Vor und nach unserer Moskaureise
Gegen Ende meiner Ausbildung kam mir die Idee, es müsste doch möglich
sein, ähnlich wie wir Hechtbrütlinge in Plasterinnen vorzustrecken begannen,
Maränenbrut groß zu ziehen.
Im letzten Studienjahr betrachteten wir Neubrandenburger Binnenfischer
dieses Vorhaben zwar gemeinsam, aber auch ziemlich kritisch. Brütlinge dieser
Art verlangten gewiss besondere Sorgfalt. Andererseits lag die Verlustrate
unter natürlichen Bedingungen in den meisten Jahren sicherlich weit über 97 %.
Was verloren wir also, wenn uns gelingen sollte, die winzigen Maränen mit
selbst gefangenen Zooplanktonten in den für die Hechtanzucht bereits genutzten
Plasteaquarien anzufüttern und so viele wie möglich vor dem frühen Hungertod zu
schützen? Denn genetisch besitzen sie allesamt dieselben Überlebenschancen.
1971 versuchte ich das Experiment. Dreihunderttausend Stück frisch
geschlüpfte Kleinmaränen setzten wir in etwa sechshundert Liter Wasservolumen
ein. Das Neubrandenburger Leitungswasser erfüllte glücklicherweise die
erforderlichen Voraussetzungen, zumal wir es über eine kleine Kaskade von
Brettchen laufen ließen, um es so mit Sauerstoff anzureichern. Die schnell und
problemlos angefertigten großen Planktonnetze aus Müllergaze fingen Hüpferlinge
in Massen.
Wir verkannten allerdings einen entscheidenden Punkt, nämlich dass der
Anteil der für uns interessanten Kleinkrebse, die sich noch in ersten
Häutungsstadien befinden, zu gering war. Es kam deshalb trotz großer
Futtermengen zu einem Massenmaränensterben. Allmorgendlich lagen mehr und
mehr tote Fischchen auf den Böden
unserer je vier Meter langen Rinnen.
Erst der Biologe Dr. Manfred Taege, genannt Männe, ein Verehrer des
legendären Che Guevara, Tiefseetaucher und persönlicher Freund des Bruders
Fidel Castros, Buchautor und Mitarbeiter des Institutes für Binnenfischerei
Berlin-Friedrichshagen fand heraus, dass wir kleineres Lebendfutter fangen und
fortan sieben müssten.
Ehe wir allerdings die Erfolge erzielen konnten, von denen ich in
meiner Staatsexamensarbeit zu reden gewagt hatte, wäre ich um Haaresbreite aus
der Genossenschaft ‚geflogen’.
Das kam so: Mit unseren Ehefrauen planten wir einen 5-Tageausflug nach
Moskau.
(Früher wurden Unsummen in Getränken angelegt. Jetzt floss das Geld des
Kulturfonds in andere Richtungen.)
Gewisse Umstände oder Zufälle sollten einen großen Krach
heraufbeschwören.
Hermann Göck übernahm die Rolle des Reiseleiters und das mit einer
seinerseits überspannten Erwartungshaltung.
Zumal er Ehrenmitglied der PwF “Tollense” geworden war, lag es nahe,
ihm das Vergnügen zu gönnen, für ein paar Tage unser Herr und Meister zu sein,
aber nicht mehr.
Der geradlinige Altkommunist hielt allerdings die Zeit für gekommen,
endlich den Rest von Vorbehalten unsererseits gegen seinen geliebten Arbeiter -
und Bauern - Staat auszuräumen. Er hoffte und glaubte, wir würden Moskau mit
seinen Augen sehen und anschließend wünschen, seiner Partei beizutreten.
So stand Hermann Göck am Morgen des Tages der Abfahrt auf den breiten
Stufen des “Hauses der Kultur und Bildung” und ermahnte uns, in der
Weltmetropole des Kommunismus als würdige Vertreter der DDR aufzutreten.
Wir landeten in Scheremetjewo 1 und das gegen Abend.
Um zu unserem Hotel in Ostankino zu gelangen mussten wir mit einem Bus
quer durch Moskau fahren.
Natürlich hatten wir uns oft gefragt, wie die Menschen in der SU
lebten. Eigentlich glaubten wir, dass wir in Moskau ein Stück sozialistischer
Zukunft erkennen würden. Moskau werden sie als Schaustück hergerichtet haben,
als Modell der Zukunftsplaner, dachten wir.
So wie den Moskauer Menschen jetzt, könnte es uns später einmal im
Kommunismus ergehen. Wie in einem Spezialfilm erhielten wir während der späten
Busfahrt Einblicke in eine Vielzahl Wohnungen. Ich sah die Winzigkeit der
überwiegend unverhüllten, von sehr schlichten Lampen erhellten Stuben, die
Armseligkeit der Ausstattung der Räume. Die ganze Atmosphäre, in die ich auf
diese Weise hineintauchte, wirkte beklemmend. Ein Tisch, ein Wohnzimmerschrank,
einer wie der andere gleich, vier Stühle, ein Fernsehgerät. Diese elenden
Löcher in den Massenquartieren sollten der Gipfel der Errungenschaften sein?
Aber was hatten wir denn erwartet? Ich konnte es nicht in passende Worte
fassen. Das jedenfalls nicht.
‚Du hast es immer gewusst: Das Individuum tritt vor der Masse Menschen
in den Hintergrund. Der Einzelne ist den führenden Kommunisten gleichgültig.’
Mir war die Ungeheuerlichkeit solcher Anklage zwar bewusst, doch ich fand sie
hier bestätigt. Hermann Witte, der neben mir saß, stieß mich unentwegt an.
„Süh di dat an!” 169 Seine Art und der Rhythmus, in dem er
mir seinen Ellenbogen in die Seite rammte, hieß, „hesst du di dat so
vörstellt?” 170
Nein. Trotz vieler Negativberichte die ich mit der Zeit erhielt, hatte
ich diese Primitivität in ihrer Gesamtheit nicht erwartet.
Gemessen an der Formensprache durch die tempelartigen Hausriesen, die
ich von Bildbänden her kannte, war die individuelle Wohnkultur kläglich.
War, was ich sah, der ganze Ertrag von zwei Generationen Kampf und
Arbeit und Tränen? Natürlich, dazwischen war der Krieg gewesen. Was dagegen
gelang den Kapitalisten in diesem Vierteljahrhundert aus den Ruinenstädten
Westdeutschlands zu machen? Bereits am zweiten Tag unserer Anwesenheit erhielt
Hermann Göck die auch ihm peinliche Information, dass wir am nächsten Tage
abzureisen hätten. Moskau richte gerade einen internationalen Ärztekongress
aus. Es fehlten Hotelbetten und Verpflegungskapazitäten. Unglücklicherweise saß
ich am Morgen des rücksichtslos vorverlegten Abreisetages neben einem
Holländer, der mich angesprochen
und in ein
Gespräch verwickelt hatte. Ich
verabschiedete mich von ihm. Er stutzte, stellte Nachfragen. Ich antwortete
wahrheitsgemäß.
„Wir haben nichts zu wollen. Uns ist nur mitgeteilt worden, dass wir vorzeitig heimfahren müssen.”
„Das gibt es nicht! Ihr habt doch einen Vertrag!”
„Vertrag hin, Vertrag her. Was sollen wir machen?” Im unpassendsten
Augenblick, als ein mir nicht gut gesonnener Kollege an uns vorbeiging äußerte
der Niederländer: „Dann müsst ihr eben streiken!”
Er hatte schon immer gute Ohren gehabt und mir bereits früher
vorgeworfen, ich hätte ihn schon oft beleidigt.
Sofort ging mein Mitfischer zu Hermann Göck. Seine Frau saß an Göcks
Tisch und er hätte ohnehin zu ihm gehen müssen. Doch ich fand, dass er sich
sehr beeilte. Ich sah, wie sie miteinander tuschelten. Meinem Eindruck nach
redeten sie ziemlich intensiv über mich. Hermann Göck würde nicht nur erfahren,
dass und wie ich mit einem westlichen Ausländer über einen Streik in der DDR
gesprochen habe, sondern auch von andern Übertretungen, die ich mitunter
beging.
Ich sah, wie sie nebeneinander hockend wiederholt zu mir
herüberschielten. Mir schien, ich könnte Hermann Göcks Ärger sogar verstehen.
Er war mit dermaßen großen Wünschen hierher gekommen und nun sah er seine
Hoffnungen rapide schwinden. Er liebte dieses Land, diese Menschen und das
System, glaubte nun, ich würde alles
verachten.
Aber ich missachtete weder Land noch Leute.
Im Gegenteil.
Ich mochte nur nicht, wie in diesem Land mit Menschen umgesprungen
wurde. Er hatte gehofft, wir würden von seinem Moskau begeistert sein und so
fühlte er sich nun verspottet. Ich spürte, dass Hermann den Zorn aus maßloser
Enttäuschung kaum noch unterdrücken konnte.
Doch er fraß den Ärger vorläufig in sich hinein.
Er schwieg und grollte.
Ich musste ihm ja bald, wenn wir erst wieder daheim angelangt waren,
über den Weg laufen.
Wir besuchten noch den Fernsehturm Ostankino, fuhren hinauf und
bewunderten die ingenieurtechnische Leistung. Denn die Kuppel dreht sich einmal
in der Stunde um die Achse und bot einen herrlichen Ausblick über die riesige
Stadt und das sich weithin ausbreitende Grün.
Dann hieß
es, wir dürfen Lenin sehen.
Ich
jedenfalls wünschte es.
An kilometerlangen Menschenschlangen vorbei wurden wir bevorzugt zum
Leninmausoleum geleitet. Einige tausend Kirgisen, Kasachen, Mongolen, Russen
harrten geduldig aus und rückten kaum vorwärts, weil Privilegierte wie wir, an
ihnen vorbei, auf kürzestem Weg zum Ziel gelangten.
Auch Stalins balsamierten Leichnam hätte ich gern gesehen. Aber nach
Chrustschows Geheimrede 1956 war der zum Verbrecher erklärte Tote an der
Kremlmauer beigesetzt worden. Dort sahen wir nur die Grabstelle und die vielen
frischen Blumen, die seine Verehrer, wie wir hörten, täglich erneuerten. Nur
die Büste Stalins zu sehen, brachte mir nichts. Ich empfand weder Abscheu noch
Kälte, als ich später unmittelbar vor ihr stehen blieb. Er war mir in dieser
Situation nur gleichgültig. Anders bei Lenin. Gegen besseres Wissen empfand ich
immer noch eine gewisse Bewunderung für die Leistung des genialen Staatsmannes
Uljanow. Die kaiserlichen Deutschen ließen ihn im Herbst 1917 in ziemlich böser
Absicht in einem verplombten Sonderwaggon aus seinem Exilort in der Schweiz
nach Russland schaffen. Sie versprachen sich offensichtlich von Lenins Auftritt
und Wirken eine Vergrößerung des russischen Chaos zu Gunsten der entkräfteten
deutschen Ostfront.
Lenin aber gelang es, das Chaos allmählich in Ordnung zu verwandeln,
allerdings auf brutale Weise. Vielen vermochte er dennoch glaubhaft zu
versichern, mit ihm komme die neue gerechte Weltordnung herauf.
Als ich ihn plötzlich da vor mir im gläsernen Sarkophag liegen sah, war
es aus mit meiner Restsympathie für Wladimir Iljitsch Uljanow. In diesen
Sekunden erlangte ich eine noch deutlichere Vorstellung vom Ausmaß der
negativen Kraft, die durch diesen unbeugsamen, asiatischen Despoten zur Geltung
kam. Mich schauderte während ich seine zur Faust geballte Linke sah. Ich sah
Lenins Kommissare mit der Pistole und dem Strick agieren.
Hermann Göck dagegen zeigte sich ergriffen. Wir zogen nach kurzem
Stocken an der Ikone Lenin vorbei, konnten an seinem Glassarg nicht stehen
bleiben.
Helene Göck, die wahrscheinlich einen Versuch zur Versöhnung unternahm,
sprach mich draußen an. Im Hintergrunde die Basilius-Kathedrale, vor uns das Kaufhaus GUM.
Sie wünschte zu erfahren, was ich empfinde.
Ahnst du nicht, was ich fühle und denke?
Natürlich war ich stets bemüht zu differenzieren. Ich meinte, ich
könnte mich in die damalige Situation hineinversetzen. In diesem riesigen Land
musste damals, 1917, zugunsten der tatsächlich Unterdrückten etwas
Entscheidendes geschehen. Eine Clique gnadenloser selbstherrlicher
Gutsbesitzer, Zaristen und Pfaffen übte die absolute Vorherrschaft aus und
forderte frech die Gerechtigkeit heraus.
Unheiliger konnte eine Dreifaltigkeit kaum sein.
Viel zu lange schon verlief die Grenze zur Unmenschlichkeit mitten
durch das zaristische Russland, das sich und ihren Oberen gestattete noch im
20. Jahrhundert Menschen wie du und ich als Leibeigene zu halten.
Noch nie, in den letzten eintausend Jahren, verfügten dort die
Einzelnen über Möglichkeiten zu freier Gewissensentscheidung. Ob ein Grundsatz
richtig oder falsch war, entschied seit je der Zar als Haupt der
‚rechtgläubigen’ Kirche. Mich hatte es schon immer geschüttelt, sobald ich
daran dachte, wie oft diese russische Institution, die sich herausnahm Kirche
(Dach für Bedrängte) zu nennen, in den
vergangenen Jahrhunderten davon zu sprechen wagte, dass ihr und dem russischen
Zaren allein die Krone zur Weltherrschaft zustünde. Ihr heiliges Russland
sollte schon immer Modell der Welt von morgen sein.
Bei Ignaz von Döllinger hatte ich das bestätigt gefunden. In seinem
Buch “Papsttum” belegt der Kirchenhistoriker, dass der Heilige Synod
zu Moskau bereits 1619 in einer
Urkunde dem Zaren feierlich die
Weltherrschaft zusicherte, „dass er der einzige Herrscher auf der ganzen Erde
werde.”
Diesen anmaßend rigorosen Panslawisten, denen nahezu alle Nichtrussen
als Irrgläubige galten, standen die späteren fanatisch kommunistischen
Kommissare in nichts nach.
Wie ihre engherzigen Blutsbrüder wähnten nur sie sich im Besitze einer
Wahrheit, die um jeden Preis durchzusetzen ist.
Immer noch vor dem Leninmausoleum stehend dachte ich es mit Beklemmung:
Wenn dieser anspruchsvolle Herrentyp jemals zur unumschränkten Weltherrschaft
gelangen sollte; sei es als kommunistischer Kader seiner Partei oder als Fürst
einer Kirche, die beide nichts gelten ließen, als das, was ihresgleichen für
gut und wahr erklärten, dann lohnte es sich nicht mehr zu leben. Minutenlang
lag es für mich auf der Hand: Eintausend lange Jahre hindurch haben sie
bewiesen, dass der Imperator Konstantin, den sie zum Heiligen erklärten, ihr
Vorbild ist. In seinem Sinne praktizierten sie ihr von den alten gold- und
machtsüchtigen Byzantinern überliefertes total entstelltes, ins buchstäbliche
Gegenteil verdrehtes Christentum. Deshalb wurden sie die Erben religiöser
Unduldsamkeit und die Väter der Pogromhetze. Gnade den Juden die sich an
Karfreitagen auf ihren Straßen blicken ließen!
Sie duldeten zugleich das Unrecht der Freiheitsberaubung und ein
weithin verbreitetes Analphabetentum. Angesichts der Eindrücke, die sich mir
längst aufdrängten, stellte ich mir die Frage, ob der von eben diesem
urrussischen Triumvirat übertrieben verehrte Jesus von Nazareth die Spur einer
Chance gehabt hätte wäre er 1800 Jahre später und in Moskau geboren worden.
Hätte er sich herausgenommen, sie zu kritisieren, wäre er sehr wahrscheinlich
von seinen jetzigen ‚Anbetern’ sofort gelyncht worden.
Leo Tolstoi jedenfalls, wurde wegen Nichtigkeiten um 1900 vom
Heiligen russischen Synod in Bann und
Acht getan.
Vielleicht war ich angesichts meiner innern Bilder ungerecht, wenn ich mir sagte, es sei derselbe finstere
Geist, der einerseits die Kreuzesverehrer und andererseits die Stalinisten
inspirierte. Aber andererseits gab es hinlänglich Anzeichen dafür, dass die Enkel der alten
Rus, lediglich die Symbole geändert hatten, kaum aber die Methoden und keineswegs
das Ziel: Weltherrschaft.
Der Geist der Intoleranz und der lieblosen Arroganz bewegte sie und
stieß uns ab. Wie die einen so die anderen. Ihren Ausschließlichkeitsanspruch
begehrten die Orthodoxen wie die Kommunisten mit äußerster Härte gegenüber
Andersglaubenden durchzusetzen. Lenin
war es gelungen eine tausendjährige Tradition zu brechen. Das war es aber auch,
was mir Lenin so unsympathisch erscheinen ließ. Er kultivierte lediglich eine
andere Variante der Willenseinschränkung.
Aber
Menschen sind ausnahmslos freiheits- und liebebedürftig.
Helene Göck
gegenüber drückte ich meine Gedanken nicht so scharf formuliert aus.
Hermann Witte dagegen ließ seinem Unmut auf der Rückreise freien Lauf.
Er schimpfte und spottete darüber, dass sie sich herausgenommen hatten,
Vertragsbruch zu begehen und uns, mir nichts dir nichts abzuschieben und
wegzujagen wie Geschmeiß.
Hemmungslos beklagte Witte, dass es in einer Weltmetropole kein Bier
gab, jedenfalls nicht für sein Geld, dass es dort für Rubel nichts Billiges zu
kaufen gab, außer Brot und Salz und Kofferradios. Die Schuhe und diese Preise,
die Möbel. Tausend Tische in einem Riesenladen, aber einer wie der andere.
Hundert Wohnzimmerschränke, alle gleich, so gleich wie die Partei, die von ihr
regierten und dirigierten Menschen machte. Hermann Witte war einer von der Art
Leute, die, wenn sie zu lästern beginnen, nicht wieder aufhören können. Wie ein
alberner Schulbengel reizte er mit dem scharfen Gegluckse seinen Lehrer. Vor
allem während der Fahrt von Berlin zurück nach Neubrandenburg hörte man im
D-Zugwagen seine durchdringende Stimme quäken und dröhnen: „Wenn dat de ganze
Kommunismus is, denn führt ji nächstes Mol alleen, lot mi man an Land.”
171 Helene und Hermann Göck schwiegen und schämten sich. Nachdem wir
wieder daheim angelangt waren und unmittelbar bevor wir uns voneinander
verabschiedeten, kündigte Hermann Göck für den kommenden Montagabend seinen
Besuch in unserer Fischereibaracke an. Er wünsche mit allen Männern zu reden.
Der Montag kam und ich wünschte am Morgen, dass es schon Abend und alles vorbei
wäre. Schließlich saßen wir da.
Er kam, begrüßte jeden, lächelte sogar ein
bisschen. Das bleiche lange Gesicht mit der Thälmannfalte verhieß wirklich
nichts Gutes. Reinhard Lüdtke, der neue Vorsitzende, eröffnete die
Zusammenkunft. Das Unbehagen war ihm anzumerken.
Blond und beherrscht jedoch saß
der dreißigjährige Vorsitzende.
Wie wir, sah er voraus, dass
gleich die Fetzen fliegen würden.
Da war nichts abzuwenden. Er gab dem Gast, der kein Gast, sondern stets
als gleichberechtigtes Mitglied behandelt sein wollte, das Wort. Hermann Göck
dankte. Zunächst grummelte es nur verhalten aus seiner erregten Seelentiefe
hervor. Der alte Vorsitzende Bartel, seit Jahren Mitglied der Partei, senkte
den Kopf. Auch er hatte seine Lektionen erst bei dem Ehrenfischer Göck lernen
müssen.
Der fragte nun Hermann Witte, ob es ihm selbst nicht peinlich gewesen
sei, so furchtbar kindisch auf die Sowjetunion zu schimpfen und
herumzulamentieren. Im Zug, vor fremden Ohren, die glauben müssten, er wäre in
Moskau miserabel behandelt worden.
Solche
faustdicken Lügen!
Unerhört. Ob
er nicht hervorragend verpflegt worden sei.
Hermann Witte saß den Buckel gewölbt, schuldbewusst und schweigend da.
Den kräftigen Kopf mit den auffallend großen wasserblauen Augen nach vorn
ausgestreckt, steckte er die Rüffel ohne Widerrede ein. Rot war er angelaufen.
Natürlich leuchtete ihm längst ein, dass er überzogen hatte.
„Kein Bäär, kein Bäär!”, versuchte Göck sich in Wittes unnachahmlichem
Tonfall. „Mensch kein Bäär! Säufst doch auch sonst nich jeden Tag Bäär!”
Betroffenheit breitete sich aus, erfasste auch die Unschuldigen. Unser
Reiseleiter und Ehrenmitglied ließ nicht nach. „Da ist wohl noch viel Unkraut
und mancherlei reaktionäres Zeug in den Köpfen einiger! ... Du, Hermann Witte,
hast...”
Von mangelndem Ehrgefühl und nicht dem geringsten Empfinden für Takt
und Anstand war die lange Rede.
„Ich hätte mehr von dir gehalten!”
Ob Hermann Witte klar war, dass die Schelte ihm nur in zweiter Linie
galt?
Ich wusste,
Hermann Göck meinte mich. Sein weißes Gesicht bekam Farbe.
Dass ich mit einem Westdeutschen oder einem Holländer offen
DDR-feindlich geredet habe, hielt er sicherlich sowohl für erwiesen wie auch
für die Spitze denkbarer Bosheit. Ich war der Hauptverderber dieser in
mehrfacher Hinsicht misslungenen Reise. Ich ahnte es nicht nur. Dass seine
volle Wut eigentlich gegen mich zielte, spürten alle, obwohl seine Blicke mich
noch mieden.
Ich konnte nicht mehr abwarten.
Was er mir sagen wollte, solle er denn auch direkt an mich richten.
Sofort, als ich ihn so aufforderte doch unverblümt zu sagen, was ihn in
Wahrheit bedrücke, brach es mit elementarer Gewalt aus ihm hervor. Krachend
flog der Vulkankegel weg. Hemmungslos schrie er mich an und spuckte minutenlang
Feuer und Lava. „Beleidigung der Sowjetmenschen. Hast du überhaupt einen
blassen Schimmer, was diese Menschen gelitten haben... du... Streik...
Rausschmeißen aus der Genossenschaft. Boykotthetze...Reiseverbot für ewige
Zeiten.”
Seine Liebe für Menschen, Land und vor allem zu seiner Partei trieb ihn
in diesen Irrtum, aber auch seine bedingungslose Hingabe an die große Idee, die
ich in Frage zu stellen wagte. Ich, der Erdenwurm, hatte mir erlaubt sein
Heiligtum zu besudeln.
All das war eins für ihn.
So viele Jahre hatte er vergeblich um mich geworben.
Seine Bitterkeit schmeckte auch mir wie Galle. Er konnte und wollte
nicht tolerieren, dass ich seine sozialistische Staatengemeinschaft nicht
wertschätzte. Besseres als sie konnte es nicht geben für ihn. Da war es wieder,
was ich hasste, diese Unterstellung, wer seine Partei und die Sowjetunion nicht
liebte, der sei ein Volksfeind.
Er goss seinen Zorn in neue, stärkere Worte. Er beschuldigte mich
weiterer Vergehen. Alles sehr laut und im Brustton grenzenloser Empörung. Was
er nun sagte, ich achte die Sowjetfrauen nicht, war ihm ebenfalls geflüstert
worden. Eindeutig!
Nur einem bestimmten Mann aus meiner Nachbarschaft hatte ich, einen Tag
nach der vorzeitigen Rückkehr aus Moskau geschildert, wie ich gesehen hatte,
dass acht Frauen eine mächtige Eisenbahnschiene schleppten. Tapfer hielten sie
das Hebezeug und sie gingen Schritt für Schritt über den Schotter. Ich konnte
spüren wie diese Trägerinnen sich aufeinander absolut verlassen konnten, wie
ruhig sie nämlich arbeiteten.
Nur, rechts und links der Schwerlastträgerinnen befanden sich zwei
Männer, die jeder mit einem Signalhorn bewaffnet seelenruhig mitanschauten, wie
die Mütter und Ehefrauen sich abquälten.
Genüsslich indessen bliesen die beiden Herren der Schöpfung den
Zigarettenqualm in die blaue Luft. Diese Selbstverständlichkeit auf beiden
Seiten hatte mich ziemlich schockiert.
Jetzt hörte ich von Hermann Göck, ich wäre ein Feind der großartigen
Idee von der Gleichberechtigung der Frauen. Mir wäre es ein Gräuel zu sehen,
dass die Männer für die Sicherheit im Schienenverkehr sorgten. „Das sieht dir
ähnlich!”, schimpfte er. Ich hätte auch kein Recht, mich über die Preise
einfacher Schuhe aufzuhalten.
„Botten!”, sagte er höhnisch. Ich hätte sie ‚Botten’ genannt statt
Schuhe. Das stimmte! Aber woher wusste er das?
Jetzt war ich gänzlich sicher. Nur S.H. gegenüber, unserem Nachbarn,
der an sehr verantwortlicher Stelle im Rat des Kreises Neubrandenburg saß, war
ich, am Tage der Heimkehr, so offen
gewesen, sowohl die Schwerstarbeit durch Frauen, wie auch die ungeheuren Preise
für so grobe ‚Botten’ zu beklagen.
Dieser Opportunist S.H. hatte mich also bei Hermann Göck angezeigt.
S.H. war nicht ehrlich. Als Staatsfunktionär durfte er keine Westpakete
erhalten, auch nicht indirekt. Diese gingen, da er sie illegal empfangen
wollte, an die Adressen seiner Verwandtschaft auf dem Lande. (Über Kindermund
war diese Tatsache an meine Kinder bereits seit Jahren ausgeplappert und an
meine Ohren getragen worden: „Ätsch! Unsre Sarotti kriegen wir doch! Die holt
Papa immer von unserer Oma ab!”)
Diesem S. H., der nach außen hin so glatt und rot war, und so tat, als
würde er von allen der Linientreueste sein, als habe er die Weisheit
löffelweise gefressen, hatte ich mit diesen beiden Schilderungen lediglich eine
gewisse Frage gestellt: Ob er nicht manchmal Mitleid empfände mit den in der SU
lebenden Menschen, die sich in erster Linie für das ungeheure Rüstungsprogramm
des roten Imperiums abschuften mussten. Hätte er mir daraufhin nicht eine
sachliche Antwort geben können und mir ruhig erläutern können, wie er das
sieht? Statt hinzurennen ans Telefon und wutentbrannt die Göcksche Nummer zu
wählen?
Ich gebe zu, ganz unschuldig an dieser Verpetzung war ich nicht.
Als ich nämlich am Samstag nach der Rückkehr aus Moskau einem meiner
Hausmitbewohner erzählte, dass ich S.H. mit gewissen Tatsachen konfrontiert und
mit heiklen Fragen attackiert habe, lachte dieser und erzählte mir ebenfalls
eine uns beide erheiternde Geschichte über S.H., der auch ihn schon einmal auf
so arrogante Weise behandelt hatte. Während wir herausfordernd über ihn lachend
im Vorgarten beieinander standen und hinaufschauten zu einem gewissen Fenster
in der Nachbarschaft, erschien zufällig das Gesicht des Mannes im Fenster, auf
dessen Kosten wir uns amüsierten. Wir beide wussten nämlich die Sache mit den
Westpaketen, die S.H. klammheimlich empfing.
S.H., obwohl er kein Wort gehört haben konnte, musste es erspürt haben,
dass wir ihn auslachten. Daraufhin ist er hingegangen, um mich bei Hermann Göck
anzuzeigen. Dass es so war, lag nun auf der Hand. Denn Hermann Göck erwähnte zu
alledem, nämlich in seiner anhaltenden Schimpfkanonade, ich wäre ein verbohrter
großer Esel, der nicht begreifen will, dass die gigantischen sowjetischen
Rüstungsanstrengungen den Menschen dort nicht weh täten und dass niemand sie
deshalb bemitleiden müsste. „Jawohl! Aber wer sozialismusfeindlich eingestellt
ist, wird das nie verstehen können...”
Ich wollte ihm nun in die Parade springen, kam jedoch nicht zu Wort.
Mir schien, ich dürfte nichts auf mir sitzen lassen, dem auch nur der
Geruch von Unrecht anhaftete.
Er habe mir ein für allemal verständlich zu machen, was ich anscheinend
nicht begreifen wollte: „Millionen haben im Befreiungskampf gegen den
Faschismus ihr Leben verloren und du, du ...”
Viele Worte prasselten weiterhin auf mich und uns herunter.
„... endlose Opfer... verbrannte Erde...”
Wie durch einen Lautsprecher dröhnte er und alle andern saßen wie
versteinert.
Hermann erklärte, ich sei unwürdig Genossenschaftler zu bleiben.
Das war der Augenblick, an dem es für mich richtig gefährlich wurde.
Zwei, drei wirkungsvolle Sekunden lang stand seine Forderung wie ein
Ausrufungszeichen im kleinen ‚Kulturraum’, mit immer noch demselben Radio aus
der Frühzeit der Genossenschaft.
Mich packte ein ungeheures Gefühlsgemenge aus Wut und Mut, aus Angst
und Stolz. Zehn Dezibel lauter als er, gab ich meine Gegenerklärung ab:
„Ich bin maßlos enttäuscht, wenn das was wir gesehen haben, das ganze
Ergebnis von sechzig Jahren Kommunismus ist. Das will ich dir sagen, Hermann
Göck, auch wenn du das anders hinstellen möchtest. Mich dauern all diese
zahllosen durch willkürliche Eingriffe zerstörten Familien, es tut mir weh zu
sehen, dass in Kriegs- und Friedenszeiten Abermillionen für ein fast Nichts an
Verbesserungen ihr Leben hingegeben haben und jetzt für den Weltfrieden immer noch
zuerst Panzer und Kanonen bauen müssen, müssen, müssen. Ich weiß auch um die
guten Sachen im Sozialismus. Aber die decken nicht die Mängel und die Wunden
zu. Ich kann die Menschen dort nicht beneiden.” Weil ich unnatürlich laut und
viel redete war meine Wortwahl nicht gerade die beste, feinste. In Wahrheit
schrie ich, nur weil ich meine Bedenken zu überwinden hatte, ich käme zu spät
zu Wort.
Er setzte zu einer Erwiderung an.
Es sei unerhört, dass ich nicht reuig in mich ginge.
Nun aber ließ ich ihn nicht zum Zuge kommen. Entschlossen mich zu
behaupten riss es mich hin zu behaupten: „Deine niederträchtigen Informanten
kenne ich!”
Er stutzte.
Ich nannte
ihm beide Namen.
„Dieser S. H. und dein X. hatten beide nicht den Mut, mit mir Auge in
Auge ins Gericht zu gehen! Da haben sie dich vorgeschoben! Das ist Feigheit vor
dem Feind.”
Ich wiederholte dröhnend die beiden Namen und exakt das, was er nur von
dem einen und was er von dem anderen vernommen haben konnte.
Viel lieber als mich so meiner Haut zu wehren, wäre ich in ein
Mauseloch gekrochen. Doch ich blieb fest, ich würde keinen Millimeter von dem,
was ich geäußert hätte, abweichen.
Meine Kollegen schauten mich betroffen an. Reinhardt Lüdtke rutschte
auf dem harten Stuhl hin und her. Ihm fiel nichts ein, die Richtung der immer
noch unberechenbaren Auseinandersetzung zu beeinflussen. Reiners Augen rollten,
als wollte er mir bedeuten sofort den Mund zu halten. Mein Trotz würde alles
nur verschlimmern.
Mir blieb aber keine Wahl. Mir blieb nur übrig, mich mit Hilfe der
Wahrheit zu verteidigen.
Meine Tatsachen hatten ihre Wirkung auf meinen hocherregten alten
Freundfeind nicht verfehlt. Sie verschafften sich Gehör und Raum. Ihn
beeindruckte offensichtlich, dass ich immer noch zu dem stand, was ich gesagt hatte:
„Der Sozialismus hat bessere Seiten als die von mir kritisierten.”
Nun konnte ich ruhig hinzusetzen und erklären, was mein Intimfeind
nicht richtig verstanden, aber dennoch an ihn weitergegeben hatte: „Von einem
Streik, Hermann Göck, habe nicht ich, sondern der Holländer gesprochen. Ihr
habt doch für fünf Tage bezahlt, lasst euch das nicht gefallen. Das ist doch
wohl ein Unterschied wie Tag und Nacht!”
„Aber das hättest du dem fremden Mann ja auch nicht auf die Nase binden
müssen.”
„Darum geht es ja gar nicht!”, hielt ich dagegen, „ich bin genau so
traurig wie du!“ Er schaute mich nun aus großen Augen an, wie ich ihn.
Seine, meinerseits befürchtete endgültige Erwiderung blieb
erstaunlicherweise aus. Er wiederholte betroffen und mit auffallender Verwunderung
den Namen S.H.
Deshalb schwenkte er um.
Er sagte plötzlich, aber wieder in normaler Lautstärke: „Ich werde S.H.
fragen, warum er vor dir gekniffen hat.” Er kratzte ein Ohr. „Den kaufe ich
mir!”, erwiderte er. Er werde ihm den Marsch blasen! – „Ich! … ” So heftig wie
die Aussprache begonnen hatte, so jäh endete sie. Plötzlich war von seinem
Antrag auf meinen Ausschluss aus der Genossenschaft keine Rede mehr.
Die ungeheure Macht der Partei, die hinter ihm stand, bedrohte mich
nicht mehr direkt. Dass S.H. ihn vorzuschicken gewagt hätte, nahm er ihm übel.
Wort für Wort hatte ich in dieser Zusammenkunft unter zehn Zeugen offen gelegt,
was ich S.H. gesagt habe und wie hinterhältig er reagierte.
Die Westpaketgeschichten gehörten hier nicht her und so vergalt ich es
ihm nicht.
Mir lag daran, die Situation weiter zu entspannen. Ziemlich behutsam
äußerte ich deshalb, dass mir stets gewisse Bilder vor Augen stünden.
Darum ginge es. Alles andere sei mir gleichgültig.
In riesigen primitiven Arbeitslagern hätten unschuldig inhaftierte
russische Menschen jahrzehntelang hausen und darben müssen. Fernab ihrer
Familien mussten sie sich aus einem einzigen Grund zu Tode rackern. Nämlich um
Workutas Straßen zu bauen. Alles wegen Stalins Größenwahn. Sogar in unserer DDR-Presse
wurde der Wahnwitz, als „Personenkult“
bloßgestellt. Wortwörtlich konnte ich aus seinem “Neuen Deutschland” zitieren.
Ihm aber weitere Grobheiten ins Gesicht zu schmettern, nahm ich mir
nicht heraus.
Man muss ja nicht unentwegt im Klartext formulieren. Inmitten der Worte
schwingen ohnehin die Töne des echten Gefühls. „Ja, der verfluchte Krieg!”,
erwiderte Hermann, und ich war froh, dass er es so deutete. Als er schließlich
davongegangen war, ebenso mattgekämpft wie ich, klopften mir Witte, Fritz Sack und andere Kollegen auf die
Schulter. Dem hätte ich es aber gegeben.
Das war nicht meine Absicht gewesen. Es ging um mehr.
Äußerlich erschien ich wahrscheinlich gelassen, doch meine Knie
zitterten und auch mein Gemüt bebte nach. Dass es Verleumder gibt, ist eine
Tatsache, dass man mit ihnen leben muss, ist schwer.
Mir wäre eine ruhige Auseinandersetzung auch lieber gewesen.
Die Angst der Ungewissheit blieb eine Weile bei mir.
Erst einige Wochen später sah ich Hermann Göck wieder. Mir schien, er
ginge gebeugt. Langsam setzte er seine langen Beine. Er kam aus Richtung des
Krankenhauses in der Külzstraße. Ich wich ihm nicht aus, sondern ging auf ihn
zu.
„Lenchen liegt im Koma!” teilte er mir mit und streckte mir die Rechte
hin. Die innere Erschütterung stand ihm ins Gesicht geschrieben. Seine Frau war
stets nur freundlich zu mir gewesen. Ich wusste, wie sehr beide aneinander
hingen. Unter den Blättern und hängenden Zweigen einer bereits herbstlich
eingefärbten Birke stand er mit seinem weißen, sorgfältig gescheitelten Haar.
Ein gebrochener Mann. Unerwartet muss ihn die Härte der Erkenntnis getroffen
haben, dass uns Grenzen gesetzt sind.
Als alte Freunde, die ihren Streit längst vergessen hatten, redeten wir
miteinander. Es war auch ihm, denke ich, angenehm, dass wir einander nichts
nachtrugen, sondern damit leben konnten, wenn unterschiedliche Menschen
grundsätzlich andere Denkansätze hegten.
Coregonus lavaretus oder nasus?
Unmittelbar nach der Moskaureise entwickelte sich aus der Idee, Kleine
Maränen vorzustrecken, der Gedanke, eine neue Fischart einzubürgern.
Erika, meine Frau, äußerte ihre Bedenken. Vor allem wegen der Art, wie
ich es tun wollte.
Ich aber schwärmte von den Möglichkeiten, die sich uns böten.
„Du musst dir vorstellen, dass der Seeboden des Tollensesees, das
Profundal, mit Zuckmückenlarven rot übersät ist. Wo immer der kleine Greifer
einen Ausschnitt der Bodenoberfläche aus der Tiefe heraufbeförderte, zählten
wir zehnmal mehr Chironomiden als auf anderen Seen.”
Das ganze Jahr hindurch ist somit der Tisch für die ‚Friedfische’
überreichlich gedeckt. Nur, es ist da unten zu kalt für die meisten Fischarten.
Deshalb wird diese Kinderstube dieser nichtstechenden Mückenart kaum aufgesucht
und ihre Bewohner werden deshalb nicht dezimiert.
Deshalb staunt der bootsfahrende Beobachter und Naturfreund, wenn im
Mai, der sonst überwiegend blaue See plötzlich schwarz aussieht, obwohl die
Sonne scheint und die Himmelsfarben sich auf ihm spiegeln müssten.
Abermilliarden vier, fünf millimeterlanger Larvenhüllen schwimmen auf der
Wasserhaut und dazwischen bevölkern ebenso viele, ebenso lange schwarze
Geschöpfe die riesige Fläche. Ehe sich die aus der Tiefe aufgestiegenen
Insekten in die Lüfte erheben können, stehen sie mehrbeinig auf der
Seeoberfläche und lassen sich vom Wind leicht dahintreiben. Ihre
verhältnismäßig großen, sehr unterschiedlich gestalteten, gefiederten,
büschelartigen Fühler dienen ihnen dabei als Segel.
Seeschwalben und Möwen stürzen sich zu Tausenden auf die soeben ins
Tageslicht aufgestiegenen Zuckmückenmassen. Sie picken sie als Delikatesse auf
oder vielleicht ist es nur Notnahrung, was sie da als winzige Häppchen
aufnehmen. Sobald die Sonne etwas höher kommt, surrt es in den Lüften. Wie
wehende Rauchfahnen stehen die Zuckmückenschwärme ab der elften Tagesstunde
über den Wipfeln der ufernahen Bäume und halten Massenhochzeit. Im Fluge paaren
sie sich und wenig später treibt sie der Wind und ihr Instinkt über die
Seefläche hin, dann werfen sie ihre befruchteten Eier aus der Höhe ab. Ein neuer
Kreislauf beginnt. Dreimal im Jahr vollendet sich dieser Kreis, aber nur
einmal, im Frühling, in dieser Pracht und Fülle. Von allen in Europa
vorkommenden Wildfischen ist nur die Große Maräne, die Bodenrenke, geeignet, da
in die kalte Tiefe hinabzutauchen und die Larvenbestände abzuweiden.
Zwei Typen gibt es unter den Maränen, erstens die im freien Wasser
lebenden Kleinmaränen und zweitens die großen bodenständigen,
chironomidenfressenden. Letztere wollte ich in den See einsetzen. Lüdtke
unterstützte meine Idee.
Wo aber gäbe es die Brut dieser Spezies Edelmaränen? Und würden wir
einen Weg finden, sie zu erwerben?
Die Antwort kam aus unserem Nachbarbetrieb in Prenzlau. Am Madüsee, in
der Nähe Gollnows, das jetzt Golienow heißt, gibt es eine leistungsfähige Fischbrutanstalt.
Sie stünde unter der Leitung des Szczeciner Landesanglerverbandes.
Herr Marczinski sei der Chef.
Aber haben die polnischen Kollegen auch Edelmaränen aufgelegt, das war
die Frage und würden uns die Polen zu vertretbarem Preis Brütlinge verkaufen?
Kurt Reiniger sprach fließend polnisch und ich besaß außer der Lust
aufs Abenteuer einen Trabantkombi. Wir wollten einfach hinfahren und sehen, was
sich machen lässt.
Lediglich Geld benötigten wir noch.
Mit Reiner Lüdtkes Einverständnis versuchte ich unseren Buchhalter
Alfred Voß, Adi, zu überzeugen. Mit Adi konnte sich niemand erzürnen. Er war
gerade Altersrentner geworden, aber noch im Dienst. Er schaute mich freundlich
nachdenklich an. ‚Schwarze Kasse?’ Er schmunzelte: „Wozu schwarze Kasse? Wenn die Sache ok ist, gibt
es keine Probleme.” Nun ja, die Polen wünschten, wie wir aus Erfahrung wussten,
Bargeld ohne Quittung und Belege.
Ob ich auch dazu Reiners Genehmigung hätte.
„Ich will ihn da nicht in diese Geschichte verwickeln.“
Irgendwie sei es doch eine Art von Spitzbüberei, was wir vorhatten,
eine Nacht- und Nebelaktion. Eigentlich hätten wir erst Anträge stellen müssen,
Zertifikate für den grenzüberschreitenden Tiertransport besorgen, lauter
bürokratische Hürden nehmen müssen und dann vertagte sich unser Anliegen um
Wochen. Doch in einigen Wochen gibt es keine Großmaränenbrütlinge mehr, sondern
gerade jetzt. Außerdem stünden die Plasterinnen seit der Beendigung der
Aalbrutüberwinterung zur Verfügung. Besser sei, Reiner als Vorsitzender bliebe
‚außen vor’.
Adi schmunzelte und dieses sonderbare, stets überlegen wirkende
Schmunzeln aus seinen Augenwinkeln und aus seinen immer freundlichen
Gesichtszügen heraus war harte Kritik für mich. Es besagte, was würdest du dazu
sagen, wenn du der Vorsitzende wärst und würdest auf diese Weise überfahren?
Muss er nicht schließlich alles wissen, was im eigenen Betrieb passiert? Er zog
die Augenbrauen nur um ein Winziges in die Höhe. Das war seine Art zu
kritisieren. Durch Mienenspiel, Stirnrunzeln dirigierte er uns. Ich konnte mir
gut vorstellen, wie er es damals, als Frontsoldat auf Urlaubsfahrt in die
Heimat der schönen Wienerin erklärt hatte, dass ein Mann wie er immer nein
sagen wird, wenn sein Gewissen auf dieses Nein besteht. Übrigens, als
Buchhalter Adi Voß uns anderthalb Jahre später,
im September ’73 verließ, überreichte er uns unter anderem einen alten
Briefumschlag. Das war die in zwei Jahrzehnten gefüllte, nie angetastete,
niemandem außer ihm bekannte ‚Kaffeekasse’, Geld von Kunden, die berechtigt waren,
Kleineinkäufe vor Ort zu machen und die Pfennigbeträge nach oben aufrundeten.
Der Inhalt waren 312, 73 Mark.
Nie gab es in seinen Bilanzen echte Differenzen. Ehrlichkeit ist bares
Geld, pflegte er zu sagen, dabei zeigte er seine kräftigen Zähne. Das war seine
tiefste Überzeugung: Ohne Ehrlichkeit geht die Welt zum Teufel.
Reiner nickte, als ich ihm beichtete, sofort Zustimmung: „Wie viel
Schwarzgeld benötigst du?”
„Schätzungsweise eintausendzweihundert!”
Eine Stunde später hielt ich die zwölf Hunderter in meiner Hand.
Gemessen an unseren Preisen hatte ich mir ausgerechnet und vorgenommen,
dafür eine viertel Million Brütlinge zu bekommen und diese schwarz über die
Grenze zu schmuggeln.
Reiner meinte, dass wir wahrscheinlich nur angebrütete Eier erhalten
würden. Dieser Hinweis war wichtig. Wir mussten also Zugergläser aufstellen.
Versehen mit einigen großen Plastetüten fuhren wir am nächsten Tag nach
Szczecin. Die Zeit drängte. Für den Nachmittag würde Herr Marczinski uns zur
Verfügung stehen. Mehr wollten wir fernmündlich nicht vereinbaren. Denn wir
waren es gewohnt, stets daran zu denken, dass Telefonate abgehört wurden. Wer
weiß, zu welchen Schlüssen die Horcher gelangt wären, wenn sie zufällig unsere
Absprache mitbekommen hätten.
Szczecins Anglerpräsident Marczinski saß in seinem gelblich eingetönten
Büro an seinem ebenfalls gelb schimmernden Schreibtisch unter einer
präparierten riesigen Madümaräne, die auf einem gewaltigen Bücherschrank einen
zentralen Platz einnahm. Acht Kilogramm oder mehr muss dieser Fisch einst
gewogen haben. Kurt und ich waren sehr beeindruckt. Immer wieder gingen unsere
Blicke dahin. Genauso große Fische, der Art Coregonus lavaretus, wünschten wir
uns.
Ich wunderte mich laut darüber, dass Madümaränen zu so stattlichen Exemplaren
heranwachsen könnten. Marczinski nickte, während Kurt übersetzte. Zwei- dreimal
erwähnte er, mich unterrichtend oder berichtigend: „Coregonus lavaretus nasus.”
Nasus, nasus, dachte ich, das ist
eine Spezies, die wir nicht haben wollen.
Marczinski wies mit dem Daumen
nach oben, hinter sich: Ostseeschnäpel! Oje. „Keine Ostseeschnäpel, die
benötigen zum Gedeihen Brackwasser.“
Ein Schwall anscheinend wohlmeinder Worte fiel in Polnisch über uns
her. „Sie können sogar in Teichen, in Süßwasserteichen! mit Nasus
wirtschaften!”
Ich glaubte ihm nicht. Kurt
zuckte die Achseln.
Da saßen wir nun, mit unserem
Tausender. Was tun?
Ich konnte Marczinski aber auch
nicht das Gegenteil beweisen.
„Probieren wir es? Kurt?”
Kurt, der Mann mit der großen Stupsnase nickte. Aus dem vielfach
gekerbten Gesicht, das in hohem Maße der Ausdruck seines von vielen
Nackenschlägen durchkreuzten Schicksals war, kam das schulterzuckende
Einverständnis. Marczinski nahm ein Stück Papier zur Hand und rechnete schnell.
„Dreihunderttausend Eier erhalten sie dafür. Schlupfreife!” Es sei höchste
Zeit.
Hatte Reiner also Recht.
Wir müssten denn sofort aufbrechen, um nach Goleniow zu fahren. Da es
noch März war, begann es früh zu dunkeln. Mir schien, die vierzig Kilometer
würden nie enden. In einer dunklen Waldecke angekommen, lauteten die Weisungen
rechts fahren, rechts, na prawo, na prawo. Was ist, wenn ich viermal rechts
herum fahre?
Überall nur Bäume wie es schien. Mattes Scheinwerferlicht erhellte nur
den Sandboden, indessen schimmerten die Gehölze an den Seiten umso dunkler, wie
schwarze Wände. Plötzlich zeichneten sich neue schwarze Konturen gegen den sich
öffnenden Nachthimmel ab.
Kurt übersetzte: „Die Brutanstalt!” Jemand musste die winzige
Hofbeleuchtung angeschaltet haben. Eine nicht große, leicht gebeugte Gestalt
erschien. Ob die Person männlich oder weiblich war, ließ sich noch nicht sagen.
Wir stiegen aus. Völlige Stille umfing uns. Der gebeugte Mensch schritt auf
Herrn Marczinski zu. Ich erkannte, dass es ein alter Mann war, ein kleiner Mann
mit fester Hand und weicher Stimme. Als er bemerkte, dass ich außer dobri
vetschor nichts verstand und auf Kurts Dolmetscherdienste angewiesen war,
wechselte der sympathische Alte in einwandfreies Deutsch. Er drückte sich sehr
gewählt aus. Siebzig Maränenarten gäbe es auf der nördlichen Erdhalbkugel,
vielleicht noch mehr, wer könne das noch auseinander halten? Vom Omul im
Baikalsee bis zu der kurioserweise im Sommer laichenden Spezies in den
Feldberger Tiefseen, der Coregonus albula baunti, reiche das Artenspektrum.
Mein Problem bestand darin, dass ich auch ihm zunächst nur schwer
glauben konnte. Sollte der Ostseeschnäpel das von uns begehrte Objekt sein?
Dass dieser Wanderfisch, der schwach salziges Wasser bevorzugt, in Seen und
Teichen ausgesprochen gut zu halten sei, bezweifelte ich. Allerdings hatten wir
den Kauf bereits perfekt gemacht. Eine große dunkle Tür öffnete sich vor mir
und das vertraute Wasserrauschen ließ sich vernehmen. Da plätscherte es aus den
Zugergläsern. Je sieben Liter Wasser befanden sich in je einer dieser
vielleicht siebzig überdimensionierten Kopf stehenden Seltersflaschen, die in
mehreren Reihen in Gerüsten aufgestellt dastanden. Fortwährend wälzten sich in
jeder der unentwegt überlaufenden Flaschen zehntausende bernsteinfarbener
Maräneneier. Alle nur etwas größer als Stecknadelköpfe. Mit einer Pipette
entnahm der alte Herr ein paar dieser vor dem Lampenschein goldschimmernden
Coregoneneier. Er hielt sie mir dicht vors Gesicht. Deutlich sah ich die
Zuckungen der Ungeborenen, dann die schwarzsilbernen Embryonenaugen, den
Dottersack mit dem Fettauge, das dem Ei die Farbe gibt. Immerzu drehten und
wanden sich die noch in ihren Umhüllungen gefangen gehaltenen Schnäpelchen. Mit
dem Zählglas literte der alte Mann uns dreihunderttausend Maräneneier aus, und
zwar ziemlich genau wie wir später bemerkten. Wir kannten nur das Zählverfahren
für Brütlinge.
Sprudelndes Wasser füllten wir in die auf Reißfestigkeit geprüften
fünfzig Liter fassenden Plastesäcke und entließen dahinein die je
einhundertundfünfzigtausend Eier.
Obenauf, beim Vorgang des Schließens der Tüten, gaben sie uns einen
Schuss reinen Sauerstoffs aus einer Pressluftflasche.
Dann machten wir uns schleunigst auf den Heimweg.
Die Stimmung war gut.
In Szczecin wollten wir Herrn Marcinski absetzen.
Kurz bevor wir die Stadtgrenze erreichten ging es zwischen Kurt
Reiniger und unserem Geschäftspartner laut zu. Ich spitzte die Ohren. Was
mochte der Streitpunkt sein? Mir schien, dass ich den Begriff Katyn wiederholt
vernahm. Mich einzumischen wäre unhöflich gewesen. Teilnahmslos dazusitzen und
nur Gas zu geben unmöglich. „Was ist los, Kurt?”
„Er wirft mir vor, ich wäre ein Überläufer gewesen! Kann doch nischt
dafür!”
Ich ahnte, um welchen Vorwurf es ging. Hatte ich ihn doch einmal auf
einem Foto als jungen Mann in polnischer Uniform gesehen. Es lag alles weit
zurück, über dreißig Jahre.
Die Emotionen gingen auf beiden Seiten hoch. Für beide Männer schien
der Sprung über eine fast vierzigjährige Epoche nur ein winziger Schritt zu sein.
Sie erregten sich sehr. Kurt Reiniger war tatsächlich auf polnische Fahnen
eingeschworen worden, 1939, und bald darauf, nach der großen polnischen
Niederlage, von der Deutschen Wehrmacht auf Gestellungsbefehl eingezogen
worden. Ein Schicksal, das er mit Tausenden teilte, die damals im Raum Bromberg
gewohnt hatten. Dass sein Familienname Reiniger lautete, deutsch war, ließ
Marczinski nicht gelten. Den Polen ginge es immer um die Ehre ihrer Nation!
Das zu verstehen, sei Kurt Reiniger wohl nicht gegeben.
Kurt war wirklich gekränkt. Immer hackten sie auf ihm herum. Wenn es
nicht dies war, dann jenes, das ihnen an ihm missfiel.
Den einen trank er zuviel, den andern zu wenig.
Es ging um Katyn! Und um Marczinski Bruder. Das ließ ich mir
übersetzen. Wenn sie sich schon zankten dann wollte ich auch wissen, warum. Der
Bruder des Anglerpräsidenten habe zu jenen tausenden polnischen Offizieren
gehört, die durch Stalins Heimtücke in sowjetische Gefangenschaft geraten
waren. Eine Schande an sich. Sie hätten sich entschieden geweigert, ihre
Pistolen und Ehrenabzeichen an sowjetische Schergen auszuliefern. Die Russen
seien der Republik Polen 1939 zugunsten Hitlerdeutschlands brutal in den Rücken
gefallen, auch weil diese „verfluchten
Kommunisten“ Landräuber allergrößten Stiles wären. Finnland hätten sie beklaut,
das ganze Baltikum sich einverleibt, Moldauer Gebiete, Ostpolen. Vor Verrätern
wollten sich die Gefangenen in Katyn nicht demütigen. Schließlich seien sie
ausnahmslos erschossen worden. Ich hatte richtig gehört. Marczinski verfluchte
den russischen NKWD als faschistische Mörderbande. Hitler hätte mit den
Sowjets, damals, als Kurt in die Deutsche Armee übergelaufen sei, gemeinsame
Sache gemacht. Mich interessierte das Thema brennend. Im letzten Urlaub hatten
wir mit Freunden das Verbrechen von Katyn sehr konträr diskutiert. Es ging ganz
einfach um die geschichtliche Wahrheit, und die Frage, ob Hitlers Männer oder
die Kommunisten die nichtaufständischen, wenn auch sturen polnischen Kriegsgefangenen massenweise
erschossen hätten? Mich wunderte damals, im Usedomer Strandsand liegend, dass
es überhaupt Zweifel an der sowjetrussischen Täterschaft gab.
Sogar mein Bruder Helmut war der Auffassung, dass es eher Hitler als
den Russen zuzutrauen gewesen wäre, das Massaker anzurichten.
Für uns war es ohnehin eine ungeheure Vorstellung, dass Menschen so
miteinander umgehen können. Mit Fanatismus habe das nichts mehr zu tun, sagten
wir damals, sondern nur mit den atavistischen Neigungen degenerierter Kerle,
die von dem einen oder dem anderen System bewusst gefördert wurden.
„Ich kann es Ihnen nachfühlen,
Herr Marczinski.”, erklärte ich, wusste aber nicht, was Kurt übersetzte.
Ziemlich böse äußerte Marczinski: „Rückfälle haben immer schlimme
Folgen.“
Auf meine Nachfragen reagierte er leidenschaftlich. Diesen Angriff auf
die Blüte der polnischen Nation werde Polen den Sowjets niemals verzeihen. Das
werde niemals verjähren. Daran möge ich mich später erinnern.
„Sie wollten die polnische Intelligenz und damit die Seele der Nation
ausrotten! Nicht mehr und nicht weniger. Die Sowjets fürchten immer noch ein
starkes Polen, so wie sie es früher zu Zeiten des Zaren hassten.” Beide Seiten
hätten deshalb gemeinsame Sache gemacht um Polen von der Landkarte zu tilgen.
Marczinskis Gefühle in allen Ehren. Warum war er wütend auf uns, warum
auf mich?
Ja, die Preußen! Gemeinsam haben die Preußen Polen mit den
Österreichern und Russland 1772, 1793 und schließlich 1795 in Stücke gefetzt.
Feuer eines Hochofens loderte: „Sehen Sie sich an, was die mit uns
anstellten: Ausrottung, Löschung jeder polnischen Existenz.”
Marczinski erklärte mir die Landkarte Polens, während der von ihm
erwähnten Teilungsjahre: Zuerst nahmen die Preußen den Polen den Bromberger
Raum bis Danzig weg, die Österreicher kamen bis vor die Tore Krakaus, das
zaristische Russland nahm Wittebsk. Ein Jahr darauf einverleibte Russland sich
Minsk und Pinsk, die Preußen Posen und Thorn. Und schließlich verschwand das
Land Polen 1795. Der Funke sprang zu mir über. Das viertel Teil Slavenblut in
mir erhitzte sich.
Ich erinnerte mich in verschiedenen Napoleonbiographien gelesen zu
haben, dass auch der große Bonaparte die Polen zwar als Elitesoldaten in all
seinen Feldzügen an den schwierigsten Kampfabschnitten einsetzte und dass er
sie stets mit neuen Versprechen zu höchsten Mutleistungen zu motivieren
vermochte, doch dass er wahrscheinlich niemals ernsthaft daran gedacht hatte,
Polen mit jener Souveränität auszustatten, welche die hochherzigen Söhne des
jahrhundertelang immer wieder in Abhängigkeiten gestürzten Landes so heiß
begehrten. In dieser Märznacht 1972 fragte ich mich erneut, ob dem Kreml jemals
die Integration, der so genannten Volksrepublik Polen, in ihren Herrschaftsbereich
gelingen könnte. So viel unverhüllt ausgedrückten Unmut und Widerstand, wie ich
ihn von Seiten Herrn Marczinskis gegen den Sozialismus spürte, hatte ich bisher
nur selten erlebt.
Kurt übersetzte, während wir den Stadtrand Stettins erreicht hatten,
fleißig und wie ich annehmen durfte, auch einigermaßen präzise.
Herr Marczinski ließ mir sagen, wir wären angelangt. Ich stoppte und
schaltete den Motor ab. Er drückte mir die Hand und sagte zum Abschied: Wie er
dächten und empfänden alle Polen: „Wir werden frei sein oder tot!”, und dann
erklärte er etwas, das Kurt mir lachend mitteilte: „Noch ist Polen nicht
verloren.”
Herr Marczinski sang es und Kurt stimmte ein.
Unser Partner stieg nun an dieser unbelebten, recht trostlos
erscheinenden Straßenecke aus. Er winkte, wir winkten zurück und fuhren langsam
davon. Mich beschlich, als wir ihn zurückließen, wiederum das ungute Gefühl,
dass wir schlechten Zeiten entgegen gingen. Jeden Tag, jeden Abend
überschütteten uns die östlichen wie die westlichen Sender direkt oder indirekt
mit Verdächtigungen, die andere Seite plane den großen Krieg.
Manchmal schien es uns, es gäbe gar keine anderen Themen mehr.
Schließlich war die Gefahr, dass der so verheerend in Vietnam tobende Krieg,
aus denselben Gründen, auch in andere Erdteile getragen werden könnte, sehr
real. Noch lagen der Süden Afrikas, Angola, und der November des Jahres 1975
scheinbar in weiter Ferne. Sechzehn lange Jahre hindurch sollten dort jedoch
die sowjetisch-kubanischen Interessen und die südafrikanischen Absichten
tödlich kollidieren. Millionen Afrikaner sollten Flüchtlinge werden,
hunderttausende Unschuldige würden den vollen Preis zu entrichten haben für die
Leidenschaft der Großmannssucht beider Seiten.
Der Ausbruch größerer Feindseligkeiten musste auch im süd- und
mittelamerikanischen Raum erwartet werden. Dies alles wegen des allgemeinen
Konfliktes zwischen Ost und West. Hatte Beier-Red es nicht per Zeichnung
prophezeit? Auf diesem Globus kann nur eins der beiden Systeme überleben.
Noch waren auch die Tage fern, in denen die DDR Presse ausführlich über
die blutigen Grenzgefechte zwischen den sozialistischen Bruderarmeen
Nordvietnams und der Volksrepublik China berichten würde. Noch ahnten wir
nicht, dass die Pekinger Kommunisten beweisen würden, dass es ihnen ernst war
mit ihrer Betrachtungsweise, Atombomben wären ja bloß Papiertiger. Wie wenig
ihnen das Einzelwesen bedeutete, zeigten sie nicht nur während ihrer
Kulturrevolution, in der es sogar bei Strafe der Verbannung verboten war,
Schach zu spielen oder eine westliche Sprache zu erlernen, oder sogar gebildet
zu sein. Die Minenfelder ihres südlichen Feindes ließen sie auf ihre
höchsteigene Art und Weise räumen. Sie befahlen ihren Soldaten anzutreten.
Schulter an Schulter laufend opferten die Söhne chinesischer Mütter ihre
Gliedmaßen und ihr Leben. So schonte Mao die teure Technik.
Die Stasioffiziere Kindler, Zachow, Zander, Plauschinat und andere, die
als Hobbyfischer in unserer Baracke am Oberbach aus- und eingingen, waren
verlegen, wenn ich sie fragte, wer begreifen kann, was die chinesischen
Marxisten trieben.
Müde und in Gedanken versunken, die nur wenig mit unserem Vorsatz der
Einfuhr einer neuen Fischart in den Tollensesee zu tun hatten, näherten wir uns
der Grenze. Obwohl mir bewusst war, dass selbst millionenfache Friedenswünsche
gar nichts am großen Geschichtsverlauf ändern können, stand mir deutlich vor
Augen, dass wir andererseits selbst entscheiden, ob wir innerlich frei und
sicher mit mühsam gesuchten eigenen Einsichten bleiben, oder ob wir uns
verlocken lassen den Weg des geringsten Widerstandes in die Verstrickung zu
wählen. Außer durch die Zollbeamten, die möglicherweise doch einen Blick in
unser Auto werfen würden und dann nach den nicht vorhandenen Zertifikaten
fragen könnten, stand für uns und das Wohlergehen der Coregonen nicht viel zu
befürchten. Natürlich war es verboten, was wir taten.
Falls sie unbequeme Fragen stellen sollten, wollten wir den polnischen
und den deutschen Zöllnern weismachen, es handele sich unserer Auffassung nach
nicht um Tiere sondern um Laichprodukte und das Wasser aus der polnischen
Brutanstalt mische sich in der Ostsee ja sowieso mit dem deutschen, noch
innerhalb der Grenzen. Ganz schön frech war unser Plan, der darauf baute, dass
die gerade von beiden Regierungen beschlossenen Freizügigkeiten im Grenzverkehr
auch funktionierten.
Daheim würde dank Reiner Lüdtkes Hinweis alles vorbereitet sein.
Beide komplikationslos ans Stadtleitungsnetz angeschlossenen
Zugergläser konnten und sollten unsere ungefähr 300 000 Eier aufnehmen. Zudem
hatten wir unsere Gläser in zwei der knietiefen Plasterinnen gestellt. Es war
wohl um Mitternacht, als wir am Zollkontrollpunkt ankamen.
„Was wünschen Sie auszuführen?”, fragte der polnische Offizier in
Deutsch. Er leuchtete mit seiner Taschenlampe nach hinten und betrachtete die
auf dem Hintersitz meines Trabant-Kombi und auf der Hutablage liegenden und
anscheinend vom harten Stopp noch erheblich nachbebenden
Fünfzigliterplastesäcke. Beide waren bedeckt von zwei dünnen Wolldecken um die
Temperatur konstant zu halten. „Jaikas!”, sagte Kurt. „Jaikas!” erwiderte der
Zöllner und in seiner Stimme schwang das Schüttern mühsam zurückgehaltenen
Gelächters. Er dachte wohl an zerdepperte Eierschalen. „Eier! Na, denn winsche
ich guutte Fahrt!” Im Rückspiegel sah ich, wie er sich amüsierte. Die
Vorstellung von Rühreiern muss ihn schier überwältig haben. Jungs, so eine
große Pfanne haben nicht mal die Berliner!
Auch die deutschen Grenzer behandelten uns großzügig.
Gegen zwei Uhr morgens, wenige Minuten, nachdem wir sie in unsere
Zugergläser gegeben hatten, schlüpften die Großmaränen. Die zweifache
Umstellung auf neuartige Verhältnisse binnen weniger Stunden löste
wahrscheinlich diese “Frühgeburtssituation” aus. Über die an die Gläser geschlossenen
Kopfringe und Abflussstutzen samt Gummischläuchen strömten sie zu zehntausenden
in die neue Welt.
Der zweite Akt ging somit erfolgreich zu Ende.
Wichtiger als alles andere war nun, die kostbare Brut mit Lebendfutter
zu versorgen. Mit Schleppnetzen aus Müllergaze und getrieben von Kutterkraft
siebten wir bereits acht Stunden später einige tausend Kubikmeter
Tollenseseewasser aus. Hüpferlinge mussten wir fangen, Kleinkrebse, Cyclops.
Am ersten Tag ihres Fischlebens visierten unsere “Nasus”- Maränen die
vor ihren Mäulern herumschwimmenden Krebschen nur an und probierten lediglich,
wie sie denn zuschnappen könnten. Aber schon vierundzwanzig Stunden später ging
die wilde Hatz los.
Drei-, viermal nehmen sie Anlauf, beugen den Schwanz wie ein Hecht und
schießen dann, ihre Muskeln streckend, mit weit geöffnetem Rachen auf ihr Opfer
zu. Eine größere Nauplie - ein im vorletzten oder letzten Häutungsstadium
befindliches Kleinkrebschen oder auch schon ein ausgewachsener Hüpferling
verschwindet zwischen den Kiefern der kleinen Fresserin wie eine handlange
Plötze zwischen den Zähnen eines Hechtes. Drei lange Wochen ging alles
problemlos, verlustlos vor sich. Nicht wie bei unseren vorherigen Versuchen mit
den Kleinmaränen, die während der ersten Vorstreckphase zu hunderttausenden
verreckten, obwohl sie inmitten von Wolken zuckenden, springenden Futters
standen. Ehe wir damals dank “Männe” Taeges Untersuchung erkannten, dass unsere
Kleinkrebse die maulgerechte Größe bereits weit überschritten hatten, war es
für die meisten unserer Kleinmaränenbrütlinge bereits zu spät.
Großmaränen sind da von Anfang an im Vorteil. Als Brütlinge sind sie
nur etwa zwei Millimeter größer, aber das reicht zum Überleben aus. Wie eine
Armee hüben und eine andere drüben standen sich in unseren beiden Futterrinnen
die Fronten im klaren Wasser gegenüber. Hier die geübten, verwöhnten,
überlegenen mittlerweile bereits zwei Zentimer groß gewordenen “Nasus”, da die
vor den unersättlichen Fressern zurückweichenden Hüpferlinge, die instinktiv
zusammenhalten wie Schafe, die von Hunden umkreist werden.
Da sie sich so im Schwarm bewegten, gab es keine Schwierigkeiten, die
Plasterinnen sauber zu halten. Ganz anders als bei den einzelgängerischen
Hechten erwischte der Abfallsauger fast nie eine der geschickt ausweichenden
Maränen. Blitzsauber konnten wir so die Vorstreckaquarien halten.
In der
vierten Woche passierte es.
Wir waren
bereits hochmütig geworden.
Bis zum Nachmittag des 22. April kamen sie, die Berliner, Prenzlauer,
Warener Kollegen, auch die Nichtfachleute von der Bezirksleitung SED
Neubrandenburg. Alle klopften uns auf die Schultern und lachten, wenn wir ihnen
vom Husarenstreich erzählten, wie wir die langatmigen Prozeduren der
Beschaffung von Zertifikaten umgangen hatten. Wir prahlten schon, dass wir die
Fische fingerlang machen könnten, ausgedünnt natürlich unter Inanspruchnahme
mehrerer Rinnen. Denn über die verfügten wir ja. Es waren nämlich vier weitere
da, und das Futter fiel uns in jenem Jahr fast von selbst zu. Wir hätten mit
wenig Aufwand täglich hundert Kilogramm Nauplien fangen können.
Unsere Maränen fraßen wie die Scheunendrescher und sie gediehen
prächtig, bis zu jenem schwarzen Aprilmorgen des 23., an dem wir achtzig
Prozent tot vorfanden. Die Stadtwerke hatten das Leitungswasser mit Chlor
behandelt!
Anruf!
„Nein! Chloriert wurde nicht!” Was dann? Die Taumelbewegungen der
überlebenden zwanzig Prozent Nasus zeigten an, dass auch sie nicht überleben
würden. Wie ein Blitz schlug die schlechte Nachricht im Institut für
Binnenfischerei in Berlin- Friedrichshagen ein.
„Los! Der Fischseuchendienst des VEB Prenzlau muss sofort nach
Neubrandenburg fahren. Ursachenermittlung! Vorsorglicher Einsatz von
Trypaflavin in für Aufzuchtbecken üblichen Konzentrationen! Neue Weisungen für
gezielten Medikamenteneinsatz abwarten.”
Wir hatten alle guten Voraussetzungen übermütig als gegeben
hingenommen.
In je zehn Minuten Kutterschleppnetzeinsatz hatten wir Unmengen
Zooplanktonten gefangen. Wir konnten mit dem besten Futter der Welt aufwarten.
Unsere Rinnen waren perfekt sauber. Das Leitungswasser wies ideale Parameter
auf. Und nun ordnete das Institut eine Überprüfung an, ob Großalarm für die
Ostseeküste ausgelöst werden müsste. „Wahrscheinlich sind die in den
Großhälteranlagen stehenden Forellenbestände gefährdet, durch Einschleppen
einer noch unbekannten Krankheit. Jedenfalls ist ein Übergreifen auf sämtliche
Lachsartigen im Territorium nicht auszuschließen.”
Deshalb müsse festgestellt werden, was die Zertifikate besagen.
Für ein paar Stunden herrschte Hektik und Kopflosigkeit hoch drei.
Zertifikate? Das wusste selbst die Putzfrau des Institutes, dass wir
die „Nasusmaränen” schwarz über die grüne Grenze geschmuggelt hatten.
Nun sollte nachgedacht werden, inwieweit die Polen wegen möglicher Nichtbehandlung
ihrer an uns ausgelieferten Laichprodukte zur Verantwortung gezogen werden
könnten.
Einer der Übereifrigen meinte, man müsse den Hauptverursacher hinter
Gitter bringen. Das war nur der Ausdruck ihres schlechten Gewissens. Sie
wussten, dass es eben nicht richtig gewesen war, sich köstlich zu amüsieren
über die Nichteinhaltung einer gesetzlichen Vorschrift.
Noch, trotz des ungeheuren Verlustes, hatte ich wegen der Gesamtaktion
ein ruhiges Gefühl. Es war doch alles Quatsch. Ein Seuchenerreger fällt nicht
vom Himmel herab. Reine Nervensache ist das.
Das Trypaflavinbad muss geholfen haben.
Zwar lag am nächsten Morgen abermals die Hälfte der Überlebenden am
Boden, doch es schien, dass es dem Rest der Fische besser ging.
Ich wollte noch abwarten. Unter dem Mikroskop hatte niemand im toten
Gewebe Krankheitserreger gefunden, sondern nur Parasiten im Kiemenbereich der
Fischchen. Natürlich, man konnte mit bloßem Auge erkennen, dass die Kiemen der
Nasus angegriffen worden waren. Kiemennekrose!
Mit dem Lebendfutter mussten wir uns Schädlinge eingeschleppt haben.
Wir hätten das Futter in einer Salzkonzentration baden müssen.
Hätten, hätten...
„Ihr wusstet, in solchen Fischkonzentrationen auf engstem Raum könnte
solche Unterlassung verheerende Folgen haben.”
Plötzlich waren wir von lauter schlauen Leuten umgeben.
‚Männe’ (Dr. Manfred Taege) riet mir, die Übriggebliebenen sofort
auszusetzen.
Keine Widerrede meinerseits. Wenn wir jemals nach Jahren, Großmaränen
mit unterständigem Maul fangen würden, dann wüssten wir mit absoluter
Sicherheit, dass wir keine bereits im Keim erkrankten oder infizierten
Brütlinge eingeführt haben konnten.
Weit weg von Neubrandenburg fuhren wir sie in den Tiefwasserbereich vor
Alt Meiershof und entließen dort ungefähr achttausend Stück vorgestreckte Nasus
in die Freiheit. Wie gern hätten wir angegeben: Verlustlose Aufzucht von
Großmaränen auf Anhieb gelungen. Verzwanzigfachung des Ursprungsgewichtes. Wie
gern hätten wir geschrieben: 300 000 Mv ausgesetzt.
Der Ärger der Oberen legte sich. Denn an der Küste passierte nichts,
was sich zuvor nicht auch ereignet hätte und die möglichen Beobachtungsobjekte
waren von der Bildfläche verschwunden.
(Vier Jahre später fingen wir mit unseren Netzen die ersten zehn Stück
Nasus und später immer mehr. Einskommafünf Kilogramm wogen die ersten. Dann
fingen wir Dreikilogrammexemplare. Sie entlasteten uns nachträglich.)
Nicht nur ich behaupte, dass die “Nasus” zu den Delikatessfischen
gehören. Geräuchert gehören sie zum Besten, was uns die Nahrungspalette zu
bieten vermag.
Außerdem bereichern sie als Laichfische das genetische Potential in
Seen mit Kleine-Maränenpopulationen durch Einkreuzen, auch wenn diese
Vermischung leider immer nur über die Eier der größeren Art erfolgt.
‚Männe’ ging zurück nach Berlin und Wilhelm Bartel starb kurze Zeit
später.
Ein besonnener Mann, der nie auch nur einen einzigen Pfennig veruntreut
hätte.
Jürgen
1974 kamen Wolfgang Sittig, Gunnar Tews und Jürgen zu uns. Der erste
als Lehrling, der zweite als Diplomingenieur für Fangtechnik/Hochseefischerei,
der dritte als Gehilfe, der sich in der Ausbildung zum Meister befand. Gunnar,
24-, und Jürgen, 30jährig, brachten großen Elan mit. Künftig mit den dreißig
Quadratkilometern Wasserfläche experimentieren zu können, würde ihnen einen
Riesenspaß bedeuten.
Aber es sollte alles ganz anders kommen.
Gunnar war bei einer früheren Operation mit Hepatitis B verseuchtem
Blut infiziert worden.
Jürgen dagegen trug einen anderen Keim mit sich, der ihn schon in
seinen jungen Jahren extrem halsstarrig machte.
Jürgen, größer als einsneunzig, mit einem Gesicht wie ein Senator,
eindrucksvoll fest von Charakter, wie es schien, entschlossen im Verfolgen
seiner Ziele, geriet sehr schnell mit den ihm unterstellten älteren Kollegen in
Konflikt. Er mochte insbesondere Horst Gruß nicht. Beide ähnelten einander in
ihrer Arbeitsweise. Sie konnten sehr geschickt mit Nadel und Messer umgehen und
schneller als alle anderen Männer die Fanggeräte herstellen.
Eines Tages beorderte Jürgen, Horst Gruß, an eine bestimmte Stelle im
Kastorfer See, der aufgrund seiner Geometrie eine besonders große Uferzone bot.
Wir bewirtschafteten dieses Gewässer zum ersten Mal. Der Rat des Bezirkes hatte
uns die etwa 80 ha Wasserfläche übertragen.
„Hier baust du die Kastenreuse ein”, wies Jürgen den zwanzig Jahre
älteren Fachmann an.
Horst tat, was ihm aufgetragen wurde.
Jürgen arbeitete in ungefähr dreihundert Metern Entfernung mit Gruß um
die Wette.
Den großen Kerlen zuzusehen, wie sie mit den teilweise sechs und acht
Meter langen Reusenpfählen umgingen, war ein Vergnügen.
Anderthalbe Stunden dauerte das durchschnittlich für die Schnellen,
wenn sie wollten. Beide wünschten es einander zu beweisen. Sobald sein
Fangeschirr stand, kam Jürgen angerudert. Elegant mit über Kreuz gefassten
Griffen an den Rudern, wuchtete er mit seinen langen Armen den kleinen grünen
Plastekahn voran.
Als er den jungen Mann ankommen sah, ahnte Gruß schon, er würde
kritisiert werden. Jürgen verzog sein Gesicht. Er schüttelte den Kopf
missbilligend.
„Die Reuse steht schief!”
Gruß nahm die Zigarre, die er sich gerade angesteckt, ruhig aus dem
Mund und blies den Rauch sehr langsam aus. Diese Frechheit riss seine Seele aus
der Verankerung. Er war außer sich. Er hätte brüllen können. Seine Reuse stand
exzellent da und exakt an dem ihm zugewiesenen Platz. Kein Fisch käme an ihr
vorbei. Jürgen kommandierte. „Ausbauen?”, fragte Gruß ungläubig. Seine
verwirrten, braunen Augen schauten genau hin um herauszufinden, wie viel Spott
da im Spiel sein mochte.
Schon zweimal waren sie aneinander geraten. Das erste Mal, als sie
gemeinsam mit der Handelektrode und mit dem tragbaren Stromaggregat unterwegs
gewesen waren, um Aale zu fangen. Da hatte Jürgen sich ebenfalls angemaßt, ihn
ungerechtfertigt zu rügen. Er sei nicht schnell genug. Man müsse den eiligst
aus dem Spannungsfeld fliehenden Aalen die Stange mit der Anode schneller
hinterher stoßen um sie zu lähmen und anzuziehen.
Stets entkam ohnehin mindestens die Hälfte aller Fische dem Stromkreis
und zwar von denen, die nicht bereits vor den ihnen ja bekannten, nahenden
Geräuschen die Flucht ergriffen hatten.
Beim zweiten Mal ließ Gruß sich zu einem Fehler hinreißen. Er wagte es
Jürgens Vater zu tadeln.
„Gewiss! Den Murks baust du wieder aus.”
Gruß zögerte eine Weile. Schließlich gehorchte er, wenn auch
zähneknirschend, weil Jürgen ihn beim Vorsitzenden Lüdtke noch schwärzer malen
könnte.
Er drehte und zog und wuchtete die mehr als einen Meter tief in den
Seegrund gerammten Reusenpfähle wieder ans Tageslicht. Stück für Stück.
Dreißigmal dieselbe Last und Plage, dieselben gestöhnten Flüche.
Es ist allemal eine ungeliebte Arbeit Großreusen ausbauen zu müssen,
weil sich damit keinerlei Fängerhoffnungen verbinden.
Horst Gruß wusste, das war auch die Rache für den Streit, den er einige
Zeit zuvor vom Zaune gebrochen, indem er den Genossenschaftsvorsitzenden wüst
beschimpft hatte, weil der in sein Fangrevier eingefallen war.
Jürgen stand an jenem Tage noch in voller Manneshöhe hinter seinem
Vorgesetzten. Was Lüdtke geschehen war, das konnte ihm passieren. Dem wollte er
vorbeugen. Hier sollten ein für allemal die Weichen und Signale gestellt
werden.
Definitiv wollte er die Macht- und Rangfrage entscheiden.
Dabei herrschte ringsherum tiefster Friede. Still wie ein Spiegel lag
der schöne See. Aller Lärm der Straßen und Plätze rauschte fernab. Rings um sie
herum breiteten sich die Bilder mit den weißstämmigen Birken, den Erlen, Eschen
und den friedlich grünenden Büschen aus.
Wer die beiden Männer so gesehen, hätte meinen müssen, gegen solche
Harmonie könnten sich Vernunftbegabte nicht stemmen. Gruß, der sodann zum
zweiten Mal das Geschirr in den See stellte, bemerkte, dass Jürgen ihn
beobachtete.
Noch einmal dürfte der ihn nicht kritisieren. Das Maß war voll.
Getraute er es sich dennoch, dann spränge er dem Lulatsch an die Kehle.
Nach genau anderthalb Stunden kam Jürgen erneut angerudert. Mit
denselben Bewegungen, mit eben demselben aufregend abweisenden
Gesichtsausdruck.
Na, Freundchen, mach’ dich nicht unglücklich.
Gruß glaubte
zu ahnen, was sich im Innersten des jüngeren Mannes abspielte. Er spannte sich.
Erkannte
sein Brigadier nicht, dass er zurückschlagen wird?
Nein!
Der wollte
seinen Kopf durchsetzen.
Als Jürgen den erfahrenen Altgesellen Gruß abermals anmeckerte, stieß
der seinen Arbeitskahn jäh vorwärts, um das in seine Nähe vorgerückte kleinere
Boot mitsamt dem hochmütigen Menschen zu rammen. Jürgen wich diesem Angriff
geschickt aus. Mit zwei kleinen aber kräftigen Ruderzügen drehte er das
Wassergefährt auf der Stelle.
Grußens Angriff stieß ins Leere.
Damit war die endgültige Feindschaft zwischen ihnen erklärt.
Für Horst Gruß hatte Jürgen sein Konto weit überzogen.
Gruß, der gewiss zur Hälfte ein Sinti war, bekam Rückenwind, mit
Ausnahme von Willi Krage und Reiner Lüdtke. Gruß war nicht irgendwer, sondern
eine Persönlichkeit mit großem Kredit bei den andern Kollegen.
So bildeten sich innerhalb der Genossenschaft zwei Parteien.
Wenig später stellte sich auch Dieter Giesa auf Jürgens Seite.
Hermann Göck rang die Hände hilflos, als er irgendwann bemerkte, wie
die Dinge sich entwickelten. „Wie ist das möglich?”, klagte er. „In einer so
kleinen Truppe, da muss doch Einigkeit herrschen.”
Es herrschte die Unausgewogenheit. An Stelle des kühlen Verstandes,
herrschten die hitzigen Gefühle vor.
Jeden Morgen, jeden Abend gab es fortan ohrenbetäubenden Krach.
Nichtigkeiten wurden aufgebauscht, Worte wie Waffen benutzt.
Jürgen hätte erkennen müssen, dass sich niemand jemals völlig
unterwerfen lässt. Wer sich die Köpfe und Herzen nicht geneigt machen kann, der
zerbricht eher die letzten Brücken, als den Willen eines Menschen. Um das zu
wissen war er noch zu jung und zu hart.
Die nächste größere Auseinandersetzung musste kommen. Sie kam sehr
schnell. Es ging zunächst nur um eine Frage, die Gruß seinem Brigadier stellte.
Der verstand sie falsch, glaubte, er wäre wieder einmal attackiert und gekränkt
worden. Er fühlte sich herausgefordert.
Vielleicht hatte Gruß die Frage ausgeklügelt.
Jürgen sollte umgehend Auskunft geben über den aktuellen Stand der
Aalplanerfüllung.
Bekannt war, dass Brigadier Jürgen seine Zahlen nur ungern preisgab.
„Albern“, fanden das selbst seine besten Freunde. Denn jeder konnte die Summen,
wenn auch ein wenig aufwendig, zusammentragen. Ein Wort gab das andere.
Gruß sagte, Jürgen könne wohl nicht bis drei zählen. Jäh in Wut
geraten, griff der große, junge Mann unbeherrscht zu. Er zog Horst Gruß an
seinem ohnehin langen Hals in die Höhe.
Das war unerhört, und es war gefährlich. Wollte er ihm das Genick verrenken
oder die Halswirbel auseinander reißen? Empört berichteten mir Horst Gruß und
der immer streitbare Werner Hansen, ein Choleriker ersten Grades, (dabei von
voller Männergröße und mit Pfoten die schon mehr als einen ausgewachsenen
Keiler aus dem Gebüsch zur Straße geschleppt hatten,) was vorgefallen war. Ich
kam gerade aus dem Kühlhaus und war über siebzehn leger dastehende, mit Karpfen
gefüllte, Fischkisten gestolpert.
Beide Männer empfingen mich mit hochroten Gesichtern.
Jürgen musste kurz zuvor diese zehn Zentner Karpfen auf die
Leichtkühlfläche gestellt haben, statt sie tiefzufrosten. Wer sonst?
Das kann man für eine Nacht machen. Aber nicht drei Nächte und Tage
hindurch. Denn es war ein Freitagnachmittag, an dem sich alles zusammen
ereignete.
Mir oblag es, das Kühlhaus zu kontrollieren, und da Reiner sich im
Urlaub befand, musste ich handeln.
Hier ging es um Gedeih und Verderb von hochwertigen Nahrungsmitteln,
für deren Behandlung es einen Katalog von Vorschriften gab.
Und es ging nun auch um Gedeih und Verderb der Genossenschaft.
Jürgen zog sich gerade an. Er streifte sein weißes Hemd über den Kopf,
als ich ihn zur Rede stellte.
Sofort gereizt erwiderte er, was ich mir erlaube, ihn vollzunölen. Er
wüsste sehr wohl, wer mich vorschickte. Jetzt nütze ich die Gelegenheit aber
aus, den amtierenden Vorsitzenden zu spielen, wozu ich ja sonst nicht käme.
Alt genug und demzufolge hinlänglich einsichtig, hätte ich mich von ihm
nicht provozieren lassen sollen. Seelenruhig hätte ich ihm sagen müssen, er möge,
obwohl bereits umgekleidet, die Karpfen in den Tiefkühlteil stellen und
betreffs des körperlichen Angriffs auf Horst Gruß bekäme er von mir einen
schriftlichen Verweis.
Aber mich juckte es, den arroganten jungen Mann anzufahren.
Denn knapp zwei Wochen vorher hatte er mich blamiert.
Was ein Hermann Witte sich erlauben durfte, mich meiner religiösen
Grundeinstellung wegen, lächerlich zu machen, das nahm er, der fast zwei
Jahrzehnte Jüngere, für sich nicht ungestraft in Anspruch.
Hermann Witte hatte den Zuschauern beim Fischfang in Strasburg, dem
wahrscheinlich gesamten Kollektiv des Landambulatoriums, detailliert
mitgeteilt, was ich für ein Sonderling sei. Er brachte die Lacher damit
natürlich auf seine Seite.
Nur Jürgen musste noch eins obendrauf setzen und erklären, „Sonderling”
sei wohl nicht der rechte Ausdruck, ich sei ein Worteverdreher. Das traf mich
hart. Es klang nicht nur so, er meinte, ich lüge wie gedruckt.
In der Öffentlichkeit wollte ich damals diesen Streit nicht austragen.
Aber jetzt kam ich unklugerweise darauf zurück.
Ich sprach nicht gerade ausnehmend höflich mit ihm.
Da fiel er in seinem unbeherrschten Zorn lautstark über mich her,
glaubte wir seien unter vier Ohren und er wäre der mir ohnehin Überlegene.
Ungehemmt bezichtigte er mich der Unlauterkeit. Jürgen schrie mich aus
der Turmhöhe an, ich könne ihm den Buckel kreuzweise herunterrutschen.
Es musste ihn jemand, der Rang und Namen besaß, gegen mich aufgewiegelt
und ihm den Rücken gestärkt haben.
Es so zu formulieren war der Gipfel der Unverfrorenheit.
Überhaupt, was ging ihn mein religiös motiviertes Engagement an? Was
hatte das mit den 500kg Karpfen zu tun?
Da betraten seine beiden Kontrahenten den Umkleideraum.
„Aha!”, höhnte er, raffte seine Siebensachen und verschwand ins Wochenende.
Da wir die
zehn Zentner Karpfen nicht verkommen lassen konnten, brachten wir die gefüllten
Fischkisten in den Tieffrostraum. Mühsam beherrscht schrieb ich den Verweis und
händigte ihm das Schreiben am Montag aus. Den Fetzen Papier würde er nie und nimmer
anerkennen. Gruß hätte ihn verdient. Am Dienstag, nach seiner Rückkehr,
versuchte Reinhardt Lüdtke wieder Ruhe in den zerfahrenen Haufen zu bringen,
indem er Jürgen nur unter vier Augen ermahnte und Horst Gruß sowie Werner
Hansen beschwichtigte. Damit war ich nicht einverstanden.
Gruß kündigte. Satt vom Gezänk, erwog
auch ich ernsthaft das Kapitel Binnenfischerei aus meinem Leben zu
streichen. Da verunfallte Reinhardt Lüdtke, während er sich auf dem Weg zu
einer Fischereifachtagung befand. Im Gegenverkehr raste er mit seinem
Wartburgkombi unter den Anhänger eines W 50. Durch die Wucht des Aufpralls riss
sein Auto des Anhängers Achse aus der Verankerung. Lüdtkes Fahrzeug wurde in
diesem Vorgang die Kabine komplett weggeschnitten. Sie haben den Schwerverletzten,
der wie ein zusammengestauchtes Bündel dalag, mühsam aus dem Pedalraum
herausziehen müssen. Die Gesichtshaut war ihm vom Kinn an bis in Augenhöhe
gerissen worden.
Wäre er angeschnallt gewesen, hätte Reiner den Unfall nicht überlebt.
Zufällig war ich nur wenige Stunden später an der Unglücksstelle
vorbeigefahren. Verwundert bemerkte ich die Trümmer eines Anhängers und eines
Autos, die verstreut im Straßengraben lagen. Ahnungslos, um wen es sich
handelte, dachte ich: Das war ein tödlicher Unfall.
Sofort, als ich davon erfuhr, beeilte ich mich, ihn im Krankenhaus in
der Pfaffenstraße zu besuchen.
Als sie mich, am dritten Tag zu ihm ließen, sah ich nur die Kissen, die
weißen Binden und eine kleine Öffnung um den Mund herum und seine Augen.
Er sprach langsam, war jedoch klar bei Bewusstsein.
Reiner sagte mir an jenem Tag etwas, das ihm wichtiger als alles andere
zu sein schien. Er sprach zwar leise und langsam, doch mit gewissem Nachdruck.
Es betraf erstaunlicherweise nicht das innerbetriebliche Klima. Es ging um seine Einstellung zur SED.
Er habe keine Wahl. Beitreten werde er der Partei wohl müssen: „Aber
mache dir keine Gedanken!”, setzte er hinzu.
„Eingestiegen bin ich dennoch nicht. Sie haben es versucht.” Redete er
von der Stasi?
„Ja, davon. Sie wollten, dass ich mit ihnen zusammenarbeite.” Er
stockte: „Nein. Da waren sie bei mir an der falschen Adresse.”
Reiner atmete schwer. Leise setzte er hinzu: „Sei versichert, dass aus
mir nie ein Kommunist wird!”
Natürlich begriff ich, was er meinte.
Nachdem er noch mehr dazu gesagt, schwieg er und ich saß eine Weile
ratlos. Immerhin galt für mich, er dürfte sich nicht aufregen.
Im Begriff aufzubrechen gab er mir ein Zeichen.
Er möchte mir noch etwas mitteilen.
Es dauerte, bis Reiner wieder reden konnte. Er zögerte auch. Natürlich,
da war es wieder. Diese Beklemmung derer, die den Wunsch hegten, sich mir
anzuvertrauen. Es gab Themen, die enorm vorsichtig behandelt werden mussten.
Man konnte nie wissen, was sich aus einem einmal geäußerten Wort entwickelte.
Jede, auch die kleinste Kritik am Regime konnte sich zu einem Ungeheuer
auswachsen. Aber das Umgekehrte gab es ebenfalls. Lautstarke Attacken auf den
Staat DDR verhallten manchmal auch folgenlos.
Mochten solche Tatsachen von Zufällen abhängen oder Taktik sein, die
furchteinflößende Ungewissheit spielte ihre Rolle in jedem Falle wirkungsvoll.
Man konnte nie wissen...
Ich kannte einen Oberst, der wurde eingesperrt und musste danach lange
einsitzen, nur weil er sich herausnahm, während der Tage des Prager Frühlings,
Alexander Dubcek einen tapferen Mann zu nennen. Ein anderer teilte mir mit,
welche Arbeit er im Kurierdienst zwischen kommunistischen Bundesbürgern und
‚der Firma’ (dem Staatssicherheitsdienst) leisten sollte, und dass er es strikt
abgelehnt hätte, seinen guten Namen als Deck- und Briefkastenadresse
herzugeben. Danach fiel er in Panik, weil er sich plötzlich fürchtete, mir
gegenüber allzu offen gewesen zu sein.
Kaum jemand war mit seiner SED-Mitgliedschaft glücklich.
Viele, die im Verlaufe der Jahre der Partei beitraten, glaubten eine
Möglichkeit zu sehen, sich durch diese Zugehörigkeit in verschiedene Prozesse
einmischen zu können. Danach jedoch quälte sie das Gefühl, damit direkt oder
indirekt einer Sache zu dienen, die nicht sauber war. Einige Genossen gaben
unumwunden zu, dass sie immer wieder mit sich selbst im Hader lagen, ob und wie
weit sie sich mit der SED einlassen durften und ob sie die Herrschaft eines
Systems stärken durften, das wahrheitsgemäße Differenzierung wie die Pest mied,
das nur die Farben Schwarz und Weiß kannte, und Weiß bedenkenlos für sich
allein beanspruchte.
Reiners Bedenken gingen ebenfalls in diese Richtung. Er hasse die
Bespitzelung und erst recht diesen Geist der Unredlichkeit, in dem die Partei
Berichte fälsche, um ihre Wirtschaftspläne wenigstens auf dem Papier zu
erfüllen.
Zu jedem schäbigen Trick würden sie greifen um ihre Führungsrolle zu
sichern und zu rechtfertigen. Reiner verurteilte die Privilegiensuche nicht
weniger maßgeblicher Genossen und distanzierte sich von solchem Benehmen. Dann
machte er eine vorsichtige Handbewegung und setzte hinzu: „Ich will versuchen
sauber zu bleiben, aber ich komme nicht umhin Genosse zu werden. Ich wollte dir
nur sagen, dass ich deshalb nicht blind bin.”
Trotz der Umstände kamen wir an jenem denkwürdigen Nachmittag noch
einmal auch auf unsere betrieblichen Probleme zu sprechen.
Den Zank zwischen Gruß und Jürgen habe er nicht verhüten können. „Du
musst wissen, Gerd, dass da Dinge gelaufen sind, von denen du nichts weißt.
Gruß reizte ihn vor der Kastorfer Geschichte, wo er konnte, heimlich. Man
sollte beide Seiten hören, ehe man urteilt. Das weißt du doch. ”
Von meinem Ärger wegen der
Hochfahrenheit Jürgens sagte ich nichts.
Reiner erwähnte, dass Gruß lediglich versucht habe vor sich selbst
wegzulaufen, wie Leute, die immerzu nur reisten, um sich selbst zu
entkommen. „Löst das etwa unsere
Probleme, wenn man sich ihnen entzieht?”
Ich schämte mich, weil auch ich erwogen hatte wegzurennen.
Wir und der §5, Landbauordnung
Trotz erzwungener Beteiligung an Fischveredlungsprojekten des
Kooperationsverbandes “Qualitätsfisch der Mecklenburger Seenplatte” dem wir
anzugehören hatten, war uns gelungen
trotz Überweisung von sechshunderttausend Mark, bis 1975 weitere
achthunderttausend Mark anzusparen.
Diese Summe hätte ausgereicht, um ein mittleres Wirtschaftsgebäude
hinzustellen sowie zusätzlich eine neue Spundwand rammen zu lassen, die wir
ebenfalls dringend benötigten.
Aber Geld ist nicht alles. Es floss nach der zweiten Agrarpreisreform
reichlich. Nur wir konnten dafür nicht kaufen, was wir wünschten oder
benötigten. Wir mussten unsere finanziellen Mittel in zwei Kategorien teilen.
Es gab dem Grunde nach verfügbares und nicht verfügbares Eigenkapital.
Wir hätten zehn Millionen auf dem Betriebskonto haben können, solange
sie nicht in den Bilanzen der zuständigen Kreis- oder Bezirksverwaltungen
vorkamen, entsprach ihr effektiver Wert Null. Das war seitens der Obrigkeit
gewollt.
Sämtliche auf dem Akkumulationsfonds geparkten betrieblichen Finanzen
konnten erst nach und durch einen vor dem Finanzministerium der DDR zu
verteidigenden Gesamtplan zum Zahlungsmittel befördert werden.
Statt wie früher für eine Tonne Kleine Maränen 1700,-Mark einzunehmen,
erhielten wir nun über 9100,-Mark. Das war mehr als das Fünffache.
Anstelle von früher 3,50 Mark je Kilogramm Karpfen, bekamen wir 14,00
Mark und das unter Beibehaltung der Endverbraucherpreise (EVP).
Selbstverständlich konnte das nicht gut gehen. Niemand dreht an der
Preisschraube willkürlich und zugleich ungestraft.
Günter Mittags Finanzwissenschaftler, die gehofft hatten ihre Agrar-
und Industriepreisreform sei die rettende Idee, forcierten damit lediglich die
bereits angelaufene, sich verselbständigende, sozialistische Inflation.
Wir erhielten jedenfalls, trotz unserer guten Finanzlage keine
Baukapazitäten vom Rat des Bezirkes. Es gab zwar Versprechungen, weil wir so
nicht weiterhausen konnten, aber eben keine Planziffer dafür.
Wir fertigten unsere Reusen und Fanggeschirre immer noch in derselben
alten Bretterbude an, durch die der Wind
pfiff.
Der Dachdecker und Bauingenieur Jürgen Krüger gab mir, als wir wieder
einmal gemeinsam zur Nacht fischten, den guten Rat: „Baut doch nach §5,
Landbauordnung.”
„Und das
wäre?”
„Ihr baut in
Eigeninitiative!” Beim Rat des Bezirkes wurde unser Antrag positiv gewertet.
Sie gaben uns grünes Licht. Die Ratsleute freuten sich über jede
Eigeninitiative.
Das war ja bekannt, einer der will, kann zehnmal mehr erreichen als
der, den sie antreiben müssen.
Zunächst musste einem von uns der Hut aufgesetzt werden. Ich wollte ihn
unbedingt haben und bekam ihn auch.
Dann berieten wir im Vorstand, wie viel Aale ich zur Beschleunigung des
Vorhabens, Bau einer Betriebsstätte, zur freien Verfügung hätte.
Falls es
partout nicht weiterginge, beabsichtigte ich mit Räucheraalen nachzuhelfen.
Rigoros wollte ich das kuriose Geschäft betreiben, allerdings in keinem Falle
anders, als ausschließlich zugunsten des Betriebes. Ich wollte vom Sozialismus
nicht betrogen werden, also betrog ich ihn auch nicht. „Hundert Kilo
höchstens.“, sagte Reiner. Mir schien ich käme mit fünfzig hin.
Schließlich
sollten es zweihundert werden.
Das erste Problem bestand darin, dass ich niemanden fand, der umgehend
die zum Zweck der Baugrunduntersuchung erforderlichen Bohrungen auf unserem
Torfgelände ausführen würde. Wir vermuteten, wir stünden über ungefähr fünf
Meter Torf.
Hier und da gab es Achselzucken. Dann ging ich zu einer Firma in der
Katharinenstraße. Wieder hing das Kinn des Zuständigen tief herunter. Das
kannte ich schon. Sie waren ausgebucht.
Deshalb lamentierte ich nach Kräften: „Wir haben es satt in der Hütte
am See zu sitzen und Wintertags zu frieren.”
„Andere Leute frieren mitunter
auch!”
Mutig schoss ich hinterher: „Aber
ich habe Räucheraale zu bieten!”
Kopfrucken. „Wie bitte?”
„Na, ja, wir fangen welche,
wenigstens die Grünen...”
Der betreffende Brunnenbauchef schaute mich noch einmal an, und ich
hielt dem argwöhnisch prüfenden Blick stand.
Kess lachte ich ihm ins runde Gesicht: „Für jeden Mann ein Kilo
Räucheraale gratis.”
„Moment mal!”, lautete die nicht unfreundliche Erwiderung. „Ich muss
mal in den Kalender sehen... tja da haben wir,... da hätten wir,... sagen wir
nächste Woche...”
Sie bohrten von Hand, primitiv wie vor hundert Jahren und stellten
fest, dass wir sogar über sechs Meter Torf bauen mussten. Die Bohrkerne mussten
analysiert werden.
In einem Labor im Industrieviertel gab es freie Kapazitäten.
Ebenfalls kein Problem die fünfundvierzig Stück, zehn Meter langen
Stahlbeton-Rammpfähle zu kaufen. Rammkapazitäten standen uns desgleichen zur
Verfügung, wenn auch nicht sofort.
Auch die Eisenbieger mussten nicht überredet werden, da wir zur
Ausführung der Flechtarbeit die Genehmigung erhielten, Fachleute für die
Feierabendtätigkeit zu werben und sie leistungsgemäß zu entlohnen.
Aber dann stellte sich uns das erste größere Hindernis in den Weg.
Beton erwies sich als Engpass. Denn wir benötigten 180 Kubikmeter in einem
Ritt. Alle Lockungen mit Räucheraalen halfen nicht.
In der ganzen Umgebung gab es keine Mischanlage, die uns außerplanmäßig
den Beton für die Fundamentplatte liefern konnte. Der April des Jahres ‘78
verging, der Mai und der halbe Juni. Keine Aussicht. Hartmut Wißmann vom
Tiefbaukombinat machte mir dann wieder Hoffnung, zugleich winkte er verächtlich
ab. „Du mit deinen Räucheraalen!”, kritisierte er scharf. „Soll ich mir die 200
Kubikmeter aus den Rippen schneiden? Ende Juli eventuell.”
Wenn die neue, aus dem Westen kommende Mischanlage getestet würde,
dann... vielleicht.
Ich rechnete. Wir hassten es, daran zu denken, dass wir noch einen
Winter in der Holzhütte zubringen sollten. Im Juli, das ginge noch. Wir könnten
es schaffen, im Januar ins neue Gebäude zu ziehen.
Im Juli erkrankte die Großmutter des Mannes, der die Westtechnik
installieren sollte. Im August wurde desselben Mannes Nichte krank. Im
September gab es noch ein Problem.
Mir leuchtete durchaus nicht ein, dass von der Gesundheit unbekannter
Westnichten und Westomas unser Wohlergehen abhängen sollte.
Hartmut Wißmann ärgerte sich ebenfalls.
So sei das mit den Abhängigkeiten von BRD-Importen.
„Hast du denn schon die Steine und die Fensterrahmen? Hast du die
Dachbinder und die Klempner-, die Elektriker- und Fliesenlegergewerke sicher?”
„Ich habe Zusagen.”
„Zusagen sind keine Steine. In Eggesin kann man gelegentlich
Hohlbetonsteine erwerben.”
Telefonate.
„Ne, sie kommen in diesem Jahr zu spät. Wo denken sie hin? Steine sind
Goldstaub!”
Ich schluckte. „Aber sie haben mir doch gesagt...”
„Gesagt, lieber Mann, gesagt habe ich gar nichts, nur mal nachgedacht,
wie ich ihnen helfen könnte.”
„Ich habe Räucheraale!”
„Mögen wir gar nicht. Aber wenn sie Zeit und Leute mitbringen, dann
produzieren sie sich die Steine selber.” Mir stockte der Atem.
„Reiner, wir müssen mit ein paar Mann nach Eggesin fahren und Steine
machen.”
„Ihr habt Fische zu fangen, ...
aber wenn’s denn durchaus sein muss...” Wir setzten uns zu viert in meinen
kleinen Trabantkombi und fuhren nach Eggesin, in fünfzig Kilometer Entfernung.
Dort schütteten sie uns den Fertigbeton auf ein Freigelände hin.
Von Hand schaufelten wir die Mischung in die Formen am Fuß der von uns
gemieteten Rüttelmaschine. In jeweils ungefähr je fünf Minuten stellten wir
vier Hohlblöcke her, die nur noch abbinden und trocknen mussten. Das Gerät
schüttelte uns genauso zusammen wie das leblose Material. Noch im Schlaf
spürten wir die Rüttelei.
Am letzten Tag, an dem wir die noch fehlenden dreihundert Stück
fertigen wollten, ließ sich plötzlich mein Trabantgetriebe nicht mehr schalten.
Immerzu, sooft ich es versuchte, es rastete der vierte Gang nicht ein.
Telefonate hin und her. Wir mussten uns beeilen. Schließlich mussten
wir ja auch unseren Fangplan erfüllen. „Im Augenblick haben wir keine
Ersatzteile!”
„Auch nicht für Räucheraale? Naja! Zwei, drei Kilogramm hätte ich
übrig.“
„Tut mir leid.”, erläuterte Werkstattmeister Roland. „Zwei Kilo kostet
mich schon die Überredung im Hauptlager.”
Mit Ach und Krach gelangte ich
bis zur Reparaturwerkstatt.
„Dann baut mir doch bitte auch
gleich eine neue Auspuffanlage ein.”
Großes Stirnrunzeln.
„Mein lieber Mann, wir haben zwar zehn Stück Vorschalldämpfer bekommen,
aber nicht einen einzigen Hauptschalldämpfer...”
Am zweiten Oktober gossen sie endlich die Bodenplatte, am fünften
legten die Maurer der bunt zusammengewürfelten Feierabendbrigade den ersten
selbstgefertigten Hohlblock auf die als Sperrschicht dienende Dachpappe.
Für Feierlichkeiten und große Reden war an diesem späten Nachmittag des
Baubeginns keine Zeit. Es dunkelte bereits. Noch konnte man die Zeichnung
Robert Brenndörfers lesen. Große Lampen hatten wir bereitgestellt. Doch die
erhellten das Baugelände nur partiell taghell.
Den betriebsfremden Handlangern und Maurern sagten wir eine Prämie zu.
„Wenn Ihr den Rohbau bis zum 20. hochgezogen habt, dann...”
Löthe, wie sie ihn nannten, der Baubrigadier, maulte, „na, ja, bloß
Geld...”
„Jeder
bekommt zwei Kilogramm geräucherte Aale obendrauf.”
Da rief „Löthe” schallend: „Männer, rangeklotzt, es gibt was für
Muttern!”
Am siebenten ging es mit voller Kraft weiter. Zum Glück war das ein
Feiertag und wir hatten einen ganzen Tag vor uns. Reiner, unser Vorsitzender
wuchtete und schob von früh morgens bis spät abends das Baumaterial heran. Er
lief als wäre Steinekarren sein Hobby. So keimte wiederum die Hoffnung auf,
dass wir es bis zum Frosteinbruch doch noch schaffen könnten.
Inzwischen stand fest, dass wir die Dachbinder der geforderten Abmaße
und Norm nirgendwo erwerben könnten. „Meines Wissens hat die Tischler-PGH
‚Vorwärts’ in Neubrandenburg Beziehungen zu einer der Herstellerfirmen in
Anklam und Pasewalk. Die sind zumindest im Besitz der Nagelpläne.”
Ohne weiteres erhielt ich in Anklam außer den Nagelplänen noch ein paar
gute Ratschläge, doch niemand ließ sich von mir verleiten, die erforderliche
Menge Latten und Bretter zu verkaufen um daraus die Brettbinder herstellen zu
lassen.
Die Tischlergesellen waren bereit, eine Sonderschicht einzulegen, zumal
ich unmissverständlich eine besondere Delikatesse in Aussicht stellte.
Nur konnte ich durchaus keine Bretter bekommen.
Vorsitzender Emil Tilp zuckte mit den Achseln. Er möchte, könne uns
aber nicht helfen: „Material musst du mir schon anliefern!”
Sein Holzkontingent sei voll ausgelastet. „Geh zum Rat des Bezirkes,
die vergeben mitunter noch freie Kapazitäten! Aber du musst dich durchsetzen.”
Jürgen Meyer, den Leiter des Bereiches Binnenfischerei, suchte ich da
zuerst auf. „Wärst du doch ein Jahr früher gekommen, ich hätte dir die dreißig
Festmeter Holz besorgen können.”
„Mensch,
Jürgen, ich brauche sie jetzt...”
„Tut mir
leid. Geh mal zu Horst.”
Horst G., der an diesem Tag in der Abteilung Forstwirtschaft seinen
Dienst versah, hörte mich zwar geduldig an, schüttelte jedoch hinterher
missmutig den Lockenkopf. „Dat ihr Kerle auch immer auf die letzte Minute
angekleckert kommt. Bin ick die Feuerwehr?”
Leider war das bezirkliche Forstamt nicht so schnell wie die Feuerwehr, aber ich stand unter Druck wie
ein erhitzter Dampfkessel über Flammen.
In meiner Naivität hatte ich zu lange geglaubt, Binder problemlos
einkaufen zu können.
„Glaube macht selig, backen macht mehlig!” den Kinderreim hörte ich bis
zum Verdruss. An jenem Nachmittag im Spätherbst ’78 verließ ich das weiße
Gebäude am Friedrich-Engels-Ring mutlos. Weder wortreiche Überredung noch
Betteln, noch meine massiven Bestechungsversuche hatten mir den ersehnten
Erfolg beschert. Da trollte ich mich nun niedergeschlagen davon, besaß zwar die
Nagelpläne und die Zeichnung für das planmäßig mit Eternitplatten zu deckende
Dach, hatte sogar Räucherdelikatessen und konnte mit alledem nichts anfangen.
Ärgerlich rollte ich meine Papiere zusammen und fluchte, weil ich mit
leeren Händen dastand.
Vor Wut hätte ich explodieren können.
In diesem Augenblick sah ich einen stattlichen, mit geflochtenen
Achselstücken geschmückten Forstmann auf mich zukommen.
Der kam mir
gerade recht. Wie durch ein Zielfernrohr visierte ich ihn durch meine
dreiviertelmeterlange Rolle an. Als er bis auf zwei Meter herangekommen war,
fuhr ich ihn an: „Euch Förster müsste man samt und sonders erschießen!” Er
stutzte. Er musterte mich. „Genosse, was hast du denn für Probleme?”
Und wie
mitfühlend er das sagte! „Genosse!”
Zum ersten
Mal, wie mir schien, verstand mich einer und litt mit mir.
„Ich muss spätestens im November das Dach auf unser neues
Wirtschaftsgebäude setzen. Wir haben nach § 5 gebaut. Niemand in deinem Haus
gibt mir ein Holzkontingent. Uns wird der Winter dazwischenkommen.”
„Wo kommst
du her?”
So und so!
„Komm mal
mit!”
Es war mir zumute, als wäre ich in die Kindertage zurückversetzt worden
und Mutter hebt mich hilfeschreienden Knirps liebevoll vom kalten, nassen
Fußboden auf.
Genosse Skibbe!
Wären alle Menschen der Welt so wie der da, mit seinen dicken
Achselklappen...
Ich las das Schild an seiner Tür. Nur wenige Sekunden telefonierte er,
der Oberlandforstmeister Siegfried Schreib, mit irgendjemand.
„Also dreißig Festmeter Lärche oder Fichte! Die kriegst du! Für deinen
Betrieb allemal.”
Das war es, was die Besten unter den
‘Kommunisten’ wollten, Solidarität. „Wann bekomme ich das Holz?”
„Eingeschlagen ist es schon... muss nur noch gerückt werden.” Es läge
da und da in den Tiefen der Neustrelitzer Forsten. „Du kannst die Stämme ab
übermorgen abfahren lassen!”
„Wir fahren übermorgen nach
Leningrad, Betriebsausflug.”
Er schmunzelte, statt mich
auszuschimpfen.
Ich lachte innerlich, das war die
Sorte Leute, die ich mochte.
„Wird dir die Zeit knapp, was? Muss ja noch geschnitten werden und noch
genagelt, nich?”
Ich nickte ein bisschen hilflos, vielleicht tauschen sie. Er winkte ab.
„Keine Experimente! Ich lasse dir die Stämme nach Zwiedorf ins Sägewerk
schaffen!” Er setzte sich an einen anderen, mit Papieren übersäten
Schreibtisch, schob den Aschenbecher beiseite, nahm einen Kalender zur Hand und
schrieb etwas auf. „Hier hast du den Termin für den Schnitt.”
Mit Schrecken sah ich, das war die hohe Zeit für die Nachtfischerei auf
Maränen.
Meine
Reaktion fiel ihm auf.
Er fragte
nicht lange. Nur ein kurzer Blick.
„Ich sehe
schon. Diesmal fahrt ihr in den Kaukasus. Hier hast du einen neuen Termin fürs
Sägewerk.”
„Dafür gebe ich dir fünf Kilogramm
Räucheraale!”
Er schüttelte den geröteten, breiten Kopf. „Deinen Aal will ich nicht.
Es war mir eine Freude, dir helfen zu können.”
„Ach was.”, wehrte er bescheiden ab, als ich ihn lobte und mich
bedankte: „Sieh zu, dass du das Dach draufbekommst!”
Mitte Januar, einen Tag bevor der Winter richtig zuschlug, zogen wir in
unseren durch Nachtspeicheröfen herrlich beheizten Neubau ein. Es gab im
Sozialismus tatsächlich noch Freude.
Das Ende einer Ära
Entsprechend der staatlichen Planvorgabe mussten wir zwischen 1978 und
’85 alljährlich mehr als 200t Fische fangen, und zwar unter ständiger
Reduzierung des noch hohen Futterfischanteils.
Und das bei zunehmender Eintrübung unserer Seen.
Probleme in Hülle und Fülle. Die abfließende Gülle selbst aus kleinen
und kleinsten Viehbeständen machte dem Tollensesee sehr zu schaffen. Er
verträgt nur kleine Mengen solcher Düngung. Sonst explodieren die
Kieselalgenpopulationen und diese ständige Verdoppelung wird erst gestoppt,
wenn keine Nährstoffe mehr zur Verfügung stehen, dann aber erfolgt das
Massensterben der Algen. Sie sinken faulend auf den Seegrund und wehe, wenn
dort nicht genügend Sauerstoff vorhanden ist, dann klaut die verrottende Algenpampe
den Fischen sozusagen die Luft. Schlimmer, es entstehen bei dem
Mineralisierungsprozess Gifte, darunter der tödliche Schwefelwasserstoff. Große
Areale des Seebodens wiesen bereits ab Juli jeden Jahres, nach 1980, nur noch
Null Milligramm Sauerstoff aus. Alarm! Alarm!
Zudem nahte zwischen mir und Jürgen der Tag der Entscheidung zwischen
seinen und meinen Anhängern. So konnte es mit uns nicht weitergehen. Reiner
vermochte es nicht, die beiden Gruppen zu einigen.
Jürgen, der gelegentlich sogar phlegmatisch wirkte, gab nie nach.
Werner Hansen und ich ebenfalls nicht. Immer häufiger gerieten wir als
Gruppen aneinander. Es wäre das Letztdenkbare für mich gewesen, gegenüber dem
wesentlich Jüngeren, nur weil er statt der geforderten fünf Knoten, sechzehn
verschiedene zu knüpfen vermochte, allzu behutsam aufzutreten. Hätte er sich
nicht selber für perfekt gehalten, wäre er vielleicht, irgendwann, perfekt
geworden.
Jürgen sah gut aus. Er konnte sich, seiner beachtlichen Körperkräfte
wegen wie ein Ross in die Sielen legen, war vorbildlicher Familienvater,
schielte offensichtlich nicht nach den Röcken anderer Frauen, handelte, wie er
dachte. Eigentlich ein idealer Mann.
Nur ob er immer richtig dachte, das erwog er nicht jeden Tag aufs Neue.
Das war es. Seine Überzeugungen hielt er für hinlänglich abgerundet. Er
stellte sie, wie mir schien, nur selten wiederholt in Frage.
Er war starr und stur wie ein Betonklotz.
Mit Werner Hansen hätte er längst Frieden schließen können. Aber
dagegen stand der alte, nie überwundene Groll wie ein Bollwerk.
Gemeinsam rackerten sie. Und doch stießen sie einander bei der
geringsten Differenz so geräuschvoll ab, als prallten zwei große Glocken
gegeneinander. Uns dröhnten dann jedesmal die Ohren.
Einmal, kurz vor Weihnachten 1986 war das gewesen, mitten in einer
offiziellen Zusammenkunft, gerieten sie heftig in Streit.
Um eine Nichtigkeit ging es. „Du hast den LKW ohne Erlaubnis für
Privatfahrten genutzt” warf Werner Hansen ihm vor.
„Aber nur in Verbindung mit einer Dienstfahrt!”, verteidigte Jürgen
sich.
„Twintig Kilometer Ümwech sünd doch beten veel!” 172
Dafür hätte er die festgelegte Kilometerpauschale bezahlen müssen und:
„Du, Werner Hansen, spionierst ja hinter jedem her!”
„Was? Ich?”
Beide Recken sprangen zugleich auf ihre Beine. Die Blicke wie Boxer
ineinander gesenkt, rückten sie wutentbrannt gegeneinander. Gleich würde es
krachen. Das fehlte uns noch. Eine Keilerei in einer Mitgliedervollversammlung.
Schneller als Reiner, der die Versammlung leitete, reagierte ich und erhob mich
spontan, ging dazwischen.
Da stand ich nun zwischen zwei Schwergewichtlern, die einander wie
Todfeinde hassten. Von rechts oben kam etwas, von links oben nicht minder. Es
fiel auf mich herunter.
Nichts war zu sehen.
Unsichtbar fuhren mir harte, kalte Hände an die Gurgel. Nie zuvor hatte
ich ein vergleichbares Gefühl erlebt. Mir schien, ich stünde nackt da. Rings um
meinen Körper legte sich nasse, eisige Watte. Ich glaubte plötzlich, ich sei
gelähmt. Wie schwarzer Schnee fiel der Hass auf mich herunter. Erschrocken
wollte ich mich zurückziehen. Ein, zwei Schritte entfernte ich mich aus dem
Zentrum des Negativen. Zu spät. Meine Augen begannen außer Kontrolle zu
geraten. Sie rotierten. Der kleine Raum drehte sich um mich. Sekunden später
brach ich zusammen.
Erst als sie mich am Boden liegen sahen, hörten sie auf sich
anzugiften.
Ein Krankenwagen musste kommen. Ich fand mich außerstande, die Bewegung
meiner Beine zu koordinieren. Buchhalterin Inge und Reiner hoben mich auf die
Trage. Ich spuckte, das war mir peinlich, aber was half es?
Eine altersbedingte Blockade des Stammhirns wurde diagnostiziert. Was
mich niedergeworfen hatte, war überwiegend die Auswirkung der Kälte gewesen.
Sie bewirkte, dass meine Gefäße sich zusammenzogen.
Noch tagelang drehte sich das Karussell in meinem Schädel weiter.
Da erkannte ich, dass es die vielleicht schlimmste Strafe wäre,
Menschen der Kälte des Hasses auszusetzen. Etwas, das die Richter jeden Tag
taten. Menschen müssen geheilt und nicht dem Erfrieren ausgesetzt werden.
Sechs lange Wochen dauerte es, bis ich wieder arbeiten konnte.
Kurz nach den „Volkswahlen” im Mai ’89 sprachen mich mehrere Leute an.
Fast übereinstimmend beurteilten sie die
Lage der SED negativ: „Diesmal sind sie noch mit einem blauen Auge
davongekommen. Das wird nächstes Mal anders aussehen!”
Ich fand niemanden mehr, der die SED für kompetent hielt, die
wirtschaftliche Misere zu überwinden. Sämtliche Engpässe in der Versorgung
lagen offen zutage. Das sozialpolitische Programm erschien allenfalls noch den
jungen Müttern als realisierbar. Die LPG erhielten schon längst nicht mehr die
Technik, die sie im Zuge der laufenden Instandhaltung ihrer Maschinenparks
dringend benötigten. Schon einige Jahre vorher hatte Werner Felfe, Mitglied des
Politbüros der SED und zuständig für Landwirtschaft, Binnenfischerei und
Forstwirtschaft während der Statutenkonferenz in Leipzig, auf Anfragen der in
Wirtschaftszwänge geratenen LPG-Vorsitzenden, erklärt: Helft euch selbst, dann
hilft euch der liebe Gott.
Das sagte alles. Zudem wurde seit langem der Kraftstoff für Industrie
und Landwirtschaft rationiert.
Seit vielen Jahren wurden immer mehr LKW nach Irak geschickt. Dort
herrschte zwischen 1980 und ’88 grausamer Krieg mit Iran, den die DDR Regierung
insofern unterstützte, als sie wüstenfähige W 50 lieferte und indem sie
zumindest für Irak die Panzer reparierte und dafür Erdöl und Devisen erhielt.
Manchmal dachte und fragte ich mich kopfschüttelnd, ob die zuständigen
Genossen wohl beten, dass dieser Konflikt um den Grenzverlauf am fernen Schatt
al Arab nie aufhören möge?
Jeder sah jahrelang die Zugtransporte mit diesen gelben LKW durch die
Landschaft rollen. Viele empfanden großes Unbehagen. Mehr und mehr
Ausreiseanträge wurden gestellt. Auch Ärzte suchten das Weite.
Nicht selten klagten Chirurgen, dass technische Mängel sie nötigten die
Grenzen des Vertretbaren zu unterschreiten. Düsternis lag über uns. Es
herrschte eine Stimmung wie unmittelbar nach dem Krieg.
Mein Gartennachbar, der ebenfalls große Lust verspürte, in den Westen
zu gehen, ein Mathelehrer und Genosse, sagte, er hätte diesmal die Wahlkabine
benutzt.
„Ich auch!”, lautete mein Echo
Er habe probeweise ’mal die Hälfte der auf den Zetteln stehenden Namen
gestrichen, aber bewusst nicht alle. Das behalte er sich für die nächstanstehende
Wahl vor. Als wäre ich ein Papagei: „Ich genauso!”
Noch lag der dramatische August in gewisser Entfernung, doch das
Ereignis warf bereits seine Schatten voraus.
Den üppigen Auslagen in Intershopläden standen nur klägliche Angebote
in den HO-Geschäften gegenüber. Die Abwärtskurve im Sozialismusdiagramm hatte
zusätzlich einen scharfen Knick bekommen.
Hervorgegangen aus der Gesellschaft der Arbeiter- und Bauernklasse, gab
es Leute mit buchstäblich sich auszahlenden Westbeziehungen und verfügbarer Valuta.
Diese Gruppe stellte sich damit, zum Ärger aller Linientreuen, effektiv als
Sonderklasse dar, die zumindest bei Karl Marx noch nicht vorkam.
Nur für sie gab es Zugriff auf wenigstens dreißig Sorten Schokoladen
sowie weitere zweihundert Sortimente Genussmittel. Die Minderbemittelten
dagegen suchten in den beängstigend kahlen Regalen der DDR-Geschäfte vergeblich
nach Artikeln, die es vor Jahren bereits gegeben hatte. Hier roch es lediglich
nach Kartoffeln und Armut.
Da, im West-Shop gab es alles.
Schnaps allerdings konnte jedermann für DDR-Mark in zahllosen Varianten
und überreichen Mengen kaufen. Von jeweils sechs Regaletagen waren mindestens
zwei mit Spirituosen gefüllt. Aber kaum Auswahl an Süßigkeiten. Ein paar
Bonbons in Plastetütchen lagen schmucklos herum. Besseres bekam man zu
überhöhten Preisen, gleich nebenan im Delikatladen.
Unsere DDR-Gemüsestände wurden von denen, die ihre Onkel und Tanten in
Hamburg und Lübeck besuchen durften, erst nach der Rückkehr so richtig
bedauernd belächelt.
Warum können die das?
Warum ist solche Angebotskultur bei uns nicht möglich?
Was sind die wirklichen Ursachen dafür, dass wir vierzig Jahre nach
Kriegsende mit zunehmender Verknappung leben müssen? Werden wir der
Mangelwirtschaft denn nie entrinnen?
Das waren die kleinen, aber entscheidenden Fragen. Auch wer in seinem
Portemonai kein Westgeld trug, ging gelegentlich in einen Intershop um zu
sehen, was alles möglich war. Unwiderstehlich übte die Glitzerwelt der
Konsumgesellschaft ihren Reiz aus. Auch wenn man sie nicht als wirklich
erstrebenswert betrachtete, sie war der Ausdruck für die
Verwirklichungsmöglichkeiten von Ideenvielfalt in einer liberal orientierten
Gesellschaftsordnung. Andererseits bewunderten führende Genossen, was
DDR-Bürger zustande bringen konnten, wenn man ihnen dafür Freiräume bot.
Binnen Wochen stampften sie ganze Laubenkolonien mitsamt ihren
Kleindatschen aus dem scheinbaren Nichts. Händeringend beklagten DDR-Minister:
„Hätten wir doch vollen Zugriff auf dieses Potential an Initiativvermögen!” An
solchen Stellen zeigte sich, dass Freiheits- und Eigenliebe Werte sind, die
Menschen sich niemals rauben lassen werden.
Das unterschätzten die Kommunisten.
Stur glaubten sie, das gesellschaftliche Sein, egal wie es hergestellt
würde, müsste das gesellschaftliche Bewusstsein radikal umkrempeln. Das war der
unerfüllbare Tagtraum nicht weniger marxistisch-leninistischer Ideologen und
Philosophen.
Hier gab es staatliche Planauflagen, die häufig genug nichts weiter als
Wunschauflagen waren. Deshalb wurden sie trotz Ach und Krach selten oder nie
erfüllt. Im Westen dagegen herrschte freier Wettbewerb, mitsamt seinen riesigen
Vorteilen, aber auch versehen mit dem grässlichen Makel straflos wirkender
Brutalität gegen Konkurrenten.
In einem Punkt der Bewertung waren sich im letzten Jahrzehnt des „real
existierenden” Sozialismus alle DDR-Bürger einig. Die Sozialismusidee konnte
weder mit Gewalt noch mit List durchgesetzt werden, sie jedoch freiwillig zu
leben würde den Idealismus einer Mehrheit voraussetzen, die sich wahrscheinlich
nicht finden wird, und, - würde diese Mehrheit dennoch zustande kommen, dann
wäre das, was sie hervorbrächte, etwas völlig Anderes als der Sozialismus, den
sich Erich Honecker und sein Freund Mielke vorstellten.
Nie wird einer hinlänglichen Zahl von Produzenten einfallen, aus
blankem Staatsbewusstsein Mehr-Arbeit in die Qualitätsverbesserung ihrer
Erzeugnisse zu stecken.
Partei und Regierung haben immer wieder auf diesen Gesinnungswandel
gehofft, obwohl ihre Köpfe angeblich dialektisch dachten.
Es ging allen Betroffenen wie uns Fischern. Weil uns und ihnen die
Mehrleistung nicht mehr vergütet wurde, unterblieb sie. Der Staat konnte diese
Mehrleistung nicht honorieren, weil sich bereits viel zu viele Geldscheine in
Umlauf befanden.
Für uns Binnenfischer in Neubrandenburg war die Konsumtionshöhe vom Rat
des Bezirkes längst festgeschrieben worden. Gleichgültig, wie viel wir mehr
produzierten. Unser Verdienstlimit lag definitiv bei einem
Durchschnittsverdienst von 14.4 TDM Netto im Jahr.
Dieser Monatsverdienst von 1200,- Mark (Prämien eingerechnet) war zwar
vergleichsweise beachtlich. Nur, das Wissen um diese Grenze spornte nicht an.
Einmal fehlten uns exakt zehntausend Mark an der Gesamtplansumme von 480 000.
Möglicherweise hinderte uns dieses geringe Minus daran das Limit zu
erreichen. Wir fischten deshalb unter Lebensgefahr in Woldegk auf nur fünf bis
sechs Zentimeter starken Eis.
Es bogen sich die Kerneisflächen. Aus gewisser Entfernung bemerkte ich,
wie die mit dem Zugnetz beladenen, aus Gründen der Vorsicht, weit voneinander
entfernten Schlitten, die von den Männern gezogen wurden, sich ständig bergauf
bewegten. Im Zentrum der Last war die gerade so tragende Eishaut mindestens
einen viertel Meter eingebeult. Jeden Augenblick musste die schwache
Kristalldecke bersten. Ich sah schon, wie meine Kollegen zwischen den
Eissplittern um ihr Leben kämpfen würden. Man fischt nicht, bevor der Eismantel
Sicherheit bietet. Erst fast an Land angekommen, brach Reiner Lüdtke durch. Zum
Glück war an dieser Stelle des Ostufers des Woldegker Sees der Untergrund fest.
Wir fingen genau die Menge Fische, die den fehlenden zehntausend Mark
entsprachen.
Aber als wir sie verkauft hatten, stellte sich heraus, dass sie
Überplanmenge waren. Ein kleiner Fehler in der Buchhaltung.
Jürgen Kreusch, Sekretär des Kooperationsverbandes “Qualitätsfisch der
Mecklenburger Seenplatte” zuständig für Konsumtion und andere Finanzen der
angegliederten Betriebe, nahm weisungsgemäß den Rotstift und strich die
zehntausend Mark aus der Verdienstberechnung.
Ich schaute ihn an, als wir ihm unseren Jahresabschlußbericht
vorlegten. „Wir haben die zehntausend unter Lebensgefahr zusammengebracht, das
muss sich doch für die Beteiligten finanziell auszahlen!”
„Nix ist!”, erwiderte er, “ ihr verdient doch genug Geld.”
Dann zuckte er mit den Achseln.
Ich wusste zwar, dass er so entsprechend den Direktiven, die er von
seinen Vorgesetzten erhielt, handeln und reden musste, doch ärgerlich war ich
trotzdem und verschaffte mir Luft, indem ich ihm und andern Leuten sagte, was
ich dachte.
Mir wurde dennoch erlaubt, in den Westen zu reisen. Eine richtige Tante
zwar, aber die ich noch nie gesehen hatte und die ich auch gar nicht sehen
wollte, feierte ihren 75. Geburtstag. Das gab meinem Sohn Hartmut und mir die
Gelegenheit nachzuschauen, wie es ‚drüben’ aussieht.
Gespenstisch wirkten auf uns diese Menschentransporte, die wir kurz vor
dem Zusammenbruch der DDR in Berlin erlebten: Zu Dutzenden saßen die jungen
Stasileute in den Bussen, um in die Bereiche gefahren zu werden, in denen ihr
operativer Dienst erforderlich zu sein schien. Ich sah diese unlustigen
Gesichter. Ich sah die Fragen und die Unsicherheit in den Augen der vielen
Mitarbeiter des Mielke-Apparates.
Wir sahen auf dem Bahnhof Friedrichstraße die Offiziere des
Sicherheitsdienstes mit ihren buchstäblich schnüffelnden Hunden durch die
bereitgestellten Züge streifen und schüttelten verstohlen die Köpfe.
Was hätte Heinrich Heine geschrieben, wäre sein “Deutschland, ein
Wintermärchen” erst jetzt entstanden? Ende Oktober 1989 hatte mir der
Abteilungsleiter für Land- und Forstwirtschaft vom Rat des Bezirkes eine Reise
nach Sotschi zugesprochen. Erikas Anteil mussten wir selbst tragen, dennoch
nahmen wir dankbar an.
Zeitgleich begannen auch in Neubrandenburg die Montagsdemonstrationen.
Ich konnte mir damals nicht vorstellen, dass sie zum völligen Sturz des
Weltkommunismus beitragen würden. Ich gehörte zu den Zweiflern, unsere
Buchhalterin Inge Schoemann dagegen zu den Aktivisten der neuen Zeit. Mir war
nicht völlig klar, dass das System inwendig total zerfressen war, dass keine
Machtstruktur es mehr zusammenhalten konnte, dass auch der Druck auf die rote
Taste nichts mehr geändert hätte. Ich hatte mich geirrt, und das, obwohl ich
doch immer wieder behauptete, dass innere Unwahrhaftigkeit den Tod jeder Sache
herbeiführen muss. Das war meine eigene Inkonsequenz. Deshalb sagte ich tadelnd
zu Inge Schömann: „Was soll werden, wenn ihr das Haus einreißt, in dem wir
wohnen?”
Da lachte sie. „Kaputt ist es schon, reißen wir es ganz ein, bauen wir
ein neues!”
Sie gehörte seit eh und je zu den Optimisten.
Dabei hatte ich bereits vier Wochen vorher, am Montagabend, den 9.
Oktober 1989, im Schein meiner Taschenlampe auf dem Tollensesee, während die
Motorwinden unser großes Zugnetz durch die Tiefen zog, den “offenen Brief”
Hermann Kants gelesen. Ich saß auf der wärmenden Blechhaube des Kuttermotors,
den Rücken an die Kabinenwand gelehnt, schaute zu den Sternen auf, hielt diese
Zeitung Nr. 237 der “Jungen Welt” in Händen und mir war ähnlich zumute wie in
jenen Frühlingstagen 1956, nachdem Chrustschow mit seinen Genossen Tacheles
geredet hatte.
Mir schien damals, man solle diesen Brief, den Kant an den
Chefredakteur des FDJ-Blattes, Hans-Dieter Schütt, gerichtet in Goldrand fassen
lassen. Da glaubte ich noch, das Gute der DDR, die Vollbeschäftigung und das,
wenn auch aus der Not geborene, echte Solidargefühl, ließe sich mit dem Guten
der freien Welt verbinden und vielleicht erhalten. Kants Ehrlichkeit und meine
eigenen Überzeugungen ließen gar keinen anderen Schluss zu.
Da sagte dieser mutige Mann die volle Wahrheit und das zweitwichtigste
Blatt der DDR-Presse brachte sie ungeschminkt!
„Eine Niederlage ist eine Niederlage, und passe sie noch so schlecht in
den Vorabend eines gloriosen Feiertages. Die Züge, mit denen die deutsche
Reichsbahn, die einst Lenin aus der Schweiz durch Deutschland nach Russland
transportierte, nunmehr Bürger der Deutschen Demokratischen Republik via
Deutsche Demokratische Republik aus Warschau nach Braunschweig verfrachtet,
sind nun einmal wahrlich keine Siegeszüge. Unseres Sieges jedenfalls nicht.”
Bezugnehmend auf diese neue Flüchtlingswelle, die mit der
Grenzzaunentsicherung auf ungarischer Seite im August des Jahres ’89, erst
möglich wurde, fuhr Hermann Kant fort:
„Schärfsten Widerspruch lege ich ein, wenn man den Anschein erweckt,
ich sei des Glaubens, meines Gegners Kraft allein veranlasse junge Frauen, ihre
Kinder über Botschaftszäune zu reichen, und dieselbe Kraft bewege junge Männer,
freiwillig Quartier in fremden Kasernen zu suchen...Weniger vor dem Sumpf da
drüben warnen ( ja es gibt ihn, und ich weiß, und seine Beschreibung soll auch
künftig nicht verboten sein), mehr an die eigene Nase fassen (Selbstkritik
nannte man das vor Zeiten). Wir müssen
uns an der eigenen Nase aus dem Sumpfe ziehen...”
Anfang November ‘89 sah ich ganze Scharen von
Parteigruppenorganisatoren und Parteisekretären der Betriebe durch den
Neubrandenburger Kulturpark zur Stadthalle eilen. Alle waren aufs Höchste
erregt. Die Parole, die dort von der Bezirksleitung der SED ausgegeben wurde,
lautete „Schadensbegrenzung”.
Dies war die erste, mir bekannt gewordene Versammlung, in der
Parteiaktivisten geschlossen vom vorgegebenen Kurs abwichen und von ihrer
Führung ‚Reisefreiheit für alle’ forderten.
Selbst wer kurzsichtig war, sah voraus, welche Folgen die Öffnung eines
dermaßen komplexen, aber geschlossenen Systems haben musste. Ebenso unglaublich
wie Hermanns Kants Zeilen und das Ergebnis dieser Parteikonferenz, kam mir dann
die erste Montagsdemonstration vor, die ich miterlebte. Am Abend des achten
November, nachdem wir die Nachtfischerei eingestellt hatten, befand ich mich
eher neugierig als kämpferisch vor der Johanneskirche zwischen Hunderten und
verstand die Welt nicht mehr. Da drinnen sangen sie fromme Lieder. Gebetsworte
drangen über Lautsprecher nach außen. War das unser atheistisches
Neubrandenburg?
Dann kamen sie. Massen drangen aus der Kirche ins Freie. Von
Kerzenschein schwach erleuchtete Spruchbänder erschienen: „Die Führungsrolle
der SED muss weg!”
Im Halbdunkel flimmerte es.
Wie oft hatte ich mich durch Plakate und Schrifttafeln bedrängt
gefühlt. Nun las ich die direkt entgegengesetzten Texte, aber ich kann nicht
sagen, dass ich gejubelt hätte. Vielleicht war ich zu alt geworden, um mich
riesig zu freuen. Mir erschien das Ganze unausgewogen. Sie versprechen sich
zuviel, dachte ich.
Reden wurden auf dem Karl-Marx-Platz gehalten.
Lehrerinnen entschuldigten sich für den Unfug, den sie in
gesellschaftskundlichen Fächern gelehrt hatten. Ein Mann namens Dörnbrack
fordert die Menschen in väterlich-pastoralem Ton auf, in der DDR zu bleiben.
Wenn die SED beiseite geräumt sei, dann lohne es sich auch wieder zu leben.
Ich konnte bereits damals, vor Wochen, nicht begreifen, warum die
Parteigewaltigen in Leipzig hilflos zuschauten und fürchtete andererseits, dass
die scharfmacherischen Aussagen von Leitern der Kampfgruppen in buchstäbliche
Gefechte umgesetzt werden könnten. Hatte Michael Gorbatschow ihnen in
Anbetracht der Ereignisse vom Mai in Peking auf dem Platz des himmlischen
Friedens kategorisch untersagt, Waffen einzusetzen?
War dem mächtigsten Mann der Welt klar, dass er wohl den Erdball
sprengen, aber nicht die Freiheitsidee aufhalten könne?
Am Dienstag, dem 05. Dezember ’89, fünf Wochen, nachdem ich nach
vierzigjähriger Abstinenz wieder ins politische Leben zurückkehrte, indem ich
mich der CDU anschloss, flogen wir in den Kaukasus.
In unserem sehr modernen, wunderschön am Fuße der riesigen Berge
gelegenen Hotel in Dagomir waren wir von den sich überstürzenden Ereignissen in
der Heimat abgeschnitten. So hatte ich mir das nicht vorgestellt. Nie zuvor
schien mir der Empfang von Informationen und das Zeitunglesen so wichtig zu
sein.
Aber jede deutschsprachige Zeitung, die wir erhalten konnten, war
bereits eine Woche alt, obwohl wir nur drei Flugstunden von Berlin entfernt
wohnten und fast jeden Preis für zuverlässige Nachrichten bezahlt hätten.
Wir rannten aufgeregt umher und suchten neue Anhaltspunkte wie es in
der Heimat weitergeht und fanden doch nichts.
Vor unserer Haustür wälzten sich die sturmgepeitschten Wogen des
Schwarzen Meeres. Kaum weniger wogten in uns die zahllosen Fragen, Bedenken,
Hoffnungen und Befürchtungen.
Wir bildeten eine Gruppe von fünfzig Leuten, die der Rat des Bezirkes
wegen ‚gewissenhafter Planerfüllung’ im Bereich der Nahrungsmittelproduktion
sozusagen in den Sonderurlaub geschickt hatte. Am Abend des 8. oder 9. Dezember
schrieb die Hotelleitung endlich eine brandaktuelle Notiz auf ihre schwarze Bekanntmachungstafel.
Ich wunderte mich über die einhellig zustimmenden Äußerungen meiner
Reisegefährten, die fast ausnahmslos der SED angehörten, als sie es einander
vorlasen: „Der erst am 18. Oktober als Generalsekretär der SED bestätigte Egon
Krenz von Hans Modrow gestürzt!”
„Halleluja!” Sie jubelten, als hätten sie gemeinsam einen großen
Lottofünfer getippt. Mich freute es auch. Nur fragte ich mich ernsthaft, wer
und was am Ende dieser Überraschungskette stehen wird.
Erika nahm es ganz gelassen. Für sie war wichtig, dass ich unter allen
Umständen zu ihr hielt. Mitten im Botanischen Garten des sich ungeheuer
ausdehnenden Kurortes Sotschi wandte ich mich an eine der beiden
Dolmetscherinnen.
Ihr Bruder sei Offizier der Roten Armee und sie und er sehen dieselbe
Gefahr wie ich. Instabilität wird heraufziehen.
Gorbatschow hätte den führenden Soldaten erlaubt, ihren Armeedienst zu
quittieren. Die Pazifisten gingen, die Hardliner blieben und das angesichts
eines Waffenpotentials, das sämtliches Leben auf diesem herrlichen Erdball
dreißigmal vernichten könnte. Das war meine Sorge. Es gab weltweit zu viele
unsichere Kantonisten, die ihres persönlichen Machterhaltes wegen
möglicherweise alles tun und die in ihrem Wahn, sogar Atomwaffen einsetzen würden.
Ein holpriger Übergang
Noch im April 1990 hielt ich eine offene Konfrontation für denkbar.
Westdeutsche Ratgeber, die uns besuchten um uns Neupolitiker zu
beruhigen und sicherlich wohlmeinend zu beeinflussen, überzeugten mich nicht.
Es gibt keine Sicherheit, je mehr wir sie uns wünschen, umso weniger.
Dr. Alfred Dregger kündigte kurz vor Ostern seinen Besuch an. Sein
Wunsch war, am 20. April auf dem Marktplatz in Neubrandenburg aufzutreten.
Kurz zuvor war ich zum stellvertretenden CDU-Kreisvorsitzenden gewählt
worden und es gab Leute, die mich mit mancherlei Informationen versahen. Da
meine Vorgesetzte, Frau Benz, in Friedland wohnte, fiel mir die Aufgabe zu,
unsere politische Arbeit in Neubrandenburg zu organisieren.
Ich erwog den ernsten Hinweis, den ich am Karfreitag erhielt, dass es
zu einem Massenaufmarsch fanatischer Linker kommen könnte, falls der als
‚Rechtsaußen’ geltende Vorsitzende der CDU/CSU Bundestagsfraktion seine Rede
öffentlich halten würde.
Im Geiste
sah ich einen Tumult voraus.
Was dann?
Diese Vision von flatternden roten Fahnen beschäftigte mich erheblich.
Im Gegensatz zu meinen Gesprächspartnern aus dem Konrad-Adenauer-Haus war ich
nicht der Meinung, dass ein letztes Aufbäumen der immer noch im Lande unter
Waffen stehenden NVA auszuschließen sei. Meiner Überzeugung nach gab es immer
noch genügend Oberste, die ihre Machtinsignien, selbst gegen alle Vernunft,
gemäß ihrem noch in Kraft stehenden Fahneneid verteidigen könnten, wenn sie ein
rotes Signal dazu auffordern würde.
Ich schloss eben von mir auf andere, ein Trugschluss, wie ich nun weiß.
Wir müssen uns selbstverständlich korrigieren dürfen, in jeder Hinsicht
übrigens, bis das Fundament unseres Wesens Wahrhaftigkeit ist. Aber dieses Ziel
darf niemand dadurch in Frage stellen, dass er sich selber untreu wird. Gewiss
ist keiner gut beraten, wenn er aufgefordert wird seine Überzeugungen einfach
über Bord zu werfen. Deshalb schien mir, es sei leichtsinnig, solche Erhebung
der Linken auszuschließen, zumal der 20. April Hitlers Geburtstag war. Ein
Umstand, den niemand im Büro des Herrn Dr. Dregger, auch nur im Traum bedacht
hatte, den jedoch ein gewiefter Propagandist durchaus in seine Argumentation,
gegen unseren Gast, und damit gegen uns, hätte zur Geltung bringen können.
Mag sein, dass dies übertriebene, vielleicht sogar verrückte
Vorstellungen und Befürchtungen waren.
Indessen stimmten die Mitglieder des Kreisvorstandes der CDU
Neubrandenburg nach Erörterung der Problemlage meinem Antrag mehrheitlich zu,
Herrn Dr. Afred Dregger nur in der Stadthalle Neubrandenburg auftreten zu
lassen.
Vor allem der spätere Oberbürgermeister Neubrandenburgs, Peter Bolick,
sah die Dinge ähnlich wie ich.
Im Büro Dr. Dreggers war man entsetzt. Denn ich bestand auch auf
Änderung einiger Details auf den Ankündigungsplakaten.
Morgens am 20. April bat mich Dr. Dregger zu einem Vieraugengespräch.
Ich verteidigte den Beschluss und meine eigenen Ansichten, sagte, was ich
dachte und zu befürchten glaubte. Im Beisein seiner charmanten Sekretärin
umrundeten wir vielredend die Tribünen des Sportplatzes am Badeweg.
Er war sehr beherrscht und zugleich sehr wütend auf mich. Ich ließ mich
auf nichts ein, obwohl mir das schwer fiel, denn wer war ich gegen ihn?
Wahrscheinlich hielt er mich für einen verkappten Roten.
Vielleicht liefen ihm bei dieser Vermutung kalte Schauer über den
Rücken.
Doch obwohl ich mit einigen seiner politischen Auffassungen nicht
übereinging, stand ich nicht gegen ihn. Mir war nur klar, dass ein Mann des
Westens bei bestem Willen nicht nachempfinden kann, wie jemand fühlt, der sein
Leben unter dem Diktat der Partei der Arbeiterklasse zugebracht hatte.
Leider oblag es mir, Herrn Dr. Dregger eine zweite Absage zu erteilen.
Es war meine Pflicht, ihm den Beschluss des Rates der Neubrandenburger Geistlichkeit mitzuteilen.
Dieser Rat hatte mich eigens eingeladen und mir dringend nahe gelegt,
Herrn Dr. Dregger zu übermitteln, dass er an der ‘Gedenkstätte für die Opfer
der Nazibarbarei und der kommunistischen Gewaltherrschaft’ in Fünfeichen, kein
Kreuz hinstellen möge, und sei es noch so klein.
Das wäre ihre Sache. Sie hätten bereits den Termin für die Ausrichtung
eines Gebetsgottesdienstes festgelegt. An diesem Tag wollten sie den Platz für
ein künstlerisch gestaltetes Kreuz bestimmen.
Es gibt irgendwo ein Foto, das uns gemeinsam im Bereich des Vorgartens
des damaligen Neubrandenburger CDU-Hauses zeigt. Dr. Dregger lächelte in die
Kamera hinein. Doch ich wusste, wie bitter seine Gefühle waren.
Denn seine bereits vorbereitete Presseerklärung musste wesentlich
geändert werden, das von ihm bestellte Holzkreuz war umsonst hergestellt
worden...
Anfang Juli ’90 wählten meine Fischerkollegen mich zu ihrem
Geschäftsführer, unmittelbar nachdem unsere Gelder im Zuge des In-Kraft-Tretens
der vereinbarten Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion beider deutscher
Staaten aufgewertet wurden.
Unter der Bedingung, nur für eine zweijährige Wahlperiode zur Verfügung
zu stehen, nahm ich an. Ich sagte: „Meiner Überzeugung nach setzen wir
gemeinsam fort, was wir gemeinsam begonnen haben. Wir bleiben als
gleichberechtigte Mitglieder in einer zu bildenden e.G. zusammen.
Zwei Drittel des Bargeldes setzen wir sofort für einen Komplexneubau
ein, ein Drittel teilen wir anteilmäßig, als Entschädigung für entgangenen Lohn
auf.“
Das wurde einhellig akzeptiert. Auch mein Gegenspieler Jürgen
widersprach nicht. Mit den anderen ‚Damen und Herren’, wie meine Kolleginnen
und Fischerkollegen seit März ’90 offiziell hießen, bestätigte auch er in
namentlicher Abstimmung, dass wir zusammenhalten wollten.
„Dann dürfen wir auch daran denken, uns durch Baukreditaufnahme zu
verschulden!” Reiner Lüdtke nickte, Jürgen nickte. Sicherheitshalber
wiederholte ich mich: „Wir werden eine Million Mark gemeinsam abzutragen
haben.”
Geplant war der Neubau längst. Architekt Robert Brenndörfer hatte ganze
Arbeit geleistet und alles adaptiert. Erste Bankgespräche verliefen
verheißungsvoll. Wir bestellten die Dampframme. Spannbetonpfähle lagen noch
herum. Wir hatten ja bereits zu DDR-Zeiten begonnen und lediglich neue
Vorstellungen einbezogen. Ein Zurück war nun unmöglich. Aber es waren ja die
Zuverlässigen an meiner Seite, der treue Wolfgang Homeyer, Werner Hansen,
Wolfgang Sittig, Frank Busse, Detlef Inhof, Reiner Rottmann, Dieter Giesa und
natürlich Reiner und Inge Schoemann.
Auch der viel zu früh verstorbene Ulrich Johanns hätte mir
beigestanden. Da aber flatterte uns am 04. Juli 1990 die erste
Gewässerkündigung auf den Tisch. Der Rat der Gemeinde Knorrendorf teilte uns
kurz und bündig mit, was sie für richtig hielten: „Hiermit kündigen wir Ihnen
sämtliche Gewässer unseres Territoriums...”
Wenige Tage später sollten die nächsten kommen.
Wer erlaubte es sich, uns die Gewässer zu
entwenden, die wir mit teuren Satzfischen versehen hatten?
Sofort legte ich schriftlichen Protest ein, verwies auf Artikel 9 des
Einheitsvertrages. Da hieß es: Bis auf weiteres gelten die DDR-Bedingungen.
Davon ging ich aus, dass es im Wesentlichen bleibt, wie es ist, und nahm
zunächst nicht ernst, was sich da anbahnte.
Wir waren immer noch die rechtmäßigen Bewirtschafter der Wasserflächen
zwischen Neustrelitz, Stavenhagen, Penzlin und Neubrandenburg, ausgestattet mit
Bewirtschaftungsverträgen. Mein Finger lag auf dem Gesetzesband
Einheitsvertrag.
Noch dachte ich nicht an Jürgen.
Ich wollte davon ausgehen, dass mein Dauerkontrahent ebenso gut wie ich
wusste, was eine Zustimmung zur Verschuldung bedeutete. Zumindest durfte er
keine Schritte gegen uns einleiten. Ein paar Tage lang ließ ich die Dinge auf
sich beruhen.
Eine attraktive, junge Dame aus dem Konrad-Adenauer-Haus kreuzte in
meinem Büro auf. Sie stellte mir ein paar Fragen, die Kommunalpolitik
betreffend. Da gab es keine Probleme, jedenfalls keine großen. Aber als sie
hörte, dass ich den übernommenen Betrieb nicht nur personell, sondern auch
strukturell erhalten wolle, erschrak sie. Ihr Mund spitzte sich. Sie sagte:
„Oh, o, da sehe ich Sie aber schon oft vor dem Kadi sitzen!” Ich lachte noch
und verabschiedete sie mit einem Scherz.
Wir fischten selbstverständlich in den uns von den Bürgermeistereien
gekündigten Gewässern.
Es gab Hinweise auf Befischung unserer Seen durch andere. Zunächst
beunruhigte mich das nur wenig. In Waren und Prenzlau gab es analoge
Problemfälle. Sicherheitshalber fuhr ich auf den Lindenberg, wo die Stasi
gehaust hatte, da befand sich nun der Torso des ehemaligen Rates des Bezirkes
Neubrandenburg. Mein Wunsch war, mit Rainer Prachtl zu reden. Er saß dort und
verkörperte in seiner Stellung und in dieser Phase die höchste Autorität im
Bezirk. Noch befanden wir uns rechtlich in der DDR.
Wir trugen zwar bereits das ersehnte Westgeld in den Taschen und im
Kopf, doch noch hieß unser Land offiziell DDR.
„Du bist im Recht. Ich gebe es dir schriftlich!”, sagte Rainer Prachtl
und ließ Jürgen Meyer kommen, den im Bezirk für Binnenfischerei zuständigen
Fachmann.
„Jawohl, die alten Rechtsträgerschaften bleiben vorläufig in Kraft...”
Das gab mir
Zuversicht. Deshalb blieb ich ruhig, zu ruhig wahrscheinlich, zu lange auch. So
vollzog sich das Folgende zunächst, ohne mich sonderlich zu erregen.
Auszüge aus dem Betriebsprotokoll:
„Am 19.Juli 1990 wird uns per Schreiben des Bürgermeisters Herrn
Schwarz, Rehberg mitgeteilt, dass die im Grundbuch in der Flur 3, Flurstück 6
eingetragene Seenfläche an eine Privatperson verpachtet sei.
Es handelt sich um den Balliner See, auch bekannt unter der Bezeichnung
Rehberger See.
Die sofortige fernmündliche
Erkundigung ergibt, dass Herr Jürgen N. die betreffende Privatperson ist.
Der Vorstand der Genossenschaft
wartet einige Tage auf eine Erklärung von Jürgen N. unserem
Genossenschaftsmitglied.
Jürgen jedoch verschweigt uns
weitere Fakten, obwohl in verschiedenen Gesprächen, an denen er aktiv
teilnimmt, die Frage erwogen wird, wie wir mit der marktwirtschaftlichen
Herausforderung fertig werden können.
Neue Kündigungsschreiben trudeln
ein.
Wir wehren uns. Doch zwischenzeitlich, am 28. Juli, erhalten wir
Antwort aus Knorrendorf auf unseren Protest.
„Wir haben Ihr Schreiben vom 13.
Juli erhalten. Nach Auskunft durch einen Rechtsanwalt, haben wir bestätigt
bekommen, dass unsere Kündigung vom 27. Juni 1990 rechtskräftig ist und somit
bestehen bleibt.”
Protokollauszug vom 28. Juli:
„Ein persönlicher Besuch des
Geschäftsführers Herrn Skibbe in Knorrendorf. Das Gespräch mit der
Bürgermeisterin Frau Hartwig ergibt keine Übereinstimmung.“
Ein uns gut gesonnener
Anglerfreund gab mir den entscheidenden Hinweis: „Das Haupt ist Herr K., suche
ihn auf.”
Der mir das
riet, hatte Ahnung.
Ich fuhr umgehend hin, wünschte mit Herrn K., dem Leiter des Gemeindeverbandes
Rosenow, zu reden.
Man ließ mich ein. Ich nannte meinen Namen. Er nickte nur. Er wusste
Bescheid.
Da saß er, ein energischer, bärtiger Fünfziger. Hinter seinem
Schreibtisch hockte er sicher. Seine Brillengläser funkelten: Ich bin ein
Demokrat!
Ich konterte auf ähnliche Weise:
Ich auch!
Er schaute mich durchdringend an. Ich stellte ihm mein Anliegen vor:
„Wir bauen eine neue Betriebsstätte, wir haben beschlossen zusammen zu bleiben
und gemeinschaftlich zu wirtschaften, nicht gegeneinander.”
Seine
lapidare Antwort lautete: „Stalinistische Genossenschaften brauchen wir nicht
mehr!”
„Sagten sie
stalinistische?”
„Ich sagte
und meinte stalinistische!”
Wie ein Fisch im schlechten Wasser schnappte ich nach Luft. Demokraten?
Weiß der
Mann, was das ist?
Liberaler
sei er.
„Ich bin
CDU-Mann!“
„Blockflöten!” Gut, dass ich keine Pistole besaß. Sollte ich dem da
erklären, dass ich am 30. Oktober 1989 in die CDU eintrat, weil sie an eben
diesem Tage erklärte, sie kündige die Bündnispolitik mit der SED auf? Er beharrte,
ich beharrte: „Wir werden morgen im Kastorfer See fischen”
„Ich schicke ihnen die Polizei auf den Hals. Herr Jürgen N. ist der
neue Bewirtschafter!”
Hatte ich es nicht geahnt? Meine ohnmächtige Wut ließ ich mir nicht
anmerken: „Tun sie, was sie nicht lassen können!”
Schnell fand ich mich vor der Tür wieder.
Unser Genossenschaftsmitglied Jürgen besaß einen gültigen Pachtvertrag,
wir waren Fischdiebe.
Mit meinen gelben, alten Trabant
bin ich mit überhöhtem Tempo nach Hause in die Fischerei gefahren. Im Flur des
Wirtschaftgebäudes traf ich Detlef Inhof. Der strohblonde Exhochseefischer wies
mit dem Kopf zur Tür des Netzlagers: „Da drinnen”, wisperte er.
Mit einem Ruck stieß ich die Tür auf.
Jürgen saß da und Reiner. Zwei Umrisse wie aus Bronze gegossen,
Nachdenklichkeit und Besorgnis. Reiner, zumeist gutmütig und hilfsbereit war
gerade im Begriff zu erklären, dass er wenig Hoffnung habe, dass ich ihm einen
Vorschuss für die fälligen Pachten geben würde... „Seid ihr von allen guten
Geistern verlassen? In einer Stunde ist Mitgliedervollversammlung!” Jetzt gab
es kein Halten mehr. Entweder Jürgen N. oder wir. Jürgen hat ein Signal
gegeben, wenn wir dem nichts entgegen setzen, dann bricht es.
Mensch Jürgen, wir haben dein Versprechen! Es schnürte mir die Kehle
zu.
Der große junge Mann mit dem ausdrucksstarken Gesicht ging in den
ersten Arbeitsraum. Da setzte er sich hin und strickte eine Netzreihe herunter,
als wäre nichts geschehen. Ich sprach ihn kurz an und er antwortete normal, als
sei nichts passiert. In der Vollversammlung, die ich leitete, legte ich in
wenigen Sätzen die Situation dar. Entweder stellt Jürgen sich auf unsere Seite
oder er muss die Genossenschaft verlassen. „Die Pachtungen, die Jürgen
betreibt, schließen uns von dem Recht auf Wiederfang der von uns eingesetzten
Fische aus.”
Er entgegnete: „Ich will frei sein und nehme nichts zurück! Mit der
Kommandowirtschaft ist es aus!”
„Dann schließen wir dich aus!” Er schaute mich an. In seinen Augen las
ich die Ablehnung. Mich lehnte er ab, die Genossenschaft lehnte er ab, die
meisten Männer, außer Dieter Gisa und Willi Krage widerstanden ihm längst,
wegen seiner Arroganz.
„Du hast dich in namentlicher Abstimmung für den Fortbestand unseres
Unternehmens ausgesprochen...”
„Na und? Ich bin im Recht!”
„Dann
schneiden wir dich ab.”
Auszug aus dem Protokoll des 10. August 1990:
„Nach kurzer Bedenkzeit und folgender Diskussion stellt Herr Skibbe in
der Mitgliederversammlung den Antrag auf Ausschluss von Jürgen N. aus der PGB
Tollense.
Von 16 stimmberechtigten Mitgliedern, sind 14 anwesend.
3 Enthaltungen, 1 Gegenstimme, 10 Dafürstimmen; ...“ Jürgen begab sich
mit seinen Freunden nach draußen. Er hielt mit ihnen Rat. Als ich sie so
dastehen sah, schien mir, er würde gar nicht begreifen, was ihm widerfahren
war.
„Wir sehen uns vor Gericht wieder!”, sagte er nur und ich erinnerte
mich der Worte der schicken, jungen Dame aus dem Konrad-Adenauerhaus. Zunächst
musste ich meine Ankündigung in Kastorf wahr machen. Am nächsten Morgen würden
wir auf jeden Fall und demonstrativ im Kastorfer See fischen. „Werner (Hansen),
ich komme morgen mit!” sagte ich, denn wir konnten sicher sein, dass wir auf
heftigen Widerstand stoßen werden.
Werner Hansen wollte nicht, dass ich mit ihm fahre, ich hätte zu Hause
genug zu tun. Aber unser gemeinsames Auftreten im Territorium Rosenow war mir
wichtiger.
Wir verluden einen der leichten grünen Plastekähne, das
Notstromaggregat, die Handelektrode, den Sicherheitsschalter, Minuspol,
Gleichrichter, Kescher, den großen Fischbehälter und setzten uns in den
Exmilitärwagen vom Typ Robur.
Hätten wir, als wir durch Knorrendorf fuhren, die Sekretärin am
Briefkasten gesehen, dann wäre uns vielleicht in den Sinn gekommen, dass sie
Post gegen uns einsteckt.
Wie üblich schoben wir uns vorsichtig und aufmerksam am Gelegesaum
entlang. Werner, auf dem Sicherheitsschalter stehend, stieß in vier – fünf –
Meter -Abständen die an einer etwa fünf Meter langen Glasfiberstange befestigte
handtellergroße Elektrode ins fast glasklare Wasser bis auf den Seegrund in Klaftertiefe.
Wie üblich waren acht von zehn Versuchen umsonst. Dann kam eine kleine
Quellmooswiese in Sicht. Da war es nur einen Meter tief.
„Dor sünd wek!”173 sagte er voraus.
Ich hatte oft genug elektrisch gefischt um nicht zu wissen, dass er
Recht bekommen würde. Zuerst schossen die untermaßigen Aale heraus, sie wanden
sich und taumelten narkotisiert zur Seite. Dann schlängelte sich ein dicker,
fünf Zentimeter breiter Aalschwanz heraus. Da der Flossensaum eine
verhältnismäßig große Potentialebene darstellt und wir ihm mit der Anode dicht
auf den Leib gerückt waren, hielt ihn der Gleichstrom fest. Die Kraft, die von
der Anode ausging, reichte jedoch nicht aus, ihn völlig aus seinem Versteck zu
ziehen. Werner Hansen half nach. Er war hochrot vor Aufregung weil es sich um
einen kostbaren Starkaal handelte. Von drei Aalen dieser Stärke entkommen in
der Regel zwei, vor allem wenn sie sich weiter als einen Meter vom Pluspol
aufgehalten haben. Sie sind zudem geschwind und enorm gewitzt. Werner hakte mit
dem elektrisierten Metall in den sich
krümmenden Schwanz. In diesem Augenblick bemerkte ich, dass sich in
vierhundert Schritt Entfernung eine Sandwolke auf uns zu bewegte. Ich musste mich
jedoch zuerst um den Aal kümmern, der plötzlich in voller Länge auftauchte. Mit
Mühe gelang es mir, dem kräftigen Fisch den Kescher vor das breite Maul zu
halten. Gemeinsam erwischten wir ihn und ich kescherte den sich wild wehrenden
Dreipfünder heraus und schüttete ihn ins wassergefüllte Schweff. Da tobte er
eine Weile umher.
Die kleinen Aale dagegen flohen wie üblich.
Sobald der Stromkreis unterbrochen wird, machen sie sich davon.
Augenblicklich erwachen sie aus der Narkose und schwimmen binnen ein, zwei
Sekunden davon, um eine wichtige Erfahrung reicher.
Wenn sie je wieder das Geräusch des im Rhythmus des dröhnenden
Notstromaggregates schwingenden Fischerkahnes vernehmen, flüchten sie
rechtzeitig und es dauert Wochen und manchmal Monate, bis der Handelektrodenfischer
sie wieder sieht.
Mitunter liegen die knapp einhundertfünfzig Gramm schweren Satz- und
Mittelaale so dicht beieinander, dass man fünfzig, sechzig mit einem Schlag
erwischt. Schade, weil sich unter ihnen auch die fangreifen Männchen befinden,
die nur etwa einhundertundachtzig Gramm schwer werden. Man nennt sie, wie die
großen, geschlechtsreifen Weibchen, Blankaale. Aale die nicht mehr wachsen.
Das Aussortieren nimmt dann viel Zeit in Anspruch.
Ich stieß Werner Hansen an und wies mit dem Kopf hinüber. Da erschien
ein roter Wartburg. Er hatte die Staubwolke hinter sich her gezogen. Für
Sekunden entschwand er noch einmal aus unserem Blickfeld. Den Mann am Steuer
schien ungeheure Wut zu treiben. Wie ein Wahnsinniger war er auf der Sandpiste
entlang gesaust.
Den breiten Rücken durchdrückend wandte Werner sich zu mir, sein volles
bartstoppliges Gesicht verzog sich. Es war ein etwas schräges Lächeln, das sich
um seine blutvollen Lippen legte. Werner nannte einen Namen, den ich nicht
verstand.
Uns war bewusst, dass der Besuch mir vor allem galt. Wir machten weiter
und gewahrten vom neuen Standpunkt aus, dass der Wartburg sich nun direkt vor
unseren Robur befand. Er hatte uns blockiert. Aber wir konnten von dem Fahrer
nichts entdecken.
„De is int Dörp gohn, hei holt de Pulezei!” 174 Richtig. Wir waren
festgenagelt worden. Zur Linken unseres Robur befand sich ein anderthalb Meter
hoher Schotterberg, zur Rechten der See. Vor uns der Wartburg, hinter uns der
Kahnhänger auf dem wir unser Boot transportierten und dahinter ein Graben.
Fast wortlos einigten wir uns, es nicht auf eine Konfrontation mit der
Polizei ankommen zu lassen. Wenn man uns das Schreiben des Bürgermeisters
vorweisen würde, könnten sie uns zwingen, die Fische in den See
zurückzuschütten.
So wie das unseren Männern bereits andernorts ergangen war. Vierzehn
Tage zuvor hatte ich auf dem Polizeirevier in Stavenhagen zwanzig Minuten
aufwenden müssen, um meinen geharnischten Protest zu Papier zu bringen und um
zu erreichen, dass die von den Polizisten am Ivenacker See beschlagnahmten
Fanggeräte wieder herausgegeben wurden, was denn auch umgehend geschah. Sie
wunderten sich auf dem Revier nur, wegen der vielen Worte und Sätze die in so
kurzer Zeit entstanden. Allerdings die Zander, die sie ins Wasser
zurücksetzten, blieben verloren.
Ärgerlich nur, dass unsere Kunden, die sich die Fische bei uns bestellt
hatten, später unbefriedigt nach Hause gehen mussten.
Ziemlich eifrig, als wären wir Fischdiebe, verluden wir das Geschirr
und die Fische, schoben unser Boot auf den Kahnhänger, banden es fest. Wir
hatten keine Wahl. Entweder entkamen wir unseren Gegnern oder wir waren
blamiert.
Blamiert? lachte Werner. Er hatte es wieder im Kreuz und ging schief.
Ich bräuchte ihn nicht einweisen, der Robur sei ein Geländewagen und
würde den Schutthaufen ohne weiteres erklimmen.
Ohne
weiteres?
Umkippen
kann uns die Fuhre.
Das war Werner Hansen. Er äugte
kurz, startete, schob einen halben Meter zurück, kurvte bis hart vor den roten
Kotflügel des Wartburgs, schob noch einmal, das Lenkrad scharf herum reißend,
zurück. Jetzt wieder vorwärts. Noch war von dem PKW-Fahrer nichts zu sehen.
Jeden Augenblick konnte sich das jedoch ändern.
‚Dass sie fliehen wollten, lässt
sich ja wohl nicht leugnen. Dass niemand flieht, der unschuldig ist, liegt wohl
auf der Hand!’ So hörte ich sie schon höhnen. Nun erklomm unser braver LKW
tatsächlich den kleinen steilen Berg. Er rutschte ein wenig nach links, dann
nach rechts. Der Kahnhänger folgte uns. Das Wasser im kubikmetergroßen
Fischbehälter schwappte, doch es ging voran. Wir glitten und rollten und
bremsten den kleinen Abhang hinunter. Nicht die Spur eines Kratzers am
Wartburg, das war nun wieder das Wichtigste. „Dat Wüchtigste is, dat se uns
nich kriegen!” 175 erwiderte Werner und schlug einen Weg ein, den
ich noch nie gesehen hatte. Querfeldein ging die Fahrt über Stock und Stein,
vorbei an Viehkoppeln und Maisstauden.
Banditen!
Nur dieser eine Begriff
bemächtigte sich meiner Gedanken.
Ich und er waren unter die Räuber gegangen. Mindestens
drei Anzeigen wegen Fischwilderei führten mich wiederholt vor den Kadi. Dabei
hatten wir nie in anderen, als in den uns zur Bewirtschaftung offiziell
übertragenen Gewässern gefischt.
Einmal bekam ich Recht, zweimal Jürgen N. Noch jedoch war nichts
endgültig entschieden. Der Krieg mit
Jürgen ging weiter.
Er stellte Netze, wir gerieten
mit unseren Zugnetzen dazwischen.
Er pochte auf seine Verträge, wir auf unser Gewohnheits- und
Bewirtschaftungsrecht, das uns die DDR gegeben hatte.
Ich ging in Berufung.
Aber es gab auch großen Krieg.
In eben diesen Tagen, Anfang August 1990, waren irakische Truppen in
Kuwait einmarschiert. Der große Irak erklärte den kleinen Staat Kuwait zur 19.
irakischen Provinz.
Die entmachteten Scheiche schrieen so laut um Hilfe, dass auch wir es
vernehmen mussten.
Am 29. November fasste die UNO einen Beschluss, der die gewaltsame
Vertreibung Iraks aus dem freien Land Kuwait androhte.
Wie eine düstere Ahnung, dass dies das Vorspiel zum dritten Weltkrieg
sein könnte, lag die alte Beklemmung wieder auf allen.
Meine Notiz zur Tagebucheintragung, geschrieben am 6. Dezember,
lautete: „Was wird uns 1991 bringen? Unter dem Druck der Zuspitzung der
Kuwaitkrise leidet jeder. Jeder weiß, wie leicht Kriege, in die Supermächte
verwickelt sind, ausufern können. Wir sehen die vielen anderen Probleme, auch
die wirtschaftlichen, rings um uns herum, ...”
Dunkle Geschäfte
Statt Scheine von radikal abnehmendem Wert besaßen wir seit dem ersten
Juli Geld. Wir fühlten uns wie Geburtstageskinder, die sich freuen sollten und
es doch nicht so recht konnten. In den Lebensmittelgeschäften sah es paradiesisch
farbig aus, aber in unseren Seelen immer noch grau. Vorausblickend fanden wir,
dass auf dem Wege vor uns kaum überwindliche Hindernisse liegen würden. In
einem handelten die meisten Ex-DDR-Bürger logisch richtig. Jetzt drehte jeder
den aufgewerteten Groschen dreimal um, ehe er ihn einmal hergab. Bereits zu
DDR-Zeiten war es zunehmend schwierig geworden, selbst wertvolle Fische, wie
Kleine Maränen, wenn sie in Massen angelandet wurden, en block abzusetzen. Auch
die Disponenten und Leiter der Fischauslieferungslager mussten längst
wirtschaftlich rechnen und ihr Risiko klein halten. Ihre Prämien hingen von
ihrem eigenen Geschick ab. Jetzt, nach der Wende, oblag uns die Fische nicht
nur zu fangen, sondern sie auch eigenhändig,
Stück für Stück, zu veräußern. Im Spätherbst fingen unsere Männer auf der Lieps
wieder einmal große Mengen Brassen, alles stattliche Exemplare. Werner Hansen
kam mit seinem Trabant angesaust, um mich zu informieren. Meine Kollegen
hofften, dass ich aus zehn Tonnen Bleie mehr als zehntausend Mark erlösen
könnte. Werner, immer höchst agil und dabei nicht selten angriffslustig, sah
mich scheel an, weil ich mit den Achseln gezuckt und kritisch fragend angemerkt
hatte, wer im neuen Konsumentenwunderland noch Bleie kaufen würde? „De Russen!”,
konterte er scharf und schaute mich vorwurfsvoll von der Seite an. Manchmal
schielte er ein wenig. Auf diese Idee hätte ich von alleine kommen müssen. Auf
jeden Fall fahre er jetzt mit einem LKW Kisten zur Fahrgastschiff-Anlegestelle
in Prillwitz. Das könne ja nicht falsch sein. Die nächsten Russen saßen in
Neustrelitz. Deren Bedarf jedoch wurde meines Wissens von den Prenzlauer und
Neustrelitzer Fischern gedeckt. Noch dachte ich nicht in den modernen
Kategorien. Dieses Denken: „Zuerst komme ich!” erschien mir noch als
unmoralisch.
Da ich verpflichtet war, den
Betrieb durchzubringen, blieb
mir allerdings nichts weiter
übrig, als mich über meine Bedenken hinwegzusetzen. Es war bereits vierzehn Uhr
geworden. Schnell. Ich telefonierte, Dolmetscher Herbert Fischer war
einverstanden. Er stünde mir zur Verfügung.
“Gleich?”
“Na, ja, sagen wir in einer Stunde!” Exoberstleutnant Herbert bereits
seit vier Jahrzehnten im Umgang mit Offizieren der Roten Armee geübt, bat
fernmündlich um ein persönliches Gespräch mit dem Chef der rückwärtigen Dienste
der Neustrelitzer Panzerdivision. “Kommen Sie, wann immer Sie wollen!”
“Wir sind in einer halben Stunde bei ihnen.”
Ein schneidiger Unterleutnant mit Glacehandschuhen, der wie ein Eleve
des Tanzensembles des Bolschoitheaters ging und auftrat, holte uns von der
Torwache ab. Oberst Berlett lasse bitten. Es war, glaube ich, dasselbe Tor, das
ich erstmalig 1946 gesehen hatte. Es standen da, wie mir schien, immer noch
dieselben Worte, die sich um die an die Wand gemalten Panzer und Waffenbrüder
rankten: Ruhm und Ehre. Slawa i tschest.
Seit damals ging hier kein normaler Sterblicher mehr ein und aus. In
diesem Stadtteil mochten früher vielleicht sechs- oder achthundert
Neustrelitzer in ihren Einfamilienhäusern gelebt haben.
Das Tageslicht unter dem wolkenverhangenen Himmel nahm bereits merklich
ab. Deshalb erschien uns das Haus, in dem der Oberst sitzen sollte so düster.
Er erhob sich, als wir eintraten, reichte uns die Hand, zeigte seine
Goldzähne und gleich seine ganze Freundlichkeit.
Schon die vielen auf dem Flur herumstehenden und diskutierenden
Offiziere waren mir angenehm aufgefallen. Solche Russen hatte ich bisher nur
selten gesehen. Ich kannte fast nur eckige Gesichter und die überwiegend groben
Ausdrücke im Aussehen und in der Sprache.
Kaum, dass Berlett uns angehört hatte, nickte er ermutigend. Er müsse
nur noch mit seinem Vorgesetzten reden. Das geschah.
Herbert Fischer flüsterte, der Oberst versuche seinen Chef zu
überzeugen, dass sie gemeinsam dringend zehn Tonnen Bleie benötigten.
„Wie teuer?”
In meinem Kopf existierte die Wunschgröße 1.75. „Knapp zwei Mark je
Kilogramm Frischfische!”, dolmetschte Herbert generös. So trat er gelegentlich
auch auf.
Berlett
strahlte. „Zwei Mark sind ein guter Preis. Wann können Sie liefern?”
„Fünf Tonnen
sofort. Den Rest morgen.”
Er zog
zweifelnd die Stirn hoch.
Aber ich wusste es ja. Fünf Tonnen sind eine glatte Kutterladung und
diese Menge ziemlich schnell ein- und auszukeschern war für unsere Männer kein
Problem. Ich schaute auf die Uhr. Anderthalbe Stunden bis zum Laden, eine
weitere höchstens für den Umschlag, eine halbe für den Transport. „Zwischen
acht und neun Uhr!”
Und wenn ich mit hundert Sachen nach Prillwitz rasen müsste. Denn da
standen an diesem frühen Abend meine ungeduldigen Fischer und warteten nur auf
das ersehnte Zeichen. Als wir kurz vor neun mit der ersten Fuhre auf dem
‚Russenspeicher’ ankamen, machten sich die uniformierten Jungs umständlichst
ans Abwiegen. Eine halbe Stunde lang sah ich mir das Theater an und sagte
schließlich: „Ihr seid wohl nicht recht bei Troste!”
Was Herbert übersetzte, kann ich nicht sagen. Sie stutzten jedenfalls.
„Da sind in jeder Fischkiste mindestens zweiunddreißig Kilogramm Ware und auf
dem Lieferschein stehen dreißig!”
Bei dem Schneckentempo, das sie beim Abwiegen vorlegten und bei dieser
Menge, hätten wir die Zeit bis zum Morgengrauen gebraucht und ich war todmüde.
Natürlich konnte nur die Gesamtmasse stimmen. „Lass sie mal.”,
beruhigte Herbert Fischer mich, er sei ja auch die Ruhe in Person. Sein
Zuspruch tat mir gut. Nun, da die DDR endgültig kaputt war, konnte einer wie er
alles ganz gelassen sehen. Sogar die Uhren liefen für ihn anders. Ich dachte an
unser Gespräch zurück.
Den Zusammenbruch habe er bereits seit einem Jahrzehnt kommen sehen,
sagte Herbert Fischer, als wäre das so selbstverständlich, wie der Blätterfall
im Herbst. Der Kommunismus konnte nicht siegen. Gründlich hatte er mir das auf
der Herfahrt vorgerechnet.
Alleine die Wartung der komplizierten Waffensysteme sei zu kostspielig
geworden und dann diese Zweiklassengesellschaft. Am meisten hätte ihn
aufgeregt, dass die Hirsche den Privilegierten unter den führenden Genossen
vorbehalten blieben, während Leute wie er, nur Heger statt Jäger sein sollten.
Ungeschönt habe er das seinen großen Militärs des Öfteren an den Kopf
geschmettert: „Die Jagd dem Volke, die Hirsche dem Politbüro!” Höhern Ortes
hätten sie ihm das ziemlich verübelt.
In ihrer Gunst sei er nur geblieben, weil sie seine Fähigkeit schätzten
auch dann simultan zu dolmetschen, wenn sie durcheinander und schnell redeten.
Immer auf diesen kasachischen Raketenübungsplätzen sei er mit beiden Seiten gut
ausgekommen, weil er sie eigentlich mochte, diese raubeinigen Typen auf
sowjetischer und die etwas großmäuligen auf der eigenen Seite.
Herbert
meinte, die Lagerverwalter der Garnison würden sich nächstes Mal leichter
überzeugen lassen, wenn sie sehen würden, dass wir sie nicht gleich beim ersten
Versuch betrügen wollten. Ich wandte mich ab.
Das war die
Höhe.
Meine Fische hatte noch keiner nachgewogen. Wir gaben immer ein
reichliches Plus, außer bei Aalen. Während ich nun ärgerlich und hundemüde am
dunklen Ende der langen Verladerampe stehe und in den matten Lichtkreis
hineinstarre, indem sich zehn Mann traumhaft langsam bewegen, berührt mich
jemand von hinten. Ich wende mich um und sehe den Blitz in den Augen eines
Mannes und gleichzeitig das Aufblinken seines Bajonettes. Dieses Seitengewehres
Spitze ragte einen halben Meter über den mehr als zur Hälfte verdeckten Kopf.
„Fifthy, fifthy!”, raunte mir der in einem großen sibirischen
Pelzmantel steckende
Wachposten zu. Er machte einladende Gesten, zog mich mit sich,
noch tiefer ins Dunkel hinein, die kleine Holztreppe hinab. „Da, da! Kaufen!”
Er nahm seine Kalaschnikow, die er geschultert getragen hatte und hielt sie mir
hin. Dabei streckte er die andere Hand unmissverständlich vor.
„Njet, njet”, wehrte ich, hilflos vor soviel Großmut, ab.
Er redete von Munition wie ich von kleinen Fischen und alles nur für
sechzig Mark. Für die Maschinenpistole fünfzig und den Rest für die ‚Murmeln’.
Ich machte ein großes Fragezeichen.
Wir befanden uns doch nicht an der tadshikisch-afghanischen Grenze.
Als ich mich von dem munteren Jungen abwandte und ihm den Rücken
zukehrte, hatte ich das Gefühl, dass er mir einen riesengroßen Vogel zeigte.
Wie kann man nur so dumm sein? Eine Kalaschnikow ist doch mehr als zehnmal
soviel wert.
Begeistert waren die immer noch mit dem Abwiegen beschäftigten Männer
nicht, als ich erklärte, sie möchten mir nur den Erhalt der Fische quittieren,
ich würde jetzt nach Hause fahren.
„Wie denn? Fünf Tonnen?”
„Ja, genau, und falls sich ein Minus herausstellt, liefern wir das
Doppelte der Fehlmenge nach.”
Herbert Fischer redete auf sie
ein. Auch er hatte es inzwischen satt, bloß dazustehen und immerzu nur die sich
stereotyp wiederholenden Schattenspiele zu betrachten. Es ging immer langsamer
und wie mir schien im Zeitlupentempo voran. Lag es nun daran, dass Herberts
gutturales Säuseln sie noch schläfriger machte oder interessierte sie gar
nichts? Sie ließen sich aber auch nicht bewegen die Unterschrift zu leisten.
Plötzlich kam ein Offizier an.
Ratsch hatte ich die Unterschrift
und batsch den Stempel.
Wir möchten bitte noch einmal zu
Oberst Berlett reinschauen.
Es war spät geworden. Oberst Berlett saß immer noch, die Beine von sich
gestreckt, wie wir ihn verlassen hatten, im Halblicht seiner beiseite gedrehten
Schreibtischlampe und schrieb. Er hätte gehört, dass unsere Fische taufrisch
und groß wären. Er lächelte. Er möchte mit uns in Kontakt bleiben und unser
Kunde werden. „Aber du musst nach Berlin gehen und mit Co-Impex einen Vertrag
machen!”
Oberst Berlett, ein vornehmer Typ mit leicht gewelltem dunklen Haar und
exakt gezogenem Scheitel, hätte mich nie ohne weiteres geduzt. Das machte die
Fischerübersetzung.
Co-Impex gab mir einen Termin. Zwei Tage später ging ich, mit
gemischten Gefühlen, in dieses blauweiße Gebäude in der Nähe der
Friedrichstraße in Berlin und saß bald darauf einem Mann gegenüber, der anfangs
vierzig sein mochte und etwa einsachtzig groß war. Wie mir auf den ersten Blick
schien, war der da einer, der wusste, wie man das Leben genießt. Blitzsauberes,
hellblaues Oberhemd, dezenter Schlips. Mir fiel in seinem glattrasierten
Gesicht auf, wie gut sein Bartansatz verteilt war. Er lächelte verbindlich. Du
warst ein Stasioffizier, dachte ich.
Er war mir aber keineswegs unsympathisch, obwohl ich den
Unterdrückungsapparat der DDR aus gutem Grunde gefürchtet und gehasst hatte.
Dieser da, wenn meine Vermutung stimmte, hatte sicherlich zu den Großen gehört
und wahrscheinlich seinen Teil dazu beigetragen, dass Demokratie für Leute wie
mich, vier lange Jahrzehnte ein unerfüllbarer Wunschtraum geblieben war.
Dennoch differenzierte ich zwischen Programmen und Menschen, obwohl sie
in der Politik oft genug eine Einheit darstellten. Ich wollte beides
voneinander trennen und nur auf die Sache der Diktatur einschlagen.
Ich glaubte manchmal, dass mir dieser eine Satz, den ich so oft dachte,
ins Gesicht geschrieben stand. Das Recht sich frei entscheiden zu dürfen, ist
wichtiger als das Recht zu leben. Der auffallend gut Gekleidete fragte:
„Könnten sie sechzig bis achtzig Tonnen pro Quartal liefern, zu diesem Preis
und in dieser Qualität?” Ich denke, dass es mir gelang meine Miene zu wahren.
Denn ich war schockiert. Mein Hochziel lag bei höchstens einem Sechstel dieser
Summe, die er mir genannt hatte. Ich beeilte mich zu erklären: „Ja, wir
können.” Doch ehrlich gesagt, wusste ich noch nicht, wie das in die Praxis
umgesetzt werden könnte. Berlett muss mit ihm gesprochen haben! Berlett war
also zufrieden, er hat uns gelobt!
In mir steckte noch dieser Gedanke an Zusammenarbeit (schließlich waren
wir nordöstlichen Binnenfischer der ehemaligen DDR, ob wir wollten oder nicht,
im Zweckverband ‚Qualitätsfisch der Mecklenburger Seenplatte’ zu einer großen
Wirtschaftseinheit zusammengebunden worden.) Doch das war nun vorbei. Jetzt war
sich jeder selbst der Nächste. Binnen weniger Sekunden hatte ich mir
ausgerechnet, dass die Warener und die Prenzlauer Kollegen wie wir, über
Unmengen Tolstolob verfügten, Silberkarpfen, die kein Deutscher mochte. Sie
würden sicherlich zuschlagen, wenn ich ihnen einsvierzig aufs Kilo bieten
würde, und wir hätten ohne einen Finger krumm zu machen, sechshundert Mark je
Tonne verdient. Das wären ja knapp einhundertundfünfzigtausend Mark pro Jahr
Nebeneinnahmen. Mensch, Helmut Kohl, lass’ bloß die Russen noch ein paar Jahre
in Deutschland. Wir Fischer würden liebend gern helfen, sie auf deine Kosten,
zu ernähren.
Silberkarpfen, diese fernöstlichen Algenfresser, die bis zu zwei Meter
hoch in die Lüfte springen können - und dabei gelegentlich ins Boot eines
ahnungslosen Anglers- hatten wir auf Beschluss von Partei und Regierung in
unsere Gewässer einsetzen müssen. Müssen! Jawohl.
Mir wurde warm ums Herz, als mein Gesprächspartner bestätigend nickte:
„Bleie und Tolstolob sind ok.”
Er wusste also, wovon die Rede war.
Ich sah diese Unmengen Großfische vor mir, die häufig je Stück mehr als
zehn Kilogramm wogen und niemand wusste, wer uns diese hunderte Tonnen abnehmen
sollte.
„Was haben
sie uns noch anzubieten?”
„Rotaugen.”
Er nickte abermals und schrieb: Silberkarpfen sowie Bleie, größer 500
Gramm je Stück und Plötzen aller Größen.
Saß ich im Vorgarten des Paradieses?
Die scharfen Augen meines Gegenüber musterten mich, ehe er
behutsam fragte: „Aber was
machen wir, falls
die Sowjets Sonderwünsche
haben sollten? ... natürlich
in geringem Umfang.”
„Kein Problem, wenn es innerhalb eines, sagen wir, Fünfprozentrahmens
bleibt.”
Er winkte ab, war’s zufrieden. Details interessierten ihn
offensichtlich nicht. Die gepflegten, langen Finger aneinander legend schloss
der kompetente Vertreter von Co-Impex das Gespräch ab: „Gut, Sie liefern auf
Zuruf jede Woche zunächst fünf Tonnen nach Neustrelitz.”
Hoffnungsvoll setzte ich hinzu: “Vertraglich gebunden.” Er schmunzelte.
Ich sorgte mich. Vertrauenerweckend setzte mein Partner hinzu: „Eine mündliche
Zusage ist ein Vertrag.” Wie gerne hätte ich ein Stückchen Papier gehabt, auf
dem, was wir ausgehandelt hatten, niedergeschrieben stand.
Es gab also noch eine Hürde.
Die Frage, was das sein könnte, quälte mich.
Acht Wochen lang lieferten wir kontinuierlich aus eigenem Aufkommen.
Sogar Heiligabend fischten wir, aber sehr erfolgreich.
Oberst Berlett hatte bis dahin lediglich zweimal bescheidene
Sonderwünsche geäußert. Beim ersten Mal ließ er uns mitteilen, dass sein
General aus Karlshorst käme. Er würde sich freuen, wenn wir ihm einen Hummer
beschafften.
Ich wäre notfalls bis Kiel gefahren, um ihm den Wunsch zu erfüllen.
Bescheidener als Berlett konnte man nicht sein.
Wir schickten ihm zwei Kilo Hummer und legten drei goldgelbe
Räucheraale obendrauf.
Beim zweiten Mal wollte er, für einen ähnlichen Anlass, einen Karpfen
haben. Wir boten ihm an, künftig statt sechs Prozent Plus nur vier zu geben,
aber dafür jedesmal dreißig Kilo Feinfische.
Von da an nannten die Verpflegungsoffiziere mich “Väterchen Fisch”.
Berlett wurde plötzlich unterrichtet, er sei zurück in die Heimat
versetzt worden. Darüber war er unglücklich.
In Neustrelitz wusste er ein heiles Dach über seinem Kopf. In Russland
wartete auf seine Familie und ihn wahrscheinlich nur eine Scheune. Sein
Nachfolger den er noch einarbeiten sollte, war ein vierschrötiger Kerl, ein
Oberstleutnant mit dem Gesicht einer Bulldogge. Sofort überzog der Mann seine
Kompetenzen. Berlett hätte keine Ahnung. Statt fünf Tonnen sollten wir in der
kommenden Woche zehn liefern. Die erste Sendung am Dienstag, und die zweite am
Freitag. Mir war gleich unwohl zumute. Ich ahnte es. Das geht schief.
Doch der Neue setzte mich unter Druck. Was sollten wir machen? Oberst
Berlett befand sich auf Reisen. Um mir den neuen Mann geneigt zu machen bot ich
ihm mehrere Kilogramm Hummer an und eine kleine Kiste Räucheraale. Mit bissiger
Miene senkte der Oberstleutnant sein Löwenhaupt und knurrte. War ihm das noch
zu wenig?
Bei der darauf folgenden Lieferung winkte er mir mitzukommen. Da schlug
mir schon von weitem ein ekelhafter Geruch entgegen. Unsere bereits vor einer
Woche eingelagerte Ware stand schwarz und unangetastet in Kisten auf der
Leichtkühlfläche. Mir stockte der Atem. Er hatte einhundert Zentner
Speisefische verfaulen lassen. Warum?
Selbst dem unfähigsten Lagerverwalter darf das nicht passieren. Eher
verschenkt man die Fische.
Seine breiten Schultern zuckend zog er über Berlett her. Ich biss mir
auf die Zunge.
Vorläufig, wie ich nun selber gesehen hätte, benötige er keine Fische.
Damit drehte er sich von mir ab und tapste schwerfällig davon.
Sogleich als
ich alleine war, redete der Adjutant des Neuen auf mich ein. Es dauerte eine
Weile, bis ich begriff: Es ginge ihm um ein Gegengeschäft.
„Wir
verkaufen dir einen Waggon Mehl.”
„Mehl?”
„Was soll
ich mit dem Mehl?”
„Na, für die
Brotfabrik!”
Die beiden
hielten mich ganz selbstverständlich für einen Banditen.
Sollte ich
das Berlett petzen?
Was musste ich tun, um wieder zum normalen Handel zurückzukehren? Für
uns war es überlebenswichtig geworden seiner Einheit, in den verbleibenden
anderthalb Jahren, mindestens sechzig Tonnen Tolstolob, Plötzen und Bleie zu
verkaufen. Wir verfügten über Kredite und die mussten mit rund zehn Prozent
Zinsen getilgt werden.
„An deiner Stelle würde ich Co-Impex informieren.”, riet Herbert
Fischer mir, als ich ihn aufsuchte um mich zu vergewissern, dass uns kein
Übermittlungsfehler unterlaufen war. Er kratzte seinen Kopf, weil er keinen
bessern Rat wusste. Nächstes Mal ließe er mich nicht wieder allein fahren.
Fernmündlich erteilte Co-Impex mir folgende Auskunft: „Es gibt einen
Strukturwandel. Jetzt schreiben wir Sommer ‘91. Wenden sie sich bitte an
‘Fischexport-import’ in Steglitz. Vielleicht wäre es besser, sie verhandeln erst
mit Wünsdorf. Wir bedauern sehr. Auch uns sind die Hände momentan gebunden” In
Wünsdorf kamen wir nicht weit. Wie Schulbengel standen wir vor den schwarzen,
eisengeschmiedeten Eingangspforten zum Park der Allmächtigen. Links das große
gelbe Gutshaus, in das wir nicht gelangen konnten, rechts die Straße, auf der
die Muschkoten entlang paradierten. Ein höherer Sowjetoffizier kam angeradelt.
Auf seinen Wortschwall hin zuckte Herbert mit den Achseln.
„Morgen
sollst du nach Berlin-Dahlem gehen.”
„Morgen?”
„Morgen!”
Noch einmal müsste ich, allerdings aus zwingenden Gründen, auf seine
Dolmetscherdienste verzichten, aber die dort sitzenden Leute verstünden
Deutsch.
Dieses Wort ‚Morgen’ war der ganze Ertrag einer Tagesreise von fast
dreihundert Kilometern.
Anderntags, im Bereich Berlin-Dahlem, als ich das schlichte Schild am
versteckt liegenden weißen Haus las, bedrückte mich bereits die bloße Tatsache
seiner Existenz. Es umdüsterte meinen Traum vom großen Geschäft. Trotzdem ging
ich mutig hinein. In einem kleinen Wartezimmer nahm ich Platz. Ich sah diese
harten und bleichen Gesichter nobel gekleideter russischer Zivilisten, die
geschäftig an mir vorbeieilten. Wortfetzen drangen zu mir. Im Büro des
unsichtbaren Dirigenten der Fisch- und Geldströme ging es um tausende Tonnen.
Ich wurde schließlich hereingebeten. Ein untersetzter, kahlköpfiger
Herr mit weißer Weste, der tatsächlich gut Deutsch sprach, saß halb in sich
zusammengesunken in einem schwarzen Ledersessel.
„Was haben
Sie uns anzubieten?”
Ich erklärte
es.
Von meinen Tolstolob und Plötzen war nicht lange die Rede. Ein Blick
hin, ein Blick her: „Achtzig Tonnen im Quartal?”
Keine Größenordnung für ihn. Tiefgefrostet könnte man die Dinger quer
durch sein großes Land schicken. „Eine Mark aufs Kilogramm.”
Er wedelte
eine Fliege weg.
Ich
schluckte.
Meine
Betroffenheit übersah er geflissentlich.
Seine schwarzen Kugelaugen erstarrten, während er die für ihn
wesentlichste Frage stellte: „Wie viel Räucherlachse?”
Er lächelte, während ich spürte,
dass ich langsam errötete.
Mit seiner Geiernase roch er
meinen Widerwillen.
Mühsam mich selbst beherrschend überlegte ich. Doch ich war unfähig
auszurechnen, wie viele Räucherlachse ich ihm maximal bieten könnte. Was würden
die Warener, was die Prenzlauer sagen, wenn ich ihnen nur sechzig, oder achtzig
Pfennige biete? Immerhin mussten sie aufwendige Fischerei betreiben. Wir selbst
hatten unsere Tolstolobbestände bereits ausgedünnt, rechtzeitig.
Mit welchem Faktor durfte ich noch
rechnen, wenn der da so rigoros den Preis halbierte?
Ich müsste erst mit den Leitern unserer Nachbarfischereien reden und
einen zweiten Termin vereinbaren. Andererseits musste ich ihm jetzt und hier
eine nennenswerte Menge Gratisfische anbieten. Immerhin nahm er uns
dreihundertundzwanzig Tonnen Silberkarpfen oder Rotaugen ab. Es ging, wenn wir
andere schwer absetzbare Arten einbringen könnten um ein erweiterungsfähiges
Geschäft von zunächst einer drittel bis maximal einer dreiviertel Million Mark
Umsatz.
Wenn er zurückzog, dann brachte ich allein unser kleines Unternehmen um
die direkte Einnahme von fünfzig- bis achtzigtausend Mark, - und um wie viel
indirekt?
Zuerst musste ich das andere ausrechnen.
„Acht bis zehn Kilo jede Woche?” Das wäre im Verlaufe eines Jahres eine
halbe Tonne Räuchlachse, die erst erworben sein wollten.
Über sein fettglänzendes Gesicht huschte ein kleines, leicht
verächtliches Zucken.
Kalte Wut kam in mir hoch. Du willst jede Woche mindestens dreißig Kilo
Räucherforellen haben?
Du nicht! dachte ich. Mit Gangstern mache ich keine Geschäfte.
„Mehr habe ich nicht!”, sagte ich laut und bereute schon wieder, dass
mich Emotionen verleitet hatten. Hätte ich nicht sagen sollen, das muss ich
erst überdenken?
Mir schien, dass er dachte: Du Leichtgewicht!
„Hm”, machte er nur, wog den runden Kopf und schüttelte ihn, wie die
Russen zu tun pflegten, wenn sie ablehnten.
Ich stand auf oder besser gesagt, der Ärger erhob mich. Ich hätte am
liebsten die Glastür hinter mir zugeschmettert. Um einhundertsechzigtausend
Mark hatte er mich schon geprellt, bevor von seinen dämlichen Lachsforellen die
Rede war.
Wir hörten nie wieder voneinander, noch sah ich jemals den lieblichen
Schuppen im Russenmagazin zu Neustrelitz wieder.
Ein unvorhersehbarer Schluss
Eintrag in den Merkkalender am 5. September 1991: “Der Krieg zwischen
Jürgen N. der Genossenschaft und mir ist
zu Ende!”
Das Bezirksgericht Neubrandenburg hatte endgültig gegen ihn, für uns
entschieden.
Meine Frau sagte mir am nächsten Tag: „Ich glaube, Jürgen war hier.”
Sie meinte, sie habe gesehen, wie er vor der Haustür gestanden, geklingelt und
dann davon gegangen sei, noch bevor er sie oder sie ihn hätte ansprechen
können.
Am Abend des folgenden Tages klopfte es an meine Wohnungstür.
Er war es.
Hoch aufragend stand er vor mir. Ich blickte ihn entgeistert an. Er
wäre gekommen, um mir zu meinem Sieg zu gratulieren.
Jürgen streckte mir seine riesige Hand entgegen.
Du kannst mir doch nicht zu deiner Niederlage gratulieren! Ich dachte:
Was für ein Riesenunsinn.
Allein die Idee fand ich absurd, geschweige denn die Verwirklichung.
Wie Kopfjäger hatten wir uns bekriegt und er kommt um zu gratulieren,
weil er unterlag.
„Tritt ein!”
Tief atmend nahm Jürgen im Sessel Platz. Ich starrte auf seinen Mund.
Wie oft mochte er diese Szene in den letzten sechzig Stunden durchlitten haben?
Ein Mann wie er, der nichts tat, ohne es gründlich erwogen zu haben.
Härteste
Brocken hatten wir uns gegenseitig in den Weg gelegt.
Ich sei ein
Lügner!
Er ein
Ehrabschneider.
Dass ich vor Jahrzehnten in Prenzlau dreißig Berufsschüler in die FDJ
hineingepresst hätte.
Komisch, was die Leute alles wussten.
Tatsächlich war ich nach den 3. Weltfestspielen der Jugend und
Studenten in Berlin so angetan gewesen vom Kommunismus, dass ich mich eine Weile auf dem Weg zu Josef
Stalin befand.
Natürlich habe ich in meiner Begeisterung 25 Aufnahmeanträge von der
FDJ Kreisleitung geholt und sie jedem meiner jüngeren Mitschüler auf die
Klassenbank gelegt und danach eine kurze Rede gehalten. Sogar ein Stalinbild
pinnte ich an die Klassenwand, war drauf und dran gewesen, in die SED
einzutreten. Aber ich tat es schließlich doch nicht, sondern bin bereits
Weihnachten 1952 umgekehrt, aus meinen Gründen. Und das kostete mich die von
mir angestrebte Laufbahn als Berufsschullehrer.
Jürgen schaute sich aus den Augenwinkeln blickend in unserer Wohnung
um. Da gab es, wahrscheinlich zu seiner Verwunderung, keine Anzeichen von
Bigotterie, was er meiner bekannten Glaubensansichten wegen sicherlich erwartet
hatte.
Ich hätte viel darum gegeben, wenn es mir in diesem Augenblick möglich
gewesen wäre, seine Gedanken zu lesen.
„Musste das sein?” fragte ich ihn.
Nur einmal zuvor, weit zurückliegend, als er tief in einer Klemme
steckte, habe ich seine grauen Augen so bescheiden, so bittend gesehen.
Wie damals rührte es mich auch diesmal wieder an.
Ich an seiner Stelle wäre nicht zu meinem Feind gegangen. Aber da saß
er nun.
„Ich
wollte...”, begann er stockend.
Da wusste
ich alles.
Sein Freiheitsdrang war stärker gewesen, als seine Vernunft. Den
politischen Umsturz habe er als seine große Möglichkeit betrachtet, endlich
wegzukommen von den Zwängen, die ein Leben in einem Arbeitskollektiv oder in
einem Team notwendigerweise mit sich brachten. Er war nicht geboren worden, um
Befehle oder Weisungen entgegen zu nehmen, sondern um sie zu geben.
Immer stand, bis dahin, einer über ihm, und darüber noch einer und so
fort. Frei sein wollen und nicht frei und unabhängig sein können, das war sein
Problem.
Er hatte den Kampf aufgenommen, jedes Mittel eingesetzt, auch die
untauglichen. Jürgen breitete seine großen Hände aus, die ich wohl gebunden
sah, die jedoch nur unterstrichen, was seine hellen, unruhigen Augen
widerspiegelten. Sie baten darum, dass wir ihm vergeben möchten. Ich sah, wie
tief er bereute, mit dem Schädel gegen die Wand gerannt zu sein. Ich sah diesen
Hoffnungsblink. Jürgen war unbequem und halsstarrig, groß im Hass und groß
genug, sich selbst zu beugen.
Weich kamen die Formulierungen aus dem Kindermund, der mir nicht selten
hart und kalt wie Kieselstein erschienen war.
Lange Jahre hatte er vor mir und nicht nur vor mir eine Mauer
errichtet. Die stand sehr fest. Sie war hoch und breit.
Deshalb war sie unüberwindlich geworden. Lange Jahre hatte er vorgeben
wollen, dass sein Schild und Rüstung, die er sich zugelegt, sein angewachsener
und natürlicher Panzer sei. Dieses selbstgefertigte Ungetüm hing nun als
Ballast an ihm.
Ja, ich habe
ihn manchmal wiedergehasst. Es war mir nicht leicht gefallen, diese Gefühle
niederzuringen. Auch die andern Männer hegten starke Abneigung. „Nimmst du mich
wieder?” Einen Augenblick lang wusste ich nichts zu sagen. Hätte ich Nein sagen
können?
Aber über
das Ja entschied ich nicht allein.
Die neue Genossenschaft war von uns so strukturiert worden, dass alle
Mitglieder dieselben Rechte wie vorher besaßen, sogar mehr als zu alten Zeiten.
Unsagbar schwer würde es werden, die Fischer davon zu überzeugen, dass er von
nun an friedlicher und freundlicher mit ihnen umgehen wolle.
Wie ein aus einem bösen Traum erwachender Mann schaute er daher, als
ich offen ansprach, was er angerichtet hat.
Er stellte dieselbe Frage, vielleicht weil er annahm, ich hätte sie
überhört: „Nimmst du mich wieder?”
Mann für Mann wolle er aufsuchen, zum zweiten Mal, ja, auch das sei
richtig, aber diesmal wirklich geläutert, bekehrt durch großen Schmerz.
Ich kannte ihn. Er würde genauso verbohrt, genau so verbissen, wie er bisher
gegen uns gewütet hatte, diesen unerhörten Anlauf solange wiederholen, bis die
versteifte Wand fiel, und sei es erst beim hundertsten Versuch.
Er konnte gegen alle Logik der Welt anrennen.
Er wollte an das Unmögliche glauben, anders war für ihn kein Leben
möglich. Entschlossen allen Hohn und jeden Spott auf sich zu nehmen, war er zu
mir gekommen, allen Zweifel, jedes Bedenken überwindend.
Seiner Frau wegen, die er mehr liebte als sich selbst, der Zukunft
seiner Kinder wegen. Er musste es tun. Nicht eine Minute lang, nachdem seine
Niederlage besiegelt worden war, habe er eine andere Möglichkeit erwogen. Da
musste er durch. Er bitte um Vergebung.
Selbst wenn ich es nicht von Herzen gewollt hätte, nach diesen Worten
musste ich ihm die Hand zur Versöhnung reichen.
Mir war sonderbar zumute, als
seine große Hand meine Finger umschloss.
Er wagte ein kleines Lächeln.
„Wenn du zu mir hältst, dann wird das auch was.”
Am drittnächsten Tag wollten wir beraten, was ich für ihn bei den
härtesten seiner Widersacher tun, wen wir für ihn gewinnen könnten.
Um seinen Wunsch zu erfüllen, benötigten wir neun Ja-Stimmen.
Es gab diesen dritten Tag nicht, nicht für ihn.
Nachdem er von mir weggegangen war, sprach er viele Stunden lang mit
seiner Frau. Jede Einzelheit seines langen Gespräches mit mir erfuhr sie.
Danach legte er sich zum letzten Mal in seinem noch jungen Leben zu Bett.
Denn anderntags verunfallte Jürgen im Verkehr auf der Landstraße
tödlich.
Ich hätte es mir nie verziehen, wenn ich seine dargebotene Hand ausgeschlagen
hätte. Noch nie habe ich auf einer Beerdigung, einen Schlager, gespielt von
einem Orgelorganisten, gehört, aber auch noch nie so beeindruckend eine
schlichte Melodie empfunden wie dieses Lied: „Wenn bei Capri die rote Sonne im
Meer versinkt.”
Ich sah ihn die Netze ausfahren und plötzlich mich als Dreizehnjährigen
auf der Ducht des Segelbootes unseres Nachbarn Janzen sitzen, sah das
korngelbe, gebauschte Segel und wie die rote Sonne versank und erinnerte mich
der darauf folgenden Nacht der Schrecken, - der Bombardierung Peenemündes - die
aber nicht das Ende bedeuteten, sondern mir die wunderbare Einsicht gaben, zu
begreifen wie wertvoll jeder Tag ist, an dem wir leben dürfen, um nach düsteren
Stunden wieder und wieder die aufgehende Sonne zu sehen ...
Anmerkungen:
1 „Fritz Biederstaedt, ich habe dir
schon dreimal gesagt, dass du bei mir nicht arbeiten kannst. Du bist noch zu
dürre!“
2 „Dann man
zu, ...sie werden das schon machen. Aber wenn sie glauben, dass die Bleie goldene
Flossen haben, dann irren sie sich.“
3 „Zu dürre,
Franz Meltz! Hundertachtzig hättest du bieten müssen! Zu dürre!“
4 „Sie haben
ja bloß Weißfische!“
5 „Diese Frechheit habe ich nicht gehört!“
6 „Die Aufregung steht ihnen diesmal nicht zu!“
7 „Ach! Daher weht der Wind!“
8 „Wenn euch das bei mir
nicht gefällt, dann sucht euch andere Arbeit!“
9 „Jan! Kommen sie in mein
Büro!“
10 „Meister, lassen sie das mal gut sein. Wir wollen uns doch nicht
erzürnen.“
11
„Meister, ich glaube, wir können nun zu Eise fischen!“
12
„Los Leute! Karl hat Recht. Ziehen wir noch Alt-Rehse!“
13 „Nur zu!“
14 „Wenn es was wird, dann wird es was!“
15 „Ein gutes
Zeichen!“
16 „Das sind Bleiplötzen!“
17 „Wir haben sie! Wir haben sie!“
18 „Habe ich euch das nicht gleich
gesagt? Heute fangen wir etwas! Heute fangen wir etwas!“
19
„Fünfzehn Tonnen!“
20 „Ich laufe hinunter!“
21 „Fru Meistern, wie hem de Bli!“
22 „Bist du es, Fritz?“
23 „Ja, Meister, wir haben die Bleie auf der Großen Lanke gefangen.
Bleie, groß wie Waschbretter.“
24 „Wie viel hat Jan geschätzt?“
25 „Jan Schlämann hat gesagt, es sind
dreihundert Zentner.“
26 „Ist das wirklich wahr?“
27 „Meister, habe ich je gelogen?“
28 „Fünfzehntausend!“
29 „War das Netz bereits morsch, Fritz?“
30
„Ja, auf Jan ist Verlass!“
31 „Die Bleie, Meister Meltzen, haben doch goldene Flossen!“
32 „Das dämliche Zeug wird uns noch viel Ärger
bereiten.“
33 „Fritz, du brauchst dir nichts dabei zu
denken!“
34 Krieg muss es geben!
35 „Meine Leute fangen im Augenblick nichts.“
36 „Tut mir leid, wir fangen momentan nichts.“
37 „Der Alte
hat den See ausgeplündert. Kein Wunder, er hat jeden Schwanz mitgenommen.“
38 „Wir spielen doch bloß um einen zehntel
Pfennig.“
39 „Krieg muss es wieder geben, Fritz!“
40 „Aber, das
hätte auch mehr Geld werden können.“
41 „Meister, sie wollen da doch nicht
hineingehen?“
42 „Meister, das ging zu weit. Wir haben
getrunken und das bekommt ihnen nicht.“
43 „Ich bin die Verantwortung!“
44 „Da gibt es nichts!“
45 „Jetzt wird Mümmelloch gezogen, wo es nichts geben wird!“
46 „Zwanzig Pfund!“
47 „Jan!
Gestohlen wird nicht!“
48 „Meister!“... „haben wir nicht sehr schöne
Fische gefangen?“
49 „Komm Ernst“,... „das hilft ja alles nichts,
Spaß muss sein.“
50 „Das geht nicht!“
51
„Jawohl! Durchschneiden!“
52 „Ich mach das Meister!“
53 „Zu!“
54 „Der Kerl ist längst zu Hause!“
55 „Sind sie sicher, dass wir Fritz nicht
verloren haben?“
56 „Ich habe mir Sorgen um euch gemacht!“
57 „Das wird gefeiert!“
58 „Darauf müssen wir anstoßen!“
59 „Fritz, merk‘ dir das. Übermut tut selten
gut.“
60 „Ernst, du
hast doch Juden in deiner Verwandtschaft, nicht wahr?“
61 „Wenn ich
nicht schlafen kann, brauchen andere Leute das auch nicht!“
62 „Wenn meine Leute sich auf dem See herumtreiben, während du
mit deinem Hintersten im warmen Bett liegst, dann dürfen auch einmal einen
kleinen Blumentopf herunterwerfen.“
63 „Donnerstag und Freitag! Wer bezahlt
hier den Kram, du oder ich?“
64 „Das hast du gut gemacht!“
65 „So wird das gemacht!“
66 „Fritz, reiße den Rest
auch noch herunter!“
68 „Ach was! Die Blumen vertragen das!“
69 „So, nun wir nach Usadel gefahren!“
70 „Fritz, fahre den BMW vor!“
71 „Man zu!“
72 „Der liebe
Gott hat uns den Verstand gegeben, damit wir ihn gebrauchen, Fritz!“
73 „Nein, Frau
Meisterin! Ihren Mann kann man nicht aufhalten, der läuft wie ein Pferd.“
74 „Ich frage dich Anna, ist das ein Zossen?“
75 „Nicht, dass du mir den Prachtgaul wieder
mies machst.“
76 „Was wahr
ist, bleibt wahr!“
77 „Ernst Peters juckt wohl das Fell!“
78 „Was bin ich?“
79 „Ein Ausbeuter! Jawohl!“
8o „Du wirst
doch wohl nicht schlecht geschlafen haben?“
81 „Dass du
ein großer Dussel bist!“
82 „Lass ihn doch!“
83 „Zum Teufel, Fritz Biederstaedt, wo kommst du
her?“
84 „Ernst, komm herein!“
85 „Was hast du dir dabei gedacht, Ernst
Peters?“
86 „Mein Heinz ist bei der Leibstandarte Adolf
Hitler...“
87 „Um so schlimmer, Ernst, um so viel
schlimmer!“
88 „Ernst, du hast dich in die Brennnesseln
gesetzt!“
89 „Der Kerl macht sich vor seinem
Liebchen groß und ich komme dafür in des Teufels Küche. Nein!
90 „Das hilft
ja alles nichts, Ernst; lege dich nicht
an mit den SA-Leuten.“
91 „Dein Bestes, Ernst, dein Bestes!“
92 „Ich persönlich halte von dem Müller
gar nichts. Wenn das nach mir ginge, würde ich dem Fatzke, wegen seines großen
Maules eins auswischen!“
93 „Bloß keine Missverständnisse,
Ernst!“
94 „Bezahlt hat er schon!“
95 „Bezahlen muss sein. Meister!“
96 „Ich verlasse mich darauf, dass du den Mund
hältst!“
97 „ Aber Ernst, glaubst du, dass ich nicht dichthalten kann?“
98 „Das hätte ich nicht sagen dürfen, dass es
Krieg geben muss.“
99 „Nichts
halte ich davon!“
100 „Na, ja, man tut, was man kann.”
101 “Gegen Lügen ist also doch ein Kraut
gewachsen.”
102 “Es kommt alles heraus!”
103 „Los Leute, Motor anwerfen. Los! Weg, bloß
weg von hier.“
104 „Los Leute, der
Sturm wartet nicht,
fahren wir hinunter und ziehen
noch Dörpen!“
105 „Kurt! Das lasse ich mir nicht entgehen! Eine
Stunde, Kurt!“
106 „Fritz, seit vier Uhr sind wir unterwegs.“
107 „Auch das noch!“... „Heute geht alles schief!“
108 „Erst die
Suppe!“
109 „Komm doch herein!“
110 „Schönen
Tag auch, allzusammen!“
111 „Los
Leute! Wir machen noch einen Fischzug!“
112 „Was machen wir mit dir?“
113 „Weker büst du denn?”
114 „Ist das die größte Pfanne? Ilses
Freund bin ich! Muss mich erst stärken!“
115 „Na, denn man tau!“
116 „Die reichen
für uns beide! Ich bin Karl, der Sohn des alten Degelow, des Schlachters!“
117 „Dorher weicht de Wünd.”
118 „Ji SEDisten spannen uns alltohop för jugen
Plog.”
119 „Den Kierl schmiet ick int Woter!”
120 „Ich trete auf die Außenbordseite
und du auch.”
121 „Leute, was wir gemacht haben, das war schlimm!”
122 „Du hast keine Ahnung!”
123 „Teufel auch!”
124 „Leute, wie viel Geld haben wir schon in all den Jahren zum Fenster
(hinaus) in den See geworfen.”
125 „Da mag man ja nicht ‘mal einen Hund vor die Tür jagen!”
126 „Guten Tag auch, miteinander!”
127 „Aber soviel gemütlicher ist es
hier drinnen.”
128 „Und die Kasernierten? Und die
Aktentaschenträger?”
129 „Dieser Staat ist unfähig. Bloß
Beamte und Polizisten!”
130 „Wir kennen dich schon, Otto
Görß, sei bloß ruhig und zufrieden!”
131 „Zehn Jahre nach dem krieg!”
132 „Jetzt wird das Maul gehalten!”
133 „Leute, wir haben getrunken, macht
euch nicht unglücklich!”
134 „Was wollt ihr mehr?”
135 „Otto baut die Maschine und die
Absperrung, stimmt das Otto?”
136 „Wer hat dir die Hasenpfote
angesteckt?”
137 „Otto, Teufelskerl, wie viel Geld
benötigst du dafür?”
138 „...Sechstausend!”
139 „Mehr nicht? ... das lässt sich
doch machen?”
140 „Allesamt!”
141 „Dies wird das
Vertikalschnittwerk.”
142 „Vertrag ist Vertrag.”
143 „Wenn es nichts wird, dann gehe
ich in die Partei, wenn es aber was wird, dann gehst du in die Partei!”
144 „Aber mit dem Vertrauen spaßt man nicht!”
145 „Habe ich mir gleich gedacht. Die
(Schecks) brauchte ich gar nicht.”
146 „Der ‘Rohrspatz‘ muss leicht
gehen!”
147 „Das sage ich euch!”
148 „...wenn getrunken wird, dann
wird nicht gearbeitet!”
149 „Otto, du hast dich übernommen!”
150 „Er hat auch mehr Kinder als du.”
151 „ ... Karl, wer soll dieses Paket
haben?”
152 „Der Teufel soll es holen!”
153 „Ihr müßt die Hälfte der Leute
entlassen!”
154 „Müssen!”
155 „Wie geht es dir, mein Sohn?”
156 „Er lügt!”
157 „Ihr seid auch nicht besser!”
158 „Hauptsache: Ich!”
159 „Immer ehrlich bleiben!”
160 „Herr, was sind wir für Kerle “
161 „Lasst uns das doch
ausprobieren!”
162 „Das sind die alten Zeiten, das
sind zehn Tonnen!”
163 „Ich konnte dich doch nicht
verraten, Junge!”
164 „Das gibt es nicht!”
165 „Die Partei will uns die Seele
aus dem Leib reißen!”
166 „Wenn du etwas werde willst, dann
musst du das!”
167 „An die zwanzig Jahre habe ich
noch.”
168 „Das muss geändert werden!”
169 „Sieh dir das an!”
170 „Hast du dir das so vorgestellt?”
171 „Wenn das der ganze Kommunismus
ist, dann fahrt nächstes Mal alleine, und lasst mich an Land.”
172 „Zwanzig Kilometer Umweg, sind
(wohl) doch ein bisschen viel!”
173 „Da sind welche.”
174 „Der ist ins Dorf gegangen, er
holt die Polizei.”
175 „Das Wichtigste ist, dass sie uns
nicht fassen!”
P.S.
Erst am 6. Januar 1994
wurde mir amtlich mitgeteilt, dass die Staatanwaltschaft Neubrandenburg das
gegen mich geführte Ermittlungsverfahren wegen Fischwilderei gemäß § 154 d 3
StPO eingestellt hat.
Abkürzungsverzeichnis
AE Arbeitseinheit, Tagesnorm
EVP Endverbraucherpreis, staatlich
festgelegter
HO Handels-Organisation
KVP Kasernierte Volkspolizei
LPG Landwirtschaftliche
Produktions-Genossenschaft
M v vorgestreckte Maräne
ND “Neues Deutschland“, Organ der SED
NVA Nationale Volksarmee
RWN Reparaturwerk Neubrandenburg