Dienstag, 30. Januar 2024

"Das Antichristliche im Protestantismus" by Gerd Skibbe

 

Im Herbst 1944 – gut 14 Jahre alt – erhielt ich eine saftige Ohrfeige von einem SA-Mann, der das große Hakenkreuzenblem als Armbinde über seinem braunen Oberhemd trug. Wir befanden uns in Hinterpommern, in Groß-Mölln als Schulklasse in einem heruntergekommenen Hotel, im Rahmen der Kinderland-Verschickung. Noch war uns nicht bewusst, dass es dem großen „Führer“ darum ging uns Heranwachsende später als gut vorbreitete Reserve und Kanonenfutter an die Front zu schicken. Wir wurden, von Fanatiker gedrillt keine eigene Meinung zu haben, sondern Gehorsam zu lernen. Unser Leben gehöre Adolf Hitler.

Der kleine Nazi-Mann ereiferte sich, uns zu sagen, dass an allem Unglück die Juden schuld sind. Dabei fielen aus seinem Mund die Worte: „Schlau sind sie schon immer gewesen. Und ein besonders schlauer schrieb die Bibel…“ Ich meldete mich. Er kam zu mir. Ich saß im Schulungszelt hinten. Er hörte mich sagen: „Nein, das ist nicht korrekt, die Bibel entstand im Verlaufe von Jahrhunderten.“ Peng!

Das saß und brannte eine Weile.

Auch wenn ich in meiner Heimatstadt Wolgast selten Missionaren unserer Kirche begegnete und ihnen noch seltener zuhörte, war doch einiges haften geblieben. Zudem besuchte ich gelegentlich die „Gottesdienste“ der evangelischen Gemeinde – weil es bei uns während des Krieges keine oder nur hin und wieder Zusammenkünfte gab - und kann mich, bis heute, an gewisse Passagen der Predigten und Unterrichtsstunden erinnern. So erfuhr ich schon früh, dass die Bibel ein Buch vieler Bücher zahlreicher Schreiber war.

Irgendwann, in den kommenden Monaten, nach Kriegsende, las ich Bibeltexte nachdenklich und kritisch. Gelegentlich dachte ich an die kleine Episode rund um Backpfeife, zurück.

Bald erkannte ich, dass es u.a. die Härte der Auseinandersetzung zwischen Paulus und Petrus war, die mich faszinierte und irgendwann überzeugte, dass die Bibel echt ist und selbstverständlich ebenso wohl Gottes- wie Menschenwort.

Es war das Ideengut sehr unterschiedlicher Persönlichkeiten die ihre jeweilige Glaubensweise zum Ausdruck brachten.

Paulus war wirklich ein Kauz! In seinem Brief an die Galater erlaubte er sich, die Behutsamkeit der ersten Präsidentschaft der Urkirche (Petrus, Jakobus und Johannes) Heuchelei zu nennen, weil sie keinen Anstoß wegen des begrenzten Verständnisses in Sachen der Tischgemeinschaft von Juden und Nichtjuden geben wollten.

Der Streit artete aus, das zeigt der Jakobusbrief, der passagenweise die ablehnende Antwort auf die Behauptung des Paulus war: Der Mensch wird allein aus Gnade selig. Diese Verabsolutierung der Gnade durch das Wort „Allein“, musste vielseitigen Widerspruch erregen: Jakobus fragt verärgert zurück: Soll daraus folgen, gute Taten wären zur Erlösung nicht nötig? Er schreit die Antwort: "NEIN!", geradezu heraus: "Willst du aber erkennen, du eitler Mensch, dass der Glaube ohne Werke tot sei?" Jakobus 2: 20

Petrus reagierte besonnener: Jahrelang begleitete er seinen Christus. Er hatte jedes Wort und seinen Geist in sich aufgesogen. Kaum jemand kannte, wie er, die ewig gültigen Prinzipien des Erlösers.  Er schreibt entschieden und zugleich sehr um Versöhnung bemüht: "... wenn ihr um guter Taten willen leidet und es ertragt, das ist Gnade bei Gott. Denn dazu seid ihr berufen, da auch Christus gelitten hat für euch und euch ein Vorbild hinterlassen, dass ihr sollt nachfolgen seinen Fußtapfen; er, der keine Sünde getan hat und in dessen Mund sich kein Betrug fand;"  1. Petrusbrief 2: 2-25

Er lässt keinen Zweifel zu, warum er sich gegen Paulis Gnadenverständnis stemmt:  Seid überzeugt, dass die Geduld (griech. ypomoni) unseres Herrn 

eure Rettung ist. Das hat euch auch unser geliebter Bruder Paulus   mit der ihm geschenkten Weisheit geschrieben; es steht in allen seinen Briefen, in denen er davon spricht. In ihnen ist manches schwer zu verstehen und die Unwissenden, die noch nicht gefestigt sind, verdrehen diese Stellen ebenso wie die übrigen Schriften zu ihrem eigenen Verderben.” 2. Petrus 3: 15-16

Wegweisend fand er für den ersten Satz einen Begriff der die Erwartungshaltung Gottes einschließt: wir könnten mehr tun. Der Herr warte auf dieses unser Guttun mit schier unglaublicher "Geduld". 

Petrus ließ sich nicht hinreißen, Öl ins Feuer zu gießen, obwohl er voraussah, dass es viele geben wird, die auf die Aussage „der Mensch werde alleine durch Gnade selig,“ pochen werden, was zu entsetzlichen Verwerfungen christlicher Theologie führen muss.

Luther und Johannes Calvin bildeten ein bis zur Stunde geltendes Glaubenssystem, das Millionen in die Irre führte: Es ist fast antichristlich, wenn Lutheraner bis jetzt verkünden: Der Mensch kann zu seiner Errettung nicht beitragen, er verfügt keineswegs über Willensfreiheit. Luther schwört geradezu: „...die Vernunft selbst (ist) gezwungen zuzugeben, ... dass es einen freien Willen weder im Menschen noch im Engel, noch in sonst einer Kreatur geben kann.” M. Luther „Vom unfreien Willen“

„Gottes Allmacht und sein Vorherwissen schließt menschliche Willensfreiheit aus.“ Online Dogmatik evangelischer Glaube

Willensfreiheit ist und bleibt aber in Ewigkeit das Kennwort der „Gospel“. Niemand leugnete das in den ersten dreihundert Jahren Kirchengeschichte: Die Aufgabe des echten Christentums besteht eben darin: „Eine neue, alle völkischen Unterschiede hinter sich lassende Lebensordnung (zu schaffen!) ... Alle Menschen von sittlichem Willen (werden) sich ihr freudig unterstellen... (Erst) diese Auffassung vom Ziel der sittlichen Willensfreiheit bringt uns die Loslösung des Menschen vom Zwang irdischer Bindungen.“ Dialog des Bardesanes bei Hans Lietzmann „Geschichte der alten Kirche“

„Der Schöpfer gewährte den Intelligenzen, die er schuf, willensbestimmte freie Bewegungen, damit in ihnen eigenes Gut entstehe.“ Arbeitskreis Origenes

Johannes Calvin dagegen verschärfte seine gegenteilige erzheidnische Lehre. Er gelobte geradezu, es sei irrig zu glauben, „dass die Gnade Gottes in irgendeiner Weise von der Würdigkeit des Menschen abhängt, dass der Mensch durch seinen Glaubens– und Lebensvollzug die souveräne Verfügung Gottes auch nur im Geringsten beeinflussen kann.“ Ringvorlesung der Theologischen Fakultät der Universität Basel, Frühlingssemester 2009

Calvins Geist ist autoritär: Nur er hatte Recht. „Wo die Calvinisten in der Mehrheit waren…, regierte die Kirche weitgehend den Staat. Durch die vom Konsistorium ausgeübte strenge Aufsicht über die Sittlichkeit wurde das Leben der Gemeindemitglieder einer äußerst starken Kontrolle unterworfen. Die Ältesten hatten das Recht auf ungehinderten Eintritt in jedes Haus zu jeder Zeit. Das bedeutete praktisch: Keine Tür durfte verschlossen werden, um die Ältesten nicht zu behindern. Das bedeutete auch; Vorhänge an den Fenstern hat nur nötig, der etwas zu verbergen hat…“ Günter Stemberger „2000 Jahre Christentum“

Im Jahr 1618, am Vorabend des 30-jährigen Krieges, kam eine illustre Fuhre calvinistischer Fanatiker in der Stadt Dordrecht in den Niederlanden zusammen. Sie strömten aus den deutschen Staaten, aus Schottland, England, der Schweiz, Polen, Böhmen und Frankreich herbei. Sie beschlossen, was die definitive „Wahrheit“ zu sein hatte: „Ihr bekennenden Calvinisten seid die zum ewigen Heil bestimmten, g l e i c h g ü l t i g, was ihr anrichtet. Ihr könnt gar nicht abtrünnig werden.“ Wörtlich hieß es: „Calvinismus bedeutet, du hast zu glauben, dass Gott vollkommen frei ist, einen jeden Menschen zum Heil (oder Unheil) vorherzubestimmen, ungeachtet dessen…, ob er glaubt oder nicht. Und diejenigen, die zum Heil vorherbestimmt sind, können nicht abtrünnig werden oder ihres ewigen Lohnes verlustig gehen.“ Kingdon, Robert M.: Der internationale Calvinismus und der Dreißigjährige Krieg

Das ist unchristlich.

Sämtliche christliche Gemeinden verkündeten in den ersten 200 Jahren dagegen: Niemand darf dich ungestraft zwingen: „Zwar sind alle Geschöpfe ganz auf Gott angewiesen; eigene Anstrengungen werden durch seine Gnade weit überwogen. Aber die Vorsehung hat a l l e Regungen des freien Willens von Ewigkeit her vorausgesehen und e i n g e p l a n t. Sie werden gerecht vergolten.“ „Die Religion in Geschichte und Gegenwart“ Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft 3. Völlig neu bearbeitete Auflage Vierter Band Kop-O

Gott wird alle Regungen des freien Willens jedes Menschen gerecht vergelten, und zwar unabhängig davon ob sie gläubig sind oder nicht. Eben dasselbe sagt moderne katholische Theologie: „Nach Auffassung des 2. Vatikanischen Konzils liegt das wahre Wesen des Menschen in seiner Innerlichkeit, seinem Herzen, „wo er selbst unter den Augen Gottes über sein eigenes Geschick entscheidet“ Karl Hörmann „Willensfreiheit“

Das ist  es was wir gemeinsam mit vielen glauben.




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