Samstag, 1. März 2014

Mein Vater hatte richtig gedacht.

Meine Eltern waren rechtschaffene Menschen. Vater fühlte sich nach dem Tod seiner Mutter schon früh entwurzelt, weshalb er verzweifelt nach Sicherheit trachtete. Es war die Suche nach der großen Wahrheit: Gibt es einen großen und gerechten Gott?
Jeder erzählte ihm etwas anderes.
Vielleicht gibt es Gott, aber gerecht ist er nicht, denn dann hätte er das Elend nicht zugelassen.
Die Christen lagen miteinander im Streit, wegen Kleinigkeiten, wie die zahllosen politischen Parteien in seiner Zeit, mit ihren unhaltbaren Versprechungen. Als 27jähriger Suchender stand mein Vater, 1932, unter dem Eindruck der neun bedeutendsten Richtungen die um Wählerstimmen buhlten.
Die 4 Hauptrichtungen boten völlig entgegengesetzte Lösungswege an, wie die Misere Deutschlands behoben werden könnte.


Partei Stimmen (Änderung) Sitze im Reichstag (Änderung)
Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei – Hitlerbewegung (NSDAP)
37,3 %
+19,0 %
230
+123
Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD)
21,6 %
−2,9 %
133
−10
Kommunistische Partei Deutschlands (KPD)
14,3 %
+1,2 %
89
+12
Deutsche Zentrumspartei (Zentrum)
12,4 %
+0,6 %
75
+7
Deutschnationale Volkspartei (DNVP)
5,9 %
−1,1 %
37
−4
Bayerische Volkspartei (BVP)
3,2 %
+0,2 %
22
+3
Deutsche Volkspartei (DVP)
1,2 %
−3,3 %
7
−23
Deutsche Staatspartei (DStP)
1,0 %
−2,8 %
4
−16
Christlich-Sozialer Volksdienst (CSVD)
1,0 %
−1,5 %
3
−11
Reichspartei des deutschen Mittelstandes („WP“)
0,4 %
−3,5 %
2
−21
Deutsche Bauernpartei (DBP)
0,4 %
−0,6 %
2
−4
Landbund
0,3 %
−0,3 %
2
−1
Deutsches Landvolk
0,3 %
−2,8 %
1
−18
Reichspartei für Volksrecht und Aufwertung (Volksrechtpartei)
0,1 %
−0,7 %
1
+1
Sonstige
0,6 %
−0,3 %
0
±0
Total
100,0 %

608
+31



Den Kommunisten muss man zugute halten, dass sie sich ehrlich um die Sorgen der Geringsten kümmerten, und dass sie sehr wohl voraussagten: Wer Hitler wählt, wählt den Krieg. 
 
Heute darf man rückschauend fragen: ist es nicht sehr wahrscheinlich, dass Deutschland auch mit den Kommunisten in die Katastrophe gefallen wäre, falls sie die “Macht ergriffen” hätten. Die Diktatur des Stalinismus wäre eine unzumutbare Provokation für den freien Westen gewesen, - eine Nötigung,-  militärisch einzugreifen.

All diese Gruppen wollten nur die zeitlichen Probleme angehen. Vaters ebenso dringend erscheinende Lösungssuche betraf weitaus mehr seine Seele.
Er hörte genau hin, wenn die einen oder die anderen redeten und zu überzeugen suchten, sie wären die wahren Heilsbringer.
Er erwog alles gründlich und gebetvoll, das ist wohl wahr.
Das Hauptproblem aller Zeiten bestand seiner Erkenntnis nach darin, dass die besten Programme nicht imstande waren oder sind, die Bestie Mensch  zu zügeln. Das vermag nur der Einzelne, wenn er stark genug motiviert ist.

Wenn der Hunger nach Brot oder Sex zu groß wird, verrät der Hungrige seinen besten Freund.
 Zivilisation ist aber nur dort, wo es eine tragende Schicht Prinzipientreuer gibt und die sind in der Politik ebenso selten, wie in der Religion.

Das Bild, das die Kirchen damals meinem Vater boten, war bunt aber kaum weniger verwirrend. 
Ihm schien, dass die braunen SA- Leute die in den Gottesdiensten auftauchten an Zahl zugenommen hatten. Zugleich aber lag auf der Hand, dass ihr Benehmen unchristlich war, wenn sie breitbeinig und  streitsüchtig durch die Straßen marschierten, während die Großkirchen sie allesamt immer noch als ihre "Christen" betrachtete, - denn sie zahlten die Kirchensteuer - obwohl die Herzen der meisten bereits an den Feind aller Rechtschaffenheit Hitler gefallen waren.
Und, wie sich mehr und mehr erwies, die Mehrzahl der Kirchen-Beamten trachtete auch nur nach eigenen Vorteilen, während die Hörer  sich sowieso nicht darum kümmerten was ihnen an "Seelennahrung" vorgesetzt wurde. Es gehörte sich eben, sonntags "zur Kirche zu gehen!", ganz gleich wohin die Gedanken schweiften.
Schlimmer, wenn er Gottesdienste besuchte erkannte Vater, wie sehr der Zeitgeist in den Predigten mitschwang. Es gab nirgendwo so etwas wie eine Hauptlinie.

Warum durften die Prediger einander das Wort abschneiden?
Warum trugen sie Sonderkleidung?
Wer gerantierte ihm, dass der Mann auf der Kanzel glaubte was er sagte, und meinte was er predigte?
Hatte das Gehalt den Charakter der Jesusverkünder nicht bereits in ältesten Zeiten verbogen?
War es nicht eine Frechheit gegenüber Gott, wenn sich die Großkirchen herausnahmen Menschen - kleine unmüdige Menschlein - durch einen angeblich frommen Akt, der eher einem schlauen Trick ähnelte, evangelisch oder katholisch zu vereinnahmen?

Wenn es je einen Mann gab, der einen seiner Finger für die ganze Wahrheit hergegeben hätte, dann er.
Ihm war sehr bewusst, dass niemand die “ganze Wahrheit” hat, ausgenommen sie wäre ihm von Gott gegeben worden.
Die meisten Menschen seiner Zeit hatten längst aufgegeben die Wahrheit zu suchen, sie entschieden aus dem Bauch heraus wen und was sie wählen würden.
Mein Vater ließ sich jedoch nicht beirren: Wenigstens Gott hat die Wahrheit und er gewährt uns stückweise wonach wir trachten.
Ein Mormonenmissionar hatte es ihm gesagt, dass im Buch Mormon geschrieben stünde, Gott gewähre uns Erkenntnis und zwar in dem Maß, in dem wir uns darum bemühten.
Man Vater hatte richtig gedacht.
Das Streben nach der Wahrheit ist genaus so wichtig wie das Finden.

G.E. Lessing schrieb zwei Jahre vor seinem “Nathan” unter dem Titel “Über die Wahrheit:
Wenn Gott in seiner Rechten alle Wahrheit und in seiner Linken den einzigen immer regen Trieb nach Wahrheit, obschon mit dem Zusatze, mich immer und ewig zu irren, verschlossen hielte und spräche zu mir: wähle! Ich fiele ihm mit Demut in seine Linke und sagte: Vater gib! die reine Wahrheit ist ja doch nur für dich allein!”
Nach dem Vorbild meines Vaters hielt ich den “Trieb nach Wahrheit” in mir hellwach. Ich irrte mich oft, aber ich fand wahre Prinzipien:
dazu gehört die Unabdingbarkeit von Toleranz, weil sie zugleich Menschenliebe, Wahrhaftigkeit und Bescheidenheit voraussetzt.

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