erschien mir alles unwirklich zu sein.
Henry Burkhardt und ich gehörten hier nicht her. Wir sind ein Stück
Nicht-normalität. Immerhin erhebt der östliche Moloch auf uns
Besitzeransprüche. Wir gehören denen, die immer sagten “Unsere
Menschen”. Sie haben uns erlaubt, hierher zu reisen. Sie hätten die
Macht gehabt, es uns zu untersagen. Irgendwie äußerte ich das, denn ich dachte
an Erika. Thomas S. Monson schüttelte abwehrend den Kopf. So verbissen sollte
ich es nicht sehen. Die Kirche arbeite daran, dass unsere Bedingungen sich
bessern sollen. Ich konnte es nicht glauben, und ahnte nicht im Mindesten, wie
weit diese Arbeit bereits gediehen war.
Während des Rückfluges erfuhr ich von Henry
Burkhardt, dass in Freiberg in der DDR ein Tempel gebaut werden soll. Das sagte
er mir, mitten über dem Atlantik. Es sei eine noch vertrauliche Information. Er
hatte mich geweckt, um mir den unglaublich gefärbten Himmel zu zeigen. Es war
ein paar Minuten vor Sonnenaufgang. Aus einem tiefviolett schimmernden Himmel
kam makellos von links vorn die schnell wachsende Helligkeit wie ein
Bühnenlicht hervor, denn wir flogen der Sonne mit zehnfacher Autogeschwindigkeit
entgegen. Seine Mitteilung war in der Tat eine große, wunderbare Überraschung.
Das widersprach all meinen Erfahrungen. Danach war an Schlaf nicht mehr zu
denken. Das hieß, die Vorgespräche zwischen amerikanischen Kirchenautoritäten
und der kommunistischen Honneckerregierung konnten nur positiv verlaufen sein.
Mein erster Gedanke war: Honecker und Günter Mittag brauchen Geld. Mein
zweiter: wegen fünf oder acht Millionen Dollar setzen die sich doch keine Laus
in den Pelz! Meine Logik geriet ins Wanken.
Bald darauf, während einer Konferenz in
Leipzig, vernahmen wir es als offizielle Ankündigung. Meine Verwunderung blieb
groß. Ich hätte eher gewettet, dass die Kommunisten versuchen würden, den
Einfluss meiner “amerikanischen” Kirche zurückzudrängen.
Warum sie es zuließen, sollte ich noch
erfahren.
In Utah hatte ich ein Stück vom neuen,
besseren Land gesehen, das noch längst nicht perfekt war, jedoch die Potenzen
zur besten Entwicklung in sich trug. Allerdings, und das hörte ich
verschiedentlich, Utah ist nicht Amerika. Die Slums der Industriestädte, das
dazu gehörige Elend gibt es hier nicht - hoffentlich wird es sie wenigstens im
Einflussbereich meiner Kirche nie geben! Anderes wäre mir undenkbar. Natürlich
müssen wir aufpassen. Wo immer ein hohes Niveau durch Fleiß und Wertschätzung
erreicht wurde, muss es durch dieselben Tugenden pausenlos verteidigt werden.
Es ist keine Zeit sich auf alte Verdienste zurückzuziehen. Nichts bleibt, wie
es ist, selbst die Liebe nicht, es sei denn wir erneuern und erhalten sie immer
wieder. (Nicht einmal bergab läuft jede Karre von allein.)
Einmal hatte ich mich mit dem Auto verfahren
und war ins Mormonenstädtchen Orem abgebogen. Da wusste ich noch nicht, dass
dieser Ort ein oder zweimal offiziell als liebenswerteste Stadt Amerikas
ausgezeichnet wurde.
Allerdings, wer in dieses
Blumenstraßenparadies hineingeboren wird und niemals etwas wie das Leipzig der
achtziger Jahre hautnah erlebt hatte, oder Bautzen, der konnte es
wahrscheinlich nicht sonderlich schätzen. Das wird wohl das ewige Problem
bleiben, dass niemand von uns wirklich weiß, was er besaß, bevor er es verlor.
Das meinte wahrscheinlich Hartmut, unser ältester Sohn, als er mir eines Tages
sagte: nach seinem Abitur hätte er sich sieben lange Jahre, außerhalb der
elterlichen Obhut, fremde Ideen um die Ohren pfeifen lassen. Jetzt erst wüsste
er, wie wertvoll sein Zuhause gewesen war und wie viel es ihm bedeutete zu
wissen, dass sein Hinterland - seine Familie – fest zu ihm hielt. Erst diente
er drei Jahre um seinen Studienplatz in der Armee, dann studierte er im
damaligen Karl-Marx-Stadt Maschinenbau und Schweißtechnik. Fast gegen Ende der
“elternlosen” Zeit (ich werde es nie vergessen, es war auf dem Weg zwischen
Freienhufen und Dresden) fragte ich ihn: “Na Hartmut, was hältst du nun
von unserer gemeinsamen Kirche?”
“Es ist das Beste, das wir haben können.” sagte
er. Eine Antwort, die mich tief bewegte und befriedigte. Sofort nach Abschluss
der Fachprüfungen hätte er den Ordner mit der Überschrift “Wissenschaftlicher
Kommunismus”, weil absolut unbrauchbar, in den Müllcontainer geworfen. Ich
hatte bis dahin meine Sorgen und Bedenken gehabt, da ich davon überzeugt war,
dass er den Druck der verschiedenen Versuchungen ähnlich wie ich gespürt haben
musste. Auch er hatte, wie ich, sein eigenes Zeugnis von der Echtheit und Lebendigkeit
des Mormonismus empfangen und, wie ich, hatte er den Wunsch, einer so
wunderbaren Sache zu dienen, die alle Voraussetzungen dazu mitbringt, die
unterschiedlichsten Menschen zu einer großen harmonischen Familie
zusammenzubringen. Eine Aufgabe, die zu lösen sich die Kommunisten vorgenommen,
aber nie würden zu Ende ausführen können, weil ihre Losung “Proletarier
aller Länder vereinigt euch” zumindest einen bedeutenden Teil
Mitmenschen zu Todfeinden erklärte. Wir aber hörten in unseren Zusammenkünften
immer wieder, dass alle Menschen Kinder Gottes sind. Deshalb war und ist jedes
Engagement, auch das politische, heilig oder unheilig, je nachdem ob wir in
erster Linie nur uns selbst dienen.
Im Herbst 1983, ein Jahr nach meiner
Entlassung als Distriktpräsident wurden Klaus Nikol und ich als Pfahlmissionare
berufen. Nachdem ich ihn angesprochen hatte, lud Pastor Fritz Rabe uns ein, vor
seiner Jugendgruppe der Gemeinde St. Michael, in Neubrandenburg einen
Lichtbildervortrag über meine Amerikareise nach Utah zu halten.
Der Abend begann damit, dass Herr Rabe - wie
ich später erfuhr - ein Zirkular seiner Synode zur Hand nahm, das er
anscheinend soeben erhalten hatte, wodurch sich die offizielle Eröffnung um
einige Minuten verschob. In dem Schreiben wurde ihm mitgeteilt, dass Kontakte
zu Mormonen nicht gepflegt werden sollten. Ich saß nahe bei ihm und fand eine
gewisse Bewegung in seinen Zügen, konnte aber nicht ahnen, dass es Klaus Nikol
und mich betraf.
Eigentlich hätte er uns, gemäß der empfangenen
Weisung, sofort des Saales verweisen müssen. Aber wir durften reden. Das war
sein Wagnis. Immerhin standen wir namentlich für eine gefährliche Sekte. Er
nahm es mutig auf sich. Er ließ sich mehr von seinem eigenen Gefühl leiten, als
von einer Direktive. Wir zeigten als erstes Bild den Mormonentabernakelchor. Er
sang für uns Luthers berühmtes Lied “Ein feste Burg ist unser Gott”.
Herr Pastor Rabe sah bald ein, dass wir keine
Sektierer waren.
Auf die Frage, wodurch wir uns von anderen
Christen unterscheiden, zitierte Klaus Nikol Joseph Smith, und ich setzte im
Wortlaut hinzu: “In den religiösen Ansichten sind wir von anderen Kirchen
nicht so sehr verschieden, dass wir nicht ein und dieselbe Liebe in uns
aufsaugen könnten. Einer der großen Leitsätze des Mormonismus ist der, dass wir
die Wahrheit annehmen, mag sie kommen, woher sie will. Die Christen sollen
aufhören, miteinander zu zanken und zu streiten, sie sollten vielmehr
untereinander Einigkeit und Freundschaft pflegen.”
“Ist das tatsächlich Originalton Joseph
Smith?” wollte Pastor Rabe wissen. “Ja!
Wort für Wort.” Das konnte ich bestätigen. Anschließend kam es zu
einer heftigen Diskussion. Zwei angehende Diakone schimpften lautstark das Buch
Mormon sei ein Lügenbuch. “Es ist Unrecht irgendein Buch neben die
Bibel zu stellen.” Als angeblich letzter Autor des Buches der Bücher
hätte Johannes der Offenbarer verboten, diesem gewaltigen Werk noch ein Wort
hinzuzufügen. Welch ein Missverständnis! Ich nahm meine Bibel und
zeigte sie den jungen Leuten. “Wie viel davon akzeptieren gläubige
Juden?” Sie schauten verdutzt herüber. Einer der beiden Diakone
antwortete richtig: “Sie anerkennen nur das Alte Testament als Heilige
Schrift.”
“Also ist das Neue Testament in jüdischen
Augen eine unzulässige Erweiterung der Sammlung! Bedeutet dieser jüdisch
bestimmte Standpunkt, dass er haltbar ist?”
Pastor Rabe ließ uns gewähren, obwohl er sich
nicht sehr wohl fühlte, denn er ahnte, dass wir noch mehr strittige Tatsachen
in den Raum stellen würden. Auch ihm war klar, dass das Neue Testament nicht
chronologisch angeordnet ist. Deshalb nickte er nachdenklich, als wir die
entsprechende Frage stellten. Den beiden Diakonen war es unbequem, zu denken
wie wir. Mit heftigen Äußerungen zeigten sie, dass sie davon ausgingen, dass
Joseph Smith ein Betrüger war.
Wir entgegneten: „Selbstverständlich
muss die Frage nach der Wahrhaftigkeit irgendeiner Behauptung immer zugelassen
werden. Und insofern muss man herausfinden ob das Buch Mormon ein
Fantasieprodukt Joseph Smiths ist oder nicht.” Aber, wenn man sich
schon vor der Prüfung eines vergleichbaren Problems negativ entscheidet, dann
zieht die Vernunft den Kürzeren. Kaum hatten wir diese Erwiderung formuliert,
tosten sie wieder los.
Erst als sich der Pastor erneut einschaltete,
dämpften die beiden angriffslustigen jungen Männer ihren Ton. Er verabschiedete
uns freundlich. Es war ihm peinlich, dass die beiden Hitzköpfe so grob
argumentiert hatten.
Überraschend besuchten die beiden Angreifer
mich noch am selben Abend. Sie entschuldigten sich. Im folgenden Gespräch
bekannten sie von sich aus, dass es ihnen zu anstrengend wäre, wie die Mormonen
zu leben. Deshalb hätten sie dagegengesprochen. Ihre Befürchtung war die, dass
wir ihnen ihre Lebensfreude stehlen wollten, nämlich das Vergnügen mit
leichtfertigen Mädchen…
Diese Offenheit verblüffte mich. Ich
erwiderte, niemand will oder darf sie nötigen, jemals etwas zu akzeptieren, was
sie nicht mögen. Bedauerlicherweise kannte ich damals noch nicht den Wortlaut
der Aussagen des berühmten amerikanischen Baptistenpredigers Martin Luther
King, die unbeabsichtigt mit dem Tenor des Buches Mormon übereinstimmten.
Wahrscheinlich hätte es ihnen geholfen zu begreifen, dass es nicht um
irgendeinen Grad von Religionseifer geht, sondern um Grundwahrheiten. Martin
Luther King hatte es auf seine Weise gesagt: „Gott hat absolute
moralische Gesetze in sein Weltall eingebaut. Wir können sie nicht ändern. Wenn
wir sie übertreten, werden sie uns zerbrechen.” Diese auf drei Sätze
komprimierte Philosophie entsprach der kompletten Morallehre des Mormonismus.
Wenig später traf ich Pastor Rabe auf der
Straße wieder. Wir gingen ein paar Schritte gemeinsam. Er sagte ungefähr:
„Wenn ich Sie beide nicht persönlich näher kennen gelernt hätte und ebenso Ihre
Glaubenssätze, wäre ich wie alle anderen (Pastoren) derselben Überzeugung
geblieben, dass Mormonen nicht ungefährliche Fanatiker sind.”
Da ahnten wir beide noch nicht, dass ihm sein
Wohlverhalten mir gegenüber noch viel Ärger einbringen sollte…
Im Sommer 1985 war es soweit
Der erste Mormonentempel auf deutschem Boden wurde der Öffentlichkeit präsentiert. Die DDR-Politiker hatten die Resultate gesehen. Das jedenfalls führte der stellvertretende Staatssekretär für Kirchenfragen Herr Kalb anlässlich der Einweihungsfeierlichkeiten des Freibergtempels deutlich aus: “Wir haben gesehen, dass Mormonen nicht in Eigentumsdelikte verwickelt waren, es gab fast nie Ehescheidungen bei Ihnen. Ihre jungen Männer tranken während ihrer Armeezeit nie Alkohol, das allein war für uns sehr erstaunlich. Das sind Menschen, die wir hervorzubringen wünschten. Die Früchte waren gut.”
Vierzehn Tage offenes Haus.
Foto Thomas Hengst Es kamen mehr als 90 000 MenschenViele Mitglieder stellten sich zu Verfügung, um die Vielen, die kommen würden, in Empfang zu nehmen und ihre Fragen zu beantworten. Auch ich hatte für diesen Zweck eine Woche Urlaub eingeplant.
Eine Stunde vor Öffnung des Geländes sagte
Holger Bellmann, der für diesen Teil der Startphase verantwortliche Kirchenmann
(ein Uhrmacher), zu mir: “Gerd, sei so gut, schließe das große Tor
auf.” Ich nahm den Schlüssel, ging aus dem Gemeindehaus am
weißleuchtenden Tempel vorbei und sah erstaunt, dass sich im Verlaufe der zwei
Stunden unserer internen Vorbereitung die Menschenmenge von zwanzig bis auf
mehrere Hundert vergrößert hatte. Zwei junge Frauen, beide mit dunklen Augen,
die vornan standen, schauten mich offen ausforschend an. Ich verstand ihre
Blicke als berechtigte Neugierde: Wer seid ihr? Was ist das hier? Was
werdet ihr uns zeigen und sagen? Glaubt ihr wirklich daran? Seid ihr echt? Was
ist das für ein Ding, das mit Erlaubnis der Partei hier hingestellt wurde? Seid
ihr sozialistische Christen? Will die SED etwa umschwenken? Will Honecker damit
die anderen Christen ärgern? Wie viel hat es euch gekostet? Dass dieses schöne
Haus hier, wie ein Blickfang, auf einem Hügel steht, ist total unverständlich.
Vierzehn Tage lang ging das so, täglich länger
als zehn Stunden. Immer wieder stellten die Besucher diese Fragen, zuckten mit
den Achseln, bewunderten das ebenso schlichte wie schöne Gesamtbild. Fast
einhunderttausend Menschen sollten zu uns kommen, jeder noch mit seinen
persönlichen Anmerkungen, auf die wir eingingen soweit uns das möglich war. Wir
versuchten uns im Geist führen zu lassen. Es ging uns selbstverständlich darum,
jedem präzise und kurz zu antworten. Wir fassten sie in Gruppen zu fünfzig zusammen.
Manchmal befand ich mich aber auch mit einhundert oder mehr Gästen in der
Kapelle. Jeder unserer Sprecher spürte, wie die Blicke der Besucher in sie
drangen. Es war diese eine Grundanfrage an uns: Könnte es sein, dass ihr nicht
lügt? Es hatte schon viele bunt schillernde Seifenblasen gegeben. Ausgerechnet
eine amerikanische Kirche baut hier eine Festung? Das verstehe wer will. Die
meisten Menschen, die sich positiv äußerten, befanden, dass sie modernere,
religiös motivierte Ansichten als unsere noch nie gehört hatten. Allerdings
war, was sie vorfanden, eigentlich nicht modern. Alles, was wir lehrten, war
uralt. Schon vor mehr als zweitausend Jahren hatte Benjamin im Buch Mormon
gesagt: dass kein Mensch denken soll, er sei mehr als ein anderer,
Mosia 23,7 - dass niemand bleiben kann, wie er ist, sondern sich zum Guten
entwickeln muss, - oder es war die alte Weisheit, dass niemand in Unwissenheit
selig werden kann. Oft ließ ich sie aus bereitliegenden Bücher Mormon vorlesen.
Uns war klar, wer hier her kam hatte schon von der Existenz der Mormonen
gehört, nichts Gutes allerdings, sondern überwiegend Abstoßendes. Evangelische
Geistliche sprachen fast ausschließlich Schlechtes von Dingen die sie nicht
kannten. Viele Würdenträger empfanden uns nur als negative
Konkurrenz, als tendiere bereits zu jener Zeit das Interesse für den Glauben
den ihre Eltern noch hoch hielten gegen null.
Tatsächlich konnten sich Gottesdienstbesucher
evangelischer Richtung nur noch der immer schönen Orgelmusik erfreuen. Die
Wort-Botschaften selbst wurden immer magerer. Es reicht eben nicht aus den
Menschen zu sagen: Du kannst zu deiner Erlösung nicht beitragen. Sola gratia!
Nur Gottes Gnade darfst du erhoffen. „Mormonismus“ hingegen stellt klar heraus,
dass wir selbst durch unser Tun und Lassen entscheiden ob wir dies- und
jenseits mehr Freude erfahren werden.
Ein Geistlicher, am Bäffchen erkennbar sagte
mir ins Gesicht: „Hätte ich eine kleine Bombe, ich würde sie hier am
Tempel hinlegen.“
Kurz darauf kam ein rötlichblonder Student,
der ebenfalls Gäste mit sich gebracht hatte. Heftig mit den Armen rudernd und
laut redete auf seine Gruppe ein: “Mormonen sind die Pest! Sie haben den
Uteindianern das Land Utah geraubt. In Kriegen haben sie gemordet und alles
verbrämt mit ihrer Heuchelei.”
Ich sah das zornige Funkeln in den grünen
Augen dieses weit über die geschichtlichen Tatsachen hinausschießenden
Gerechtigkeitsfanatikers und sprach den Mann an. Er fuhr mir über den Mund. Ob
das etwa nicht stimme. Ich erwiderte: “Es hat vielleicht
brunnenvergiftende Juden gegeben, aber man kann doch nicht sagen, die Juden
waren Brunnenvergifter. So nicht. Es hat Mormonen gegeben, die zur Flinte
gegriffen und aus welchen Gründen auch immer, Indianer erschossen und sogar
schweres Unrecht begangen haben. Sie sind von der Kirche ausgeschlossen worden.
Ich weiß nicht wie ich gehandelt hätte, wäre meine sonst unbeschützte Familie
angegriffen worden. ” Er starrte mich hassvoll an und wies mich zurecht. Er
wüsste davon mehr als ich und zog seine Leute mit sich. Sie beachteten mich
nicht. Sie verschwanden in der Menge Menschen, die uns umgaben und von denen
wir uns lediglich durch das Namensschild am Revers unterschieden. Wir erlebten
es immer wieder, dass sich uns unbekannte Besucher in größerem Rahmen als
Erklärer versuchten. Ein Busfahrer, der zum dritten oder vierten Mal da war,
“erklärte” seinen Fahrgästen Haarsträubendes über uns.
Am Tag darauf, spät am Abend, als der
Besucherstrom erheblich nachgelassen hatte, kam Dietmar Hirsch, ein etwa
dreißigjähriger Zwickauer, auf mich zu und erzählte mir, dass er Zeuge einer
Diskussion zwischen einem Geistlichen und einem uns freundlich gesonnenen
SED-Mann geworden war. Vor dem Taufbecken habe sich ein Streitgespräch
entwickelt. Der Theologe meinte, das sei antiquiert, so hätten die Christen in
den ersten Jahrhunderten getauft. Nur die ältesten italienischen Basiliken und
Baptisterien wie San Giovanni in Fonte in Neapel oder das Baptisterium in
Ravenna wiesen noch solche Becken auf. Dort seien tatsächlich die Taufen durch
Untertauchen des Täuflings vorgenommen worden, aber mit dem Aufhören der
Erwachsenentaufe hätte man später auf den Bau von Baptisterien verzichtet.
Dietmar Hirsch konnte und wollte nicht verstehen, wie eine durch Christus
bestätigte oder von ihm eingesetzte Verordnung je unmodern werden könnte. Der
Theologe entrüstete sich. Da schaltete sich unerwartet ein Mann mit dem SED-Abzeichen
ein: “Herr Pastor, ich bin kein Mormone und will auch keiner werden,
und sie mögen glauben und denken, was sie wollen, aber wenn etwas überaltert
ist, dann ist es ihre evangelische Kirche. Sie hatten mehr als vierhundert
Jahre lang die Gelegenheit, die Welt zu verändern. Die katholische Kirche hatte
dazu fast zweitausend Jahre Zeit gehabt. Was haben sie nach vorne bewegt? Sehen
sie sich dagegen Geschichte und Organisation der Kirche Jesu Christi der
Heiligen der Letzten Tage an. Sachlich gesehen, ist den Großkirchen allein
aufgrund der vergleichsweisen schwach ausgebildeten und zudem erstarrten
Strukturen nicht zuzutrauen, dass sie den kommenden Herausforderungen, die der
Fortschritt eben mit sich bringt, gewachsen sein werden. Sie werden es erleben.
Was zu Martin Luthers Zeiten angemessen und ausreichend war, ist heute
unpassend. Die Mormonenkirche dagegen ist perfekt gegliedert und auf Mitarbeit
sozusagen sämtlicher ihr angehörenden Menschen zugeschnitten, und was noch
wichtiger ist, sie hat die dazu passende Lehre, - eine Soziallehre von Rang.” Ihm
sei klar, vorausgesetzt es gibt einen Gott, dass Mormonismus die Religion der
Zukunft sein wird.
Daraufhin habe sein nun völlig verärgerter
Gesprächspartner spitz zurückgefragt, woher er das wisse. “Das will ich
Ihnen gern sagen, mein Herr. Als die Entscheidung darüber anstand, ob das
Zentralkomitee der SED der Errichtung eines solchen Gemeindezentrums zustimmen
sollte oder nicht, habe ich im Auftrage der Regierung der DDR meine
Diplomarbeit über Lehre und Organisation dieser Kirche geschrieben.”
Damit endete das Gespräch. Der Unterschied
zwischen beiden Männern bestand darin, dass nur einer urteilsfähig war.
Nach sechs Stunden pausenlosen Sprechens
fühlte ich mich regelmäßig ausgelaugt. Mein Freund Wolfgang Zwirner aus
Dresden, ein Unibliothekar, war in der Lage, zehn Stunden zu reden. Die
häufigst gestellte Frage lautete: Was unterscheidet Ihre Kirche von den
anderen? Wie kann man darauf in drei Sätzen antworten? Ich sagte es immer
wieder: “Wir sind einhundertprozentig eine Laienkirche! Und: Wenn wir
denn überhaupt ein Symbol haben, ist es nicht das Kreuz, sondern der
Bienenkorb!”
An einem Sonnentag, wenige Monate nach der
Zeit des “Offenen Hauses”, sah ich einen gut angezogenen, nachdenklich vor sich
hin sinnenden Mann auf dem Freiberger Tempelplatz. Er saß auf einer der
verstreut aufgestellten Bänke im Grünen. Ich ging auf ihn zu, grüßte ihn. Er
mochte um die Fünfzig gewesen sein. Er schaute mich sonderbar an und blickte
auf meine Trippel-kombination: Buch Mormon, Lehre und Bündnisse, Köstliche
Perle, unsere Zusatzschriften kanonischen Charakters. Ich spürte die
Ablehnung, hatte aber das Gefühl, dass ich ihn ansprechen sollte, ob er eine
Frage hätte. Kühl und entschieden erwiderte er: “Nein!” Er
schaute mich nochmals an: “Alles, was ich zu Ihrem Thema zu fragen hatte,
ist bereits beantwortet worden.” Ich wusste, dass etwas nicht stimmte. Was
sollte ich machen? Er wünschte, nicht behelligt zu werden. Es störte mich nur,
dass da ein Mensch war, der unbefriedigt und mit den von mir vermuteten
Vorurteilen weggehen würde. Doch ich hatte kein Mittel. Nach
einer knappen halben Stunde, als ich zurückkam, saß der Mann immer noch
da. Ich nahm allen Mut zusammen, entschuldigte mich und bat
ihn, mir nicht übel zu nehmen, dass ich ihn nochmals anzusprechen wage. „Ich
habe ihnen doch gesagt, dass ich bestens informiert bin.” Mir war
klar, dass er nicht aus der Quelle getrunken haben konnte. Ich wandte mich ab
und ging davon. Nach einigen Minuten wagte ich einen dritten
Versuch und bat ihn, mir zu erlauben, ihm drei Sätze aus den
Offenbarungsbüchern des Propheten Joseph Smith vorzulesen. Etwas
gequält erwiderte der Nachdenkliche: „Aber bitte nur drei Sätze.” Ich
schlug Lehre und Bündnisse auf, Abschnitt 88, Vers 67: “Wenn euer Auge
nur auf die Herrlichkeit Gottesausgerichtet ist, so wird euer ganzer Körper mit
Licht erfüllt werden und es wird in euch keine Finsternis sein; und wer ganz
mit Licht erfüllt ist, begreift alle Dinge. Darum heiligt euch, damit euer Sinn
nur auf Gott gerichtet ist, dann werden die Tage kommen da ihr ihn sehen werdet
...” … „Noch einmal bitte!” Verdutzt
schaute er weit an mir vorbei. Ich las es noch einmal. Er verbarg seine
Überraschung nicht. Nun wirklich interessiert forderte er: “Den
anderen Vers, bitte.” … „Lasst niemanden euer Lehrer oder geistlicher Diener
sein, außer es sei ein Mann Gottes, der auf seinen Pfaden wandelt und seine
Gebote hält.”… „Aus welchem Buch haben Sie nun vorgelesen?”… „Aus dem
Buch Mormon Mosia 23 Vers 14.” Er erhob sich, schaute mir eine Weile
ins Gesicht. Wenn ich darin richtig las, dann teilte er mir wortlos mit: Das
ist ja unglaublich. In der Tat, das damit vorgetragene Prinzip war
revolutionär. Alle Kirchen sähen besser aus, sie würden sich zu Vergleichbarem
bekennen. Er forschte mich nun ungeniert aus, aber es war mir nicht unangenehm.
Wahrscheinlich fragte er sich, wer ich sein mochte. Ich bemerkte,
dass sein Blick sich wieder meinem schwarzen Ledereinband zuwandte, während ich
Teil drei zitierte „Die Rechte des Priestertums sind untrennbar mit den
Himmelskräften verbunden und können nur nach den Grundsätzen der
Rechtschaffenheit beherrscht und gebraucht werden….doch wenn wir versuchen
unsere Sünden zu verdecken oder unseren Stolz und eitlen Ehrgeiz zu
befriedigen, oder wenn wir auch nur im geringsten Maß von Unrecht irgendwelche
Gewalt, Herrschaft oder Nötigung auf die Seele der Menschenkinder ausüben –
siehe dann ziehen sich die Himmel zurück, der Geist des Herrn ist betrübt, und
wenn er weggenommen wird, dann ist es mit dem Priestertum oder der Vollmacht
des Betreffenden zu Ende.” Er nahm mir meine Kombination mit einem
Ruck weg, und las es selbst. Sein Kopf kam wieder hoch. Er
dachte eine Weile nach. Tief durchatmend schloss der aufmerksame Besucher mit
der Bemerkung: „Ich werde mich von meiner Informationsquelle abwenden!” Das
klang wie das Zerreißen von festem Papier. „Tun Sie das, mein Herr. Ich
danke ihnen, dass Sie mir zugehört haben.” … „Ich danke Ihnen!” Leider habe
ich nie wieder von ihm gehört. Aber dieser Tag kommt noch…und sei es in der
Ewigkeit. Das Letzte was er sagte: Er sei Hochschullehrer in Köln.
Erfahrungen von Wert
Im darauffolgenden Sommer zelteten die Kampfschwimmer auf einer Halbinsel des Sees. Sie übten das spurlose Tauchen mit speziellen Atemgeräten, denn ihr eventueller Kampfauftrag könnte eines Tages lauten: In Kiel sind zwei Kreuzer der Bundeswehr zu versenken!
Foto Flickr„Natürlich doch! Du glaubst an Karl Marx, an
Wladimir Iljitsch Lenin.” Seine Genossen lachten. Er
stimmte mit einem konzilianten Lächeln und einem durch die Zähne gezischten „teils,
teils” zu. Aber er würde seine “Götter” wenigstens nicht
anbeten. „Weißt, Du,” erwiderte ich, „ich habe Männer
erlebt, die auf Knien vor einer Schönheit lagen und unentwegt bettelten erhört
zu werden.”
Wieder lachten sie.
Das übliche Hin und Her kam auf. Da hoben sie
aber alle die Köpfe, als sie hörten ich sei Mormone. Nach der Errichtung des
Freiberger Tempels gab es in der DDR kaum noch Menschen, die mit diesem
exotisch anmutenden Begriff gar nichts anzufangen wussten. Zwar war keiner von
ihnen auf dem Gelände des der Öffentlichkeit zugänglichen Gebäudekomplexes
gewesen, doch sie waren einigermaßen im Bilde. Nun sollte ich nur noch schnell
antworten, was die Basis und was der Kern meines Glaubens ist. Die Begegnung
mit mir wäre, wenn ich schnell geantwortet hätte, für sie nur eine kleine
Episode unter vielen gewesen. Sie hätten es abgehakt wie einen Rechenvorgang.
Ich wollte nicht zulassen, abgehakt zu werden. Ich dachte, wenn ihr wüsstet,
wie ungeheuer breit der Strom Mormonismus ist, wie tief er geht. Ihr ahnt es
nicht. Aber ihr sollt ihn noch zu spüren bekommen, angenehm wie Wärme und
kraftvoll wie Wasser, das in einen trockenen Holzkeil eindringt, dessen
osmotische Kräfte imstande sind, Felsen zu zerreißen. Mit ihm ist es wie mit
dem Golfstrom, der weltverändernd durch den Atlantik fließt. Ich fragte den
Chef der Truppe, ob er der Meinung sei, ich könne ihm in fünf Minuten eine
ganze Weltanschauung unterbreiten. „Gut, morgen nehme ich mir zehn
Minuten Zeit, mehr brauchen wir wirklich nicht.”
Der nächste Morgen kam. Ich sah sie
schon von weitem, mit ihren schwarzen Schutzanzügen, auf dem “Rhäser Eck”
stehen. Wir halfen ihnen, die Geräte auf den Kutter zu laden und binnen
Sekunden fand ich mich wieder von lauter fröhlichen Gesichtern umringt, acht an
der Zahl. Wir standen auf den federnden Schweffbrettern, die als Abdeckung über
den großen Wasserkammern lagen. Wir sollten sie bis zur gut zwei Kilometer
entfernten Fischerinsel mitnehmen. Sie würden zurückschwimmen. Das waren knapp
fünfzehn Minuten, die sie mir gaben. Sie waren gespannt, wie ich auf die
Argumente eingehen würde, die mir ihr Chef blitzschnell um die Ohren schlagen
würde. „Otschen karascho!” hob Manfred an. „Wir haben schon
die ersten Schritte erlernt, den Menschen in vitro hervorzubringen, bald können
wir noch mehr. Wo ist da noch Platz für Gott?”
Mir fiel ein, ihn zu fragen, was der Mensch
denn dann sei, falls er noch ein paar Schritte weiter kommt und in der Retorte
aus anorganischer Materie Leben zu schaffen vermag. Er schaute mich verdutzt
an. Seine Freunde lachten schon, bloß er begriff es nicht. Ein kleinerer,
untersetzter Mann dolmetschte: „Manfred! die Frage des Fischers lautet: Gibt
es keinen Schöpfergott, weil da Schöpfergötter sind?” Manfred blieb an
Bord, bei mir, während seine Männer ins Wasser sprangen und unter der
Wasseroberfläche, von ihrem kleinen Kompass geleitet, in Richtung Zeltlager
zurückschwammen.
Meine Kollegen hoben und entleerten in der
Zwischenzeit die Reusen auf der Lieps, während wir uns unterhielten. Ich
steuerte dabei zeitweise das Motorboot und machte mich nützlich. Manfred hatte
sich längst des schwarzen Taucheranzuges entledigt und saß in seiner Badehose,
mit einem Hemd bekleidet in der Sonne. „Nun erzähl mir mal, wie’s kam,
dass Du so quer zu uns stehst.” Für ihn sei interessant zu hören, wann
und warum ausgerechnet ich unter so vielen Normalen ausgeschert bin.
Als ich ihm Teile der Joseph- Smith-Geschichte
erzählte, wog er den Kopf. Er lachte aber nicht. Da war auch nichts zu lachen.
Auch wenn er nicht alles verstünde, was ich als glaubwürdig angenommen hätte,
er sagte, es sei ihm sonderbarerweise nicht unangenehm. Nur, ich käme ihm vor
wie ein Lindenbaum der mitten in einer Pappelallee dasteht.
Dann erzählte er von sich selber. Es gab in
seinem Leben nie einen Anlass außer der Reihe zu tanzen. Sein Kurs sei klar,
sein Lebensweg war bisher geradlinig verlaufen. Abitur, Studium der Medizin,
Mitglied der SED. Militärakademie. Ein Arbeiterkind. Natürlich, es hat alles
mit unserer Herkunft zu tun, gab ich zu: „Aber mir war es nicht
vorausbestimmt, den Ansichten meines Vaters folgen zu müssen. Wer hätte mich
hindern wollen, für immer den Kurs zu wechseln?”
Es sei eine lebenslängliche
Auseinandersetzung, ein nicht einfacher Prozess der Wahrheitsaneignung gewesen,
versuchte ich zu erklären. „Nachdem ich mich in meinem fünfzehnten
Lebensjahr mit zwei Fragen konfrontiert sah, bahnten mir die möglichen
Antworten ihren Weg wie von allein. Die erste Anfrage war an meine
nationalsozialistischen Vorgesetzten gerichtet und spätere an einige SED-Genossen.
Sie lautete: ‘warum habt Ihr versucht, zuerst Euch selbst und dann mich zu
täuschen?’ Meine zweite Frage stellte sich mir aus der ersten: warum gerade die
Menschen, die mir bewiesen hatten, wie leicht sie sich täuschen ließen, so
energisch vertraten, dass Joseph Smith ein Lügner war.”
Seine mausgrauen Augen musterten mich, während
ich bemüht war herauszustellen, dass ich nie ein Sonderling sein wollte: „Ich
habe nichts anderes gesehen und gewünscht als Du, Manfred. Mit der
Einschränkung, dass ich Ursache hatte, anders als du nach Gott zu suchen und
ich habe nicht nur gesucht, sondern gefunden.”
Er brachte, wie das bei solchen Gesprächen
fast immer üblich war die Evolutionslehre ins Spiel. Ich hatte gerade “Das
Ur-Gen” von Nobelpreisträger M. Eigen gelesen: „Eigen spricht von der
gezielten, der ‘gerichteten’ Evolution. Das muss man sich auf der Zunge
zergehen lassen, dass gerichtete Evolution etwas anderes ist als die Evolution
schlechthin. Wer hat sie denn ausgerichtet? Das ist doch die große Frage!”
„Glaubst du denn an die Evolutionslehre und an
Gott?”
„Ja, jedenfalls selbst Darin sagte: „Ich
habe niemals die Existenz Gottes verneint. Ich glaube, dass die
Entwicklungstheorie absolut versöhnlich ist mit dem Glauben an Gott.“ Hirtenbriefe
Bistum Bamberg
Wir sind Kinder Gottes und Kinder der Erde.
Nur wenn wir diese beiden einfachen Tatsachen zugleich im Auge haben, dann
minimieren sich die Widersprüche, die zwischen den unterschiedlichen
Grundaussagen bestehen. Die materiellen Körper von Pflanzen, Tieren und
Menschen entstanden schrittweise, im Rahmen der gottgewollten Evolution. (Und
vielleicht, vielleicht entstanden sie sogar mit unserer persönlichen Mithilfe,
unter der Anleitung des ewigen Gottes.) Sobald die menschlichen Körper dem
Vorbild entsprachen, begann die Kette der Inkarnation unserer Seele, - unseres
Geistes, - dieser Geist ist aber auf keinen Fall das Ergebnis von Evolution!”
„Aber wer kann das wirklich glauben?” rief
er aus.
Ich räumte ein, trotz bester Anleitung und
Belehrung auch erst verhältnismäßig spät erkannt zu haben, dass Gott
ausschließlich per Gesetz arbeitet und dass sein Gesetz mit dem Naturgesetz
identisch ist.
„Dann wäre Deiner Meinung nach Evolution
lediglich eine Arbeitsmethode Gottes!” folgerte er. „Ja! - Aber
vergiss bitte nicht, dass für einen Mormonen gilt, dass der Mensch Geist ist!
Und in der Präexistenz gab es keinen Kampf ums Dasein. Es gibt unterschiedliche
Definitionen für den Begriff Mensch. Das hat schon eine Menge Verwirrung
gestiftet. Für Dich, Manfred, gilt, dass der Körper der Mensch ist, für uns
Mormonen ist dieser Körper nur das Haus, ein Zelt, eine Hütte, höchstens noch
ein Tempel. Für uns ist 'der Mensch' das Unsterbliche in ihm. Wir haben also
eine Bezeichnung für den Inhalt, die ihr Materialisten nur dem Gefäß gebt.”
Er war tolerant genug, mich gewähren zu lassen und so fuhr ich fort. Ihn und
mich fragte ich, ob wir denn alle miteinander blind sind, solche technische
Genauigkeit und Muster an Schönheit und perfekten Handlungsweisen in jedem
einzelnen der vielen hunderttausenden Geschöpfe unterschiedlichster Art eher
dem Zufall und nur den Prinzipien der Auslese zuzuschreiben, als sie voller Ehrfurcht
und Dankbarkeit einer planenden Gottheit anzurechnen. „So viele Zufälle
zusammengenommen gibt es nicht!”
Mit absoluter Präzision errichtet die Biene
aus dem Wachs, das ihr Körper nur bei fünfunddreißig Grad Celsius ausschwitzen
kann, ganze Zimmerfluchten. Jeder Bau- und Maschineningenieur würde erblassen,
wenn er ohne Hilfsmittel, dazu noch in der Nacht, vor einem ähnlichen
Unterfangen stünde. Mit der Mikrometerschraube kann man die Räume, die eine
x-beliebige Arbeiterin baut, prüfen und wird feststellen, dass nicht nur die
Sechsecke haargenau stimmen, sondern dass die Dicke jeder Zellwand der
Normalbiene dreiundsiebzig Tausendstelmillimeter beträgt, während die Wand
einer Drohnenzelle vierundneunzig Tausendstelmillimeter zu messen hat. Beide
mit einer Abweichung von maximal zwei Tausendstelmillimeter. „Das
wurde so festgelegt. Aber was für eine Glanzleistung ist es, solche
Instinkthandlung als höchst komplizierte Software im Hirn einer Biene zu
installieren, geschweige denn sie erst niederzuschreiben.”
Die großartige Häuserbauerin wird, nach dem
zwanzigsten Lebenstag Sammlerin. Vorher aber musste das Programm 'Bauen' ebenso
wie zuvor das Programm 'Pflegen' definitiv gelöscht und das neue aufgerufen
werden. Keine andere Biene hätte sie lehren können, was sie tun muss, wenn sie
eine reiche Nektarquelle findet, dass sie nach der Heimkehr im Stock genau so,
und nicht anders zu tanzen hat und wie sie den Rund- und Schwänzeltanz einer
anderen lesen und verstehen kann, um die Information: Ein Rapsfeld in fünfhundert
Meter Entfernung in fünfundvierzig Grad Abweichung von der Sonnenrichtung
horizontal rechts umzusetzen.
„Natürlich kann man den 'Programmierer' Gott
hinwegdeuten und auf millionenlange Entwicklungsjahre verweisen. Nur, meinen
Kopf hat das ganze schlaue Gerede nie überzeugen können. Selbstverständlich gab
es vor Jahrmillionen schon Foraminiferen und andere Wurzelfüßer als Vorstufen
für höhere Lebewesen, aber es gibt sie auch heute noch, auf den Punkt dieselben
Foraminiferen. Gott baut eben jedes Neue auf der Basis des Alten. So ist es
auch in seiner Philosophie.“
Alles Neue, wenn es siegreich sein will, kann
nur auf dem Grund der bewährten alten Wahrheit stehen. So hängt die ganze Welt
zusammen. Alles Leben ist untereinander verwandt. Es hat einen gemeinsamen
Vater.
„Meiner Meinung nach wäre es dennoch eine
Katastrophe, wenn wir auf wissenschaftlichem Weg Beweise für die Existenz eines
allmächtigen Schöpfers fänden!”
Er schüttelte sich plötzlich. Das Letzte hätte
ich nicht sagen dürfen. Jetzt bräche ich die Logik übers Knie. „Keineswegs!
Du kennst sie doch auch, unsere persönlichen Schwächen und Vorlieben, mit dem
Strom zu schwimmen und fein säuberlich aufzupassen, ob sie alle mit uns sind.
Es gibt genügend Leute, die Tag und Nacht nicht zur Ruhe kommen können, bevor
der letzte Widerständler nicht zu Kreuz gekrochen ist. Fanatiker werden uns
anklagen, falls wir einen offensichtlichen Fehler begehen. Ihr habt auf der Linie
zu gehen!” Dafür standen mir deutlich ein paar passende Beispiele vor
Augen.
Einmal, an einem Elternabend, hatte ich
während Hartmuts Schulzeit fast mit Schulterschluss neben einem Offizier der
NVA gesessen. Es ging um Fragen der Berufsausbildung, darum, dass Erich
Honecker und die SED darauf bestanden, dass wir mehr Klempner und
Heizungsmonteure benötigten. Zufällig wollte niemand aus der "9 R"
eine der erwähnten Ausbildungslaufbahnen einschlagen. Ich sah wie der
linientreue Mann zu zittern anfing. Er bebte vor Empörung.
Das war es, was ich meinte. Gnade dem, der es
wagen würde, sich dem Gebot des Höchsten zu widersetzen, wenn unverrückbar
feststünde, dass es sein Gebot ist. Wir hätten in den meisten unserer Nachbarn
scharfäugige Inquisitoren, die jeden kleinen Irrtum, in den wir fallen könnten,
verfolgen würden. Wir wären, wenn wir endgültig von Gott wüssten, außer unserem
dadurch um ein vielfaches verschärftes, eigenes Gewissen der erbarmungslosen
Kritik derer ausgesetzt, die sich gar nicht tief genug unter den Pantoffel
eines Diktators bücken können. Dann aber lohnte es sich nicht mehr zu leben. Zum
Glück sei Gott kein diktatorischer Regent. „Er lässt uns Spielraum.”
Woher ich das wüsste. „Wäre Gott ein Diktator, hätte er uns längst
unterworfen.” Alle Akteure, ob sie sichtbar oder noch unsichtbar sind,
ziehen ihre Spuren hinter sich her. Ich habe immer nur gefunden, dass wir
völlig frei entscheiden können und genau das ist, für mich, seine Absicht. Er
will uns auf ein höheres Niveau heben, aber nicht dahin prügeln.
Wir legten eine längere Pause ein. Ich dachte
schon, Manfred wünsche das Thema nicht noch einmal aufzugreifen. Wir glitten
über das sich leicht aufrauende Wasser der Lieps. Von Süden wehte ein
angenehmer Wind. „So weit so gut.” befand Manfred unvermutet, nur
passe meine Theorie überhaupt nicht zur christlichen Praxis. Die Spuren im Sand
der Geschichte die er gesehen hätte, zeigten ihm nur das Elend und die
Millionen Leichen der im Namen des Kreuzes Christi ermordeten
Menschen: „Wo hat das Christentum jemals Gutes ausgerichtet?”
Damit kam er genau auf mein Hauptthema zu sprechen… Der Rest des Tages verging
uns im Nu. Ich hielt nach meinen rudernden Kollegen Ausschau. Sie hoben die
letzte Reuse. Ich sah die Menge zappelnder Fische, die sie ins Schweff
schütteten, und meine Gedanken schweiften zurück. Wir fuhren gemächlich zurück,
redeten noch, drehten mit unserem wellenaufwerfenden Stahlkutter noch eine
zusätzliche Runde auf dem Tollensesee. Die Sonne stand bereits im
Westsüdwesten. Meine beiden Kollegen schliefen, erschöpft nach der
anstrengenden Tagesarbeit. Sie lagen lang ausgestreckt auf den Brettern der
großen Schweffdeckel. Manfred machte sich fertig für den Landgang, schüttelte
zum Abschied meine Hand. Er schaute mich sehr freundlich an: „Ich hätte
nicht geglaubt, dass es solche Sichtweise gibt! Aber es hat mir großen Spaß
gemacht. Es war schön gewesen mit Dir.” Er schüttelte den Kopf und
lachte: „So positiv!” So gingen wir als Freunde auseinander.
Im darauffolgenden Sommer 1988 war er zu
meinem Bedauern nicht mehr dabei. Die Kampfschwimmer als sie uns sahen, kamen
mit ihrem Hochgeschwindigkeitsboot zu uns heran. Ich fragte mich was dieses
Tempo bedeuten soll. Ist es ein böses Omen?
Sie stoppten abrupt. Drei Mann
sprangen sofort herüber und … wie aus der Pistole geschossen kam die
Frage: „Was hat du mit Manfred gemacht?“
Sie lachten danach, zu meiner Erleichterung. In Berlin sei er von einer Bibliothek in die
andere gerannt und hätte, wie ein Besessener, Artikel und Bücher zum Thema
„Mormonen“ gelesen. „Armer Manfred!“ dachte ich. Er hat in
einem übelriechenden Abfallhaufen nach Verwertbarem gesucht. Er
wäre vom Ausflug mit mir mit den Worten zurückgekommen: „Seine Philosophie
ist runder als meine. Wer hätte das gedacht?“ Mit einem Stock hätte er
immer wieder ins Biwakfeuer gestoßen: „Ds hätte ich nie für möglich
gehalten!“
Schade, dass ich nie wieder von ihm, dem Opfer
frommer Verleumder, hörte. Unwillkürlich musste ich an den Kölner
Hochschullehrer denken, der nur wenige Monate zuvor schwor: „Ich werde
mich von meiner Quelle abwenden.“
Baptistenseminar
Wenig später wurden Bruder Bernd Schröder,
Berlin, Gemeinde Friedrichshain und ich eingeladen in Märkisch Buchholz vor
angehenden Baptistenpredigern einen Vortrag zum Thema “Mormonen” zu halten. Der
Griechischprofessor gewährte uns viel Zeit und stellte die üblichen Fragen. Zum
freundlichen Abschied übergab er uns die Theologische Literaturzeitung Nr. 2,
Februar 1984.
Darin stand vornan der Aufsatz “Joseph
Smith und die Bibel”.
Ein evangelischer Bibelexeget von Rang und
Namen ahmte Professor Räisänen, Helsinki, Finnland nicht seine Kollegen nach,
die voneinander abschrieben, er hatte sich an der Quelle bedient und
unverdorbenes Wasser gefunden.
Autor Räisänen führt aus, dass Joseph Smith
den Wortlaut der Bibel zwar partiell verändert habe, aber nicht aus dem Grund,
die Texte für seine Zwecke zurechtbiegen zu wollen, was ihm häufig von
selbsternannten Experten unterstellt wurde.
Räisänen lobt Joseph Smith, den jungen
Propheten der nur wenige Tage seiner Zeit zur Schule ging. „... Bei der
Umgestaltung des Passus Römer 7,25 bringt Joseph Smith ein erstaunliches Maß an
Scharfsinn auf; mehrfach entsprechen seine Beobachtungen im Großen denen
moderner Exegeten ... der Versschluss, der vom Dienst am Gesetz der Sünde mit
dem Fleisch redet - ein Stein des Anstoßes auch für die moderne Exegese - fällt
bei J. Smith aus! ... als ein weiteres kleines Beispiel dafür, wie Joseph Smith
nicht ohne einen gewissen Erfolg versucht hat, einen dunklen Gedankengang
zurechtzurücken, sei seine Behandlung von Römer 3,1-8 erwähnt. C. H. DODD
bezeichnet die Paulusargumentation als “dunkel und schwach”. Die logische
Antwort - vor der Paulus zurückschrickt - auf die Frage nach dem Vorzug der
Juden (Römer 3,1) wäre gewesen: 'Gar nichts!' Dass Paulus hier seine eigene
Logik durchkreuzt, scheint J. Smith ebenfalls empfunden zu haben. Er bringt die Antwort zur Übereinstimmung
mit 2: 29: 'But he who is a Jew from the heart, I say hath much every way ...'”
Seitenlang nimmt Räisänen Aussagen Joseph
Smiths unter die Lupe: „Zusammenfassend lässt sich feststellen”, so
der anerkannte Exeget: „dass Joseph Smith durchgehend echte Probleme
erkannt und sich darüber Gedanken gemacht hat ... wie durch ein
Vergrößerungsglas lassen sich hier auch die Mechanismen studieren, die in aller
apologetischen Schriftauslegung am Werke sind; die zahlreiche Parallelen zum
heutigen Fundamentalismus aber auch zur raffinierten Apologetik etwa der
Kirchenväter sind hochinteressant ...” Räisänen sagt, dass moderne
großkirchliche Exegese durchaus die Frage zulässt ob der Urtext richtig
überliefert worden sei. Er schließt nach weiteren Darlegungen mit folgenden,
beachtenswerten Worten: „Mit diesen Beispielen aus den Werken Joseph
Smiths, sowie aus der neueren Literatur über den Mormonismus hoffe ich
hinreichend angedeutet zu haben, dass eine ernsthafte Beschäftigung mit diesen
Werken eine lohnende Aufgabe, nicht nur für den Symboliker und den
Religionswissenschaftler, sondern auch für den Exegeten und den Systematiker
darstellt ...” Dass Außenseiter so positiv über Joseph Smith redeten
war enorm selten. Es bewegte uns sehr.
Bernd Schröder und ich wurden in der Wendezeit
abermals eingeladen zu den Studenten zu sprechen. Wir wurden nicht mehr
beaufsichtigt, sondern durften frei sprechen was immer wir wollten. So wählten
wir das uns besonders am Herzen liegende Thema “Abfall und Wiederherstellung.”
„Da sind unübersehbare Identitäten in Lehre
und der Praxis zwischen der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage
und der Urkirche“, sagte ich, mit Rückblick auf
Origenes, den Haupttheologen der Kirche um das Jahr 220, der damals als
Schiedsrichter angerufen wurde, wenn in den Gemeinden Lehrdifferenzen
auftraten. Selbst diejenigen die Origenes Autorität in Frage stellen, geben zu,
dass Origenes fast ausnahmslos erfolgreich, weil überzeugend schlichten konnte.
Was er darlegte das galt als Apostellehre. Später fasste ich den Inhalt
zusammen- Mit wenigen Sätzen international anerkannter Theologen lässt
sich jeweils beweisen, dass die Urkirche der ersten 250 Jahre völlig anders
war, als alle anderen im Jahr 1830. Sie steht da, als Gegenstück zu
christlichen Realitäten etwa der nachnicänischen Zeit. Zwei antike Kaiser –
Konstantin und Justinian, sowie ein Kaiserberater – Ambrosius von Mailand -,
sind die Hauptverantwortlichen für die Änderungen und die Radikalisierung der
Kirche samt dem negativen Paradigmenwechsel.
Joseph Smith hat nicht „irgendetwas“
restauriert und rekonstruiert, sondern das Bild, sowie die Basislehren der
Urkirche: Das lässt sich leicht belegen. Aber ohne göttliche Führung wäre das
ebenso unmöglich gewesen, wie eine Rekonstruktion des ersten Autos der Welt
ohne Vorbild, durch einen Laien. „Als geradezu blasphemisch gilt in der
„nichtmormonischen“ Theologenwelt, Joseph Smith hätte sich verstiegen in der
Aussage „Gott war einst ein Mensch und der Mensch kann werden wie
Gott!“ Das Lexikon der Evangelischen Zentralstelle für
Weltanschauungsfragen schreibt: „Die Vorstellung, der zufolge (a) der Mensch
Gott werden kann bzw. (b) der biblische Gott sich aus einem Menschen
entwickelte, steht im diametralen Gegensatz zur biblischen Unterscheidung von
Schöpfer und Geschöpf.“ Andere großkirchliche Experten sagen es
ähnlich, aber wesentlich unfreundlicher. Joseph Smith hat jedoch nie gelehrt,
dass Elohim „der biblische Gott sich aus einem Menschen entwickelte.“ Denn
ER ist der Architekt des Weltalls. Vor ihm gab kein Universum wie wir es heute
verstehen. ER kann also nicht sterblicher Mensch gewesen sein, ehe er Gott
wurde. Dr. Lothar Gassmann von der Bibelgemeinde Pforzheim urteilte noch
schärfer ablehnend: „Dabei geht aus den Schriften der Mormonen ganz
eindeutig hervor, dass sie keine Christen, sondern Polytheisten sind (sie
glauben an viele Götter; Mormonen werden sich zur Götterstufe höherentwickeln;
die Götter seien höherentwickelte Menschen). Dies ist reiner Spiritismus und
Gotteslästerung!“ Aber!, kennt er dieses uralte urchristliche
Zitat?: „… in Jesus Christus ist der Weltgott ein Mensch geworden, um
die Menschen zu vergöttlichen.“ Anton
Grabner-Haider-Maier „Kulturgeschichte des frühen Christentums“ Vandenhoek
Ruprecht mit Bezug auf: „Irenäus Werke gegen die „falsche Gnosis“
Später sollte ein Papst formulieren: „...Neben
verschiedenen Briefen und einer Biographie über den Mönchsvater Antonius...
kennen wir vor allem das Werk „Über die Menschwerdung des Wortes“, das den Kern
seiner Inkarnationslehre beschreibt: Christus, das Göttliche Wort, „wurde
Mensch, damit wir vergöttlicht würden...“ Benedikt
XVI. Generalaudienz vom 20. Juni 2007
Nikolai Krokoch zitiert Tuomo Mannermaa der
darauf verweist, dass das Wort der Theosis (deificatio) öfters bei Luther
vorkommt als der Hauptbegriff seiner während der berühmten Heidelberger
Disputation (1518) formulierten Heilslehre nämlich die theologia crucis. „Wenn
in Luthers Epistelkommentaren und Weihnachtspredigten die inkarnatorische
Wahrheit auf besondere Weise zum Ausdruck kommt, dann meint er ähnlich wie die
orthodoxe Heilslehre die reale Teilhabe an der Gottheit Jesu. Wie das Wort
Gottes Fleisch geworden ist, so ist es gewiss notwendig, dass auch das Fleisch
Wort werde. Dann eben darum wird das Wort Fleisch, damit das
Fleisch Wort werde. Mit anderen Worten: Gott wird darum Mensch, damit der
Mensch Gott werde …” Tuomo Mannermaa “Luther und Theosis”,
Band 16 Veröffentlichungen der Luther-Akademie Ratzeburg, Helsinki/Erlangen
1990, S. 11: “Theosis als Thema der finnischen Lutherforschung…
„... Der Gedanke der Vergottung ist der letzte
und oberste gewesen; nach Theophilius, Irenaeus, Hippolit und Origenes findet
er sich bei allen Vätern der alten Kirche, bei Athanasius, bei den
Kappadoziern, Appolinares, Ephraim Syrus, Epiphanius u.a.“ A.
vom Harnack „Lehrbuch der Dogmengeschichte“ Mohr-Siebeck, 1990
„Erst in der Erwerbung der Tugend durch
eigenen Eifer erwirbt der Mensch die Ähnlichkeit Gottes. Unentbehrlich für das
Erreichen der Gottähnlichkeit ist also die Entscheidungsfreiheit.“ H.
Benjamins „Eingeordnete Freiheit; Freiheit und Vorsehung bei Origenes
Hier kommt die nächste Sonderlehre herauf:
Keine andere Kirche lehrte zur Zeit Joseph Smiths, dass es im vorirdischen
Dasein einen Kampf im Himmel gab, der sich um die Frage drehte, wie wir, wenn
wir in die Sterblichkeit fallen aus der diesem Tief heraus befreit werden
können. Luzifer - der Lichtträger- entwickelte die Idee, man könne die Menschen
zwingen nicht zu sündigen. Er wollte uns jenes Individualrecht - die
Entscheidungsfreiheit - nehmen, das Elohim allen gewährte, (Köstliche
Perle Moses 4) welches jedoch „unentbehrlich
für das Erreichen der Gottähnlichkeit ist.“ Da schließt sich der
Kreis: Unübertroffen formulierte Joseph, ausgerechnet als er in Ketten gebunden
im Libertygefängnis saß: „ „Die Rechte des Priestertums sind mit den Himmelskräften
verbunden und können nur nach den Grundsätzen der Rechtschaffenheit beherrscht
und gebraucht werden… wenn wir versuchen unsere Sünden zu verdecken oder
unseren Stolz und eitlen Ehrgeiz zu befriedigen, oder wenn wir auch nur im
geringsten Maß von Unrecht irgendwelche Gewalt, Herrschaft oder Nötigung
auf die Seele der Menschenkinder ausüben – siehe dann ziehen
sich die Himmel zurück, der Geist des Herrn ist betrübt, und wenn er
weggenommen wird, dann ist es mit dem Priestertum oder der Vollmacht des
Betreffenden zu Ende.” Lehre
und Bündnisse 121: 36-37
Zwangstaufen, Glaubenskriege, jede Art Diktat
durch Kirchenobere, jede Nötigung einer Menschenseele raubt dem Übertreter die
Legitimation. Ambrosius von Mailand stürzte die Freiheitsrechte als er das
Gesetz zum Glaubenszwang, „Cunctos populos“ zum Staatsgesetz erklären ließ.
Manchmal zweifeln selbst langjährige
Mitglieder ob der 6. Glaubensartikel den Joseph Smith verfasste korrekt
sei: „Wir glauben an die gleiche Organisation, wie sie in der Urkirche
bestanden hat…“ Ein katholischer Forscher stellte ungewollt die
Korrektheit dieser Behauptung fest: „Allgemein wurde bis vor Kurzem
angenommen, dass die Ämter in der Kirche erst mit Beginn des 3.
Jahrhunderts entstanden.“ Aber moderne Forschungsergebnisse widersprechen
nun massiv. Wörtlich: „Die Kirche der Ignatiusbriefe ist (um das
Jahr 100 n.Chr. G.Sk.) erstaunlich gut organisiert. Und hier liegt auch
eine der wichtigsten Ursachen, weshalb man die Echtheit der Ignatiusbriefen
bezweifelte. Man wollte einfach nicht glauben, dass die Kirche schon am Anfang
des 2 Jahrhunderts so gut ausgebildete, organisatorische Strukturen gehabt
hatte. Es gibt in der ignatianischen Kirche eine Hierarchie von drei Graden,
die vom Volk der einfachen Gläubigen klar unterschieden wird: Bischöfe,
Presbyter (Älteste und Priester G. Sk.) sowie Diakone. Sie
sind der Kern der Kirche, ohne sie kann von der Kirche keine Rede sein: Alle
sollen die Diakone achten wie Jesus Christus, ebenso den Bischof als Abbild des
Vaters... Aus dem angeführten Zitat geht klar hervor, dass die sichtbaren
Strukturen der Kirche ein Abbild der unsichtbaren Verhältnisse im Himmel sind.
Gott, dem Vater entspricht in der Ortskirche der Bischof. Er besitzt die ganze
Autorität und die mit ihr verbundenen Vollmachten...“ Stanisław
Łucarz, „Die Kirche als Gemeinschaft bei Ignatius von Antiochien”
1993
Andere Forschungsresultate bestätigen das
„Mormonische“ in der Urkirche: „... der Bischof leitet die Gemeinde. An
seiner Seite stehen zwei Ratgeber sowie das Ältestenkollegium... Wenn es
sich um eine auszuübende Kirchendisziplin handelte... so bildete der
Bischof mit dem Presbyterkollegium (Ältesten-kollegium) das Richterkollegium...
Der Bischof ist bei jeder Taufe, bei jedem Abendmahl und bei Ordinationen
anwesend... die Diakone besuchen jene Kranken und Alten die der Bischof
nicht erreichen kann, aber sie erstatten ihm einen Bericht.“ Jungklaus,
Full Text of: „Die Gemeinde Hippolyts dargestellt nach seiner
Kirchenordnung“...
Bis 1830, als die Kirche Jesu Christi der
Heiligen der Letzten Tage, mit dem Anspruch auftrat die „wiederhergestellte
Urkirche“ zu sein, existierten ausschließlich in ihren Reihen Bischofsgemeinden
derselben Struktur mit vergleichbarer Aufgabenverteilung. Es gab verschiedene
Grade des Priestertums
„Der Bischof bestimmte den in der Gemeinde zum
Presbyter, der sich nach seiner Ansicht für dies Amt eignete, und der ihm
gefiel.... Bei der Ordination von Diakonen durch den Bischof verspricht dieser,
wenn der Diakon tadellos gedient hat, kann er später „das erhöhte Priestertum“
empfangen...“ Jungklaus, Full Text of: „Die Gemeinde
Hippolyts dargestellt nach seiner Kirchenordnung“
Nur damals und dann wieder ab 1830 in der
Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage gab es ein niederes
Levitisches bzw. Aaronisches Priestertum, sowie das „Höhere“ das
Melchizedekische Priestertum wie es auch im Hebräerbrief Kapitel 7: 11-17 beschrieben
wird, das jeder würdige, rechtmäßig getaufte Mann, mittels Ordination durch
einen von Petrus Bevollmächtigten erlangen konnte. Extrem entgegengesetzt wurde
und wird, seitens der lutherisch orientierten Kirchen behauptet: „Alle
Christinnen und Christen sind Priester durch ihre Taufe.“ Die
EKD
Davon allerdings wissen die angeblichen
„Priester durch ihre Taufe“ nichts. Allerdings kennt die römisch-katholische
Kirche noch Abstufungen im Priestertum. Das wird deutlich, wenn es um die
Firmung geht: „Üblicherweise wird die Firmung von einem Bischof – als
Nachfolger der Apostel – gespendet. Wo dies nicht möglich ist, kann die Firmung
auch von einem Priester gespendet werden, allerdings bedarf es hierzu einer
gesonderten Beauftragung durch den Diözesanbischof.“ Der
Medienreferat der Österreichischen Bischofskonferenz
Alle Gemeindeämter waren ehrenamtlicher Art:
Niemand erhielt, in der Urkirche, jemals für
seinen Dienst an der Gemeinde eine Entschädigung. Folglich blieben selbst die
Bischöfe nach ihren Berufungen Berufstätige. Bekanntlich war Spiridon, noch
325, zugleich Bischof von Zypern, und Schafhirte. Um 220 beklagte Bischof
Hippolyt von Rom, dass die „schismatische“ Gemeinde der Theodotianer in
Rom, ihrem Bischof ein monatliches Gehalt zahlte. dies sei „eine gräuliche
Neuerung“ Jungklaus, Full Text of: „Die Gemeinde
Hippolyts dargestellt nach seiner Kirchenordnung“
Liturgische Gewandung gab es erst gegen Ende
des 6. Jahrhunderts: Sie gingen alle, wie die „Mormonen“, stets zivil
gekleidet: „Noch im Jahr 403 wurde es dem Patriarchen von Konstantinopel als
Eitelkeit ausgelegt, dass er sich beim Gottesdienst ein eigenes Festgewand
anlegen ließ... erst ab 589 gibt es liturgische Kleidungsstücke...“ Hertling,
„Geschichte der katholischen Kirche bis 1740“ S. 46
Taufen...wurden nur an denen vollzogen, die
zuvor belehrt wurden. „Nach Tertullian „(vgl. de bapt. 18)
ist (die Taufe) bis dahin (um 200) keine Taufe von
Säuglingen, sondern von reiferen Kindern oder Erwachsenen durch Untertauchung.
In der Frühzeit wurden nur Erwachsene getauft“ Anton
Grabner-Haider-Maier „Kulturgeschichte des frühen Christentums“
Kaiser Justinian erpresste zwischen 540 und
550 eine Reihe Änderungen, sowohl in der Kirchenpraxis, wie in den Bereichen
Theologie und Rechtsprechung. Er führte die Kindstaufe ein: „Justinian
ordnete 545 die Verfolgung nichtchristlicher Grammatiker, Rhetoren, Ärzte und
Juristen an... er ließ heidnische Bücher verbrennen. Die Kindstaufe wurde
zwangseingeführt, die Nichtbeachtung mit dem Verlust an Eigentum und
Bürgerrecht bestraft.“ Philipp Charwath
„Kirchengeschichte“
Und betreffs Abendmahl:
In den Versammlungsräumen befand sich, wie in
denen der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage, kein Altar. „Es
geht um das Sitzen um den Tisch. Wobei wieder deutlich wird, dass es in einer
christlichen Kirche eigentlich keinen Altar geben kann, sondern nur einen
Abendmahlstisch.“ K-P. Hertzsch, Evangelisches
„Theologisches Lexikon", Union –Verlag, Berlin, 1977
Die Abendmahlsgeräte waren schlicht.
Zeremonien gab es da wie hier nicht.
Kaiser Konstantin, „hat ... den Platz
(seiner letzten Ruhestätte in Konstantinopel) ausersehen...Konstantin hatte
vorgesehen, stellte einen Altar mitten hinein… Konstantin ordnete an, dass der
Wert der Gebete, die hier zu Ehren der Apostel gesprochen würden, auch ihm
zugutekommen.“ Hermann
Dörries „Das Selbstzeugnis
KaiserKonstantins" Das
Kreuz als christliches Symbol kam in den ersten 400 Jahren der
Kirchengeschichte nicht vor. „Mormonen“ lehnen das Kreuz als Zeichen des
Christentums ab. Den Katharern Bogumilen, und den Arianern galt das
Kreuzzeichen, nach Döllinger, als das Zeichen des Demiurgen! „... im
Jahr 431 (wurde) das Kreuz als zentrales christliches Symbol beim Konzil von
Ephesus eingeführt.“ Der "Evangelische
Kirchenbote..."
„Als allgemein verbreitetes und verwendetes
Symbol der Christen lässt sich das Kreuzzeichen erst in der Zeit der
Völkerwanderung nach 375 n. Chr. nachweisen.“ Bischöfliches
Ordinariat Regensburg, 2010
Christ Felix Minucius schrieb etwa im Jahr
200, was er davon hielt, das Kreuz, an dem Jesus starb, und das Kreuz der
Kaiser und ihrer Legionen miteinander in Verbindung zu bringen: „Kreuze
beten wir nicht an und wünschen sie nicht. Ihr allerdings, die ihr hölzerne
Götter weiht, betet vielleicht hölzerne Kreuze an als Bestandteil eurer Götter.
Was sind sie denn anderes, die militärischen Feldzeichen und Fahnen, als
vergoldete und gezierte Kreuze? Eure (!) Sieges- zeichen haben nicht bloß die
Gestalt eines einfachen Kreuzes, sondern sie erinnern auch an einen
Gekreuzigten... bei euren religiösen Gebräuchen kommt (das Kreuz) zur
Verwendung.“ Stemberger „2000 Jahre Christentum“
"Dialog Octavius"
„Dieses Zeichen wurde seit Generationen von
Kaisern im Feldlager beim Altar aufbewahrt. Frühestens 324, im Feldzug gegen
Licinius, könnte es vielleicht, verändert durch Hinzufügung des griechischen P
(Rho) als „Christus- monogramm” gedeutet worden sein. Ob es damals überhaupt
irgendeinen Bezug zum Christentum hatte, ist unsicher, denn zahlreiche
Untersuchungen belegen, dass das Chi Rho schon in jüdischen Schriften auftaucht
und die Bedeutung von ‚fertig’ oder ‚brauchbar’ hatte.“ Seeliger
„Die Verwendung des Christogramms durch Konstantin im Jahr 312“ -
Untersuchungen kath. theol. Universität Tübingen
Damit steht fest, dass Konstantin als er am
Vortag der „Schlacht an der milvischen Brücke“ im Oktober 312 in den Wolken,
wenn überhaupt, ein Kreuz sah, war es ein unchristliches Zeichen … das in etwa
trugen wir in der Runde der Theologiestudenten vor.
Bernd sagte hinterher, nachdem wir jedem
angehenden Baptistenprediger, männlich und weiblich, ein Buch Mormon geschenkt
hatten: „So viel Neues und so viel Lebendigkeit haben die Studenten hier
lange nicht gehört und erlebt.”
Amerikanische Missionare in der DDR
Die SED-Führung erlaubte ab März 1989, dass
die zwanzigjährigen DDR- Mormonen von der Kirche als Missionare berufen und
sogar ins “kapitalistische” Ausland auf Mission geschickt werden durften.
Einige der Berufenen kannte ich. Sie erhielten einen grünen Pass, wie ihn die
DDR-Diplomaten bekamen.
Kurz zuvor gestatteten sie die Arbeit
US-amerikanischer Mormonen-missionare in der DDR. Der Preis dafür war, zu
bekennen, dass wir Mormonen mit dem Sozialismus leben konnten.
Uns blieb ja ohnehin nichts weiter übrig, wir
mussten mit dem Sozialismus leben.
Natürlich mischten wir uns zu keiner Zeit
aggressiv in die DDR-Politik ein, weil der Bereich, in dem wir uns bemühten,
Menschen zusammenzubringen, „nicht von dieser Welt” war und ist. -
wie Jesus schon in einer Grundsatzbemerkung gegenüber Pilatus äußerte -
Joh. 18: 36
Der Verdacht unserer Kritiker, es sei ein
Staatsvertrag geschlossen worden, griff viel zu hoch. Praktisch konnte die
Kirche unter allen Bedingungen existieren, vielleicht sogar in der Illegalität.
Diese im Herbst 1988 gefassten
Politbürobeschlüsse passten nicht in mein Bilderbuch. Fühlten sich die
Sozialisten so stark oder schon zu schwach, um dem Begehren unserer
Führungsspitze noch länger zu widerstehen? War es die Altersschwäche der Greise
im Hause des Zentralkomitees der Partei, die sie so milde und unerwartet
nachsichtig machte? Oder wünschte Erich Honecker, über den Umweg der
Mormonenkirche eine Einladung in die USA zu erhalten?
Richtig ist, dass ihnen von uns keine
kriminell-politische Gefahr drohte.
War dies für sie eine Möglichkeit, einer stets
wachen Weltöffentlichkeit zu beweisen: Seht, wir sind nicht die Buhmänner, für
die ihr uns haltet? Niemals, auch das stand fest, würde sich das Mormonentum zu
einer Massenbewegung auswachsen. Dafür verlangt diese Kirche von ihren
Mitgliedern einfach zu viel Selbstverleugnung, zumindest aber einen hohen Grad
an Selbstdiziplinierung.
Die DDR-Politiker hatten die Resultate
gesehen. Das jedenfalls führte der stellvertretende Staatssekretär für
Kirchenfragen Herr Kalb anlässlich der Einweihungsfeierlichkeiten des
Freibergtempels deutlich aus.
Waren es diese Ergebnisse, die uns in den
letzten DDR-Jahren und Monaten praktisch einen Sonderstatus einbrachten?
Viele Details trugen dazu bei, bestehende
Spannungen abzubauen. Dazu gehörten die Konferenzen über Sicherheit und
Zusammenarbeit in Helsinki 1973 und 1975, der SALT II-Vertrag von Reykjavik von
1986 zu dessen Gelingen Präsident Reagan und Generalsekretär Gorbatschow mit
Hilfe ihrer Unterhändler beitrugen. Am 29. 06. 1988 las ich mit höchstem
Erstaunen Michael Gorbatschows Bekenntnis, das er als Generalsekretär der
Kommunistischen Partei Sowjetrusslands, auf der XIX. Unionsparteikonferenz der
KPdSU, am Vortag, in seinem umfangreichen Rechenschaftsbericht ablegte: „Eine
Schlüsselposition innerhalb des neuen Denkens nimmt die Konzeption der
Entscheidungsfreiheit ein... “ Neues Deutschland. 29. Juni 1988, S.
Das geistige Leben in der DDR war seit
Bekanntwerden der Gorbatschowideen anders. Die DDR-Führungsriege durfte nicht
dem derzeitigen Kopf der Kremlführung widersprechen, der mutig betonte, dass
dem Menschenrecht auf Entscheidungsfreiheit eine Schlüsselrolle im künftigen
Leben aller Völker zukommt.
Konsequenterweise schrieben im Oktober 1988
drei Repräsentanten meiner Kirche einen Brief an die DDR-Regierung
unterzeichnet von Henry Burkhardt (Präsident), Frank Apel (Pfahlpräsident),
Manfred Schütze (Pfahlpräsident). Darin heißt es u.a.: „Die Kirche Jesu
Christi der Heiligen der Letzten Tage insgesamt nutzt ihre ausgedehnten
internationalen Verbindungen, um konstruktiv auf der Grundlage der christlichen
Weltanschauung zur Verbesserung der Beziehungen der Völker untereinander
beizutragen. Sie unterstützt damit auch unsere Regierung bei ihrem Bemühen um
Koexistenz, Frieden und gute Nachbarschaft. Dieser Weg, von dem wir glauben,
dass er der Schlüssel zu einer glücklichen und friedlichen Zukunft der
Menschheit ist, verlangt aber auch immer wieder ein neues Bedenken der eigenen
Situation und der des Partners und daraus resultierend die Bereitschaft zum
gegenseitigen Gespräch, zum Gedankenaustausch und zur Zusammenarbeit.“
Der Personenkreis - der staatlicherseits
beauftragt wurde das „Mormonentum allgemein und speziell in der DDR“ zu
bewerten – konnte nicht umhin, anerkennen, dass in dieser Kirche
Entscheidungsfreiheit großgeschrieben wurde. Selbst die Stasioffiziere, die mit
diesem Thema befasst waren, vermuteten richtig. Unsere Aufgabe bestand in der
Hauptsache darin, an uns selbst zu unserer persönlichen Selbstvervollkommnung
zu arbeiten, gleichgültig wie weit wir damit kamen. Das ist ja das Geheimnis
des Buches Mormon, wenn Du es gründlich liest ermutigt es Dich ununterbrochen
das Richtige zu wählen und zu allen Menschen gut und ehrlich zu sein. Was uns
trennte, musste nicht wieder und wieder betont werden, das Gemeinsame sehr
wohl, der Wunsch nach Frieden und der Wohlfahrt aller.
Unmittelbar vor den Maiwahlen 89
Nicht wenige DDR-Bürger fühlten es, einige sagten es mir, dass die Mächtigen in der Honneckerregierung sich zum letzten Mal eines glatten “Sieges” erfreuen würden. Das war die Kehrseite der sanfter gewordenen Überwachungspolitik Wir lasen zwischen den Pressezeilen täglich die Wahrheit: Das Ulbricht-Erbe im kommunistischen System krankte sehr.
Andererseits war allein der vage Gedanke, dass
Moskau und die Altpolitikerriege in Wandlitz jemals ihre militärisch bestens
fundierte Macht freiwillig aufgeben würden für uns unvorstellbar.
Dennoch lag das Neue in der Frühlingsluft.
Viel mehr Menschen als je zuvor hatten Westverwandte besuchen dürfen und alle
kamen mit den Eindrücken zurück, die ein bunt schillerndes Schlaraffenland
einem Bewohner eines Grau-in-grau-Staates vermitteln musste. So geht es nicht
weiter, sagten die erschütterten Heimkehrer mehrheitlich. Es gab kaum noch
Schokoladen, kaum gute Bonbons, es mangelte mehr denn je an Effizienz der
Wirtschaft. Das Lebensmittelnormalangebot fanden wir im Wesentlichen nur noch
in den so genannten Delikatläden, während sich die Lücken in den HO-Kaufhallen,
auf jedem Regal breiter machten, - mit Ausnahme der Alkoholpalette. Peinlich
wirkte die westliche Perfektion, die allabendlich, ebenso wie Chinas
Studentenrevolte in die kleinste Stube hineinflimmerten. Egon Krenz hätte
damals nie nach Peking reisen dürfen, und wenn schon, dann hätte er danach
etwas Kluges sagen und tun müssen - oder schweigen. Aber er war auch nur einer
jener Leute, die meinten, ihr bloßes Wort könnte die Gesetze der Welt außer
Kraft setzen.
Ich irrte in Manchem. Fast bis zum Ende dieser
Entwicklung dachte ich, nur eine die ganze Menschheit vernichtende Feuersbrunst
könnte diesem Eispalast etwas anhaben. Während sein atemberaubend schnelles und
lautloses Zerbröseln bewies, wie schnell die Masse unter der Einwirkung des
Gorbatschowschen Tauwetters morsch geworden war. Wobei der Dauerfrost der
Stalindiktatur erst die Erschaffung dieses sehr künstlichen Apparates und
Staatsgebildes ermöglicht hatte. Die Sonne der Vernunft wollte sich
durchsetzen, ausgelöst durch ein paar Männer um Gorbatschow.
Mögen ihn andere deshalb verdammen, ich bin
überzeugt, er hoffte, was er tat würde nicht aus dem Ruder laufen. Immerhin
hatte er auf seine Weise Hand ans Allerheiligste der Diktatur legte,
indem er Unwahrheit und Willkür entmachtete. Alle Oststaatsmänner wussten es,
insbesondere die russischen. Fast überall logen die Statistiken und die
Menschen, die sie machten. Sie hatten weder die Kornmengen geerntet, noch die
zig Millionen Tonnen Baumwolle auf den Feldern der südlichen Unionsrepubliken,
wie gemeldet wurde – amerikanische Satelliten mit ihren Fehlfarbenkameras
bewiesen das -. Es muss sie erschüttert haben die Wirklichkeit sehen zu müssen.
Der Rest, ihr Untergang, war nur die Folge
davon.
In diesen Tagen
An jenem 30. Oktober 1989, als die Ost-CDU in Presseerklärungen bekannt gab, dass sie sich aus der SED-Vormundschaft lösen wolle, bin ich ihr demonstrativ beigetreten. Nicht weil ich es den “Genossen Kommunisten” nun aber „zeigen“ wollte, sondern mein Wunsch war beizutragen, dass wir durch beste Mittel und Schritt für Schritt behutsam, zu einer freiheitlich demokratischen Grundordnung gelangen. Mir war das C wichtig. Die christlichen Grundwerte sollten zu Grundwerten auch der Parteipolitik werden: Lauterkeit und Wohlwollen gegenüber allen. Das Ludwigshafener Grundsatzprogramm, dass die West- CDU sich 1978 gab sprachen für sich: „Der Mensch ist auf Zusammenleben mit anderen - vornehmlich in festen sozialen Lebensformen - angelegt. Sein Leben verkümmert, wenn er sich isoliert oder im Kollektiv untergeht. Sein Wesen erfüllt sich in der Zuwendung zum Mitmenschen, wie es dem christlichen Verständnis der Nächstenliebe entspricht. Mann und Frau sind gleichberechtigt und auf Partnerschaft angewiesen. Unterschiede der Meinungen und Interessen können zu Konflikten führen. Sie sollen offen und in gegenseitiger Achtung ausgetragen und dadurch fruchtbar gemacht werden. Im Streit um den besten Weg muss jeder seinen Standpunkt selbst verantworten. Kein Mensch verfügt über die absolute Wahrheit. Widerstand gilt daher denen, die ihre begrenzten Überzeugungen anderen aufzwingen wollen. Jeder Mensch ist Irrtum und Schuld ausgesetzt. Diese Einsicht bewahrt uns vor der Gefahr, Politik zu ideologisieren. Sie lässt uns den Menschen nüchtern sehen und gibt unserer Leidenschaft in der Politik das menschliche Maß…. Der Mensch ist frei. Als sittliches Wesen soll er ver nünftig und verantwortlich entscheiden und handeln können. Wer Freiheit für sich fordert, muss die Freiheit seines Mitmenschen anerkennen. Die Freiheit des anderen bedingt und begrenzt die eigene Freiheit. Freiheit umfasst Recht und Pflicht. Es ist Aufgabe der Politik, dem Menschen den notwendigen Frei- heitsraum zu sichern. Um sich frei entfalten zu können, muss der Mensch lernen, in Gemeinschaft mit anderen zu leben Wer sich von jeder mitmenschlichen Verpflichtung lösen und von jedem Verzicht befreit sein möchte, macht sein Leben nicht frei, sondern arm und einsam.“ (Ende der Zitate) Das waren Worte die aus dem Mund Josephs Smiths stammen könnten. Das war es was ich in vielen folgenden Reden beteuerte und was insbesondere den katholischen Anwesenden zusagte.
Ich bekenne freimütig, dass ich die lauten
Aufmärsche in Leipzig und andernorts, die sich gegen die SED richteten, von
Leuten getragen wurden, als verfrüht betrachtete. Noch herrschte DDR-Recht und
ließ Gewaltanwendung durch Staatsorgane zu. Das überschützte
ich. Meiner Meinung nach wurde allzu viel zu schnell eingefordert:
Reisefreiheit, Redefreiheit. Ich gehörte zu den Pessimisten. Ich gebe zu, mir
schien, dass wir bereits viel erreicht hatten. Wir älteren Mormonen genossen
die neue Religionsfreiheit seit 1985 zunehmend.
Auch deshalb marschierte ich zunächst nicht
mit. Ich dachte ohnehin das Schlimmste. Die Hauptbuchhalterin unserer
Fischereigenossenschaft Inge Schoemann, die zu den ersten Umstürzlern in
Neubrandenburg gehörte sagte ich: “Ihr reißt den ganzen Bau ein,
hoffentlich stürzen Euch die Balken nicht auf den Kopf.” Ich wurde
jedoch eines Besseren belehrt. Die Führer der Kommunisten ließen die Kanonen in
den Arsenalen.
Das hätte auch anders kommen können, wäre
Gorbatschow nicht gewesen. Wie nahe wir an einer Katastrophe vorbeigeschrammt
sind, werden wir wohl erst später wissen.
Dennoch muss ich sie loben: Die
bewundernswerten, evangelischen Frauen der Leipziger Nikolai-Kirche hatten
diesen Aufruhr in Gang gesetzt. Das müssen wir alle, die Demokratie lieben,
dankbar anerkennen. Ihr verwegener Mut, als erste offen demonstrierend auf die
Straße zu gehen, war der Beginn. Steinharte Männer die mir gegenüber wiederholt
wörtlich beteuert hatten linientreue Kommunisten zu sein und die noch vor Tagen
gewillt waren für die rote Fahne zu sterben, erwachten am 31. Oktober als
Demokraten. Wunder über Wunder passierten.
Aber reichte das schon aus, um von einer Wende
zum Guten reden zu können?
Ich sah diese Scharen von
Parteigruppenorganisatoren und Parteisekretäre der Betriebe durch den
Neubrandenburger Kulturpark zur Stadthalle eilen. Alle waren an jenem 30.
Oktober auf höchste erregt. Die Parole der kommenden zehn Tage bis zum neunten
November hieß für sie: Schadensbegrenzung. Doch da war nun umgehend nichts
mehr, zum Vorteil des kommunistischen Systems, zu retten. Die echten
Kommunisten hatten von Oktober 1949 bis Oktober 1989 hinreichend Zeit gehabt,
der Welt zu beweisen, dass ihr Staat der bessere deutsche sei.
Von der evangelischen Neubrandenburger St.
Johanniskirche aus zogen tausende Oppositionelle, nach Feierabend, durch die
Straßen der Innenstadt zum Karl-Marx-Platz. Sie gingen mutig unter rotbunten
Plakaten mit regimefeindlichen Sprüchen
Mitten durch das Gewühl dieser rebellierenden
Menschenmassen sah ich zwei unserer zwanzigjährigen Missionare schreiten, Elder
Craig und Elder Scofield. Beide gingen in hellen Mänteln, beide wie es mir
vorkam ziemlich unbeeindruckt von dem für uns gewaltigen Umschwung. Sie gaben
ihr Bestes und gewannen tatsächlich viele Herzen. Menschen die sich unserer
Kirche durch die Taufe durch untertauchen anschlossen. Aber, in turbulenten
Zeiten ist es selbst für die Keime der Eichenbäume schwierig schnell genug die
Wurzeln in die Tiefe zu schicken. Viele kamen sehr wenige blieben.
In meine Untersucherklasse in Neubrandenburg
kam irgendwann später auch ein ehemaliger Offizier der Nationalen Volksarmee
Bernd. Seine Frau Martina hatte sich zuvor der Kirche angeschlossen, worüber er
wenig erfreut war. Aber als er hörte die Gemeinde faste für die Gesundheit
seiner Tochter Helen, fasste er den Entschluss mitzukommen zur Kirche.
Ich lehrte Nephis Zeugnisse. Da kam mir der
Gedanke: Lade ihn ein am kommenden Sonntag das Thema zu 1. Nephi 13 zu
übernehmen. Er schaute mich verschmitzt an, überlegte und fragte nach um was es
geht: „Bernd, das Grau und Dunkel des Mittalters kam herauf, weil
machtgierige Leute die Reinheit des ursprünglichen Evangeliums
missbrauchten…“ Wir redeten noch eine Weile, und er sagte zu. Bernd
schloss sich nur wenige Wochen später der Kirche dauerhaft an…
Sotschi
Noch Anfang Oktober hatte mir der
Abteilungsleiter für Land- und Forstwirtschaft vom Rat des Bezirkes eine
Auszeichnungsreise zugesprochen - für Aktivitäten zur Planerfüllung im
Fischfang - einen Flug nach Sotschi am Schwarzen Meer mit einwöchigem Hotelaufenthalt.
Ich nahm dankbar an.
Erikas Anteil allerdings mussten wir selbst
bezahlen. Wir flogen am 5. Dezember von Dresden ab. In unserem sehr modernen,
wunderschön am Fuße der kaukasischen Berge gelegenen Hotel in Dagomir, in dem
riesige, auf Westbesucher eingestellte, Restaurantanteile völlig leer standen,
waren wir von den sich überstürzenden Ereignissen in der Heimat abgeschnitten.
Die Informationen flossen spärlich. Auf einer großen Wandtafel vor dem
Speisesaal fanden wir mitunter die Kernsätze der letzten Nachrichten aus der DDR
(noch lange nicht aus Deutschland). Wie wichtig mir das war. Erka winkte ab,
ihr Herz bangte eher mit ihren Söhnen und Enkeln.
Wir waren eine Gruppe von fünfzig Leuten,
allesamt lange Jahre in der Landwirtschaft tätig gewesene Leiter von
Kollektiven. Ich wunderte mich über die einhelligen und stürmischen
Freudensäußerungen, wenn sie es einander vorlasen: „Der erst am 18.
Oktober als Generalsekretär der SED bestätigte Egon Krenz von Hans Modrow
gestürzt!” Sie jubelten, die SED-Mitglieder, als hätten wir
miteinander einen Lottofünfer gewonnen. Mich freute es auch, weil aus kleinen
Reformen nun größere würden. Nur ich fragte mich besorgt, wer und
was am Ende der Überraschungskette stehen wird.
Im blitzsauberen Botanischen Garten des sich
riesig ausdehnenden Kurortes, hatte ich tags zuvor eine der beiden
Dolmetscherinnen angesprochen. Sie ging bereitwillig auf meine teilweise
indiskret gestellten Fragen ein: „Ja. Gorbatschow hat den Offizieren
erlaubt, ihren Dienst zu quittieren. Aber, es nahmen nicht, wie die
Parteiführung erhoffte, die älteren Herrschaften ihren Hut, sondern die jungen,
eher pazifistisch eingestellten Männer verließen die Rote Armee.” Ihr
Bruder war ebenfalls davon gegangen. Von ihm wusste sie, dass es sich so
verhielt. Die jungen Tauben flogen weg, die alten Falken blieben. Diese
wichtige, einleuchtende Aussage einer klugen und ehrlichen Russin sollte mich
noch bestimmen, wenig später eine wichtige Entscheidung von gewisser politischer
Tragweite zu fällen…
Nachdem wir wohlbehalten heimgekehrt waren,
fand eine Mitglieder-versammlung der CDU Neubrandenburg statt. In dieser
Zusammenkunft traf ich zum ersten Mal die jungen Katholiken Rainer Prachtl,
Paul Krüger, Ralf Kohl, Günter Jeschke und andere, die wichtige Aufgabenträger
in der neuen Demokratie werden sollten. Ich begann meine durch die Vorjahre
geprägten Ansichten in Zeitungsartikeln und in Ansprachen auszudrücken, sagte
es immer wieder, dass Glaube ohne Vernunft Fanatiker und Vernunft ohne Glaube
Automaten hervorbringen wird. Meine Hoffnung dagegen lautete immer noch, dass
Glaube und Vernunft Künstler macht, nicht nur Lebenskünstler, wenn sie ihren
Idealen und ihrer Liebe treu bleiben.
Als ich mir 1954 eine neue Bibel gekauft
hatte, suchte ich mir aus den Texten ein Motto aus und schrieb es, weil ich es
als schöne Aufforderung verstand, in die Einbandseite: „Tue deinen Mund
auf für die Stummen und führe die Sache derer, die verlassen sind.” Sprüche
31,8 Erst später lernte ich, dass diese Zeilen ebenfalls von einem großen
Christen, Dietrich Bonhoeffer, zum Lebensmotto gewählt wurden.
So versuchte ich, meinen Glauben auch in die
Politik einzubringen. Für mich waren Politik und Religion seit eh und je eine
Einheit. Für mich war Wahrheit das, was sich wie Gold nie änderte. Sätze wie
Shakespeare Polonius im Hamlet sagen lässt: „Sei ehrlich zu dir selbst
und daraus folgt wie Tag der Nacht, du kannst nicht falsch sein gegen
irgendwen.”
Eines Tages, Ende Januar 1990, traf ich auf
der Straße, vor dem Krankenhaus in der Pfaffenstraße, zufällig Pastor F. Rabe
von St. Michael wieder und teilte ihm mit, dass ich mich entschlossen hätte,
soviel ich kann, beizutragen die Demokratie fest zu machen. Er kannte meine
Ansichten, die ich in der Zeitung "Demokrat" in einem Artikel über
Glauben und Vernunft beschrieben hatte. Er teilte sie und lud mich deshalb ein,
anlässlich des Friedensgebetes am 12 Februar 1990, in der Neubrandenburger Johanniskirche
zu sprechen. Er stellte mir ein Thema aus dem 97. Psalm. Ich schaute ihn
natürlich fragend an. „Was werden deine Amtsbrüder dazu sagen? Ein Mormone
spricht in einer evangelischen Kirche?” Er zuckte mit den
Achseln: „Das haben wir doch gerade abgeschafft, dass Menschen
ausgegrenzt werden.”
Chefpastor von St. Johannis war Herr Martins.
Er soll sehr geschluckt haben, als er hörte: ein Mormone wird in seiner Kirche
reden.
Auch er kannte mich seit vielen Jahren. Wir
fanden uns einmal in den frühen achtziger Jahren, in seinem
Amtszimmer, in der Großen Wollweberstraße zusammen. Es wurde eine längere
Unterhaltung zum Thema evangelische Rechfertigungslehre. Wie nahezu alle
anderen Gespräche, die ich mit Geistlichen der Großkirchen gesucht hatte, war
auch dieses freundschaftlich verlaufen. Deshalb war ich so überrascht gewesen,
als Herr Pastor mir damals abschließend mitteilte, er stünde mir für ein
weiteres Gespräch nicht wieder zur Verfügung. Wovor fürchtet er sich, fragte
ich mich.
Meine Absicht war, in der Johanneskirche vom
Mut und der Glaubenstreue eines polnischen Katholiken zu reden. Solange ich
seine Geschichte kannte, bewunderte ich den Franziskanerpater Maximilian Kolbe.
Bevor ich ans Mikrofon in der Johanniskirche trat, sagte F. Rabe zu mir: “Achte
auf den Nachhall!”
Ich sprach denn auch in Intervallen, was mir
ganz ungewohnt war: “Einer der Männer, die uns auf wunderbare Weise
vorgelebt haben, wie stark Glaube sein kann, ist der Franziskanerabt Maximilian
Kolbe. Am Abend des 12. Mai 1941 schlossen sich die eisernen Tore des
Konzentrationslagers Auschwitz hinter ihm. Er nahm nichts als seine große, von
seiner Religion bestimmte Menschlichkeit mit sich. Er sollte dieses Tor nie
wieder als freier Mann verlassen. Wenige Woche nach seiner Inhaftierung gelang
einem Polen die Flucht. Die Führer der SS-Verwaltung schäumten vor Wut. Sie
erklärten, sie würden jeden zehnten Polen des Blocks, in dem Pater Kolbe lag,
erschießen. Als der Lagerkommandant mit dem tödlichen Auszählen bis Frantisek
Wlodarski kam, einem Familienvater, der entsetzt aufschrie, trat Maximilian
Kolbe vor, nahm die Häftlingsmütze vom Kopf und sagte: Ich werde für ihn
sterben. Der schockierte SS-Offizier akzeptierte. Er nahm sich vor, diesen Mann
auf ausgesucht grausame Weise sterben zu lassen. Sie quälten ihn mehrere Tage
lang allmählich zu Tode. Wo Maximilian Kolbe hätte verzweifelt und
zerschmettert am Boden liegen müssen, da richtete er sich auf. Aus seinem Mund
kam keine der Klagen, die wir sooft hören und die ausdrücken: Wenn es einen
gerechten Gott gäbe, dann würde er das Elend nicht zulassen. Er wusste mehr. Er
hatte erfahren, dass Gott sichtbares Leid mit unsichtbarer Freude zudecken
will. Die rohen SS-Männer konnten das nicht fassen. Und manchmal können auch
wir es nicht verstehen, denn wir sind Menschen, die fast immer nur bis auf die
Oberfläche blicken können, tiefer nur selten. Wir dürfen leben! Machen wir das
Beste für uns und unsere Nächsten daraus.”
Pastor R. nickte mir zu, als ich mich, nach
diesen Worten, wieder hinsetzte. Damit war unsere Freundschaft beschlossen. Ich
gab ihm später ein Buch Mormon und er erwiderte, als wir irgendwann danach
darauf zu sprechen kamen: “Mir sind die Texte des Buches Mormon nicht
unsympathisch.”
Vier Wochen danach sollte ich, an derselben
Stelle, die nächste Ansprache halten. Das tat ich gerne und es brachte mir die
Herzen einiger Neubrandenburger näher. Einladungen aus katholischen Kreisen
nahm ich ebenfalls gerne an. Im Gemeindesaal der Kirche sah ich die vielen
Bibeln stehen, alles „Einheitsübersetzungen“ Ich verteilte sie an die etwa 30
Anwesenden um mit ihnen so zu diskutieren wie ich es in vielen folgenden
Zusammenkünften tat. Mir lag daran zu belegen, dass Gott durch Propheten zu
aktuellen Anlässen sprach und spricht. Mein Erstaunen kam, als ich bemerkte,
dass sie nicht gewohnt waren selbst die Bibel zur Hand zu nehmen, jedenfalls
nicht öffentlich.
Zwei Damen, die etwa um die 50 Jahre alt sein
mochten kamen nacheinander zu mir. Sie sagten dasselbe: „Ich erwäge, mich ihrer
Kirche anzuschließen!“
Warum es nicht zustande kam? Ich weiß es
nicht.
Deutsche sind anders als etwa Anglikaner.
Deutsche schauen sich misstrauisch um: „Was wird meine Nachbarin dazu
sagen?“
Meine teilweise selbstgewählten Pflichten
nahmen, zumal ich noch jeden Tag zum Fischen hinausfuhr, meine ganze Kraft in
Anspruch.
Kurz nachdem mich die Parteitagsteilnehmer zum
stellvertretenden CDU Kreissekretär gewählt hatten, musste ich eine wichtige
Entscheidung treffen. Da meine Vorgesetzte, Frau Benz, in Friedland wohnte,
fiel mir nämlich zeitweise die Aufgabe zu, unsere politische Arbeit in
Neubrandenburg zu leiten.
Noch im April 1990 hielt ich eine offene
Konfrontation für denkbar.
Westdeutsche Ratgeber, die uns besuchten um uns Neupolitiker zu beruhigen und
sicherlich wohlmeinend zu beeinflussen, überzeugten mich nicht. Es gibt keine
Sicherheit, je mehr wir sie uns wünschen, umso weniger. Fanatiker konnten den
Großbrand immer noch legen.
Dr. Alfred Dregger
Der auch in der DDR wohl bekannte Vorsitzende
der CDU/CSU Bundestagsfraktion, Dr. Dregger, kündigte kurz vor Ostern seinen
Besuch an. Sein Wunsch war, am 20. April auf dem Marktplatz in Neubrandenburg
aufzutreten.
Kurz zuvor war ich zum stellvertretenden CDU-Kreisvorsitzenden gewählt worden
und es gab unterschiedlichste Leute, die mich mit mancherlei Informationen
versahen. Da meine Vorgesetzte, Frau Benz, fernab in Friedland wohnte,
fiel mir die Aufgabe zu, unsere politische Arbeit in Neubrandenburg zu organisieren.
Ich erwog den ernsten Hinweis, den ich am Karfreitag aus Kreisen erbitterter
Westfeinde erhielt, dass es zu einem Massenaufmarsch fanatischer Linker kommen
wird, falls der als ‚Rechtsaußen’ Politiker seine Rede öffentlich
halten würde. Im Geiste sah ich einen Tumult voraus. Was
dann? Diese Vision von flatternden roten Fahnen beschäftigte mich
erheblich. Im Gegensatz zu meinen Gesprächspartnern aus dem
Konrad-Adenauer-Haus war ich nicht der Meinung, dass ein letztes Aufbäumen der
immer noch im Lande unter Waffen stehenden NVA auszuschließen sei. Meiner
Überzeugung nach gab es immer noch genügend Oberste, die ihre Machtinsignien,
selbst gegen alle Vernunft, gemäß ihrem noch in Kraft stehenden Fahneneid
verteidigen könnten, wenn sie ein rotes Signal dazu auffordern würde. Noch
galt das DDR-Recht!
Ich schloss eben von mir auf andere, ein
Trugschluss, wie ich nun weiß. Wir müssen uns selbstverständlich
korrigieren dürfen, in jeder Hinsicht übrigens, bis das Fundament unseres
Wesens Wahrhaftigkeit ist. Aber dieses Ziel darf niemand dadurch in Frage
stellen, dass er sich selber untreu wird. Gewiss ist keiner gut beraten, wenn
er aufgefordert wird seine Überzeugungen einfach über Bord zu werfen. Deshalb
schien mir, es sei leichtsinnig, solche Erhebung der Linken auszuschließen,
zumal der 20. April Hitlers Geburtstag war. Ein Umstand, den niemand im Büro
des Herrn Dr. Dregger, auch nur im Traum bedacht hatte, den jedoch ein
gewiefter Propagandist durchaus in seine Argumentation, gegen unseren Gast, und
damit gegen uns, hätte zur Geltung bringen können. Mag sein, dass ich
verrückte Vorstellungen und Befürchtungen betrachtete. Indessen stimmten
die Mitglieder des Kreisvorstandes der CDU Neubrandenburg nach Erörterung der
Problemlage meinem Antrag mehrheitlich zu, Herrn Dr. Alfred Dregger nur in der
Stadthalle Neubrandenburg auftreten zu lassen. Vor allem der spätere
Oberbürgermeister Neubrandenburgs, Peter Bolick, sah die Dinge ähnlich wie ich.
Im Büro Dr. Dreggers war man entsetzt.
Denn ich bestand auch auf Änderung einiger Details auf den
Ankündigungsplakaten. Morgens am 20. April bat mich Dr. Dregger zu einem
Vieraugengespräch. Ich verteidigte den Beschluss und meine eigenen Ansichten,
sagte, was ich dachte und zu befürchten glaubte. Im Beisein seiner charmanten
Sekretärin umrundeten wir vielredend die Tribünen des Sportplatzes am
Badeweg. Er war sehr beherrscht und zugleich sehr wütend auf mich. Ich
ließ mich auf nichts ein, obwohl mir das schwer fiel, denn wer war ich gegen
ihn? Wahrscheinlich hielt er mich für einen verkappten Roten.
Vielleicht liefen ihm bei dieser Vermutung kalte Schauer über den Rücken.
Doch obwohl ich mit einigen seiner politischen Auffassungen nicht übereinging,
stand ich nicht gegen ihn. Mir war nur klar, dass ein Mann des Westens bei
bestem Willen nicht nachempfinden kann, wie jemand fühlt, der sein Leben unter
dem Diktat der Partei der Arbeiterklasse zugebracht hatte. Leider oblag es
mir, Herrn Dr. Dregger eine zweite Absage zu erteilen. Es war meine Pflicht,
ihm den Beschluss des Rates der Neubrandenburger Geistlichkeit mitzuteilen.
Dieser Rat hatte mich eigens eingeladen und mir dringend nahegelegt, Herrn Dr.
Dregger zu übermitteln, dass er an der ‘Gedenkstätte für die Opfer der
Nazibarbarei und der kommunistischen Gewaltherrschaft’ in Fünfeichen,
kein Kreuz hinstellen möge, und sei es noch so klein. Das wäre ihre Sache.
Sie hätten bereits den Termin für die Ausrichtung eines Gebetsgottesdienstes
festgelegt. An diesem Tag wollten sie den Platz für ein künstlerisch
gestaltetes Kreuz bestimmen.
Es gibt irgendwo ein Foto, das uns gemeinsam im Bereich des Vorgartens des
damaligen Neubrandenburger CDU-Hauses zeigt. Dr. Dregger lächelte in die Kamera
hinein. Doch ich wusste, wie bitter seine Gefühle waren. Denn seine
bereits vorbereitete Presseerklärung musste wesentlich geändert werden, das von
ihm bestellte Holzkreuz war umsonst hergestellt worden...
Er lud die Neubrandenburger CDU-Spitze zum gemeinsamen Abendbrot ins Hotel ein.
Wieder musste ich ihm missfallen. Er suchte eine Antwort in seinem Sinne was
die Oder - Neiße - Grenze betraf. Ich fasste zusammen: „Es ist tief traurig
aber der Verlust ungeheurer deutscher Stammgebiete im Osten… ist der Preis für
den von uns angezettelten 2. Weltkrieg, den Deutschland zu zahlen hat.“ Er
schluckte schwer. Jetzt war ich Feind für ihn, aber ich verstand ihn besser als
er ahnen konnte.
Niemand aus der zwölfköpfigen Gruppe
widersprach.
Nur wenige Stunden zuvor wurde ich im
Auftrag Dr. Dreggers um eine Einschätzung gebeten: „Wie sollte ihrer
Meinung nach der tatsächliche Wechselkurs ausfallen?“ Ich sagte
prompt: „10 zu 1.“ Mir war sehr wohl bewusst, dass alle
Kleinsparer mich gesteinigt hätten, wäre ihnen das nicht nur zu Ohren gekommen,
sondern auf meinen Rat hin realisiert worden. Aber, wer wusste es, dass die in
14 Großkooperativen zusammengefassten landwirtschaftlichen Genossenschaften
allesamt hoch verschuldet waren. Auf ihnen lasteten Millionen Kreditsummen. Sie
wären um 90 Prozent reduziert worden! Alle Wohnblöcke irgendeiner Stadt
verursachten den Baugesellschaften ungeheure Bürden. Tatsächlich entsprach der
Wert einer DDR-Mark 10 bundesdeutschen Pfennigen. Dregger und Freunde werden
gelacht haben: Uns fallen doch sämtliche DDR- Industrien als Segen in
den Schoß. Wirklich? Achtzig Prozent dieser Betriebe befanden sich in
ungutem Zustand, waren verrottet und veraltet… Jetzt aber lachte ich, mit dem
auch von Dr. Dregger gefassten Beschluss 1 zu 1 zu tauschen gewannen wir
unverdiente 400 000 Westmark, denn die standen uns zuvor nie zur Verfügung, das
waren Fantasiezahlen. Ein Finanztrick sollte das DDR-Wirtschaftsgefüge nach
außen ansehnlich machen.
Ein Zauberspruch machte aus Null horrende
Summen. Danke Herr Dr. Dregger, ich mochte immer ihre Geradlinigkeit.
Anfang Juli ’90 wählten meine Fischerkollegen mich zu ihrem Geschäftsführer
Unmittelbar nachdem unsere Gelder im Zuge des
In-Kraft-Tretens der vereinbarten Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion
beider deutscher Staaten aufgewertet wurden übernahm ich mehr
Verantwortung. Die Jongleure des DDR-Finanzministeriums verursachten vor
Monaten, dass ein Kunde für den Betrag von 4.40 Mark ein Kilogramm Karpfen
kaufen konnte, während wir für dieselbe Menge 14 DDR-Mark abrechnen sollten.
Die 10 Mark plus wanderten auf besagtes Konto, dass irgendwann gelöscht werden
sollte. Doch dazu kam es nicht. Die Wahl zum Geschäftsführer nahm
ich unter der Bedingung an, nur für eine zweijährige Wahlperiode zur Verfügung
zu stehen.
Ich sagte sogleich: „Meiner
Überzeugung nach setzen wir gemeinsam fort, was wir gemeinsam begonnen haben.
Wir bleiben als gleichberechtigte Mitglieder in einer zu bildenden e.G.
zusammen. Ich will nicht mehr als ihr verdienen. Ein Drittel des Bargeldes
setzen wir sofort für einen Komplexneubau ein, Verarbeitung, Räucherei und
Verkauf. Das zweite Drittel zur Absicherung, und das
dritte teilen wir anteilmäßig, als Entschädigung für entgangenen
Lohn auf.“ Das wurde einhellig akzeptiert. Auch mein Gegenspieler
Jürgen Haase widersprach nicht. Mit den anderen ‚Damen und Herren’,
wie meine Kolleginnen und Fischerkollegen seit März ’90 offiziell hießen,
bestätigte auch er in namentlicher Abstimmung, dass wir zusammenhalten wollten.
„Dann dürfen wir auch daran denken, uns durch Baukreditaufnahme zu
verschulden!” Reiner Lüdtke nickte, Jürgen nickte. Sicherheitshalber
wiederholte ich mich: „Wir werden etwa 300 000 Mark gemeinsam abzutragen
haben.”
Geplant war der Neubau längst. Architekt Robert Brenndörfer hatte ganze Arbeit
geleistet und alles adaptiert. Erste Bankgespräche verliefen verheißungsvoll.
Wir bestellten die Dampframme. Spannbetonpfähle lagen noch herum. Wir hatten ja
bereits zu DDR-Zeiten begonnen und lediglich neue Vorstellungen einbezogen. Ein
Zurück war nun unmöglich. Aber es waren ja die Zuverlässigen an meiner Seite,
der treue Wolfgang Homeyer, Werner Hansen, Wolfgang Sittig, Frank Busse, Detlef
Inhof, Reiner Rottmann, Dieter Giesa und natürlich Lüdtke.
Auch der viel zu früh verstorbene Ulrich Johanns hätte mir beigestanden. Er war
gut 35-jährig im Bad tot zusammengebrochen.
Da klopfte es eines späten Nachmittags ein
hoch gewachsener Polizeioffizier. Er reckte sich, als ich die Tür öffnete,
legte die Hand militärisch an die Schirmmütze: „Herr Skibbe, ich komme
im Auftrag meiner Familie, ihnen die traurige Nachricht zu überbringen Ulli
verstarb letzte Nacht. Wir bitten Sie die Beerdigungsansprache zu
halten!“
Was sollte ich sagen? Ich hatte ihn erst eine
Woche zuvor zusammengestaucht: „Du drückst dich vor schwerer Arbeit.“ Er
überließ die Schwierigkeit der von Hand-Verladung von Fischmengen den
schwächeren Kollegen. Er mit seinen hünenhaften Kräften verdrückte sich
regelmäßig. Ich übernahm auch diese Pflicht und siehe da, mir wurde erlaubt ein
wenig religiöse Gedanken einzuflechten. Prominenz war dabei, wie die
Stadtarchitektin Iris Grund. Anschließend kamen sie zu mir und lobten: „Du
hast es wunderbar getroffen. Ulli kam bildhaft vor uns. Wir konnten ihn sehen
wie er auf den geliebten Tollensesee hinausfährt und seine Netze auslegt.“
Da aber flatterte uns bereits am 04. Juli 1990
die erste Gewässerkündigung auf den Tisch. Der Rat der Gemeinde Knorrendorf
teilte uns kurz und bündig mit, was sie für richtig hielten: „Hiermit
kündigen wir Ihnen sämtliche Gewässer unseres Territoriums...” Welch
ein Schock.
Wenige Tage später sollten die nächsten Hiebe
kommen. Wer erlaubte es sich, uns die Gewässer zu entwenden, die wir mit
teuren Satzfischen versehen hatten? Der Vorgang war illegal. Sofort
legte ich schriftlichen Protest ein, verwies auf Artikel 9 des
Einheitsvertrages. Da hieß es: Bis auf weiteres gelten die DDR-Bedingungen und
die DDR-Verträge.
Davon ging ich aus, dass es im Wesentlichen
wirtschaftlich bleibt, wie es ist, und nahm zunächst nicht ernst, was sich da
anbahnte. Wir waren immer noch die rechtmäßigen Bewirtschafter der
Wasserflächen zwischen Neustrelitz, Stavenhagen, Penzlin und Neubrandenburg,
ausgestattet mit Bewirtschaftungsverträgen. Mein Finger lag immer wieder auf
dem Gesetzesband Einheitsvertrag. Noch dachte ich nicht an
Jürgen. Ich wollte davon ausgehen, dass mein Dauerkontrahent ebenso gut
wie ich wusste, was seine Zustimmung zur Verschuldung bedeutete. Zumindest
durfte er keine Schritte gegen uns einleiten.
Inzwischen wurde ich als Hoher Rat für
Missionsarbeit im Pfahl Leipzig vom Pfahl Berlin übernommen mit Zuständigkeit
der Gemeinde Tiergarten und verantwortlich für die Alleinstehenden Erwachsenen.
Meine erste Ansprache dort wurde akzeptiert,
wie die Brüder mir sagten. Dann sollte ich in Zusammenarbeit mit Schwester S.
ein Treffen verantworten. Das Lustige war: Ich hatte versprochen, nach dem
Ausflug auf die Potsdamer Pfaueninsel das Mittagsmahl zu organisieren.
Schwester S. schaute ein wenig ängstlich, weil ich zugesagt hatte mein Freund
Hilmar Girra käme mit seinem LKW und würde die etwa 60 Teilnehmer beköstigen.
Wie sollte das geschehen. Als wir mit der Fähre heimkamen und den Vorplatz zur
nächsten S-Bahn überquerten fragte die Dame S. : „Wo ist denn nun ihr Hilmar
Girra?“ Denn weit und breit sahen wir keine Möglichkeit die Hungrigen
zu trösten. Und plötzlich fuhr er pünktlich vor. Wieder schauten mich nicht
wenige fragend an. Hilmar öffnete die Heckklappe und sofort verbreitete sich
der angenehme Geruch von frisch geräucherten Aalen erster Klasse. Lady S.
atmete auf als die ersten lobten: „Das ist ja eine große
Delikatesse.“ Selbst die gegenüber Fischmahlzeiten kritischen fragten
nach einem zweiten.
Ein paar Tage danach ließ ich weiter die
genossenschaftlichen Dinge und Probleme auf sich beruhen. Eine attraktive,
junge Dame aus dem Konrad-Adenauer-Haus kreuzte in meinem Büro auf. Sie stellte
mir ein paar Fragen, die Kommunalpolitik betreffend. Da gab es keine
Schwierigkeiten die mich betrafen, jedenfalls keine großen. Aber als sie hörte,
dass ich den übernommenen Betrieb nicht nur personell, sondern auch strukturell
erhalten wolle, erschrak sie. Ihr Mund spitzte sich. Sie sagte: „Oh, o,
da sehe ich Sie aber schon oft vor dem Kadi sitzen!” Ich lachte noch und
verabschiedete sie mit einem Scherz.
Wir fischten selbstverständlich in den uns von den Bürgermeistereien
gekündigten Gewässern.
Es gab jedoch erste Hinweise auf Befischung
unserer Seen durch andere. Zunächst beunruhigte mich das nur wenig. In Waren
und Prenzlau gab es analoge Problemfälle. Sicherheitshalber fuhr ich auf den
Lindenberg, wo die Stasi in riesigen, mehrstöckigen Gebäudekomplexen gehaust
hatte, da befand sich nun der Torso des ehemaligen Rates des Bezirkes
Neubrandenburg. Mein Wunsch war, mit Rainer Prachtl zu reden. Er saß dort und
verkörperte in seiner Stellung und in dieser Phase die höchste Autorität im
Bezirk. Noch befanden wir uns rechtlich in der DDR. Wir trugen zwar
bereits das ersehnte Westgeld in den Taschen und im Kopf, doch noch hieß unser
Land offiziell DDR.
„Du bist im Recht. Ich gebe es dir
schriftlich!”, sagte Rainer Prachtl und ließ Jürgen
Meyer kommen, den im Bezirk für Binnenfischerei zuständigen Fachmann. „Jawohl,
die alten Rechtsträgerschaften bleiben vorläufig in Kraft...” Das gab
mir Zuversicht. Deshalb blieb ich ruhig, zu ruhig wahrscheinlich, zu lange
auch. So vollzog sich das Folgende zunächst, ohne mich sonderlich zu erregen.
Auszüge aus dem Betriebsprotokoll: „Am 19. Juli 1990 wird uns per
Schreiben des Bürgermeisters Herrn Schwarz, Rehberg mitgeteilt, dass die im
Grundbuch in der Flur 3, Flurstück 6 eingetragene Seenfläche an eine
Privatperson verpachtet sei.“
Es handelt sich um den Balliner See, auch bekannt unter der Bezeichnung
Rehberger See. Neue Kündigungsschreiben trudeln ein. Wir wehren uns.
Doch zwischenzeitlich, am 28. Juli, erhalten wir Antwort aus Knorrendorf auf
unseren Protest. „Wir haben Ihr Schreiben vom 13. Juli erhalten. Nach
Auskunft durch einen Rechtsanwalt, haben wir bestätigt bekommen, dass unsere
Kündigung vom 27. Juni 1990 rechtskräftig ist und somit bestehen bleibt.”
Protokollauszug vom 28. Juli: „Ein persönlicher Besuch des
Geschäftsführers Herrn Skibbe in Knorrendorf. Das Gespräch mit der
Bürgermeisterin Frau Hartwig ergibt keine Übereinstimmung.“
Ein uns gut gesonnener Anglerfreund gab mir
den entscheidenden Hinweis: „Das Haupt ist Herr K., suche ihn auf.” Der
mir das riet, hatte Ahnung. Ich fuhr umgehend hin, wünschte mit Herrn K.,
dem Leiter des Gemeindeverbandes Rosenow, zu reden. Man ließ mich ein. Ich
nannte meinen Namen. Er nickte nur. Er wusste Bescheid. Da saß er,
ein energischer, bärtiger Fünfziger. Hinter seinem Schreibtisch hockte er
sicher. Seine Brillengläser funkelten: Ich bin ein Demokrat! Ich
konterte auf ähnliche Weise: Ich auch! Er schaute mich
durchdringend an. Ich stellte ihm mein Anliegen vor: „Wir bauen eine
neue Betriebsstätte, wir haben beschlossen zusammen zu bleiben und
gemeinschaftlich zu wirtschaften, nicht gegeneinander.”
Seine lapidare Antwort lautete: „Stalinistische Genossenschaften
brauchen wir nicht mehr!” „Sagten sie stalinistische?” „Ich sagte und
meinte stalinistische!”
Wie ein Fisch im schlechten Wasser schnappte ich nach Luft. Demokraten?
Weiß der Mann, was das ist? Liberaler sei er. „Ich bin CDU-Mann!“
„Blockflöten!” erwiderte er höhnisch, das war die Bezeichnung für
Opportunisten zugunsten der SED.
Gut, dass ich keine Pistole besaß, ich hätte
ihm ein Loch in sein „rechtes“ Ohr geschossen. Sollte ich dem da erklären, dass
ich am 30. Oktober 1989 in die CDU eintrat, weil sie an eben diesem Tage
erklärte, sie kündige die Bündnispolitik mit der SED auf? Er beharrte, ich
beharrte: „Wir werden morgen im Kastorfer See fischen” „Ich schicke
ihnen die Polizei auf den Hals. Herr Jürgen Haase. ist der neue
Bewirtschafter!” Hatte ich es nicht geahnt? Meine ohnmächtige Wut ließ
ich mir nicht anmerken: Mein Mitglied und Mitträger aller Beschlüsse brach
seine Versprechen. „Tun sie, was sie nicht lassen können!”
Schnell fand ich mich vor der Tür wieder. Unser Genosse Jürgen besaß also
einen „gültigen“ Pachtvertrag, wir dagegen galten nun
als Fischdiebe. Mit meinem gelben, alten Trabant bin ich mit
überhöhtem Tempo nach Hause in die Fischerei gefahren. Im Flur des alten
Wirtschaftsgebäudes traf ich Detlef Inhof. Der strohblonde Exhochseefischer
wies mit dem Kopf zur Tür des Netzlagers: „Da drinnen”, wisperte
er. Mit einem Ruck stieß ich die Tür auf. Jürgen saß da und Reiner.
Zwei Umrisse wie aus Bronze gegossen, Nachdenklichkeit und Besorgnis. Reiner,
zumeist gutmütig und hilfsbereit war gerade im Begriff zu erklären, dass er
wenig Hoffnung habe, dass ich ihm einen Vorschuss für die fälligen Pachten
geben würde... „Seid ihr von allen guten Geistern verlassen? Du würdest
ihm helfen uns zu ruinieren? In einer Stunde ist Mitgliedervollversammlung!” Jetzt
gab es kein Halten mehr. Entweder Jürgen oder wir. Jürgen setzte ein Signal,
wenn wir dem nichts entgegensetzen, dann bricht es. Mensch Jürgen, wir
haben dein Versprechen schriftlich! Es schnürte mir die Kehle zu. Der
große junge Mann mit dem ausdrucksstarken Gesicht ging in den ersten
Arbeitsraum. Da setzte er sich hin und strickte eine Netzreihe herunter, als
wäre nichts geschehen. Ich sprach ihn kurz an und er antwortete normal, als sei
nichts passiert. In der Vollversammlung, die ich leitete, legte ich in wenigen
Sätzen die Situation dar. Entweder stellt Jürgen sich auf unsere Seite oder er
muss die Genossenschaft verlassen. „Die Pachtungen, die Jürgen betreibt,
schließen uns von dem Recht auf Wiederfang der von uns eingesetzten Fische
aus.” Er entgegnete: „Ich will frei sein und nehme nichts
zurück! Mit der Kommandowirtschaft ist es aus!” „Dann schließen wir
dich aus!” Er schaute mich an. In seinen Augen las ich die Ablehnung.
Mich lehnte er ab, die Genossenschaft lehnte er ab, die meisten Männer, außer
Dieter Gisa und Willi Krage widerstanden ihm längst, wegen seiner Arroganz. „Du
hast dich in namentlicher Abstimmung für den Fortbestand unseres Unternehmens
ausgesprochen...” „Na und? Ich bin im Recht!” „Dann
schneiden wir dich ab.” Auszug aus dem Protokoll des 10. August
1990: „Nach kurzer Bedenkzeit und folgender Diskussion stellt Herr
Skibbe in der Mitgliederversammlung den Antrag auf Ausschluss von Jürgen N. aus
der Tollensegenossenschaft. Von 16 stimmberechtigten Mitgliedern, sind 14
anwesend. 3 Enthaltungen, 1 Gegenstimme, 10 Dafürstimmen ...“ Jürgen
begab sich mit seinen Freunden nach draußen. Er hielt mit ihnen Rat. Als ich
sie so dastehen sah, schien mir, er würde gar nicht begreifen, was ihm
widerfahren war. „Wir sehen uns vor Gericht wieder!”, sagte er nur
und ich erinnerte mich der Worte der jungen Dame aus dem Konrad-Adenauerhaus.
Zunächst musste ich meine Ankündigung in
Kastorf wahr machen. Am nächsten Morgen würden wir auf jeden Fall und
demonstrativ im Kastorfer See fischen. „Werner (Hansen), ich komme
morgen mit!” sagte ich, denn wir konnten sicher sein, dass wir auf
heftigen, möglicherweise polizeilichen Widerstand stoßen werden. Werner
Hansen wollte nicht, dass ich mit ihm fahre, ich hätte zu Hause genug zu tun.
Aber unser gemeinsames Auftreten im Territorium Rosenow war mir wichtiger. Wir
verluden einen der leichten grünen Plastekähne, das Notstromaggregat, die
Handelektrode, den Sicherheitsschalter, Minuspol, Gleichrichter, Kescher, den
großen Fischbehälter und setzten uns in den Exmilitärwagen vom Typ
Robur. Hätten wir, als wir durch Knorrendorf fuhren, die Sekretärin am
Briefkasten gesehen, dann wäre uns vielleicht in den Sinn gekommen, dass sie
Post gegen uns einsteckt. Wie üblich schoben wir uns vorsichtig und
aufmerksam am Gelegesaum entlang. Werner, auf dem Sicherheitsschalter stehend,
stieß in vier – fünf – Meter -Abständen die an einer etwa fünf Meter langen
Glasfiberstange befestigte handtellergroße Elektrode ins fast glasklare Wasser
bis auf den Seegrund in Klaftertiefe. Wie üblich waren acht von zehn
Versuchen umsonst. Dann kam eine kleine Quellmooswiese in Sicht. Da war es nur
einen Meter tief. „Dor sünd wek!” ("Da sind welche
(Aale!") sagte er voraus. Ich hatte oft genug elektrisch gefischt um
nicht zu wissen, dass er Recht bekommen würde. Zuerst schossen die untermaßigen
Aale heraus, sie wanden sich und taumelten narkotisiert zur Seite. Dann
schlängelte sich ein dicker, fünf Zentimeter breiter Aalschwanz heraus. Da der
Flossensaum eine verhältnismäßig große Potentialebene darstellt und wir ihm mit
der Anode dicht auf den Leib gerückt waren, hielt ihn der Gleichstrom fest. Die
Kraft, die von der Anode ausging, reichte jedoch nicht aus, ihn völlig aus
seinem Versteck zu ziehen. Werner Hansen half nach. Er war hochrot vor
Aufregung, weil es sich um einen kostbaren Starkaal handelte. Von drei Aalen
dieser Stärke entkommen in der Regel zwei, vor allem wenn sie sich weiter als
einen Meter vom Pluspol aufgehalten haben. Sie sind zudem geschwind und enorm
gewitzt. Werner hakte mit dem elektrisierten Metall in den sich krümmenden
Fischschwanz. In diesem Augenblick bemerkte ich, dass sich in vierhundert
Schritt Entfernung eine Sandwolke auf uns zu bewegte. Ich musste mich jedoch
zuerst um den Aal kümmern, der plötzlich in voller Länge auftauchte. Mit Mühe
gelang es mir, dem kräftigen Fisch den Kescher vor das breite Maul zu halten.
Gemeinsam erwischten wir ihn und ich kescherte den sich wild wehrenden
Dreipfünder heraus und schüttete ihn ins wassergefüllte Schweff. Da tobte er
eine Weile umher. Die kleinen Aale dagegen flohen wie üblich. Sobald
der Stromkreis unterbrochen wird, machen sie sich davon. Augenblicklich
erwachen sie aus der Narkose und schwimmen binnen ein, zwei Sekunden davon, um
eine wichtige Erfahrung reicher. Wenn sie je wieder das Geräusch des im
Rhythmus des dröhnenden Notstromaggregates schwingenden Fischerkahnes
vernehmen, flüchten sie rechtzeitig und es dauert Wochen und manchmal Monate,
bis der Handelektrodenfischer sie wieder sieht. Mitunter liegen die knapp
einhundertfünfzig Gramm schweren Satz- und Mittelaale so dicht beieinander,
dass man fünfzig, sechzig mit einem Schlag erwischt. Schade, weil sich unter
ihnen auch die fangreifen Männchen befinden, die nur etwa einhundertundachtzig
Gramm schwer werden. Man nennt sie, wie die großen, geschlechtsreifen Weibchen,
Blankaale. Aale die nicht mehr wachsen.
Das Aussortieren nimmt dann viel Zeit in Anspruch. Ich stieß Werner Hansen
an und wies mit dem Kopf hinüber. Da erschien ein roter „Wartburg“. Er hatte
die Staubwolke hinter sich hergezogen. Für Sekunden entschwand er noch einmal
aus unserem Blickfeld. Den Mann am Steuer schien ungeheure Wut zu treiben. Wie
ein Wahnsinniger war er auf der Sandpiste entlang gesaust.
Den breiten Rücken durchdrückend wandte Werner sich zu mir, sein volles
bartstoppliges Gesicht verzog sich. Es war ein etwas schräges Lächeln, das sich
um seine blutvollen Lippen legte. Werner nannte einen Namen, den ich nicht
verstand.
Uns war bewusst, dass der Besuch mir vor allem galt. Wir machten weiter und
gewahrten vom neuen Standpunkt aus, dass der „Wartburg“ sich nun direkt vor
unseren Robur befand. Er hatte uns blockiert. Aber wir konnten von dem Fahrer
nichts entdecken. „De is int Dörp gohn, hei holt de Pulezei!”
("Der ist ins Dorf gegangen und holt die Polizei!") Richtig. Wir
wurden festgenagelt. Zur Linken unseres Robur befand sich ein anderthalb Meter
hoher Schotterberg, zur Rechten der See. Vor uns der Wartburg, hinter uns der
Kahnhänger auf dem wir unser Boot transportierten und dahinter ein
Graben. Fast wortlos einigten wir uns, es nicht auf eine Konfrontation mit
der Polizei ankommen zu lassen. Wenn man uns das Schreiben des Bürgermeisters
vorweisen würde, könnten sie uns zwingen, die Fische in den See
zurückzuschütten. So, wie das unseren Männern bereits andernorts ergangen
war.
Vierzehn Tage zuvor hatte ich auf dem
Polizeirevier in Stavenhagen zwanzig Minuten aufwenden müssen, um meinen
geharnischten Protest zu Papier zu bringen und um zu erreichen, dass die von
den Polizisten am Ivenacker See beschlagnahmten Fanggeräte wieder herausgegeben
wurden, was denn auch umgehend geschah. Sie wunderten sich auf dem Revier nur,
wegen der vielen Worte und Sätze die in so kurzer Zeit auf ihrem weißen Papier
entstanden. Allerdings die Zander, die sie ins Wasser zurücksetzten, blieben
verloren. Ärgerlich nur, dass unsere Kunden, die sich die Fische bei uns
bestellt hatten, später unbefriedigt nach Hause gehen mussten. Ziemlich
eifrig, als wären wir Fischdiebe, verluden wir das Geschirr und die Fische,
schoben unser Boot auf den Kahnhänger, banden es fest. Wir hatten keine Wahl.
Entweder entkamen wir unseren Gegnern oder wir waren blamiert. Blamiert?
lachte Werner. Er hatte es wieder im Kreuz und ging schief. Ich bräuchte
ihn nicht einweisen, der Robur sei ein Geländewagen und würde den Schutthaufen
ohne weiteres erklimmen. Ohne weiteres? Umkippen kann uns die
Fuhre. Das war Werner Hansen. Er äugte kurz, startete, schob einen halben
Meter zurück, kurvte bis hart vor den roten Kotflügel des Wartburgs, schob noch
einmal, das Lenkrad scharf herumreißend, zurück. Jetzt wieder vorwärts. Noch
war von dem PKW-Fahrer nichts zu sehen. Jeden Augenblick konnte sich das jedoch
ändern. Dass wir flohen wollten, ließe sich ja wohl nicht leugnen. Dass
niemand flieht, der unschuldig ist, liegt wohl auf der Hand! So hörte ich sie
schon höhnen. Nun erklomm unser braver LKW tatsächlich den kleinen steilen
Berg. Er rutschte ein wenig nach links, dann nach rechts. Der Kahnhänger folgte
uns. Das Wasser im kubikmetergroßen Fischbehälter schwappte, doch es ging
voran. Wir glitten und rollten und bremsten den kleinen Abhang
hinunter. Nicht die Spur eines Kratzers am „Wartburg“, das war nun wieder
das Wichtigste. „Dat Wüchtigste is, dat se uns nich kriegen!” ("Das
Wichtigste ist, dass sie uns nicht fassen!") erwiderte Werner und
schlug einen Weg ein, den ich noch nie gesehen hatte. Querfeldein ging die
Fahrt über Stock und Stein, vorbei an Viehkoppeln und Maisstauden. Banditenhaft
verhielten wir uns. Dieser eine Begriff bemächtigte sich meiner
Gedanken. Ich und er waren unter die Räuber gegangen. Mindestens
drei Anzeigen
wegen Fischwilderei führten mich wiederholt vor den Kadi.
Dabei hatten wir nie in anderen, als in
den uns zur Bewirtschaftung offiziell übertragenen Gewässern
gefischt. Einmal bekam ich Recht, zweimal Jürgen. Noch jedoch war nichts
endgültig entschieden. Der Krieg mit Jürgen ging weiter.
Er stellte Netze, wir gerieten mit unseren Zugnetzen dazwischen.
Er pochte auf seine Verträge, wir auf unser Gewohnheits- und
Bewirtschaftungsrecht, das uns die DDR gegeben hatte. Ich ging in
Berufung.
Aber es gab auch großen Krieg. In
eben diesen Tagen, Anfang August 1990, waren irakische Truppen in Kuwait
einmarschiert. Der große Irak erklärte den kleinen Staat Kuwait zur 19.
irakischen Provinz. Die entmachteten Scheiche schrieen so laut um Hilfe,
dass auch wir es vernehmen mussten. Am 29. November fasste die UNO einen
Beschluss, der die gewaltsame Vertreibung Iraks aus dem freien Land Kuwait
androhte. Wie eine düstere Ahnung, dass dies das Vorspiel zum dritten
Weltkrieg sein könnte, lag die alte Beklemmung wieder auf allen.
Meine Notiz zur Tagebucheintragung, geschrieben am 6. Dezember, lautete: „Was
wird uns 1991 bringen? Unter dem Druck der Zuspitzung der Kuwaitkrise leidet
jeder. Jeder weiß, wie leicht Kriege, in die Supermächte verwickelt sind,
ausufern können. Wir sehen die vielen anderen Probleme, auch die
wirtschaftlichen, rings um uns herum, ...”
Dunkle Geschäfte
Statt Scheine von radikal abnehmendem
Wert besaßen wir seit dem ersten Juli Geld. Wir fühlten uns wie
Geburtstageskinder, die sich freuen sollten und es doch nicht so recht konnten.
In den Lebensmittelgeschäften sah es paradiesisch farbig aus, aber in unseren
Seelen immer noch grau. Vorausblickend fanden wir, dass auf dem Wege vor uns
kaum überwindliche Hindernisse liegen würden. In einem handelten die meisten
Ex-DDR-Bürger logisch richtig. Jetzt drehte jeder den aufgewerteten Groschen
dreimal um, ehe er ihn einmal hergab. Bereits zu DDR-Zeiten war es zunehmend
schwierig geworden, selbst wertvolle Fische, wie Kleine Maränen, wenn sie in
Massen angelandet wurden, en Block abzusetzen. Auch die Disponenten und Leiter
der Fischauslieferungslager mussten längst wirtschaftlich rechnen und ihr
Risiko klein halten. Ihre Prämien hingen von ihrem eigenen Geschick ab. Jetzt,
nach der Wende, oblag uns die Fische nicht nur zu fangen, sondern sie auch
eigenhändig, Stück für Stück, zu veräußern. Im Spätherbst fingen unsere Männer
auf der Lieps wieder einmal große Mengen Brassen, alles stattliche Exemplare.
Werner Hansen kam mit seinem Trabant angesaust, um mich zu informieren. Meine
Kollegen hofften, dass ich aus zehn Tonnen Bleie mehr als zehntausend Mark
erlösen könnte. Werner, immer höchst agil und dabei nicht selten
angriffslustig, sah mich scheel an, weil ich mit den Achseln gezuckt und
kritisch fragend angemerkt hatte, wer im neuen Konsumentenwunderland noch Bleie
kaufen würde? „De Russen!”, konterte er scharf und schaute
mich vorwurfsvoll von der Seite an. Manchmal schielte er ein wenig. Auf diese
Idee hätte ich von alleine kommen müssen. Auf jeden Fall fahre er jetzt mit
einem LKW, Kisten zur Fahrgastschiff-Anlegestelle in Prillwitz. Das könne ja
nicht falsch sein. Die nächsten Russen saßen in Neustrelitz. Deren Bedarf
jedoch wurde meines Wissens von den Prenzlauer und Neustrelitzer Fischern
gedeckt. Noch dachte ich nicht in den modernen Kategorien. Dieses Denken: „Zuerst
komme ich!” erschien mir noch als unmoralisch.
Da ich verpflichtet war, den Betrieb durchzubringen, blieb mir allerdings
nichts weiter übrig, als mich über meine Bedenken hinwegzusetzen. Es war
bereits vierzehn Uhr geworden. Schnell. Ich telefonierte, Dolmetscher Herbert
Fischer war einverstanden. Er stünde mir zur Verfügung. “Gleich?”
“Na, ja, sagen wir in einer Stunde!” Exoberstleutnant Herbert
bereits seit vier Jahrzehnten im Umgang mit Offizieren der Roten Armee geübt,
bat fernmündlich um ein persönliches Gespräch mit dem Chef der rückwärtigen
Dienste der Neustrelitzer Panzerdivision. “Kommen Sie, wann immer Sie
wollen!”
“Wir sind in einer halben Stunde bei ihnen.” Ein schneidiger
Unterleutnant mit Glacéhandschuhen, der wie ein Eleve des Tanzensembles des
Bolschoi Theaters ging und auftrat, holte uns von der Torwache ab. Oberst
Berlett lasse bitten. Es war, glaube ich, dasselbe Tor, das ich erstmalig 1946
gesehen hatte. Es standen da, wie mir schien, immer noch dieselben Worte, die
sich um die an die Wand gemalten Panzer und Waffenbrüder rankten: Ruhm und
Ehre. Slawa i tschest.
Seit damals ging hier kein normaler Sterblicher mehr ein und aus. In diesem
Stadtteil mochten früher vielleicht sechs- oder achthundert Neustrelitzer in
ihren Einfamilienhäusern gelebt haben. Das Tageslicht unter dem
wolken-verhangenen Himmel nahm bereits merklich ab. Deshalb erschien uns das
Haus, in dem der Oberst sitzen sollte so düster. Er erhob sich, als wir
eintraten, reichte uns die Hand, zeigte seine Goldzähne und gleich seine ganze
Freundlichkeit.
Schon die vielen auf dem Flur herumstehenden und diskutierenden Offiziere waren
mir angenehm aufgefallen. Solche Russen hatte ich bisher nur selten gesehen.
Ich kannte fast nur eckige Gesichter und die überwiegend groben Ausdrücke im
Aussehen und in der Sprache. Kaum, dass Berlett uns angehört hatte, nickte
er ermutigend. Er müsse nur noch mit seinem Vorgesetzten reden. Das
geschah. Herbert Fischer flüsterte, der Oberst versuche seinen Chef zu
überzeugen, dass sie gemeinsam dringend zehn Tonnen Bleie benötigten.
„Wie teuer?” In meinem Kopf existierte die Wunschgröße 1.75. „Knapp
zwei Mark je Kilogramm Frischfische!”, dolmetschte Herbert generös. So trat
er gelegentlich auch auf. Berlett strahlte. „Zwei Mark sind ein
guter Preis. Wann können Sie liefern?” „Fünf Tonnen sofort. Den
Rest morgen.” Er zog zweifelnd die Stirn hoch. Aber ich wusste es
ja. Fünf Tonnen sind eine glatte Kutterladung und diese Menge ziemlich schnell
ein- und auszukeschern war für unsere Männer kein Problem. Ich schaute auf die
Uhr. Anderthalbe Stunden bis zum Laden, eine weitere höchstens für den
Umschlag, eine halbe für den Transport. „Zwischen acht und neun Uhr!” Mit
hundert Sachen, wo es möglich war, raste ich nach Prillwitz. Denn da standen an
diesem frühen Abend meine ungeduldigen Fischer und warteten nur auf das
ersehnte Zeichen. Als wir kurz vor neun mit der ersten Fuhre auf dem
‚Russenspeicher’ ankamen, machten sich die uniformierten Jungs umständlichst
ans Abwiegen. Eine halbe Stunde lang sah ich mir das Theater an und sagte
schließlich: „Ihr seid wohl nicht recht bei Troste!”
Was Herbert übersetzte, kann ich nicht sagen. Sie stutzten jedenfalls. „Da
sind in jeder Fischkiste mindestens zweiunddreißig Kilogramm Ware und auf dem
Lieferschein stehen dreißig!” Bei dem Schneckentempo, das sie beim
Abwiegen vorlegten und bei dieser Menge, hätten wir die Zeit bis zum
Morgengrauen gebraucht und ich war todmüde. Natürlich konnte nur die
Gesamtmasse stimmen. „Lass sie mal.”, beruhigte Herbert Fischer
mich, er sei ja auch die Ruhe in Person. Sein Zuspruch tat mir gut. Nun, da die
DDR endgültig kaputt war, konnte einer wie er alles ganz gelassen sehen. Sogar
die Uhren liefen für ihn anders. Ich dachte an unser Gespräch zurück. Den
Zusammenbruch habe er bereits seit einem Jahrzehnt kommen sehen, sagte Herbert
Fischer, als wäre das so selbstverständlich, wie der Blätterfall im Herbst. Der
Kommunismus konnte nicht siegen. Gründlich hatte er mir das auf der Herfahrt
vorgerechnet.
Alleine die Wartung der komplizierten Waffensysteme sei zu kostspielig geworden
und dann diese Zweiklassengesellschaft. Am meisten hätte ihn aufgeregt, dass
die Hirsche den Privilegierten unter den führenden Genossen vorbehalten
blieben, während Leute wie er, nur Heger statt Jäger sein sollten.
Ungeschönt habe er das seinen großen Militärs des Öfteren an den Kopf
geschmettert: „Die Jagd dem Volke, die Hirsche dem Politbüro!” Höheren
Ortes hätten sie ihm das ziemlich verübelt. In ihrer Gunst sei er nur
geblieben, weil sie seine Fähigkeit schätzten auch dann simultan zu
dolmetschen, wenn sie durcheinander und schnell redeten. Immer auf diesen
kasachischen Raketenübungsplätzen sei er mit beiden Seiten gut ausgekommen,
weil er sie eigentlich mochte, diese raubeinigen Typen auf sowjetischer und die
etwas großmäuligen auf der eigenen Seite. Herbert meinte, die
Lagerverwalter der Garnison würden sich nächstes Mal leichter überzeugen
lassen, wenn sie sehen würden, dass wir sie nicht gleich beim ersten Versuch
betrügen wollten. Ich wandte mich ab. Das war die Höhe. Meine Fische
hatte noch keiner nachgewogen. Wir gaben immer ein reichliches Plus, außer bei
Aalen. Während ich nun ärgerlich und hundemüde am dunklen Ende der langen
Verladerampe stehe und in den matten Lichtkreis hineinstarre, indem sich zehn
Mann traumhaft langsam bewegen, berührt mich jemand von hinten. Ich wende mich
um und sehe den Blitz in den Augen eines jungen Mannes und gleichzeitig das
Aufblinken seines Bajonettes. Dieses Seitengewehres Spitze ragte einen halben
Meter über den mehr als zur Hälfte verdeckten Kopf. „Fifthy, fifthy!”, raunte
mir der in einem großen sibirischen Pelzmantel steckende Wachposten zu. Er
machte einladende Gesten, zog mich mit sich, noch tiefer ins Dunkel hinein, die
kleine Holztreppe hinab. „Da, da! Kaufen!” Er nahm seine
Kalaschnikow, die er geschultert getragen hatte und hielt sie mir hin. Dabei
streckte er die andere Hand unmissverständlich vor. „Njet, njet”, wehrte
ich, hilflos vor so viel Großmut, ab. Er redete von Munition wie ich von kleinen
Fischen und alles nur für sechzig Mark. Für die Maschinenpistole fünfzig und
den Rest für die ‚Murmeln’.
Ich machte ein großes Fragezeichen. Wir befanden uns doch nicht an der
tadschikisch-afghanischen Grenze. Als ich mich von dem munteren Jungen
abwandte und ihm den Rücken zukehrte, hatte ich das Gefühl, dass er mir einen
riesengroßen Vogel zeigte. Wie kann man nur so dumm sein? Eine Kalaschnikow ist
doch mehr als zehnmal so viel wert. Begeistert waren die immer noch mit
dem Abwiegen beschäftigten Männer nicht, als ich erklärte, sie möchten mir nur
den Erhalt der Fische quittieren, ich würde jetzt nach Hause fahren.
„Wie denn? Fünf Tonnen?” „Ja, genau, und falls sich ein Minus
herausstellt, liefern wir das Doppelte der Fehlmenge nach.” Herbert
Fischer redete auf sie ein, auch er hatte es inzwischen satt, bloß dazustehen
und immerzu nur die sich stereotyp wiederholenden Schattenspiele zu betrachten.
Es ging immer langsamer und wie mir schien im Zeitlupentempo voran. Lag es nun
daran, dass Herberts gutturales Säuseln sie noch schläfriger machte oder
interessierte sie gar nichts? Sie ließen sich aber auch nicht bewegen die
Unterschrift zu leisten. Plötzlich kam ein Offizier an. Ratsch hatte ich
die Unterschrift und batsch den Stempel.
Wir möchten bitte noch einmal zu Oberst Berlett reinschauen.. Oberst Berlett
saß immer noch, die Beine von sich gestreckt, wie wir ihn verlassen hatten, im
Halblicht seiner beiseite gedrehten Schreibtischlampe und schrieb. Er hätte
gehört, dass unsere Fische taufrisch und groß wären. Er lächelte. Er möchte mit
uns in Kontakt bleiben und unser Kunde werden. „Aber du musst nach
Berlin gehen und mit Co-Impex einen Vertrag machen!” Oberst Berlett,
ein vornehmer Typ mit leicht gewelltem dunklem Haar und exakt gezogenem
Scheitel, hätte mich nie ohne weiteres geduzt. Das machte die
Fischerübersetzung.
Co-Impex gab mir einen Termin
Zwei Tage später ging ich, mit gemischten
Gefühlen, in dieses blauweiße Gebäude in der Nähe der Friedrichstraße in Berlin
und saß bald darauf einem Mann gegenüber, der anfangs vierzig sein mochte und
etwa eins achtzig groß war. Wie mir auf den ersten Blick schien, war der da
einer, der wusste, wie man das Leben genießt. Blitzsauberes, hellblaues
Oberhemd, dezenter Schlips. Mir fiel in seinem glattrasierten Gesicht auf, wie
gut sein Bartansatz verteilt war. Er lächelte verbindlich. Du warst ein
Stasioffizier, dachte ich. Er war mir aber keineswegs unsympathisch, trotz
alledem. Dieser da, wenn meine Vermutung stimmte, hatte sicherlich zu den
Großen gehört und wahrscheinlich seinen Teil dazu beigetragen, dass Demokratie
für Leute wie mich, vier lange Jahrzehnte ein unerfüllbarer Wunschtraum
geblieben war. Dennoch differenzierte ich zwischen Programmen und
Menschen, obwohl sie in der Politik oft genug eine Einheit darstellten. Ich
wollte beides voneinander trennen und nur auf die Sache der Diktatur einschlagen. Ich
glaubte manchmal, dass mir dieser eine Satz, den ich so oft dachte, ins Gesicht
geschrieben stand. Das Recht sich frei entscheiden zu dürfen, ist wichtiger als
das Recht zu leben. Der auffallend gut Gekleidete fragte: „Könnten sie
sechzig bis achtzig Tonnen pro Quartal liefern, zu diesem Preis und in dieser
Qualität?” Ich denke, dass es mir gelang meine Miene zu wahren. Denn
ich war schockiert. Mein Hochziel lag bei höchstens einem Sechstel dieser
Summe, die er mir genannt hatte. Ich beeilte mich zu erklären: „Ja, wir
können.” Doch ehrlich gesagt, wusste ich noch nicht, wie das in die
Praxis umgesetzt werden könnte. Berlett muss mit ihm gesprochen haben! Berlett
war also zufrieden, er hat uns gelobt! In mir steckte noch dieser Gedanke
an Zusammenarbeit (schließlich waren wir nordöstlichen Binnenfischer der
ehemaligen DDR, ob wir wollten oder nicht, im Zweckverband ‚Qualitätsfisch der
Mecklenburger Seenplatte’ zu einer großen Wirtschaftseinheit zusammen-gebunden
worden.) Doch das war nun vorbei. Jetzt war sich jeder selbst der Nächste.
Binnen weniger Sekunden hatte ich mir ausgerechnet, dass die Warener und die
Prenzlauer Kollegen wie wir, über Unmengen Tolstolob verfügten, Silberkarpfen,
die kein Deutscher mochte. Sie würden sicherlich zuschlagen, wenn ich ihnen
eins vierzig aufs Kilo bieten würde, und wir hätten ohne einen Finger krumm zu
machen, sechshundert Mark je Tonne verdient. Das wären ja knapp
einhundertund-fünfzigtausend Mark pro Jahr Nebeneinnahmen. Mensch, Helmut Kohl,
lass’ bloß die Russen noch ein paar Jahre in Deutschland. Wir Fischer würden
liebend gern helfen, sie auf deine Kosten, zu ernähren.
Silberkarpfen, diese fernöstlichen Algenfresser, die bis zu zwei Meter hoch in
die Lüfte springen können - und dabei gelegentlich ins Boot eines ahnungslosen
Anglers - hatten wir auf Beschluss von Partei und Regierung in unsere Gewässer
einsetzen müssen. Müssen! Jawohl. Mir wurde warm ums Herz, als mein
Gesprächspartner bestätigend nickte: „Bleie und Tolstolob sind ok.” Er
wusste also, wovon die Rede war. Ich sah diese Unmengen Großfische vor
mir, die häufig je Stück mehr als zehn Kilogramm wogen und niemand wusste, wer
uns diese hunderten Tonnen abnehmen sollte. „Was haben sie uns noch
anzubieten?”
„Rotaugen.”
Er nickte abermals und schrieb: Silberkarpfen sowie Bleie, größer 500 Gramm je
Stück und Plötzen aller Größen. Saß ich im Vorgarten des Paradieses?
Die scharfen Augen meines Gegenübers musterten mich, ehe er behutsam
fragte: „Aber was machen wir, falls die Sowjets Sonderwünsche haben
sollten? ... natürlich in geringem Umfang.” „Kein Problem, wenn es
innerhalb eines, sagen wir, Fünfprozentrahmens bleibt.” Er winkte ab,
war’s zufrieden. Details interessierten ihn offensichtlich nicht. Die
gepflegten, langen Finger aneinanderlegend schloss der kompetente Vertreter von
Co-Impex das Gespräch ab: „Gut, Sie liefern auf Zuruf jede Woche
zunächst fünf Tonnen nach Neustrelitz.”
Hoffnungsvoll setzte ich hinzu: “Vertraglich gebunden.” Er
schmunzelte. Ich sorgte mich. Vertrauenerweckend setzte mein Partner hinzu: „Eine
mündliche Zusage ist ein Vertrag.” Wie gerne hätte ich ein Stückchen
Papier gehabt, auf dem, was wir ausgehandelt hatten, niedergeschrieben
stand. Es gab also noch eine Hürde. Die Frage, was das sein könnte,
quälte mich. Acht Wochen lang lieferten wir kontinuierlich aus eigenem
Aufkommen. Sogar Heiligabend fischten wir, aber sehr erfolgreich. Oberst
Berlett hatte bis dahin lediglich zweimal bescheidene Sonderwünsche geäußert.
Beim ersten Mal ließ er uns mitteilen, dass sein General aus Karlshorst käme.
Er würde sich freuen, wenn wir ihm einen Hummer beschafften. Ich wäre
notfalls selbst bis Kiel gefahren, um ihm den Wunsch zu erfüllen. Bescheidener
als Berlett konnte man nicht sein.
Wir schickten ihm zwei Kilo Hummer und legten drei goldgelbe Räucheraale
obendrauf. Beim zweiten Mal wollte er, für einen ähnlichen Anlass, einen
Karpfen haben. Wir boten ihm an, künftig statt sechs Prozent Plus nur vier zu
geben, aber dafür jedes Mal dreißig Kilo Feinfische obenauf.
Von da an nannten die Verpflegungsoffiziere mich “Väterchen Fisch”.
Berlett wurde plötzlich unterrichtet, er sei zurück in die Heimat versetzt
worden. Darüber war er unglücklich. In Neustrelitz wusste er ein heiles
Dach über seinem Kopf. In Russland wartete auf seine Familie und ihn
wahrscheinlich nur eine Scheune. Sein Nachfolger den er noch einarbeiten
sollte, war ein vierschrötiger Kerl, ein Oberstleutnant mit dem Gesicht einer
Bulldogge. Sofort überzog der Mann seine Kompetenzen. Berlett hätte keine
Ahnung. Statt fünf Tonnen sollten wir in der kommenden Woche zehn liefern. Die
erste Sendung am Dienstag, und die zweite am Freitag. Mir war gleich unwohl
zumute. Ich ahnte es. Das geht schief.
Doch der Neue setzte mich unter Druck. Was sollten wir machen? Oberst Berlett
befand sich auf Reisen ins Heimatland, wenn auch sehr ungerne. Um mir den neuen
Mann geneigt zu machen bot ich ihm mehrere Kilogramm Hummer an und eine kleine
Kiste Räucheraale. Mit bissiger Miene senkte der Oberstleutnant sein Löwenhaupt
und knurrte. War ihm das noch zu wenig?
Bei der darauffolgenden Lieferung winkte er mir mitzukommen. Da schlug mir
schon von weitem ein ekelhafter Geruch entgegen. Unsere bereits vor einer Woche
eingelagerte Ware stand schwarz und unangetastet in Kisten auf der
Leichtkühlfläche. Mir stockte der Atem. Er hatte einhundert Zentner
Speisefische verfaulen lassen. Warum? Selbst dem unfähigsten
Lagerverwalter darf das nicht passieren. Eher verschenkt man die
Fische. Seine breiten Schultern zuckend zog er, wie mir eine freundliche
Neutrelitzer Dame übersetzte, über Berlett her. Ich biss mir auf die
Zunge. Vorläufig, wie ich nun selber gesehen hätte, benötige er keine
Fische. Damit drehte er sich von mir ab und tapste schwerfällig davon.
Sogleich als ich alleine war, redete der Adjutant des Neuen auf mich ein. Es
dauerte eine Weile, bis ich begriff: Es ginge ihm um ein Gegengeschäft.
„Wir verkaufen dir einen Waggon Mehl.” „Mehl?” „Was soll ich mit
dem Mehl anfangen?”
„Na, für die Brotfabrik!” Die beiden hielten mich ganz
selbstverständlich für einen Banditen. Sollte ich das Berlett
petzen? Was musste ich tun, um wieder zum normalen Handel zurückzukehren?
Für uns war es überlebenswichtig geworden seiner Einheit, in den verbleibenden
anderthalb Jahren, mindestens sechzig Tonnen Tolstolob, Plötzen und Bleie zu
verkaufen. Wir verfügten über Kredite und die mussten mit rund acht Prozent
Zinsen getilgt werden.
„An deiner Stelle würde ich Co-Impex informieren.”, riet Herbert Fischer
mir, als ich ihn aufsuchte um mich zu vergewissern, dass uns kein
Übermittlungsfehler unterlaufen war. Er kratzte seinen Kopf, weil er keinen
bessern Rat wusste. Nächstes Mal ließe er mich nicht wieder allein
fahren. Fernmündlich erteilte Co-Impex mir folgende Auskunft: „Es
gibt einen Strukturwandel. Jetzt schreiben wir Sommer ‘91. Wenden sie sich
bitte an ‘Fischexport-import’ in Steglitz. Vielleicht wäre es besser, sie
verhandeln erst mit Wünsdorf. Wir bedauern sehr. Auch uns sind die Hände
momentan gebunden” In Wünsdorf kamen wir nicht weit. Wie Schulbengel
standen wir vor den schwarzen, eisengeschmiedeten Eingangs-pforten zum Park der
Allmächtigen. Links das große gelbe Gutshaus, in das wir nicht gelangen
konnten, rechts die Straße, auf der die Muschkoten entlang paradierten. Ein
höherer Sowjetoffizier kam angeradelt. Auf seinen Wortschwall hin zuckte
Herbert mit den Achseln. „Morgen sollst du nach Berlin-Dahlem
gehen.”„Morgen?” „Morgen!” Noch einmal müsste ich, allerdings aus
zwingenden Gründen, auf seine Dolmetscherdienste verzichten, aber die dort
sitzenden Leute verstünden Deutsch. Dieses Wort ‚Morgen’ war der ganze
Ertrag einer Tagesreise von fast dreihundert Kilometern. Anderntags, im
Bereich Berlin-Dahlem, als ich das schlichte Schild am versteckt liegenden
weißen Haus las, bedrückte mich bereits die bloße Tatsache seiner Existenz. Es
umdüsterte meinen Traum vom großen Geschäft. Trotzdem ging ich mutig hinein. In
einem kleinen Wartezimmer nahm ich Platz. Ich sah diese harten und bleichen
Gesichter nobel gekleideter russischer Zivilisten, die geschäftig an mir
vorbeieilten. Wortfetzen drangen zu mir. Im Büro des unsichtbaren Dirigenten
der Fisch- und Geldströme ging es um tausende Tonnen. Ich wurde
schließlich hereingebeten. Ein untersetzter, kahlköpfiger Herr mit weißer
Weste, der tatsächlich gut Deutsch sprach, saß halb in sich zusammengesunken in
einem schwarzen Ledersessel. „Was haben Sie uns anzubieten?” Ich
erklärte es.
Von meinen Tolstolob und Plötzen war nicht lange die Rede. Ein Blick hin, ein
Blick her: „Achtzig Tonnen im Quartal?” Keine Größenordnung
für ihn. Tiefgefrostet könnte man die Dinger quer durch sein großes Land
schicken. „Eine Mark aufs Kilogramm.” Er wedelte eine Fliege
weg. Ich schluckte.
Meine Betroffenheit übersah er geflissentlich. Die Hälfte steckt er in seine
Tasche. 80 000 Mark im Quartal. Aber immer noch besser als nichts. Seine
schwarzen Kugelaugen erstarrten, während er die für ihn wesentlichste Frage
stellte: „Wie viel Räucherlachse?” Er lächelte, während ich
spürte, dass ich langsam errötete.
Mit seiner Geiernase roch er meinen Widerwillen. Mühsam mich selbst
beherrschend überlegte ich. Doch ich war unfähig auszurechnen, wie viele
Räucherlachse ich ihm maximal bieten könnte. Was würden die Warener, was die
Prenzlauer sagen, wenn ich ihnen nur sechzig, oder achtzig Pfennige für ihre
Tolstolob biete? Immerhin mussten sie aufwendige Fischerei betreiben. Wir
selbst hatten unsere Tolstolobbestände bereits ausgedünnt, rechtzeitig.
Mit welchem Faktor durfte ich noch rechnen, wenn der da so rigoros den Preis
halbierte? Ich müsste erst mit den Leitern unserer Nachbarfischereien
reden und einen zweiten Termin vereinbaren. Andererseits musste ich ihm jetzt
und hier eine nennenswerte Menge Gratisfische anbieten. Immerhin nahm er uns
dreihundertundzwanzig Tonnen Silberkarpfen oder Rotaugen ab. Es ging, wenn wir
andere schwer absetzbare Arten einbringen könnten um ein erweiterungsfähiges
Geschäft von zunächst einer Drittel bis maximal einer dreiviertel Million Mark
Umsatz. Wenn er zurückzog, dann brachte ich allein unser kleines
Unternehmen um die direkte Einnahme von fünfzig- bis achtzigtausend Mark, - und
um wie viel indirekt? Zuerst musste ich das andere ausrechnen. „Acht
bis zehn Kilo jede Woche - gratis?” Das wäre im Verlaufe eines Jahres
eine halbe Tonne Räucherlachse, die erst erworben sein wollten.
Über sein fettglänzendes Gesicht huschte ein kleines, leicht verächtliches
Zucken.
Kalte Wut kam in mir hoch. Du willst jede Woche mindestens dreißig Kilo
Räucherforellen für nichts und wieder nichts haben? Du nicht! dachte
ich. Mit Gangstern mache ich keine Geschäfte. „So viele habe ich
nicht!”, sagte ich laut und bereute schon wieder, dass mich Emotionen
verleitet hatten. Hätte ich nicht sagen sollen, das muss ich erst
überdenken? Mir schien, dass er dachte: Du Leichtgewicht!
„Hm”, machte er nur, wog den runden Kopf und schüttelte ihn, wie
die Russen zu tun pflegten, wenn sie ablehnten. Ich stand auf oder besser
gesagt, der Ärger erhob mich. Ich hätte am liebsten die Glastür hinter mir
zugeschmettert. Um einhundertsechzigtausend Mark hatte er mich schon geprellt,
bevor von seinen dämlichen Lachsforellen die Rede war. Wir hörten nie
wieder voneinander, noch sah ich jemals den lieblichen Schuppen im
Russenmagazin zu Neustrelitz wieder.
Ein unvorhersehbarer Schluss
Eintrag in den Merkkalender am 5. September
1991: “Der Krieg zwischen Jürgen N. der Genossenschaft und mir ist zu
Ende!” Das Bezirksgericht Neubrandenburg hatte endgültig gegen ihn,
für uns entschieden. Herr Kurschus war mein Anwalt, der mich wiederholt
bremsen musste, wenn Jürgen auf Nachfragen Unwahrheiten behauptete. Er besaß
die Stirn dem Gerichtsvorsitzenden zu sagen, er hätte bei seiner Pachtung
unserer Gewässer zuvor meine Erlaubnis eingeholt. Da sprang ich auf. Kurschus
beruhigte er mich: Lass ihn doch, er hat schon verloren. Das Urteil
erging schnell. Jürgen Meyer der ehemalige und nun weiter amtierende
Fischereiverwaltungsbeamte im Neubrandenburger Großraum, hatte zuvor meinen
Fehler ausgebügelt, den ich vor Altentreptower Gericht beging, indem ich
Bewirtschaftungs- mit Pachtverträgen verwechselte, was dazu führte, dass ich
als Fischdieb dastand. Ich musste mich mühsam an neue Begriffe gewöhnen. Nun
lag der Bescheid vor mir. Meine Frau sagte mir am nächsten
Tag: „Ich glaube, Jürgen war hier.” Sie meinte, sie habe
gesehen, wie er vor der Haustür gestanden, geklingelt und dann davon gegangen
sei, noch bevor er sie oder sie ihn hätte ansprechen können, denn sie kannten
einander nicht. Am Abend des folgenden Tages klopfte es an meine
Wohnungstür.
Er war es. Hoch aufragend stand er vor mir. Ich blickte ihn entgeistert
an. Er wäre gekommen, um mir zu meinem Sieg zu gratulieren. Jürgen
streckte mir seine riesige Hand entgegen. „Du kannst mir doch nicht zu deiner
Niederlage gratulieren!“ Aber sein Plan sah das vor. Ich dachte: Was
für ein Riesenunsinn.
Allein die Idee fand ich absurd, geschweige denn die Verwirklichung. Wie
Kopfjäger hatten wir uns bekriegt und er kommt um zu gratulieren, weil er
unterlag. „Tritt ein!” Tief atmend nahm Jürgen im Sessel Platz. Ich
starrte auf seinen Mund. Wie oft mochte er diese Szene in den letzten sechzig
Stunden durchlitten haben? Ein Mann wie er, der nichts tat, ohne es gründlich
erwogen zu haben. Härteste Brocken hatten wir uns gegenseitig in den Weg
gelegt.
Ich sei ein Lügner! Er ein Ehrabschneider. Dass ich vor Jahrzehnten
in Prenzlau dreißig Berufsschüler in die FDJ hineingepresst
hätte. Komisch, was die Leute alles wussten. Tatsächlich war ich eine
Weile angetan gewesen vom Kommunismus, dass ich mich, schnell vorübergehend,
auf dem Weg zu Josef Stalin befand. Natürlich habe ich
damals 25 Aufnahmeanträge von der FDJ Kreisleitung geholt und sie
jedem meiner jüngeren Mitschüler auf die Klassenbank gelegt und danach eine
kurze Rede gehalten. Sogar ein Stalinbild pinnte ich an die Klassenwand, war
ein oder zwei Tage lang drauf und dran gewesen, in die SED einzutreten. Jürgen
schaute sich aus den Augenwinkeln blickend in unserer Wohnung um. Da gab es,
wahrscheinlich zu seiner Verwunderung, keine Anzeichen von Bigotterie, was er
meiner bekannten Glaubensansichten wegen sicherlich erwartet hatte. Ich
hätte viel darum gegeben, wenn es mir in diesem Augenblick möglich gewesen
wäre, seine Gedanken zu lesen. „Musste das sein?” fragte ich
ihn. Nur einmal zuvor, weit zurückliegend, als er tief in einer Klemme
steckte, - seine Staatsexamensarbeit wurde abgelehnt. Das sei
Lehrlingsgerede. Da habe ich seine grauen Augen so bescheiden wie
jetzt, so bittend gesehen. Ich wies ihn damals darauf hin, dass er etwas
noch nicht Dagewesenes beschreiben müsse und machte ihm Vorschläge… Er kam dann
geradeso durch. Wie damals rührte es mich auch diesmal wieder an. Ich
an seiner Stelle wäre nicht zu meinem Feind gegangen. Aber da saß er nun. „Ich
wollte...”, begann er stockend. Da wusste ich alles.
Sein Freiheitsdrang war stärker gewesen, als seine Vernunft. Den politischen
Umsturz habe er als seine große Möglichkeit betrachtet, endlich wegzukommen von
den Zwängen, die ein Leben in einem Arbeitskollektiv oder in einem Team
notwendigerweise mit sich brachten. Er war nicht geboren worden, um Befehle
oder Weisungen entgegen zu nehmen, sondern um sie zu geben.
Immer stand, bis dahin, einer über ihm, und darüber noch einer und so fort.
Frei sein wollen und nicht frei und unabhängig sein können, das war sein
Problem.
Er hatte den Kampf aufgenommen, jedes Mittel eingesetzt, auch die untauglichen.
Jürgen breitete seine großen Hände aus, die ich wohl gebunden sah, die jedoch
nur unterstrichen, was seine hellen, unruhigen Augen widerspiegelten. Sie baten
darum, dass wir ihm vergeben möchten. Ich sah, wie tief er bereute, mit dem
Schädel gegen die Wand gerannt zu sein. Ich sah diesen Hoffnungsblink. Jürgen
war unbequem und halsstarrig, groß im Hass und groß genug, sich selbst zu
beugen. Weich kamen die Formulierungen aus dem Kindermund, der mir nicht
selten hart und kalt wie Kieselstein erschienen war.
Lange Jahre hatte er vor mir und nicht nur vor mir eine Mauer errichtet. Die
stand sehr fest. Sie war hoch und breit. Deshalb war sie unüberwindlich
geworden. Lange Jahre hatte er vorgeben wollen, dass sein Schild und Rüstung,
die er sich zugelegt, sein angewachsener und natürlicher Panzer sei. Dieses
selbstgefertigte Ungetüm hing nun als Ballast an ihm.
Ja, ich habe ihn manchmal wiedergehasst. Es war mir nicht leichtgefallen,
diese Gefühle niederzuringen. Auch die anderen Männer hegten starke
Abneigung. „Nimmst du mich wieder?” Einen Augenblick lang
wusste ich nichts zu sagen. Hätte ich Nein sagen können? Aber über das Ja
entschied ich nicht allein.
Die neue Genossenschaft war von uns so strukturiert worden, dass alle
Mitglieder dieselben Rechte wie vorher besaßen, sogar mehr als zu alten Zeiten.
Unsagbar schwer würde es werden, die Fischer davon zu überzeugen, dass er von
nun an friedlicher und freundlicher mit ihnen umgehen wolle.
Wie ein aus einem bösen Traum erwachender Mann schaute er daher, als ich offen
ansprach, was er angerichtet hat. Er stellte dieselbe Frage, vielleicht
weil er annahm, ich hätte sie überhört: „Nimmst du mich wieder?” Mann
für Mann wolle er aufsuchen, zum zweiten Mal, ja, auch das sei richtig, aber
diesmal wirklich geläutert, bekehrt durch großen Schmerz. Ich kannte ihn.
Er würde genauso verbohrt, genau so verbissen, wie er bisher gegen uns gewütet
hatte, diesen unerhörten Anlauf solange wiederholen, bis die versteifte Wand
fiel, und sei es erst beim hundertsten Versuch. Er konnte gegen alle Logik
der Welt anrennen. Etwas anderes als Fische zu fangen - und darin war er
Meister - kam für ihn nicht in Frage. Er wollte an das Unmögliche
glauben, anders war für ihn kein Leben möglich. Entschlossen allen Hohn und
jeden Spott auf sich zu nehmen, war er zu mir gekommen, allen Zweifel, jedes
Bedenken überwindend.
Seiner Frau wegen, die er mehr liebte als sich selbst, der Zukunft seiner
Kinder wegen. Er musste es tun. Nicht eine Minute lang, nachdem seine
Niederlage besiegelt worden war, habe er eine andere Möglichkeit erwogen. Da
musste er durch. Er bitte um Vergebung. Selbst wenn ich es nicht von
Herzen gewollt hätte, nach diesen Worten musste ich ihm die Hand zur Versöhnung
reichen.
Mir war sonderbar zumute, als seine große Hand meine Finger umschloss.
Er wagte ein kleines Lächeln. „Wenn du zu mir hältst, dann wird das
auch was.”
Am drittnächsten Tag wollten wir beraten, was ich für ihn bei den härtesten
seiner Widersacher tun, wen wir für ihn gewinnen könnten.
Um seinen Wunsch zu erfüllen, benötigten wir neun Ja-Stimmen.
Es gab diesen dritten Tag nicht, nicht für ihn. Nachdem er von mir
weggegangen war, sprach er viele Stunden lang mit seiner Frau. Jede Einzelheit
seines langen Gespräches mit mir erfuhr sie. Danach legte er sich zum letzten
Mal in seinem noch jungen Leben zu Bett. Denn anderntags verunfallte
Jürgen im Verkehr auf der Landstraße tödlich. Ich hätte es mir nie
verziehen, wenn ich seine dargebotene Hand ausgeschlagen hätte. Noch nie habe
ich auf einer Beerdigung, einen Schlager, gespielt von einem Orgelorganisten,
gehört, aber auch noch nie so beeindruckend eine schlichte Melodie empfunden
wie dieses Lied: „Wenn bei Capri die rote Sonne im Meer versinkt.” Ich
sah ihn die Netze ausfahren und plötzlich mich als Dreizehnjährigen auf der
Ducht des Segelbootes unseres Nachbarn Janzen sitzen, sah das korngelbe,
gebauschte Segel und wie die rote Sonne versank und erinnerte mich der darauf
folgenden Nacht der Schrecken, - der Bombardierung Peenemündes - die aber nicht
das Ende bedeuteten, sondern mir die wunderbare Einsicht gaben, zu begreifen
wie wertvoll jeder Tag ist, an dem wir leben dürfen, um nach düsteren Stunden
wieder und wieder die aufgehende Sonne zu sehen …
Präsident Dieter Uchtdorf
Während meiner Zeit als Ratsherr in
Neubrandenburg (1990-1998) war ich zugleich Ratgeber versch.
Missionspräsidenten. Ab Mitte 1996 klagten die Missionare über Schwierigkeiten
zur Erlangung ihrer Aufenthalts-genehmigungen in den größerer Städten Mecklenburg-Vorpommerns.
Insbesondere war das in Stralsund der Fall. Da ich mich naturgemäß
oft im Rathaus unserer Stadt aufhielt klopfte ich eines morgens bei Carlo an,
einem Freund. Dieser Mann jedoch war ein eingefleischter Evangelikaler -
Pietist - und keineswegs ein Freund unserer Kirche. (Er war als Berater aus dem
Westen zu uns gekommen.) Er schmunzelte als ich eintrat. Seine Augen funkelten:
ich habe etwas für dich! Selbst mir durfte er nicht alles sagen und zeigen...
und so erhob er sich und ging hinaus, er käme gleich wieder. Zuvor rückte er
ein Blatt Papier so hin, dass mein Blick unweigerlich auf die Zeilen fallen
musste. Es handelte sich um das „vertrauliche“ Rundschreiben Nr. 18-95 des
Landesinnenministeriums. Ich war schockiert: Denn es betraf unsere Missionsarbeit.
Sofort war mir klar: Dahinter steckt die Kultusministerin des Landes
Mecklenburg-Vorpommern Frau R. Marquardt, die Ehefrau des Schweriner
Hauptpastors. Es sollte sich sehr schnell herausstellen, dass es so
war. Diese Dame hatte bereits zuvor einigen Wirbel gegen uns
verursacht. Nun versuchte sie, unter fadenscheinigen Gründen unsere Missionare
mit gewissen Klauseln, die unter Mitwirkung des Innenministeriums erarbeitet
wurden, aus dem Land zu drängen.
Wie schon angedeutet, hatte Frau Ministerin, mit SPD-Mandat im Amt, u.a. eine überarbeitete "Informationsbroschüre" herausgebracht, angeblich um mehr Kenntnisse über Sekten und Weltanschauungsgruppen zu verbreiten, obwohl sich die „alte“ von 1990 noch kaum im Umlauf befand. Die Hefte lagen zu Hunderten im Neubrandenburger Rathaus herum.
Beachte
den leicht schräg gestellten Aufdruck: "aktualisierte überarbeitete
Neuauflage 95"
Die Überarbeitung bestand im Wesentlichen
darin, ein Kapitel über "Mormonen" einzufügen, die sie persönlich als
ein Dorn im Auge empfand. Sie versuchte, soweit ihr das möglich war, unsere
Kirche als nicht ungefährliche "Sekte" darzustellen, weil "die
Mormonen" nicht offenlegen, welche Details in ihrem Tempelritual
vorkommen. Das ging auch aus der „Schweriner Volkszeitung“ vom 20. Dezember
1995 hervor. Die Überschrift lautete: „Wir wollen keine Ängste
schüren!“
Frau Ministerin Marquardt wollte kraft ihrer
Reputation erreichen, dass „Mormonen“ mit Argwohn betrachtet werden, oder
bereits bestehende Vorurteile verstärken, was ihr durchaus teilweise
gelang. Welch ein Trick. Diesmal politisch untersetzt und
auf Staatskosten. Ich telefonierte mit dem zuständigen Journalisten Herrn
Schultz, der einigermaßen rüde reagierte. Für ihn schien festzustehen, dass am
anderen Ende der Strippe ein engherziger, halbblinder Sektierer steht. Einige
Mitglieder der Schweriner Gemeinde reagierten empört, bestellten die Zeitung
ab… Als Mitglied des Jugendhilfeausschusses Neubrandenburgs mit
CDU-Mandat hatte ich eigentlich den Ruf eines moderaten Mannes, der mit nicht
wenigen PDS-Mitgliedern auf gutem Fuß stand, und mit denen der SPD ebenfalls.
Umgehend suchte ich meinen Freund, den stellvertretenden OB Neubrandenburgs,
Burkhard Räuber auf und sagte ihm geradezu, ich würde in der nächsten Sitzung
der Stadtvertreter mein Amt als Ratsherr mit einer Erklärung
niederlegen. Burkhard, ein aktiver Katholik, schüttelte sofort den
Kopf. Fest stand, dass die Neubrandenburger Presse mich bislang häufig, etwa
zwei-bis dreimal in jeder Woche, seit Jahren positiv zitiert hatte. Es würde
einiges Aufsehen erregen, wenn ich in meiner angekündigten "persönlichen
Erklärung" u.a. sagen würde: „Seit einhundert Jahren verbot
niemand (außer den Kommunisten der sechziger Jahre) unseren Missionaren, in
Deutschland zu wirken. Jetzt, mit der neuen Demokratie, nachdem wir die
Diktatur der Kommunisten überwunden haben, soll meine Religion der Freiheit und
der Rechtschaffenheit verdrängt werden…“ Wahr ist, ich hätte meine
ganze Redezeit ausgeschöpft, und die Presse hätte es im Wesentlichen
weitergegeben. Diese Rede hätte ich sorgfältig vorbereitet. Burkhard wusste
das, er telefonierte umgehend mit Schweriner Beamten. Ich informierte
Präsident Dieter Uchtdorf,
der mir sofort seine Sympathie und seine volle
Unterstützung zusagte und der mich umgehend bat, mein Mandat nicht nieder zu
legen. So fanden wir, Präs. Uchtdorf und ich, uns kurz darauf, im
Frühling 1997, auf die erwartete Einladung hin, im Landes-Innenministerium in
Schwerin zusammen. Zwei Staatssekretäre kamen zu uns. Präsident Uchtdorf nahm
die Gelegenheit wahr, etwa eine halbe Stunde lang mittels eines Bildbandes
beeindruckend darzulegen, was die Lehren und Absichten unserer Kirche sind. Umgehend
wurden wir unterrichtet, dass das Innenministerium M.-V. das besagte
Rundschreiben zurückzieht. Das geschah. Dieter Uchtdorf, der die 600
km weite Anreise nicht gescheut hatte, und ich fuhren anschließend zum
Kultusministerium, um beim zuständigen Staatsekretär H. darzulegen, welche
Richtigstellungen erforderlich wären. Daraufhin vernahmen wir, dass Frau
Kultusministerin Weisung geben würde die glücklicherweise mittig angeordneten
Seiten, unsere Kirche betreffend, entfernen zu lassen.
Dieter F. Uchtdorf war zuvor Chefpilot der Deutschen Lufthansa. Er wurde im Februar 2008 als Mitglied der Ersten Präsidentschaft der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage berufen und am 30. Oktober 2012 mit dem Verdienstkreuz am Bande der Bundesrepublik Deutschland ausgezeichnet.
2004 antworte er als Mitglied des Rates der Zwölf auf unsere Gratulation:
Hier 2023 vor dem Tempel zu Freiberg
… wurde ich von "MormonFair“
(nun FAIR) eingeladen im Mai in Offenbach meine Forschungsresultate
vorzutragen. Das geschah unter der Überschrift 'Second German-language
Apologetics Conference'. Die Evangelische Zentralstelle für
Weltanschauungsfragen Berlin kommentierte:
.Die „Foundation for
Apologetic Information and Research“ (FAIR; siehe http://deutsch.fairlds.org)
wurde 1997 gegründet und ist keine „kirchenamtliche“ Organisation der Mormonen,
sondern ein Zusammenschluss interessierter und engagierter Gläubiger. FAIR will
„gut dokumentierte Antworten auf ungerechtfertigte Kritik gegen die Lehren, den
Glauben und die Glaubenspraxis der Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten
Tage“ (HLT, Mormonen) bieten. Apologetik als Darstellung der Überlegenheit der
eigenen Lehre prägte deshalb auch den Vortrag von Gerd Skibbe. Der immerhin
schon 80-jährige Referent beeindruckte zwar mit seiner lebendigen Darstellung
und seinem hohen Engagement, mit dem er sich durch eine Fülle von Literatur
gearbeitet hatte. Sein Anliegen aber stieß auf wenig Resonanz. Nicht nur aus
der Sicht des Berichterstatters war seine Argumentation zu stark von einer
Anti-Haltung geprägt, die versuchte, die mormonische Gotteslehre als der
ursprünglichen christlichen Lehre entsprechend zu erweisen, indem das Konzil
von Nizäa und die Trinitätslehre als ein von den Machtinteressen Kaiser
Konstantins geleiteter Glaubensabfall dargestellt wurde. Auch aus inhaltlicher
Sicht erwies sich dieser Versuch als ein recht fragwürdiges Unterfangen.
Mormonen…“ Zweite deutschsprachige Apologetik-Konferenz
Schade, nur wenige Wochen
später entdeckte ich in dem von den Großkirchen anerkannten Athanasianum den
Grundwiderspruch: „wir (sind) gezwungen, in christlicher Wahrheit jede
einzelne Person für sich als Gott und als Herrn zu bekennen,“ - doch „der
katholische Glaube verbietet uns, von drei Göttern oder Herren zu sprechen. Das
damals zu sagen hätte sicherlich Wirkung erzielt.
Mao
2016- damals 86-jährig -
reiste ich, von Australien alleine nach Deutschland, um die Familie zu
besuchen, buchte den Flug aber so, dass ich ein paar Tage in China zubringen
konnte. Ich wünschte meine Eindrücke zu vertiefen, die Ingrid und ich empfanden,
während unseres Hongkong-Aufenthaltes 2011
An diesem Augusttag 2016 war
es in Shanghai ausnehmend heiß. Am frühen Morgen kaufte ich ein Ticket für
einen Abenteuertrip nach Hangzhou der alten Kaiserstadt von der die Chinesen
sagen: „;Im Himmel gibt es ein Paradies, auf Erden Hangzhou“
Die Kinder im Bus starrten mich an, wie sonst wohl nur – in der westlichen Welt – den Weihnachtsmann, denn das ist im Land des Lächelns sehr selten, ein Opa mit schneeweißen Haaren. Hätte ich nur mehr Geld eingetauscht! Die Bootsfahrt war großartig, doch der sich anschließende, über 5 Kilometer lange, „Spaziergang“ bei 42 Grad Celsius war es nicht. Meine Wasserflasche hatte ich im Bus zurückgelassen und eine Kopfbedeckung hielt ich zunächst für überflüssig. Das Mittagessen sollte in einem uralten Restaurant eingenommen werden. Vorher gab es den Rundgang durch die hoch interessante Stadt mit breiten Erklärungen in Mandarin. Da war ein Innenhof den ich nie vergessen werde: Zwischen den riesigen Gebäuden lag der winzige Platz und die Sonne brannte herunter. Gern hätte ich mich für ein paar Minuten hingesetzt, doch meine Gruppe zog weiter. Irgendwie war mir schwummrig, doch es war kein Ende der Gruppenführung abzusehen. Und da sehe ich einen fast zwei Meter großen Chinesen vor mir, Mao, wie ich dann hörte. Er schaute nicht lange, er reichte mir einen großen Wasserbecher. Er trug ein kleines Silberkettchen das von seinem Hals herunterhing. Beide radebrechend englischsprechend lud er mich zum Suppenhühnchenessen ein, von dem ich irrtümlich meinte, das sei im Preis inbegriffen. Na ja, es ist schon etwas dran, an dem alten Sprichwort: „Alter schützt vor Torheit nicht.“ Ich hätte einen Sonderfasttag einlegen müssen. Mao teilte die wunderbare, reichliche Mahlzeit – ein nicht gerade kleines, ganzes, gekochtes Suppenhuhn redlich und versprach er werde mich weiter begleiten. Natürlich hatte ich keine Ahnung, dass er von da an zwei weiteren Malen mein Leben retten würde. Wir marschierten anschließend stundenlang bis zur angekündigten open-air Präsentation durch die Straßen und Gassen der wirklich schönen Altstadt Hangzhou. ... und die vielen, vielen Händler die mich baten und baten... aber wie konnte ich? Gerne sonst... Es wäre einfach gewesen, mich mit chinesischem Geld einzudecken. Alles war rund halb so teuer wie in Australien. Und wie ich mich nach einer Dusche und meinem Bett. sehnte. Anschließend gab es für die Zehntausende, angereist in riesigen Buskolonnen, eine mehrstündige Darbietung die man alleine wegen der Farbenpracht gesehen haben sollte, genannt; „Das Leben im uralten China“ mit Tänzen und Wasserspielen. Sa kam ein alter Mann als Teil dieser Show mit einem größeren Boot angerudert. Vorne und hinten erleuchtet von kleinen Lampen mit flackerndem Licht. Ihn umrundeten vielleicht zehn dressierte Kormorane, denen er einen engen Halsring anlegten, damit sie die Beute ihm geben, statt sie gleich zu verschlucken. Bekanntlich sind die Kormorane allzu erfolgreiche Aal-jäger. In der Brutzeit töten sie pro Nest bis 300 Gramm Aale mittlerer Größe pro Tag. Trotz der riesigen Zuschauermenge schien alles recht nahe zu sein. Gegen Mitternacht, wie mir schien, ging es zurück, hin zu den Bushalteplätzen. Deshalb also trug ich das Abzeichen 25. Plötzlich stürzte ich, denn der Rückweg führte über uralte Steinstufen, die ungewohnte Abmaße hatten. Hätte Mao mich nicht aufgefangen, wäre es zu einem bösen Ende gekommen, denn steil bergab und enorm scharfkantig war die kopfsteingepflasterte uralte Brücke die wir in der Fast Finsternis überqueren mussten. Im Bus ging die Unterhaltung per Handy weiter. Maos Englisch war wirklich sehr mager. Er sprach hinein und erhielt gedruckt die Antwort. Jetzt saßen wir sicher im Bus, dachte ich. Plötzlich im Nirgendwo stoppte unsere Fuhre.
2018
… nach Monaten in
Neubrandenburg, verbrachten Ingrid und ich die letzten Nächte im schönen
Matthias-Haus, wenige Kilometer vom Stadtrand entfernt. Mitten in der
stockfinsteren Nacht verpasste ich, vom Bad kommend, in der oberen Etage, den
richtigen Ausgang. Statt ins Schlafzimmer zurückzukehren, trat ich vor und
befand mich für den Bruchteil einer Sekunde im freien Fall. Einen Meter über
dem Boden machte die steile Treppe eine scharfe Biegung. Es wäre mein Tod
gewesen, doch unsichtbare Kräfte, stießen mich zurück. Drei Tage lang spürte
ich den Schmerz in meinem Brustbein, den das Zurückstoßen verursacht hatte.
Gott sei Dank.
Denn ohne ihn sind wir nur
arme kleine Menschen, wertlos und verloren in den Weiten des Weltraums. Doch
Gottes Prophet Josef widersprach mir längst: „Seelen sind in den Augen
Gottes von großem Wert.“ Präsident
Uchtdorf drückte es auf seine Weise aus: „Wir können den Wert einer anderen
Seele ebenso wenig ermessen, wie wir die Weite des Universums begreifen können.
Jeder, dem wir begegnen, ist ein VIP für unseren Vater im Himmel.“
Das ist „Mormonismus“ pur.
Nachwort:
Zu den schönsten Entdeckungen, die ich je machte, gehört Raffaels Sixtinische
Madonna, gemalt 1514.
„Man muss das Originalgemälde mit eigenen
Augen gesehen haben“, sagte schon Gogol, der bedeutende
russische Autor. „Im 19. Jahrhundert hielt man das Gemälde für das
bedeutendste Bild der Dresdener Galerie, und manche Besucher kamen nur
seinetwegen.“ Juri Alpatow, ebenfalls Russe
und Kunsthistoriker sagte zu
Sowjetzeiten: “Seitdem hat sich der allgemeine Geschmack stark
verändert, man neigt eher zu einer Geringschätzung des Werkes.
Es erfordert eine gewisse Anstrengung vom modernen Menschen, um seinen
eigentlichen Wert zu erkennen.”
Wahr ist, die grundsätzliche Denkweise hat
sich seither sehr verändert. Nicht mehr die Kraft in den Dingen, sondern die
Oberflächen sind wichtig geworden. Dennoch ist auch das tiefer liegende immer
noch da. Wie ist das möglich, fragte ich mich, dass einige Gramm Farben, von
einem Künstler auf ein Stück Leinwand übertragen, solch tiefen Eindruck in mir
hinterließen? Immerhin sind es insgesamt nur ein paar Quadratdezimeter Ölfarbe
und diese Augen nur ein bisschen Umbra. Zugleich aber wusste ich,
dass Raffaels Gemälde allen Inhalt des uralten, ursprünglichen Evangeliums Jesu
Christi wiedergibt. Milliarden Menschen, die bereits auf der Erde gelebt haben,
und Milliarden weitere, die noch nicht berufen wurden, ihren Platz in einem der
für sie bereiteten Körper einzunehmen, blicken mit Spannung auf diesen
entscheidenden Moment und Scheideweg in der Weltgeschichte, den Raffael zeigt.
Christus, das Lamm, das in die Welt der Wölfe fällt, darf und wird nicht
versagen. Nur er kann uns eine glückliche Rückkehr ermöglichen.
Raffael malte dieses uferlose Meer von
Geistern. Kopf an Kopf, dicht aneinander gedrängt erleben sie - wir sind es! -
den Beginn des wichtigen Lebenslaufes irgendeines Wesens. Raffael zeigt Jesus
und uns selbst. Wir sind es, die wissen, dass er uns aus dem Loch herausholen
wird, in das wir freiwillig stürzten. Nur er kann uns von Folgen dieses Falls,
aus der ewigen Heimat, heilen, den wir uns wünschten, um zu lernen Gut von Böse
zu unterscheiden. Wir konnten kaum diesen Teil unseres unvergänglichen Seins erwarten:
die Selbständigkeit in der Phase der Sterblichkeit. Wie Kindern
erging es uns, die alt genug wurden, um eine eigene Familie zu gründen. Wir
drängten fort aus einem schönen Zuhause, in die Welt der unendlichen
Möglichkeiten, in der wir uns selbst verwirklichen wollen. Nun da
wir, aus gutem Grund, im großen Vergessen leben, kann die Botschaft Raffaels
jedem helfen: Ihr seid nicht nur von dieser Welt! Diese
Botschaft ist der andere Teil der Software, ohne den der Mensch als
fehlprogrammiert erscheint. Zahllose haben ihre Gründe, nicht denken zu wollen,
dass wir Doppelwesen sind. Aber was ändert das an der Tatsache, dass wir ein
Dasein hatten, bevor wir geboren wurden? Schiller ahnt es, das
drückt er mit seiner „Ode an die Freude aus “: „… Brüder, überm
Sternenzelt muss ein lieber Vater wohnen…“
1832, kurz vor seinem Lebensende sagte Goethe
im Gespräch mit seinem Freund und Sekretär Eckermann: „…Diese plumpe
Welt aus einfachen Elementen zusammenzusetzen … hätte ihm (Gottvater) sicher
wenig Spaß gemacht, wenn er nicht den Plan gehabt hätte, sich auf dieser
materiellen Unterlage eine Pflanzschule für eine Welt von Geistern zu gründen.
So ist er nun fortwährend in höheren Naturen wirksam, um die geringeren
heranzuziehen.” Jacob Moleschott
„Anthologie aus der Weltliteratur,“ 1894
Verwunderlich ist, dass zahlreiche
Intellektuelle sich mit dem Unterton der Überlegenheit zum Atheismus bekennen,
als sei das eine Errungenschaft, denn von unserer Natur aus sind wir allesamt
Ungläubige. Eben dasselbe sagt im Buch
Mormon König Benjamin: „der natürliche Mensch ist ein Feind Gottes!“ Mosia Goethe
sagte es: „Wenn du es nicht erfühlst, du wirst es nicht erjagen. Schwerwiegende
Eingriffe in urchristliche Praxis und Theologie machten aus dem liebevollen,
toleranten Christentum nahezu das Gegenteil. Cäsaropapisten
wie Kaiser Konstantin, änderten zunächst das Gottesbild der Christen, dann das
Charakterbild der Kirche, sie musste „…die Wünsche
Konstantins, befolgen, obwohl sie sie nicht billigte…Eben so
wenig, wie Konstantin Christus erwähnt, ist die (neue) Kirche
auf Christusbezogen...“. H.
Kraft, Habilitationsschrift „Konstantins religiöse Entwicklung“ Uni Heidelberg
- Greifswald, 1954
Er „... machte sich (325, in Nicäa)
zum Herrn der Kirche. In ihre Streitigkeiten griff er entscheidend ein und
verteilte mit geschickten Fingern Recht und Unrecht. ... im Handumdrehen füllte
sich der Hof des Kaisers mit einer Menge von Persönlichkeiten, die mit ihrem
Christentum Geschäfte machen wollten. Edlere Naturen konnten neben ihnen kaum
noch hervorkommen. (Sie) zogen sich angewidert zurück. Die siegreiche Kirche“ (kam
hervor.) Pfarrer E. F. Klein „Zeitbilder aus
der Kirchengeschichte“, Berlin, Ackerverlag, 1930
Vor Konstantin glaubten nur wenige
trinitarisch, nach ihm wurde es, bis heute geltend, zur obersten
Christenpflicht erklärt. Mitglied der „christlichen Ökumene“ zu werden, setzt
das Bekenntnis zum „dreifaltigen“ Gott voraus. Aber jede Anerkennung
des christlichen Monotheismus ist zugleich Leugnung der „christlichen
Wahrheit“. Das Athanasianum, das zu den drei großen Bekennt-nissen der
westlichen Kirche gehört, verlangt diese Leugnung mit den Worten:
- „wir
(sind) gezwungen, in christlicher Wahrheit jede einzelne Person für sich als
Gott und als Herrn zu bekennen,“
- doch „der
katholische Glaube verbietet uns, von drei Göttern oder Herren zu sprechen.“
Der „katholische Glaube“ wurde
erzwungen: „Seitens des Kaisers Konstantin wurde mit Drohungen und
Ankündigung von Repressalien gearbeitet. Jeder Bischof wird einzeln
vorgenommen. Ihm wird das Bekenntnis (das Nicänum) vorgelegt
und er wird zugleich vor die Alternative gestellt, entweder zu unterschreiben
oder in die Verbannung zu gehen...“ Rudolf
Leeb „Konstantin und Christus“ – die Verchristlichung der imperialen
Repräsentation, Walter de Gruyter, 1992
Die katholische Quelle "Familia
Spiritualis Opus" bekennt 2013: „Alles schien in bester Ordnung,
jedoch hatten einige Bischöfe nur ein Lippenbekenntnis abgelegt, da Kaiser
Konstantin mit der Verbannung jener Bischöfe gedroht hatte, die das Bekenntnis
nicht unterschrieben..." Als bekennendes Mitglied der Kirche Jesu
Christi der Heiligen der Letzten Tage lese ich mit Entsetzen, dass Dumme und
Gescheite, Gelehrte und Ungelehrte schwören: „Mormonen sind keine
Christen!“ Sie (lehnen) die Lehre von der Dreifaltigkeit strikt ab. Allein
diese Tatsache abgesehen von den bisweilen mehr als seltsamen
Offenbarungsinhalten, machen deutlich, dass wir es hier nicht mit einer
christlichen Konfession zu tun haben.“ 01.04.2012 Pater Hans Peters SVD
Pressesprecher Thomas Schneider von der Arbeitsgemeinschaft
Weltan-schauungsfragen setzte den Höhepunkt: „Diese Sekte … lehnt die
Trinität… ab…. Christen sollten sich in der Öffentlichkeit deutlich von der
auch in Deutschland missionierenden Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten
Tage (Mormonen) und ihren Vertretern distanzieren.“ Sektierer
als Gastredner bei Willow- Creek“, 2016
Seit wann darf man das Christsein daran
messen, ob jemand trinitarisch glaubt oder nicht? Warum setzen hochrangige
Christen das von Christus gesetzte Kriterium für ein „Christsein“ beiseite?
Sagte er nicht: „Wer meine Gebote hat und hält sie der ist es…“ Joh.
14: 21 Zahllose
Trinitarier neigten seit Nicäa zur Intoleranz. Ihre Gegner waren zuerst die
Arianer. Die haben sie verfolgt. Ahnherr solcher Gesinnung war der anscheinend
grobschlächtige Bischof Alexander von Alexandria. Um 320 prägt er die
Standardparole: „Dem Arius muss man Widerstand leisten bis aufs Blut“ Ernst
F. Klein „Zeitbilder der Kirchengeschichte“
Dieses Hasswort wurde zum Todesurteil der
Antike. Erst kurz vor seinem Lebensende um 335, vielleicht auch schon früher,
leuchtete Kaiser Konstantin ein, dass er Arius zu Unrecht verdammt hatte,
inhaltlich und praktisch. Praktisch, weil sein „christlicher“ Chefideologe
Athanasius ihm nur Scherereien bereitete und inhaltlich, weil er eben
Henotheist war. In Nicäa hatte er sich verrannt. Mehrfach musste Konstantin den
wütenden Athanasius wegen Kompetenzüberschreitung und Unruheschürung maßregeln.
336 befahl er - unerwartet - die Versöhnung der Kirche mit Arius. Das passte
vielen der Angepassten nicht. Allen voran ging es dem Metropoliten Alexander
von Konstantinopel gegen den Strich. Er war gleich nach Nicäa, 325, geistlicher
Herr der neuen Hauptstadt geworden und prahlte damit ein guter Orthodoxer zu
sein, als ob der angemaßte und frei erfundene Titel "Rechtgläubiger",
je Garantie für die Richtigkeit irgendeines Glaubens sein könnte. Sein ganzes
Gehabe ähnelte zu sehr den Manieren der Kommunisten die sich selbst für
unfehlbar erklärten und die dieser „Unfehlbarkeit“ wegen den 3. Weltkrieg in
Kauf genommen hätten. So erheben sich einige Fragen. Darunter die, ob es wahr
ist, dass dieser fanatische Metropolit in seiner Basilika zu Konstantinopel
laut gebetet hatte: „dass entweder er oder Arius aus der Welt entfernt
würden" Sokrates Scholastikus
Kirchengeschichte I XXXVIII
Unbedingt wünschte der athanasianische
Metropolit die unmittelbar bevorstehende Aussöhnung des Ketzers Arius mit der
Kirche unmöglich zu machen. Obwohl Kaiser Konstantin sie nun, 336, mit
Nachdruck verlangte.
Die moderne Forschung kommt, gegen den noch
vorherrschenden Trend, zu folgendem Schluss: „…der Erzketzer Arius ist
Traditionalist. Er steht fest auf dem Boden der kirchlichen
Lehrtradition." „Kirchen und Ketzer" 2004 mit
Unterstützung des norwegischen Forschungsbeirates für Klassische Philologie und
Religionswissenschaft, Uni Bergen
Eine Kursänderung Konstantins hätte das damals
durchaus noch nicht gesicherte Lehrgebäude des neuen Kirchensystems in seinen
Grundfesten erschüttert. Es wäre nicht nur zu einem Paradigmenwechsel, sondern
zum Machtverfall der Orthodoxie gekommen. Um die Pfründe gewisser Neukatholiken
wäre es geschehen gewesen. Die Sittengeschichte des Trinitarismus wurde mit
Blut und Tränen geschrieben. Fanatische Trinitarier trieben mit ihrem
intoleranten Benehmen die schwach Gottgläubigen in tiefste Zweifel. Ihretwegen
dominierte religiöse Unduldsamkeit sehr lange. Indessen hielt
Tertullian, ein Urchrist des Jahres 160, fest: „… ist es nicht gottlos,
wenn man jemand die Freiheit der Religion nimmt und ihm die freie Wahl seiner
Gottheit verbietet?“ Georg Denzler, „Mutige Querdenker, der
Wahrheit verpflichtet“
Toleranz ist göttlich. Selbst die stärkste
Liebe leidet, wenn Gewalt ins Spiel kommt. Beständiger Mut zur Wertesuche, zur
Selbstkritik und zur Wahrhaftigkeit müssen errungen, dann verteidigt werden.
Sie sind Kulturgeschöpfe wie Blumengärten. Nur durch unser, von Jesus Christus
gefordertes Zutun, - dem Halten seiner Gebote - können sie und wir bestehen.