Im Herbst 1944 – gut 14
Jahre alt – erhielt ich eine saftige Ohrfeige von einem SA-Mann, der das große
Hakenkreuzenblem als Armbinde über seinem braunen Oberhemd trug. Wir befanden
uns in Hinterpommern, in Groß-Mölln als Schulklasse in einem heruntergekommenen
Hotel, im Rahmen der Kinderland-Verschickung. Noch war uns nicht bewusst, dass es
dem großen „Führer“ darum ging uns Heranwachsende später als gut vorbreitete Reserve
und Kanonenfutter an die Front zu schicken. Wir wurden, von Fanatiker gedrillt
keine eigene Meinung zu haben, sondern Gehorsam zu lernen. Unser Leben gehöre Adolf
Hitler.
Der kleine Nazi-Mann
ereiferte sich, uns zu sagen, dass an allem Unglück die Juden schuld sind.
Dabei fielen aus seinem Mund die Worte: „Schlau sind sie schon immer
gewesen. Und ein besonders schlauer schrieb die Bibel…“ Ich meldete mich.
Er kam zu mir. Ich saß im Schulungszelt hinten. Er hörte mich sagen: „Nein,
das ist nicht korrekt, die Bibel entstand im Verlaufe von Jahrhunderten.“
Peng!
Das saß und brannte eine
Weile.
Auch wenn ich in meiner Heimatstadt
Wolgast selten Missionaren unserer Kirche begegnete und ihnen noch seltener
zuhörte, war doch einiges haften geblieben. Zudem besuchte ich gelegentlich die
„Gottesdienste“ der evangelischen Gemeinde – weil es bei uns während des
Krieges keine oder nur hin und wieder Zusammenkünfte gab - und kann mich, bis
heute, an gewisse Passagen der Predigten und Unterrichtsstunden erinnern. So
erfuhr ich schon früh, dass die Bibel ein Buch vieler Bücher zahlreicher
Schreiber war.
Irgendwann, in den
kommenden Monaten, nach Kriegsende, las ich Bibeltexte nachdenklich und
kritisch. Gelegentlich dachte ich an die kleine Episode rund um Backpfeife,
zurück.
Bald erkannte ich, dass
es u.a. die Härte der Auseinandersetzung zwischen Paulus und Petrus war, die
mich faszinierte und irgendwann überzeugte, dass die Bibel echt ist und
selbstverständlich ebenso wohl Gottes- wie Menschenwort.
Es war das Ideengut sehr
unterschiedlicher Persönlichkeiten die ihre jeweilige Glaubensweise zum
Ausdruck brachten.
Paulus war wirklich ein
Kauz! In seinem Brief an die Galater erlaubte er sich, die Behutsamkeit der
ersten Präsidentschaft der Urkirche (Petrus, Jakobus und Johannes) Heuchelei zu
nennen, weil sie keinen Anstoß wegen des begrenzten Verständnisses in Sachen
der Tischgemeinschaft von Juden und Nichtjuden geben wollten.
Der Streit artete aus, das
zeigt der Jakobusbrief, der passagenweise die ablehnende Antwort auf die
Behauptung des Paulus war: Der Mensch wird allein aus Gnade selig. Diese
Verabsolutierung der Gnade durch das Wort „Allein“, musste vielseitigen Widerspruch
erregen: Jakobus fragt verärgert
zurück: Soll daraus folgen, gute Taten wären zur Erlösung nicht nötig? Er schreit
die Antwort: "NEIN!", geradezu heraus: "Willst du aber
erkennen, du eitler Mensch, dass der Glaube ohne Werke tot
sei?" Jakobus 2: 20
Petrus reagierte besonnener: Jahrelang
begleitete er seinen Christus. Er hatte jedes Wort und seinen Geist in sich
aufgesogen. Kaum jemand kannte, wie er, die ewig gültigen Prinzipien des
Erlösers. Er schreibt entschieden und zugleich sehr um Versöhnung bemüht:
"... wenn ihr um guter Taten willen leidet und es
ertragt, das ist Gnade bei Gott. Denn dazu seid ihr berufen, da auch
Christus gelitten hat für euch und euch ein Vorbild hinterlassen,
dass ihr sollt nachfolgen seinen Fußtapfen; er, der keine Sünde getan hat
und in dessen Mund sich kein Betrug fand;" 1. Petrusbrief 2: 2-25
Er lässt keinen Zweifel zu, warum er sich gegen Paulis
Gnadenverständnis stemmt: “Seid
überzeugt, dass die Geduld (griech. ypomoni) unseres
Herrn
eure Rettung ist. Das hat euch
auch unser geliebter Bruder Paulus mit der
ihm geschenkten Weisheit geschrieben; es steht in allen seinen Briefen, in
denen er davon spricht. In ihnen ist manches schwer zu verstehen und die
Unwissenden, die noch nicht gefestigt sind, verdrehen diese Stellen ebenso
wie die übrigen Schriften zu ihrem eigenen Verderben.” 2. Petrus 3: 15-16
Wegweisend fand er für
den ersten Satz einen Begriff der die Erwartungshaltung Gottes
einschließt: wir könnten mehr tun. Der Herr warte auf dieses unser Guttun mit
schier unglaublicher "Geduld".
Petrus ließ sich nicht hinreißen,
Öl ins Feuer zu gießen, obwohl er voraussah, dass es viele geben wird, die auf die
Aussage „der Mensch werde alleine durch Gnade selig,“ pochen werden, was
zu entsetzlichen Verwerfungen christlicher Theologie führen muss.
Luther und Johannes
Calvin bildeten ein bis zur Stunde geltendes Glaubenssystem, das Millionen in
die Irre führte: Es ist fast antichristlich, wenn Lutheraner bis jetzt verkünden:
Der Mensch kann zu seiner Errettung nicht beitragen, er verfügt keineswegs über
Willensfreiheit. Luther schwört geradezu: „...die Vernunft selbst (ist)
gezwungen zuzugeben, ... dass es einen freien Willen weder im Menschen noch im
Engel, noch in sonst einer Kreatur geben kann.” M. Luther „Vom
unfreien Willen“
„Gottes Allmacht
und sein Vorherwissen schließt menschliche Willensfreiheit aus.“ Online
Dogmatik evangelischer Glaube
Willensfreiheit
ist und bleibt aber in Ewigkeit das Kennwort der „Gospel“. Niemand leugnete das
in den ersten dreihundert Jahren Kirchengeschichte: Die Aufgabe des echten
Christentums besteht eben darin: „Eine neue, alle völkischen Unterschiede
hinter sich lassende Lebensordnung (zu schaffen!) ... Alle Menschen von
sittlichem Willen (werden) sich ihr freudig unterstellen... (Erst) diese
Auffassung vom Ziel der sittlichen Willensfreiheit bringt uns die Loslösung des
Menschen vom Zwang irdischer Bindungen.“ Dialog des
Bardesanes bei Hans Lietzmann „Geschichte der alten Kirche“
„Der
Schöpfer gewährte den Intelligenzen, die er schuf, willensbestimmte freie
Bewegungen, damit in ihnen eigenes Gut entstehe.“ Arbeitskreis
Origenes
Johannes Calvin
dagegen verschärfte seine gegenteilige erzheidnische Lehre. Er gelobte
geradezu, es sei irrig zu glauben, „dass die Gnade Gottes in irgendeiner
Weise von der Würdigkeit des Menschen abhängt, dass der Mensch durch seinen
Glaubens– und Lebensvollzug die souveräne Verfügung Gottes auch nur im
Geringsten beeinflussen kann.“ Ringvorlesung der Theologischen Fakultät der Universität Basel,
Frühlingssemester 2009
Calvins Geist
ist autoritär: Nur er hatte Recht. „Wo die Calvinisten in der Mehrheit
waren…, regierte die Kirche weitgehend den Staat. Durch die vom Konsistorium
ausgeübte strenge Aufsicht über die Sittlichkeit wurde das Leben der
Gemeindemitglieder einer äußerst starken Kontrolle unterworfen. Die Ältesten
hatten das Recht auf ungehinderten Eintritt in jedes Haus zu jeder Zeit. Das
bedeutete praktisch: Keine Tür durfte verschlossen werden, um die Ältesten
nicht zu behindern. Das bedeutete auch; Vorhänge an den Fenstern hat nur nötig,
der etwas zu verbergen hat…“ Günter Stemberger „2000 Jahre
Christentum“
Im Jahr 1618, am Vorabend des 30-jährigen Krieges, kam eine illustre Fuhre calvinistischer Fanatiker in der Stadt Dordrecht in den Niederlanden zusammen. Sie strömten aus den deutschen Staaten, aus Schottland, England, der Schweiz, Polen, Böhmen und Frankreich herbei. Sie beschlossen, was die definitive „Wahrheit“ zu sein hatte: „Ihr bekennenden Calvinisten seid die zum ewigen Heil bestimmten, g l e i c h g ü l t i g, was ihr anrichtet. Ihr könnt gar nicht abtrünnig werden.“ Wörtlich hieß es: „Calvinismus bedeutet, du hast zu glauben, dass Gott vollkommen frei ist, einen jeden Menschen zum Heil (oder Unheil) vorherzubestimmen, ungeachtet dessen…, ob er glaubt oder nicht. Und diejenigen, die zum Heil vorherbestimmt sind, können nicht abtrünnig werden oder ihres ewigen Lohnes verlustig gehen.“ Kingdon, Robert M.: Der internationale Calvinismus und der Dreißigjährige Krieg
Das ist
unchristlich.
Sämtliche christliche Gemeinden verkündeten in den ersten 200 Jahren dagegen: Niemand darf dich ungestraft zwingen: „Zwar sind alle Geschöpfe ganz auf Gott angewiesen; eigene Anstrengungen werden durch seine Gnade weit überwogen. Aber die Vorsehung hat a l l e Regungen des freien Willens von Ewigkeit her vorausgesehen und e i n g e p l a n t. Sie werden gerecht vergolten.“ „Die Religion in Geschichte und Gegenwart“ Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft 3. Völlig neu bearbeitete Auflage Vierter Band Kop-O
Gott wird alle
Regungen des freien Willens jedes Menschen gerecht vergelten, und zwar
unabhängig davon ob sie gläubig sind oder nicht. Eben dasselbe sagt moderne
katholische Theologie: „Nach Auffassung des 2. Vatikanischen Konzils liegt
das wahre Wesen des Menschen in seiner Innerlichkeit, seinem Herzen, „wo er
selbst unter den Augen Gottes über sein eigenes Geschick entscheidet“ Karl
Hörmann „Willensfreiheit“
Das ist es was wir gemeinsam mit vielen glauben.
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