Samstag, 22. April 2017

Mein veröffentlichtes Buch "Fischerleben" (3)

„Rohrspatz sollst du heißen”


Wieder einmal war für Otto Görß, die ein ums andere Mal verlängerte Frist, zur Fertigstellung der Unterwasserschilfschneidemaschine, abgelaufen. 
Am Abend des letzten Junitages klopfte es an Wilhelm Bartels Wohnungstür im Badehaus.
„Heiner!”, hörte der Vorsitzende die junge, von Weinkrämpfen geschüttelte, schwangere Ehefrau 
seines jüngsten Genossenschaftsmitgliedes Mikusch schluchzen. Ihr Heiner sei nun schon seit drei 
Tagen nicht mehr nach Hause gekommen. Entweder hätte er eine andere gefunden oder, und das war 
das Wahrscheinlichere, er habe sich auf Nimmerwiedersehen in den Westen abgesetzt. Aufseufzend
musste Bartel sogleich auch an Otto Görß denken. Vier lange Wochen hatte Otto sich nicht blicken 
lassen.
Nahm denn diese Anzahl der Probleme nie ab?
Eine ganze Stunde lang heulte die junge Frau und nervte ihn, während er gegen einen weiteren
 furchtbaren Verdacht ankämpfen musste. In der Tat. Otto Görß und Mikusch konnten mancherlei 
miteinander abgesprochen haben. „Dreitausend Mark!”, murmelte er, indem er an die Summe 
dachte, die der Buchhalter Adi Voß Otto teilweise zur freien Verfügung oder in Form von blanko unterschriebenen Verrechnungsschecks ausgehändigt hatte. Schon ganz andere Leute waren so
 weit gegangen, Rechnungen zu fingieren. Wenn Otto wollte, dann ...
Nein! Otto war kein Betrüger. Otto war ein ehrlicher Mann!
Wilhelm Bartel schrumpfte zusammen, als er sich seiner eigenen Nachfrage stellte: Bist du sicher?
Trau, schau, wem.
Sehr reuig wiederholte er vor sich selbst: ‚Ich habe mich breitschlagen lassen!’
Er war nicht dafür gewesen, dass Görß sich zum Konstrukteur und gar zum Erfinder aufschwingen
wollte. Eulenspiegel wollte auch über den Kirchturm springen. Dem zusammengeströmten 
erstaunten Publikum erklärte der Narr dann: ‚Na, ja, ich will ja immer noch. Daran liegt es nicht! Bloß, der Kirchturm ist mir zu hoch.’

Otto könnte allemal beteuern, dass es an seinem guten Willen nicht gelegen habe.
Die Schwangere ging schließlich. Halb hatte er sie gebeten, ihn endlich schlafen zu lassen, zur andern Hälfte sah sie wohl ein, dass selbst Wilhelm ihr den Ehemann nicht herbeizaubern konnte. Vorsitzender Bartel entnahm der fast geleerten Schachtel eine neue Zigarillo. Tief in schwarze Gedanken versunken schaute er aufs dunkle Wasser. Von nebenan hörte er die Wanduhr. Es war Mitternacht geworden.
Morgen früh sehe ich nach! Das schwor er sich. Wilhelm litt sehr unter dem plötzlich massiven Selbstvorwurf, nicht eher misstrauisch geworden zu sein. Seiner Aufsichtspflicht war er nicht nachgekommen.
Mit geweiteten Augen lag er im Bett und starrte noch lange an die Zimmerdecke.
Gleich am nächsten Morgen begab Wilhelm sich mit dem blauen LKW “Phänomen” zum Blumenborn, in die Zehdeniker Straße, wo Otto wohnte und angeblich die hochkomplizierte Technik zusammenbaute.
Diesmal wollte er Fakten sehen, schlechte oder gute. Die Zeit der Geduld und der Ausreden war endgültig vorüber.
Ihr Mann sei nicht daheim, sagte Frau Erna leise. Ein wenig gekrümmt stand sie in der Eingangstür des grauen, kleinen Einfamilienhauses. Ihr Otto sei, bereits vor zwei Tagen, nach Waren gefahren. Sie schlug die Augen nieder. Eigentlich müsste er längst zurück sein. Sie wog ihr jüngstes Kind auf dem Arm, während ein zweites und drittes an ihrem Rockzipfel hingen, alle mit großen, dunklen Kulleraugen. Verschüchtert betrachteten die Kleinen den erregt paffenden Eindringling. Beide in den Westen abgehauen! Abgesprochen! Bartels graue Mausaugen rotierten. Er wehrte sich zwar gegen die Vorstellung, auch Otto hätte sich davon gestohlen. Doch es galt nun, den unangenehmen Wirklichkeiten ins Auge zu blicken.
Nervös zupfte er weiße Blütenblätter von der duftenden Spiräe. Er zerrieb sie.
Das also war des Pudels Kern.
Statt es zu Ende zu qualmen, zerbiss Wilhelm sein Zigarillo.
Es war äußerst unwahrscheinlich, dass Otto über Sonntag in Waren hockte.
Beide waren mit dem Geld durchgebrannt!
Hatte er nicht gleich befürchtet, aus dem Vorhaben komme nie und nimmer Gutes heraus? Für Geld und Weiber ließen die Kerle ihr Leben. Otto ist auch nicht besser. Warum auch? Alle sind sie gleich, die blöden jungschen Böcke. Ihm schien, dass er beide Familienväter in einer der grauschwarzen Holzhütten am Bahnhof Zoo sitzen sah, wo sie den Westberlinern vorjammerten: Die Partei hetze hinter ihnen her, wie der Teufel hinter den frommen Seelen.
Wilhelm hustete.
So schlimm traf es nur selten zu. Die meisten gingen nur rüber, weils hier so grau war und der Goldglanz von drüben herüberschimmerte.
Er war einmal in einer dieser Flüchlingsauffangsbaracken in Marienfelde gewesen und hatte dort aus purer Neugierde ein Gespräch mit einem der jungen Angestellten, einem Mitglied der ‚Berliner Falken’, gesucht: „Was wäre, wenn ich mittellos hier ankäme?“ Darauf hatten sie ihm schwach geantwortet.
Ohne Bedeutung war dieses kurze Gespräch geblieben. An die sonderbare Stimmung von damals konnte er sich erinnern.
Dieses düstere Bild, da säße er als Bettler und Flüchtling, und er hätte die Brücken hinter sich abgebrochen, er hätte seinen bunten reichen See hinter sich gelassen und mit ihm ein zwar hartes Leben, aber auch die Vorzüge  des auf eigenen Füßen stehenden Fischers.
Nee!
Niemandem würde er je raten, einer blanken Illusion zu folgen. Das Leben wiegt im Westen wie im Osten seine sechsundsiebzig Kilogramm. Denen entkommt man nicht.
Das schöne Geld!
Es zerriss ihm fast das Herz. Er hatte sich zum letzten Mal Anfang Mai um den Fortgang der übernommenen ‚Heim’ - Arbeit Ottos gekümmert und schon damals dieses miserable Gefühl gehabt, dass mehr als nur eine Kleinigkeit nicht stimmte. Otto war niemals imstande eine Bauzeichnung anzufertigen, geschweige denn ein derart komplexes technisches Gerät. ‚Bekloppter Ernst Stöckelt.’
So etwas brockten ihm nur die führenden Genossen ein und die Partei wird obendrein nicht den Verursacher, sondern ihn als Vorsitzenden für schuldig halten, wenn die furchtbare Pleite offen zutage tritt. Versäumnis der Kontrolle. Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser. So nannte man das. Von wegen, was die Partei beschloss, das wird sein.
Nun wird ihn die gerechte Strafe für seine Kapitulation vor der Unvernunft ereilen. Wilhelm fragte nicht lange, er ging an Ottos Frau Erna und ihren schüchternen Kindern vorbei, einfach durch den schmalen Flur in den Hof. Sein Verdacht trieb ihn gewaltsam vorwärts. Aufgeregt zog er eine Zeltplane beiseite.
Das hatte er sich gedacht!
Von Luftikus Otto war erst der glatte Boden des Bootes gelegt, sowie die ersten Spanten und ein bisschen Schrot in die Ecken der kleinen, knapp überdachten Hoffläche gestellt worden, zum Schein und für alle Fälle. Otto hatte die dreitausend Mark eingesackt und war nun ein für allemal verschollen. Wie stand doch gleich der Wechselkurs, den die Westberliner Geldhändler manchmal jede Stunde neu festlegten?
Vierfünfzig Ost für eine Westmark? Blitzschnell hatte Wilhelm es ausgerechnet: schäbige sechshundertundsechsundsechzig Mark West für so einen Berg Vertrauen. Für jeden der beiden dreihundertunddreiunddreißig Mark. Wenn das wenigstens zehntausend gewesen wären.
Da saßen sie also, seine gutgläubige Erna mit den Vieren und die kleine schöne Mikusch, die ihr Kind erwartete.
„Nö!”, entgegnete Erna entschieden, als sie endlich verstand, was der missgelaunte Fischerchef andeutete. „Doch Otto nüch!” und: „Wülhelm schäm di wat!”
Wilhelm versuchte es mit einer Ausrede. Er hätte nur Spaß gemacht.
„Över mit Vertrugen mökt man kein’n Spoß!” 144, tadelte sie ihn.
Ihr Mann suche nur noch zwei Windenräder. Spätestens morgen käme er zurück.
Haushoch war ihr Vertrauen.
Wilhelm blinzelte Erna an. Er wollte ja hinter und vor und neben seinen Männern stehen. Am guten Willen seinerseits lag es nicht. Andererseits war sein guter Wille immer nur die eine Sache.
Nee, die Ottos und Mikusch machten doch, was sie wollten. Wie könnt ihr Frauen nur so leichtgläubig sein? Vertraut doch diesen Windhunden nicht!
Wilhelm hockte anderntags seiner Gewohnheit entsprechend in der Fischereibaracke und studierte die “Freie Erde”. Er las und begriff nicht, was er da buchstabierte. Er könnte heulen. Nichts lief, wie es sollte.
Da ging, im Augenblick seiner furchtbarsten Gedanken, die Tür auf und als käme um Mitternacht die Sonne zum Vorschein, leuchtete Ottos spitzbübisches, helles Gesicht. Sein schiefes Lächeln war es. Das war Otto, wie er leibte und lebte.
Brüderlich spöttisch schaute er in Wilhelms geweitete Augen. Jetzt habe er alles, auch das letzte Schräubchen, beisammen.
Wilhelm schluckte und erhob sich. Er kratzte die buschigen schon von einigen weißen Fäden durchzogenen Brauen, er kratzte über seine schlecht rasierten eingefallenen Wangen, hob die gefurchte Stirn, atmete tief aus. Im Geiste sah er eine gewisse Baracke in der Nähe von Bahnhof Zoo. Seine gebräunte Stirn zuckte. Aber irgendwo musste doch die ganze Wahrheit stecken.
Ottos ganze Wahrheit lautete, er hätte bisher bloß siebenhundert Mark ausgegeben. Dreißig für Getränke und Geschenke, zweihundert für Holz, Farbe und den Rest für eine Kardanwelle sowie den Dieselmotor und ein paar Mark für das Material vom Schrottplatz, sowie für Transportfahrten. Otto holte seinen Brustbeutel unter dem rotblauen Hemd hervor. Er nestelte daran, nahm dreizehn Hunderter heraus, und blätterte sie hin, auch die Blanko - Verrechnungsschecks.
Als ginge es um wenig mehr als nichts, setzte er hinzu: „Hew ick mi glicks dacht. De brukte ick gornich.” 145
In höchstens sechs Wochen liefe das Ding.
Wilhelm, als er das Geld und die Schecks sah, wurde vor Freude schlecht: „Sagen wir in acht Wochen!”, erwiderte er. Zum Glück konnte niemand seine Gedanken lesen.
Sollte die Zukunft für ihn doch noch Gutes bereithalten?
Auf der Pritsche des betriebseigenen LKW sitzend, einem Zweitonner “Phänomen”, fuhren wir an jenem Frühsommertag hin zu Otto. Insgeheim hoffend und zweifelnd zugleich tauschten meine neuen Kollegen ihre Gedanken aus. Keiner wagte die Möglichkeit eines Misserfolges ernsthaft in Erwägung zu ziehen. Wenn Otto etwas in die Hand nahm, dann kam dabei immer ein Erfolg heraus.
Das war vor allem Fritz Biederstaedts Überzeugung. Die Unterwasserschilfschneidemaschine würde wie ein Uhrwerk laufen, dafür stehe er gerade. Aber Biederstaedt nahm Otto ja allezeit in Schutz.
Wir drängelten uns ungeduldig durch den schmalen Flur des Hauses, um das Gerät zu sehen.
Otto hatte alles bedacht, wie es schien.
Da befand sich auf dem kleinen begrünten Hof etwas unter der Zeltplane. Dass es groß war, sah man. Ja, aber, war es auch die angekündigte Maschine? Oder ein modernes Kunstwerk, das zu nichts zu gebrauchen war? Ein zusammengeschweißter Schrotthaufen? Da riss Otto die mit dem Seil gezogene Schleife auf und sogleich auch die graugrüne Plane beiseite. Seine braunen Augen leuchteten.
Vor uns stand nun wie eine Selbstverständlichkeit das nur etwa sechs Meter lange Boot. Die Eisenteile waren teilweise mit glänzend schwarzer Nitrofarbe bepinselt. Es war nicht höher als ein normales Motorboot, vielleicht anderthalb Meter breit und am Bug mit dem oft erwähnten Senkrechtschnittwerk ausgestattet, sowie mit der höhenverstellbaren Waagerechtschnitteinrichtung. Otto erklärte uns kurz und knapp wie es funktionieren sollte.
Biederstaedt ging, stürzte fast auf seinen Freund Otto zu, umarmte und schmatzte ihn rechts und links ab, wie die Kremlstaatsmänner auf dem Flugplatz, nach uralter Christensitte, mit dem Bruderkuss, von Grotewohl und Ulbricht begrüßt wurden.
Wenn das kein Grund zur Freude und zum Feiern ist?
Gratulation!
Mönsch Otto!
Nur der Beweis der Funktionstüchtigkeit fehlte noch, und dass die vielen eisernen Einzelteile der Schneidemaschine von diesem Boot auch getragen werden könnten, - und dass der Probelauf gelang, dass sie vollbrachte, was man von ihr erwartete.
Wenn es ein voller Erfolg würde, dann stimmten sie anschließend meinem Antrag auf Mitgliedschaft in der Genossenschaft zu. Wie eine Klette hing mir diese Hoffnung an.
Andernfalls könnten sie erklären, dass sie mich nicht mehr benötigten. So gern würde ich bleiben. Keine langen Reden und Fragen. Die Männer packten das schwere schwarz- und blaubemalte Boot, nahmen es heftig in Besitz, und trugen es stöhnend mit sich, luden es, nachdem der niedrige Zaun zur Straße beiseite geräumt worden war, auf den LKW  “Phänomen”.
Die von Anfang an Beteiligten wollten doch sofort sehen, ob alles seine Richtigkeit hat. Ernas Kinder standen aufgereiht neben den roten Polyantharosenbüschen und lutschten gelbe Bonbons am Stiel. Die hatte der fürsorgliche Vater aus seiner Jackettasche hervorgezaubert.
Erna lächelte still vor sich hin.
Ihr Otto!
Endlich langte der LKW am Bollwerk des kleinen Fischereihafens an. Er hielt unter einer Moorbirke.
Biederstaedt strahlte. Er streckte die Brust heraus. Sein Freund Otto und er!
Weiße Wolken segelten unter dem blauen Himmelszelt. Die gelblichen Halteleinen wurden gelöst. Wilhelm Bartel sprach unbeholfen ein paar Worte. Sehr karg im Lob. Seine leichte Sorge klang hindurch: Otto, hoffentlich geht alles gut.
Von stets einer ‚handbreit Wasser’ unter dem platten Bootsboden sagte er nichts.
„Ich  taufe dich auf den Namen: ?”  Verlegen schaute Wilhelm herüber.
„Ruhrspatz!”, erwiderte Otto schmunzelnd. Das hatte er ganz vergessen zu sagen. Den Titel auf die schwache Holzhaut zu schreiben, wäre ja immer noch möglich.
„Rohrspatz, sollst du heißen!”
„Und schneiden wie der Teufel”, ergänzte keuchend Hermann Müller, dabei legte er die helle Stirn in tiefe Falten und zog den roten Ballon aus der Tasche, sprühte Balsam in seine Kehle, versteckte das Gerät wieder in seinem grünen Anzugsjackett und hielt sich hinterher den Hals.
Mit einem Ruck, fast so gut vorbereitet wie von einer Helling herunter, sauste der Rohrspatz über zwei Bohlen vom sicheren Trockenen hinein ins weißblaue Nass des Bootshafens. Es platschte. Das Boot tauchte kurz mit dem überladenen Bug ins Wasser und richtete sich wieder auf, so stolz und selbstherrlich wie niemand es vorausgesehen hatte. Blaurotschwarz war es nun und ein wenig komisch anzusehen, weil die Nase des Maschinenbootes zu tief im Wasser lag. “Hurra!”, schrie Biederstaedt, aber nur er. Wir klatschten. Wenn er, Biederstaedt, jemandem volles Glück wünschte, dann Otto. Milster und Neumann ruckten, wogen die Köpfe, Boote, die ihren Bug zu tief ins Wasser tauchten, missfielen ihnen.
Otto beruhigte sie. Wenn er selbst einsteigen würde und der Motor ebenfalls im Heckteil zum Tragen käme, dann wäre die Normallage hergestellt. „De ‚Ruhrspatz’ möt leicht gohn!” 146, erläuterte er uns. Schwere Klamotten könne jeder bauen. Darauf sei es doch gerade angekommen, ein Gerät zu fertigen, das in jeder Hinsicht leicht zu handhaben ist.
Sofort zog Otto sich seine Schöpfung mit der Fangleine heran und stieg, ganz und gar nicht andächtig, ein. Der Motor wurde eingebaut. Das Anflanschen nahm auch nur wenige Minuten Zeit in Anspruch. Otto holte aus seiner Jacke das Zündpapier, drehte den Luntenhalter fest, steckte die Kurbel in die Halterung, brachte die Schwungräder des wassergekühlten Deutzmotors zum Rotieren. Der Diesel tuckerte los. Als wäre das eine Alltäglichkeit legte der Binnenfischer und gelernte Zimmermann Görs den Gang ein und rauschte los, den Oberbach hinauf. Unter den ragenden Pappeln mit ihren sich leicht im Winde wiegenden Zweigen und Blättern hindurch fuhr er zur “Fläkt” hinauf.
Wir rannten, längst des träge fließenden, graugrün schimmernden Oberbaches, hinter dem Wunderwerk her. Aber da war Otto schon angelangt an jenem riesigen, im leichten Wellenschlag sich wiegenden Simsenfeld, das ohnehin einem künftigen Badestrand weichen sollte. Er schaltete mit verschiedenen Hebeln, versenkte das Horizontalschnittwerk und rauschte nur Sekunden später durchs olivgrüne Dickicht, eine fast zwei Meter breite Schneise hinterlassend. Das war der Beweis. Blaurotschwarz triumphierte und die SED Grundorganisation ‚Stadtmitte’ hätte es auch können, wäre eine gewisse Wette rechtskräftig geworden... Ich spürte das Glück des Lebens. Denn noch an diesem Abend beförderten sie mich vom Hilfsfischer zu ihrem jüngsten Genossenschaftsmitglied.

Auch weil eine Karte des jungen Mannes Mikusch mit Absender Westberlin bewies, dass er nicht die Absicht hege in die ‚bescheuerte’ DDR zurückzukehren. Das kurze Aufnahmeverfahren kostete mich zwei Flaschen eines scheußlich riechenden, braunen Getränkes.
Zum zweiten Mal in meinem Leben, nach der von mir nicht ganz freiwillig aufgegebenen Ausbildung zum Berufsschullehrer, hatte ich den Platz gefunden, der mir ebenfalls wie auf den Leib zugeschnitten war.
Mir blieben nun all diese Herrlichkeiten erhalten: die strahlende Natur, der lachende Himmel, das blaue Wasser, die stets sich wandelnde Landschaft, die unerschöpflichen Reichtümer der Seen, die Chancen des Lotteriespiels Fischfang.
Zudem war ich jung und glücklich verheiratet, allerdings fast ohne Ausbildung.
Hier könnte ich mir die Unabhängigkeit meines Denkens bewahren!
An keinem anderen Ort der Welt, hätte ich glücklicher sein können, gäbe es nicht Tollenseheim und wäre von daher nicht der Zwang einer eisernen Konsequenz zu erwarten, der ich bisher nur vorübergehend entronnen war. Denn da gab es immer noch die Vierergig und Leute die ihren stillen Verdacht gegen mich hegten, - Klassenfeinde müssen wie Feinde behandelt werden!
Schon am nächsten Tage sank der “Rohrspatz” auf den Seegrund.
Das hatte so kommen müssen.
Fritz Biederstaedt wollte Otto begleiten und mit ihm hinauffahren zur Lieps. Freudetrunken, aber auch voll der Triumphgetränke begingen die erfahrenen Männer einen simplen Fehler.
Statt das funkelnagelneue Boot sicher anzubinden, nämlich den kopflastigen Bug gegen die Laufrichtung, hatte Otto seinen “Rohrspatz” umgekehrt ans Heck des Schleppbootes gehängt.
Zuerst ging es gut. Höchstens Windstärke fünf lautete die Wettervoraussage, und so war es. Nur, der Tollensesee, lang gestreckt und windanfällig, zeigte sich wie immer schnell erregt. Schon bei Windstärke vier rollen mitunter bereits meterhohe Wellen, wenn sie bei ‚Unterwind’ aus Südwesten daher geschaukelt kommen.
Biederstaedt und Otto Görß waren nur dreihundert Meter weit hinaus gefahren. Da ereignete es sich.
Ein leichter Schwung hob sie jäh herauf und ehe sie sich dessen versahen, schwappte eine zweite Welle. Der Rohrspatz verschluckte sich sofort.
Bis dahin hatten beide Männer, wie zwei prallvolle Hundertkiloweizensäcke, stur nebeneinander gehockt, jeder mit einer grünen Flasche in der Rechten.
Otto, durch den Schreck schmerzhaft aus der Starre geweckt, schrie nach dem Messer. Biederstaedt griff in die Hosentasche. Tatsch-ratsch, und die zwingend erforderliche Trennung ward vollzogen. Sonst wäre auch das Heck des kleinen Heuers folgenreich überflutet worden.
Der Rohrspatz ging sang- und klanglos unter. „So!”, sagte Otto. Nur dieses eine Wort und drückte seinen entgeisterten Freund Fritz Biederstaedt zurück auf die Ducht. Da solle er sitzen bleiben.
Biederstaedt wollte handeln. Aber was wollte er tun?
Langsam schob und steuerte Otto Görß den Heuer mit einem Ruder zu den aus dem Wasser ragenden Pfählen der nahe gelegenen Zugnetzhenkstelle. Dort befestigte er das Schleppschiff und fiel vorübergehend in Ratlosigkeit.
Otto hätte ein elender Pessimist sein müssen, um ratlos zu bleiben.
Schon von weitem erkannten wir vom Fangplatz Heimkehrenden das Malheur.
Natürlich stellte keiner dumme Fragen. Niemand erlaubte sich gegen das Genie Görß Vorwürfe zu erheben. Das hätte jedem zustoßen können.
Wir legten unsere mit Handwinden ausgerüsteten Fangboote bei. Ankerten vor Ort und halfen. Sogleich zog Otto sich die Kleidung, Stiefel, Strümpfe, vom Leib. Nackt tauchend fand er die beiden Stellen an dem Kahnbord des Havaristen, an denen er in der Tiefe zwei Drahtseile knüpfen konnte, um ihn wieder ans Tageslicht befördern zu lassen. Sein weißer Körper leuchtete verheißungsvoll herauf.
Unsere Winden begannen ihr Werk. Das klappte.
Der „Rohrspatz” tauchte langsam aber zuverlässig auf.
Fritz Biederstaedt, der solange kummervoll und gehorsam auf der Heckbank sitzend abgewartet und vielleicht sogar gebetet hatte, dass es gelinge, sprang vor Erregung hoch. Aus der Entfernung gab er gute Ratschläge, die so überflüssig waren wie Regengüsse in den Tollensesee. Er stieg in eben dem Augenblick, als die Bordwände des wieder neugeborenen Rohrspatzes sichtbar wurden, hocherfreut aufs Schweff des Heuers und riss begeistert die beiden Arme gleichzeitig in die Höhe. Seine und Ottos Ehre waren gerettet.
Die Wucht seiner Gefühle riss ihn hin, er konnte sie nicht mehr beherrschen. Ob es nun das mäßige von Wellen verursachte Wiegen war, oder die Reaktionen seines leicht beeinträchtigten Gleichgewichtsorganes. Biederstaedt wankte. Langsam, als befände er sich, oder wir uns, in der Irrealität eines Traumes, bog sich sein Körper. Biederstaedt beeindruckend großer Kopf näherte sich unwiderruflich den Wogen, während seine Füße sich von den Schweffdeckeln lösten, als seien sie von dort abgefedert worden, wie von einem Trampolin.
Er schlug ein halbes Rad. Das Obere gelangte nach unten und umgekehrt. Seine erste Hälfte verschwand auf schier unwirkliche Weise im See.
Als schwebe eine Feder, sank er hinunter. Gleichmäßig pendelten seine mit pechschwarzen Gummistiefeln bewehrten Beine. Die kraftvollen Waden wedelten wie abschiedwinkende Hände und Arme. Sie wollten durchaus nicht in der Tiefe verschwinden.
Ein letztes Mal ging es her und hin.
Ringsum strahlte das sommerliche Blau. Möwen kurvten harmlos kreischend vierzig Meter über ihm.
Verwundert und rund wie eine Robbe tauchte der prustende Teil des stellvertretenden Vorsitzenden der Fischereigenossenschaft wieder auf. Kaum hatte er Luft bekommen, brüllte er: „Dat sech ick juch!” 147
Das Wasser gluckste.
Eifrig und ungeschickt strampelnd, aber mit den Jahren geübt darin mit Gummistiefeln zu schwimmen, fand Biederstaedt schließlich festen Boden unter den Füßen.
„Dat sech ick juch”, spottete Neumann hinter seinen Urfeind her, „en för allemol, wenn sopen wat, denn wat nich arbeit’t” 148
Das war es, was Biederstaedt zum Besten gegeben hätte, wie immer, wenn er wieder einmal  wegen seiner Leidenschaft für klare Getränke in den See gefallen war. Das hätte er zitiert wäre ihm nicht eine Welle hart über den Mund gefahren. Tags darauf kam Schulleiter Herbert Maque angesaust. Wir verließen gerade den Oberbach, waren gerade am linken Schilfkopf angekommen und fuhren erst mit halber Kraft. Ich stand draußen auf dem Schweff des morschen schwarzen Achtmeterkutters, auf diesen ziemlich verrotteten Deckeln der Wasserkammer, in die stets die gefangenen Fische hineingekeschert wurden, um sie so lange wie möglich lebend zu hältern. Maque lenkte das schnittige Vorderkajütboot scharf heran. Er nahm die Fahrt weg und glitt plötzlich sehr verlangsamt auf uns zu. Seine eher dunklen als grauen Augen suchten meine Blicke. Seine Miene besagte, dass er mit mir noch eine nicht gerade kleine Rechnung zu begleichen hätte.
Maques geballte Rechte bedeutete mir, dass ich ihm nicht entkäme. Meine Kollegen scherzten.
Sie ahnten ja nichts.
Sie grüßten auf dieselbe Weise zurück, wie sie glaubten begrüßt worden zu sein.
Er rief etwas herüber.
Aber beider Motoren Geräusche und der Wellenschlag ließen nur Wortfetzen hörbar werden.
„Teufel”, hatte er gesagt!
Maque machte noch eine scharfe Bemerkung, deren Sinn ebenfalls nur mich betraf und schon war die Begegnung beendet. Meine Mitfischer, die sich in den Fangbooten befanden, winkten freundlich hinter dem Besitzer des Wellenbinders her. Sie fühlten sich gewürdigt. Der große Chef von Tollenseheim hatte sie beachtet. Ich indessen dachte: Herbert Maque musste also in der Zwischenzeit die zerstörte Vierergig entdeckt haben.
Die schlagartige Zunahme meines Unbehagens blieb meinen Kollegen verborgen. Mir war klar, es würde zu einer unangenehmen Befragung kommen. Exhausmeister Paul würde auf ‚Teufelkommheraus’ leugnen und Herbert  Maque dürfte mir mit harter Stimme ins Gesicht hinein schmettern: „Haben wir sie doch noch erwischt! Deshalb also sind sie getürmt! Deshalb der Wiesenbrand. Sie sind sich doch hoffentlich dessen bewusst, dass wir auf Schadensersatz klagen werden.” Ich schaute dem elegant gekleideten Schulleiter besorgt hinterher.
Einmal, während meiner Tollenseheimzeit, als Herbert Maque den LPG-Buchhaltern seinen Einführungsvortrag hielt, hörten wir seine markigen Worte durch die Tür dringen:
„Die verfluchten Imperialisten haben vor, die Welt in Brand zu stecken, um die Spuren ihrer Verbrechen zu vertuschen.”
Ich war ebenfalls ein Brandstifter, einer, der vertuschen wollte.
Vom Klassenkampf redete er am liebsten. Reden konnte er wie kein Zweiter, aber auch klassenbewusst handeln. Die Klasse schöner, liebesbedürftiger Mädchen war ihm die liebste, die Klasse der Brandstifter die verhassteste.
Jetzt zeigt er mich doch noch an.
Während der einen Fahrstunde über den blauen See nach ‚oben’ in den Bereich der Fischinsel beruhigte ich mich allmählich. Das wird er sich dreimal überlegen, mich anzuzeigen. Erstens käme es dann an die berühmte ‚große Glocke’, dass er staatliche Mittel zu eigensüchtigen Zwecken fehlgeleitet hatte. Zweitens würde ich es darauf ankommen lassen und im Falle eines Gerichtsverfahrens darauf bestehen, Paul und mich versuchsweise je einen Messstab werfen lassen.
Natürlich war das alles nur theoretisch von Belang, denn falls die Dozentin für Philosophie befragt würde, sah es für mich trübe aus. Wer Lenin beschimpfte, der konnte nur im Auftrage des Klassenfeindes handeln. Das Gesetz zum Schutze des Friedens sprach mich in jedem Falle schuldig.

Drei Wochen lang, nach dieser ihrer richtigen Taufe, schnitt die Unterwasserschilfschneidemaschine den Weg frei für einen späteren Aufstieg der Tollensefischer aus dem Elend zu bescheidenem  Wohlstand.  Aber das sollte noch dauern. In der Fischerei bedarf es von der Saat bis zur Ernte manchmal fünf bis zehn Jahre Geduld, vor allem wenn es sich um Aale handelte.
Noch war erst der Grund gelegt für eine neue, bessere Zeit.
Noch sah es trübe aus.
Noch hatten wir nicht einmal die Talsohle erreicht.
Am Jahresende erfuhren wir von unserem Buchhalter Voß, dass der Finanzplan zwar mit 110 Prozent erfüllt worden sei, dass jedoch keine Aussicht bestand, den Jahresverdienst von vier auf viereinhalbtausend Mark zu erhöhen.
Nun gut, für unsere beiden je 10 Quadratmeter kleinen Stübchen, bezahlten wir ja auch nur zehn Mark Monatsmiete. Schuhe allerdings kosteten immer noch einhundert Mark, ein Dreipfundbrot neunundsechzig Pfennige. Schokolade gab es, aber die Qualität war, verglichen mit Sarotti, miserabel. Vier Mark musste man in einem Geschäft der HO für eine Tafel hinlegen, und das war viel Geld für jemanden, der nur dreihundert im Monat nach Hause brachte. Einen Anzug konnte man für fünfundsiebzig Mark kaufen, der allerdings sah dann auch aus wie ein Gewand aus Sackzeug. Mit mindestens zweihundert Mark musste man schon rechnen, wenn es etwas einigermaßen Gutes sein sollte.
Daheim in den eigenen vier Wänden waren wir glücklich.
Zum Schlimmsten entwickelte sich für uns das folgende Jahr während der Sommermonate. Das 3. Quartal schloss kumulativ mit der absolut niedrigsten Ertragshöhe von durchschnittlich 26 kg Fischen  je ha Wasserfläche.
Sauferei, Sorglosigkeit und Fangpech führten zur Vorstufe einer Katastrophe.
Otto und Fritz Biederstaedt bestanden darauf, die Flachseen, die dem Betrieb zur Bewirtschaftung übergeben worden waren, intensiver zu nutzen. Fritz Biederstaedt und Otto glaubten, die Schleienseen könnten zehnmal mehr produzieren als die tiefen Gewässer wie der Tollensessee, dessen Hauptareal unter einer Wassersäule von 25 Meter liegt. Für die bodentierfressenden Friedfische ist es da unten viel zu kalt, wenn dort auch keineswegs Sauerstoffmangel herrscht.
Zooplanktonfressende Fischarten von wirtschaftlicher Bedeutung gab es nicht. Fritz und Otto fingen beträchtliche Mengen Schleien. Sogleich wuchsen in ihren Fangbüchern die Gutschriften. Otto hatte keine Wahl, er musste seine Familie durchbringen. Ottos und Biederstaedt Erfolge weckten Neid. Scheel sahen die weniger Erfolgreichen, dass Biederstaedt und Görß doppelt so viel wie sie verdienten.
Ich hielt nach einer Möglichkeit Ausschau, es ihnen gleich zu tun. Aber man hielt mir entgegen, für alle reichten die Niedrigwasserflächen nicht aus. Wir würden uns gegenseitig ins Gehege kommen.
Neid zieht Streit nach sich.
Biederstaedt und Otto Görß berieten sich. Otto klagte, er risse sich beide Beine aus und der Lohn sei Zänkerei. Natürlich beanspruchte er die reelle Vergütung seines Fanges gemäß dem Gesetz der Genossenschaft und dessen Basis sei die Arbeitseinheit.
Man erhielt für einhundert Kilogramm Schleie 10 Arbeitseinheiten gutgeschrieben. Wenn der Finanzplan erfüllt würde, hieße das, er bekäme 160 Mark ausgezahlt, wenn er zwei Zentner Schleie anlandete. Das bedeutete, er bekäme 1600 Mark zusätzliche Nachzahlung im Januar, nach der Endabrechnung.
Aber er hatte nicht hinlänglich beachtet, dass der Finanzplan nicht erfüllt werden konnte. Damit stand fest, es werde diesmal überhaupt keine Nachzahlung geben können.

Neumann mäkelte: „Otto, du hesst di övernohmen.” 149 Sein riesiger Schnauzbart zitterte, seine derben Pfoten nicht minder.

Otto würde immer bevorzugt werden, immer bekäme der das größere Wochenendpaket Frischfische.
„Hei hett uk miehr Kinner as du!”150, konterte Biederstaedt grollend.
Aber seine Verwandtschaft sei genauso zahlreich, lautete Neumanns geharnischte Erwiderung. Entnervt lenkte Otto ein. Er  gäbe  des  lieben Friedens willen nach. Er ginge fort, würde die Genossenschaft verlassen. So sei es nicht gemeint gewesen. Ohne ihn ginge es nicht.
Bartel bestätigte das. Otto habe die Liepser Rohrbestände so gekonnt zurecht gestutzt, das Karpfenwirtschaft fortan sinnvoll sei. Sie würden hochkommen. Er sehe jetzt doch eine gewisse Berechtigung auf gute Zeiten zu hoffen.
“Ja, aber wann?“, fragte Otto ihn, wie sich selbst. Im Grunde hatten sie nur gepokert. Ob der Radikalschnitt in absehbarer Zeit jenen Erfolg bringen würde, von dem sie träumten, das bezweifle er noch. Für ihn sei der Bau der Unterwasserschilfschneidemaschine eine Herausforderung gewesen, eine größere als die der Fischfängerei.
Er käme mit allem zurecht, aber nicht mit ständiger Eifersucht.
Otto, son Kerl als du bist, der lässt sich doch nich umschmeißen von ein bisschen Meckerei! Versprich uns weiterzumachen!”
Otto sagte zu. Er würde sich bemühen.
Doch schon eine Woche später beklagte Neumann sich, er sei schon wieder von Otto betrogen worden.
Biederstaedt verteidigte seinen Freund Görß, der maßgeblich daran beteiligt gewesen war, die Rationen zusammenzustellen. Wütend erklärte Biederstaedt, dann müssten die Fische eben ausgelost werden.
Damit erklärte Neumann sich einverstanden.
Der Augenblick kam. Karl wurde ausersehen, die blinde Justitia zu spielen. Er beugte den gewaltigen Rücken, die imprägnierte schwarze Schürze um den mächtigen Bauch gebunden stand er breitbeinig da. Diesmal, endlich konnte er sicher sein. Horst Gruß, der Augenzwinkerer, hielt dem Ahnungslosen die Lider zu. Karl Neumann presste seine vor Aufregung nassgeschwitzte Stirn in Grußens Arbeiterhände.
„Puck-puck Korl, weker sall dissen Hümpel hem?” 151
Karl nannte, nach einigen anderen, seinen Namen. In der Tat der größte Zander wäre ihm zugefallen, hätte in diesem Augenblick nicht der Schalk mitgespielt. Alle nickten und grinsten Zustimmung als einer der beiden Reiniger, den herrlichen Edelfisch gegen  ein paar mittelmäßige Barsche und  einen Blei austauschte.
„De Düwel salt holen!” 152, entfuhr es Karl Neumann, als er die Bescherung sah. Wieder einmal war ihm das Glück nicht gewogen gewesen.
Er wusste es irgendwie, dahinter steckte Görß. Nur ihm war nicht klar, wie das vor sich gehen konnte. Wie ein Trompeter blies der Muskelmann seine Backen auf und zog los, Unflätigkeiten vor sich hin brummend.
Diesem Görß würde er eines Tages den Kopf nach hinten drehen. Dann hätte er Genugtuung. Es drohte uns das ‚Aus’ In der letzten Oktoberdekade bemerkte Buchhalter Voß lapidar: „Männer wir sind zahlungsunfähig!”
Biederstaedt runzelte die Stirn und schluckte.
Görß schimpfte auf den kalten Sommer.
Bartel verkniff die Lippen. Schon vor Tagen hatte ihm der Buchhalter eröffnet, dass sie noch nie in ähnlich verzweifelter Lage gewesen wären. „Vollversammlung“, sagte er nur.
Er hatte es kommen sehen.
Doch kein Ratschlag, keine Versammlung konnte ihn aus der Misere befreien. Er habe schon vor acht Jahren mehr Aalbrut kaufen und in die Gewässer einsetzen wollen. Aber das hätte er nur tauben Ohren gepredigt. Seit eh und je befürchteten sie, dass diese zusätzlichen Kosten ihren augenblicklichen Verdienst schmälern würden.
Mensch, wer bloß auf den Augenblicksvorteil starrt, der darf sich über kärgliche Ernten nicht wundern.
Die seit Jahren zu geringen Besatzmengen wirkten sich nun natürlich verheerend aus. Selbst wenn sie das bisher Versäumte reuevoll nachholen würden, käme alles Bemühen für die nächsten Jahre zu spät.
Buchhalter Voß machte seine unschöne Rechnung präzise auf.
Wilhelm Bartel senkte den Kopf. Otto Görß und Biederstaedt zuckten mit den Achseln. Schleie fangen durften sie nicht mehr. Sie beide hätten der Genossenschaft noch zu zwei Tonnen Feinfischen und damit zu erheblichen Mehreinnahmen verhelfen können.
Doch, das sollte ja nicht sein.
Milster holte tief Luft. Neumann ballte die Fäuste. Nur Hermann Müller sah noch Hoffnung. Er tröstete mit Vergleichen. Auch Ernst Peters hätte jahrelang ums Überleben als Pächter gerungen. „Euch steht das große Glück bald ins Haus!“ Buchhalter Voß zog sich in den Bretterverschlag zurück, den Otto Görß ihm gerade zurechtgezimmert und als Büro übergeben konnte.
Dies war ein Würfel und Bretterkasten von je zweieinhalb Meter Kantenlänge mit einer abschließbaren Tür. Allemal reichlich Aufwand und Raum für das bisschen ‚Aktenkromt’, wie einige meinten. Beheizbar war der Raum nicht.
Neumann sagte, im Winter hätte der Buchhalter ohnehin nichts zu schreiben und im Sommer erübrige sich das Heizen. Dafür genösse er den herrlichen Ausblick auf den Oberbach.
Vor fünf Jahren hätten sie ihm das noch nicht bieten können. Damals gab es diese Baracke noch nicht, sondern nur einen Unterstand.
Tatsächlich standen wir bald buchstäblich mittellos da und die Gutachter der Bauernbank Neubrandenburg stellten die unangenehmen Fragen unmissverständlich. Zur Lohnzahlung würde sie einen Überbrückungskredit einräumen, doch wie sollte es dann weitergehen? Das Geld plus 2% Zinsen müsste schnell wieder zurückfließen. Fische im See, die gab es hinlänglich. Davon seien sie ja überzeugt, nur sie zweifelten aufgrund der Erfahrungen, die wir und sie gesammelt hätten, ob wir imstande wären, sie auch zu fangen.
Altkommunist Hermann Göck, aus Höflichkeitsgründen vor kurzem zum  „Ehrenfischer” ernannt, etwa fünfundvierzigjährig, fast einsneunzig und sehr von sich selber überzeugt, ließ in der vorverlegten Quartalsversammlung seinem Unmut freien Lauf. Dass es so schlimm werden könnte, habe er sich nicht vorgestellt: „Ihr habt gefälligst einen Ausweg zu finden.” Sein blasses, langes Gesicht wurde noch länger.
Ernst Stöckelt der ebenfalls in dieser schicksalhaften Versammlung anwesend war zog die aus seiner Sicht einzige Konsequenz: „Ji möten de Hälft’ von de Lüd entloten.” 153
„Kommt gar nicht Frage!” konterte Göck mit der vollen Autorität eines Mitgliedes der SED-Bezirksleitung Neubrandenburg. Im Sozialismus gebe es keine Firmenpleiten und schon gar keine Kündigungen.
„Möten! 154  beharrte der Fachmann gnadenlos.
Ich war der Jüngste, außerdem der fischereilich ungebildetste.
Mich würde es zuerst treffen. Das war klar.
Und wieder einmal werde ich von vorne anfangen, aber wo?
Da nutzte mir der Status eines Mitgliedes der Genossenschaft gar nichts.
Ökonomische Gesetze sind unerbittlich. Nichts sprach für mich. Zudem hatte es zwischen Stöckelt und mir nicht gerade höflich ausgetragene Meinungsverschiedenheiten in Fragen der SED-Politik gegeben. Was ich von Diktaturen hielt, hatte ich ihn auch aus gewisser Eitelkeit wissen lassen.
Er dagegen stand für harte ‚Disziplin’ ein. Diese übrigens sollte ihn bald darauf ereilen und ihn hinausbefördern aus seinem hohen Amt.

Nachdem ich im Januar ‘52 meine Lehrerausbildung zum Berufsschullehrer abgebrochen hatte, - einfach weil ich mich außer Stande sah, den Lehrauftrag der DDR zu erfüllen - war meine berufliche Zukunft nun fünf Jahre später, einmal mehr als ungewiss. Gegen den zur Staatsdoktrin erhobenen Atheismus hatte ich mich gestellt. War auch deshalb freiwillig aus dem öffentlichen Leben ausgeschieden und befand mich danach auf der untersten Stufe der Gesellschaft.
Ich wollte dennoch wer sein und hatte deshalb gegen Stöckelts Ansichten argumentiert. Auch dieser Umstand müsste sich für mich nachteilig auswirken. Sie können gar nicht anders, sie werden mich auf die Straße setzten müssen.
Ich war ratlos.
Aber Hermann Göck nicht minder.
Ein paar Gesichtspunkte wurden betrachtet. Es half alles nicht. Das Denkresultat lautete: von den dreizehn beschäftigten Männern müssten fünf entlassen werden.
In der Versammlungspause beriet der Vorstand.
Binnen einer halben Stunde werden sie fünfmal Schicksal spielen.
Ich ging auf den kleinen Hof und sah die Kähne, auch den bewährten “Rohrspatz” am Bollwerk liegen. Träge floss das graugrüne Wasser des Oberbaches in Richtung Vierrademühle.
Nun war ich fast achtundzwanzig und stand abermals vor einem Trümmerhaufen. Also doch eine verkrachte Existenz.
Meine Versuche zu schreiben und vielleicht einmal mit dem Schreiben von Geschichten und Reportagen meinen Lebensunterhalt zu verdienen, waren ebenfalls gescheitert. Die Leiter der Arbeitsgruppe “Junge Autoren” hatten mich auf Empfehlung des Friedrich - Wolf - Theaters Neustrelitz zwar eingeladen an den Schulungen für angehende Schriftsteller teilzunehmen, doch sie hatten mich da nach wenigen Wochen Teilnahme gerade in diesem Sommer geext. Mit Leuten wir mir, wollten sie nichts zu tun haben. Horst Blume, damals Direktor der Polytechnischen Oberschule „Fritz Reuter”, Alfred  Wellm, Joachim Wohlgemuth, Gerhard Diekelmann und andere fanden meine Ansichten und Arbeiten skurril. Im Zusammenhang mit einer Vorlesung über die Leninsche Widerspiegelungstheorie, gehalten von Horst Blume, dem ehemaligen Rechtsberater in einer Hitlerjugendbannführung, nahm ich mir heraus die dominierenden Auffassungen zu kritisieren. Vielleicht wäre es besser gewesen, zu schweigen und nur klug mit dem Kopf zu nicken. Doch ich musste das Maul weit aufreißen und behaupten, dass es nicht allein die Umwelt ist, die den Menschen prägt und bestimmt, sondern auch der Wille nach der Einsicht.
Für mich stünde fest, dass sich jeder Mensch kraft seiner Urteilsfähigkeit für das Bessere gegen das Schlechtere entscheiden kann, wenn er das will und zwar unabhängig von äußeren Einflüssen.
Wie ich das meine?
Sie lästerten, dann könnte ich gewiss auch beweisen, dass es absolut Gutes gibt. Mir fiel ein Goethewort aus dem “Faust“ ein.
Die Ablehnung meiner Ideen aus Vorsicht, - nicht aus Gründen der Vernunft - stand den meisten meiner neuen Freunde in die Gesichter geschrieben. Mir schien, sie würden mir zustimmen, aber nur dann, wenn es allgemeiner Konsens wäre. Zumindest ahnten sie, was ich meinte. Ich konstruierte ein Beispiel. Hätten sie Recht, dann wären die meisten KZ-Aufseher ja eher für unschuldig als für schuldig zu erklären.
Ziemlich intensiv haben wir diesen Aspekt diskutiert, zeitweise sogar heftig. Wahrscheinlich erkannten sie mein Bemühen, dem Problem gerecht werden zu wollen. Denn es geht um Schuld und Sühne.
Meiner Überzeugung nach verfügt jeder Mensch in sich über einen untrüglichen Maßstab für Recht und Unrecht. Es ist das moralische Gewissen. Es mag unterschiedlich stark entwickelt sein, doch es ist da.
Vor allem der immer brillierende Horst Blume vertrat gegen mich die Auffassung, dass die Notwendigkeiten vor dem Gewissen rangierten. Er strich mit seinen Lehrerhänden langsam über den sehr gepflegten graumelierten Kinnbart und schaute mich an, wie ein strenger Vater seinen begriffsstutzigen Sohn.
Ich widersprach ihm dennoch und insofern, als ich einwandte, dass Notwendigkeiten vom Gewissen geprüft werden müssten.
Er ereiferte sich. Sein kahler Schädel, seine energischen Züge, seine gewählte Ausdrucksweise, sein ganzes Erscheinungsbild sprachen ganze Bände zu meinen Ungunsten.
Ich wurde zum Ewiggestrigen erklärt.
Alle anderen Autoren gingen mit der neuen Zeit. Daran sollte ich mir ein Beispiel nehmen. Die Kategorien des dialektischen Materialismus müsse schließlich jeder Mensch akzeptieren.
Leute wie ich, die am Alten und noch am Glauben an einen Schöpfergott hingen, brächten bloß nicht den Mut auf, den unmodernen, hinderlichen Zopf abzuschneiden.
Alfred Wellm beugte sich anschließend zu mir. Freundlich werbend sagte er: „Wir vollziehen in diesem Lande eine Revolution in den Köpfen. Es geht nicht nach dem Gewissen schlechthin, sondern nach der uns zugewachsenen Erkenntnis aus der leninschen Philosophie. Sie macht aus uns starke, staatsbewusste Bürger. Wir wollen etwas aufbauen, das es in der deutschen Geschichte noch nicht gab. Den Sozialismus. Komm zu uns! Wo du hingehörst!”
„Wie sollte ich, nachdem ihr mich nicht überzeugen konntet?”
In Folge dieses Gespräches beschloss der Vorstand der Arbeitsgemeinschaft “Junger Autoren”, meiner Argumentation aus dem Wege zu gehen.
Das geschah denn auch. Als an jenem Tag im Tagungsort Volkshaus, von Horst Blume bekannt gegeben wurde, dass es fortan zwei Gruppen geben würde, nämlich: die jungen Autoren, und die jungen Schriftsteller, da vermutete ich noch nicht, dass sie die Stirn haben würden, mich vor die Tür zu setzen. Nachdem zuerst die Namen der Fortgeschrittenen aufgezählt wurden, dachte ich, na, ja, sie werden dich zu den jungen Autoren stecken. Aber als deren Namen verlesen wurden, fand ich meinen wieder nicht erwähnt.
„Warum habt ihr mich ausgelassen?”
Ungefähr dreißig Augenpaare richteten sich auf mich. Eine Weile knisterte es im Raum, wie mir schien. Die Spannung lag wie Gewitter in der Luft.
Ein älterer Mann aus Anklam meinte, sie hätten mich vergessen.
„Nein, wir haben ihn nicht vergessen”, entgegnete Joachim Wohlgemuth, und Horst Blume setzte erläuternd hinzu: „Mit dir haben wir nur Scherereien. Geh du deiner Wege! Unbegabt bist du nicht, aber dir fehlt der Zug und das Wollen zum Staatsbewusstsein.”
Ich hörte es als Echo, mit Ausnahme des Anklamers, von sämtlichen Anwesenden.
Dieser eine verteidigte mich. Ich hätte doch ein beachtliches Drama geschrieben. Die anderen angehenden Schriftsteller wünschten mit mir nicht mehr zu reden. Nicht mit einem Querschläger. Ja, wenn ich mich nicht geäußert hätte. Aber mich immer wieder konträr in die Diskussion einzumischen, das sei zu viel gewesen.
Da musste ein Schlussstrich gezogen werden. Das sei nun geschehen.
Sie waren so tapfer…

Auch die Fischer müssen nun einen dicken Schlussstrich ziehen und reduzieren, das leuchtete mir ein.
Vielleicht könnte ich eine Bürotätigkeit finden.
Tote Zahlenkolonnen willst du zusammenrechnen?
Du doch nicht! In den Westen gehen? Auch meine Frau war dagegen.
Zurück in die Lehrerausbildung? Mein Entscheid war definitiv gewesen. In dieser langen Beratungspause des Fischereivorstandes ging mir mancherlei durch den Kopf. Ich war und bin für das Zusammenarbeiten der Menschen in Genossenschaften, aber nicht für die Rohheit eines Systems, gegen das sich im Grunde nahezu alle Leute, die ich kannte, deutlich aussprachen. Das könnte ich ja auch für mich behalten, statt es immer wieder herauszuposaunen. Gerade in einer Genossenschaft - nicht in einem volkseigenen Unternehmen - in dem Gewinne restlos an den Staatshaushalt abgeführt werden, konnte ein Großfang oder beständig bessere Fänge allen Beteiligten richtigen Wohlstand bescheren. Abenteuer Fischfang war für mich wie erlaubtes Vabanquespiel. Ich liebte es zu spielen. Deshalb wäre die Fischerei nebst den Berufswünschen, die sich zerschlagen hatten, für mich das Beste.
Ich sah den Genossenschaftsvorstand aus dem Nebenraum kommen. Den Mienen konnte ich ansehen, dass in der internen Runde die Würfel gefallen waren. Biederstaedt und Görß kamen auf mich zu. Sie schauten mich sehr freundlich an: Du bleibst! Einstimmiger Beschluss.
Ausgerechnet die vier Nichttrinker traf es.
Neumann, Milster, Sablotny, Müller. Fast ihr ganzes Leben hatten diese vier als Fänger zwischen offenem Himmel und bewegten Wassermassen zugebracht. Aus! Mit einem Mal wurden sie für immer an Land gesetzt. So sahen sie auch aus, als sie das Urteil entgegen nahmen, wie unglückliche Vögel, die besser schwimmen als laufen konnten.
Für die vier über Fünfzigjährigen erhob sich damit dieselbe Frage, die mich schwer bedrückt hatte. Was nun?
Selbst wenn ich freiwillig verzichtet hätte, wäre nur einer gerettet worden.
Doch welcher Name folgte als fünfter?
Das stünde noch offen.
Von einem Tage zum anderen verloren vier Prachtkerle ihren Traumberuf.
Mit Feuereifer verlegten wir Restlichen uns auf den Herbstfang.
Görß hatte die Handwinden umgebaut. Motoren zogen nun die Netze. Folglich konnten die Netze größer werden.
„Richtig!”, bestätigte Fritz Reiniger. „Genau das werden wir jetzt machen.”  Was bis dahin fast ängstlich vermieden wurde: ein Zugnetz von der ungeheuren Länge von zweimal siebenhundert Meter Länge wurde aus vielen schlecht zueinander passenden Teilstücken zusammengesteckt. Damit gingen die Erfahrenen das Risiko ein, es in den Morast zu fahren und zu zerfetzen. Aber angesichts der noch nicht gebannten Katastrophe widersprach niemand. Bloß noch sechs Wochen, dann kam der Winter.
Es musste gewagt werden auf der Lieps mit einer Gesamtlänge von mindestens 1 400 m Netz zu fischen. Die Lieps ist flach, nur zwei bis höchstens zweieinhalb Meter tief, ihr Untergrund von weicher, toniger Beschaffenheit. Wenn Wadenstücke von dieser Länge eingesetzt werden, muss die Unterleine so präpariert sein, dass die Beschwerungssteine sie während der Zugphase nicht ins Bodenlose hinabreißen. Das leichte Zeug gehörte in den Sackbereich, das schwerere nach vorne. Das Unterwassergewicht der Leinen und der Netzteile muss beachtet werden.
Sonst kann es passieren, dass die Drahtseile wie Zwirnsfäden reißen. Statt einer Tonne Last zerren unter Umständen drei- vierfache Kräfte an den Windentrommeln und können sie aus der Verankerung katapultieren. Das kann zu tödlichen Unfällen führen. Vorschriftsmäßig, nachdem wir es ausgerudert und ausgesetzt hatten, kam das riesige Umfassungsnetz im Halbkreis heran. Der beste Großzug, Lohwiek genannt, war von den alten Meistern ausgewählt und angelegt worden. Wir spürten den gewaltigen Druck, der auf dem Drahtseil, dann auf den Dederonleinen, lag.
Es kam der Augenblick des Netzeinholens.
Große Fische erschienen auf den Seitenstücken des Garns. Ein gutes, stets mit Spannung erwartetes Omen. Wir ahnten nicht, dass in vierhundert Metern Entfernung ein Teilstück des Zugnetzes bereits zerfetzt worden war. Auch hatten wir noch keine Erfahrungen mit den gerade aufkommenden synthetischen Leinen, die sich, noch nicht mit dem Zusatzstoff Lanon als Antidehnungsmittel versehen, wie ein Gummiband strecken ließen. Da es im Fortgang nicht zur Entspannung der Leinen kommen konnte, speicherte sich der Druck auf den Trommelwinden. Das wäre nicht weiter schlimm gewesen, hätte sich dieser Gesamtdruck nicht auch auf die Seiten, auf die Führungsscheibe der Windenrolle ausgewirkt.
Mit Krachen und Tosen eines Paares jäh aufeinander gedröhnter Schellenbecken riss nach einer halben Stunde die sechzig Zentimeter breite Führungsscheibe von der Trommelwinde meines Arbeitskahnes ab. Einige Schlaufen der Windenleine rutschten hart klatschend auf die Antriebswelle. Augenblicklich würgten sie den Motor ab.
Nun war guter Rat teuer. Eine Schnellreparatur unmöglich. Von Hand ließ sich der immer noch beträchtlich lange Rest des Zugnetzes nicht einholen. Wechselseitig musste nun die Winde des anderen Kahnes das Netz heranziehen. Dieser Umstand änderte die Winkel.
Die Netzwände wurden nun gegeneinander bewegt. Sie klappten zusammen. Die Fische, die sich im Umfassungsbereich aufhielten, fanden keinen Raum mehr, sich frei zu bewegen. Statt sich im Wadensack, der sozusagen als Sammelbehälter dienen sollte, zusammen zu finden, zwangen die Umstände die eingekreisten Fische im Aufzugsbereich unter den Zugnetzleinen und wo sonst noch möglich auszubrechen.
Hätten wir aufgeben sollen? Es dunkelte bereits, als die letzten Netzteile eingeholt wurden. Da erst bemerkten wir die zerfledderten Netzteile. Sämtliche Fische werden durch diese riesige Lücke geflohen sein.
Das mussten wir annehmen und befürchteten. Umso größer die Überraschung. Wir bemerkten, dass der Wadensack breit dalag. Das bedeutete, wir hatten allen Widrigkeiten zum Trotz wahrscheinlich gut gefangen. Biederstaedt lobte Wilhelm Bartel, der in den Wadensack eine “Kehle”, gewissermaßen einen Trichter aus raffiniert geschnitten Netzstücken eingebaut hatte. Wenn sich eine bemerkenswerte Menge Fische im Sack befinden sollte, dann mussten sie sich vor dem Zusammenschlagen der Netzwände, sogar vor der Zerfetzung unserer Netzseite dort eingefunden haben. Ich sah aufgeregt wie es “qualmte”. Große Fischmengen wühlen und wirbeln über weichem Seegrund die Morastmassen auf. Das war allemal ein sicheres Zeichen für beachtlichen Erfolg. Wie sich herausstellte, hatten wir fast zwanzig Zentner Hechte, Zander sowie große Karpfen und Brassen gefangen, dazu stattliche Barsche sogar Schleien. Bis es völlig dunkel wurde, kescherten wir die Qualitätsfische aus dem unversehrten Wadensack und freuten uns wie Schuljungen, die unverhofft statt einer Fünf auf dem Zeugnis ein Lob bekamen.
Dieser unter enormen Handlungsdruck ausgewählte Wadenzug und einige andere halfen uns zu überleben.
Otto Görß allerdings überraschte uns. Er kündigte anderntags. Er nannte uns seine Gründe nicht. Vielleicht suchte er eine größere Aufgabe.
Görß wurde DDR-bester Raupenbaggerfahrer, das und wenig später die Anzeige von seinem plötzlichen Tod, lasen wir in der Zeitung.
Wäre uns nach diesem Zufallszug nicht gelungen eine Wende herbeizuführen, hätten die Oberen des Bezirkes die Produktionsgenossenschaft werktätiger Fischer “Tollense” wahrscheinlich liquidiert. Benachbarte Betriebe wie die Genossenschaft “Müritz”, mit Sitz in Waren, hätten uns übernehmen müssen. Dann wäre es mit unserer Selbständigkeit aus gewesen. Wir hätten uns den Weisungen Fremder fügen müssen. Dann wäre aus der Oase Fischerei für mich ein Arbeitsplatz wie jeder andere geworden. Deshalb schwor ich mir, mich dafür einzusetzen, dass wir nie wieder in eine ähnlich gefährliche Situation geraten würden. Ich träumte von meiner Unabhängigkeit.
Doppelt dringlich hieß es deshalb, das kommende Jahr gut vorzubereiten. Nicht eine einzige Chance, die sich uns bieten könnte mehr zu fangen, durfte ausgelassen werden.
Erster Schritt dazu war die vermehrte Produktion hochwertiger Fanggeräte.
„Ein Fünftel des Umfangs ist die Kehlenlänge!”
Diesen Grundsatz der damals üblichen Reusenherstellung bläute mir Wilhelm Bartel ein. Er war der erste von zehn, die ich lernen musste, ehe ich mit dem Messer ins maschinengestrickte Maschenzeug hineinschneiden durfte.
Ich musste und wollte lernen große Geschirre anzufertigen. Man hat ja nur weiße Netzballen vor sich liegen. Wie ein Schneider steht der Fischer vor den nicht weiter vorbereiteten Stoffbahnen. Ich lernte, dass man durchgehende Diagonalschnitte anwenden kann, um dann durch Zusammenstricken der nun um 90 Grad gedrehten Teilstücke aus den großen Rechtecken mit ursprünglich rhombisch stehenden Maschen quadratisches Ausgangsmaterial herzustellen. Daraus resultieren bei entsprechender Berechnung Reusensysteme, die nicht von Rundbügeln sondern nur mittels Leinen offen gehalten werden.
Zum ersten Mal in meinem Leben arbeitete ich auch an Sonnabenden bis zehn Uhr abends. Als wir die Reusen nach Eisabgang Anfang April in den See einbauten und wenig später die Bungen auf dem Barschberg auslegten, konnte ich in den ersten Nächten vor Aufregung kaum einschlafen.
Was brachte uns die neue Wirtschaftsweise ein?
Ich rechnete vom ersten Fangtag des neuen Jahres gewissenhaft mit. Frei bleiben hieß, ich musste Erfolg haben.
Bald darauf kamen Brassen aus der Mode. Kaum jemand interessierte sich für Fische dieser Art. Aus Hausfrauen waren nahezu ausnahmslos Werktätige mit Kantinenverpflegung geworden. Wer außerdem wusste noch, welche Köstlichkeiten aus entgräteten Bleien zubereitet werden konnten?
In der Entwicklung der DDR hatte es jedoch einen Sprung nach vorne gegeben. Das wirkte sich mehrfach positiv aus. Immerhin schrieben wir schon das Jahr 1959.
Wir neun Fänger erzielten zum ersten Mal seit Jahren einen nennenswerten Überschuss, nämlich vierundzwanzigtausend Mark. Das ergab eine Barauszahlung für jeden von 2400.-Mark. Was das bedeutet, kann nur ermessen, der weiß, dass DDR-weit Spezialisten in der Industrie erst seit Januar 1956 durchschnittlich 437 Mark monatlich verdienten.
Nun, da wir fünfhundert Mark Monatslohn nach Hause trugen, begannen auch die ersten von uns an mehr, viel mehr an sich selbst und damit an eine kommunistische Zukunft zu glauben.


Zwischen Anspruch und Wirklichkeit


Gruß, nun Besitzer eines neuen Motorrades trat als erster der SED bei, ich glaube, mit ehrlicher Überzeugung.
Er wurde nie wieder wankend. Die anderen Männer in unserer Fischerei fühlten sich vor allem von der plumpen Propaganda und von Agitatoren wie dem Rundfunkkommentator Karl-Eduard von Schnitzler abgestoßen.
Das Ostradio nahm seine, ihm vom Parteiapparat vorgegebene Aufgabe immer sehr ernst: Ohne SED-Begleittöne hätte kein LPG-Bauer auch nur eine einzige Kartoffel richtig legen können. Das Granulieren von Superphosphat war ein Schlag gegen den Imperialismus. So der Bauernfunk, so stand es auf den Plakaten geschrieben. Der Bäcker sollte morgens um drei Uhr beachten, dass die DDR der bessere deutsche Staat war. Undenkbar, dass bei uns ein Handwerkergeselle politisch unmotiviert arbeiten konnte. Wenn der Dreher aus einem Rohling eine Präzisionswelle herausspanen wollte, dann konnte ihm das nur gelingen, weil er den Frieden liebte.
Lückenlos dehnte sich das Propagandanetz über unseren zweifelnden Häuptern aus. Die Wolken der Ideologie, die uns stets einhüllten  waren gefüllt mit Banalitäten, Lügen und Verheißungen auf das in kommunistischer Ferne liegende Paradies.
Schüler lernten im Fach Mathematik die DDR lieben, weil sie  angeblich berechenbar sei. Ihr Anspruch war, der erste Friedensstaat in der deutschen Geschichte zu sein, was sie aber nicht daran hinderte die militärische Aufrüstung mit äußerster Kraft voran zu treiben. Es hieß allemal: der Friede muss bewaffnet sein.
Nur, wenn die Sechzehnjährigen die zehnte Klasse der polytechnischen Oberschule verließen und mit der rauen Realität des sozialistischen Alltags konfrontiert wurden, erlitten nicht wenige einen Schock.
Altkommunist Hermann Göck wünschte sehr, dass wir uns an Horst Gruß ein Beispiel nehmen sollten und der Partei beitreten. Für ihn war es unfassbar, dass wir werktätigen Genossenschafter hartnäckig bei unserm Nein blieben.
Natürlich muss es an feststehende Grundsätze geknüpfte Ideen geben. Aber niemals dürfen Prinzipien schließlich wie sausende Knüppel wirken.
Es können logischerweise nur die kombinierten Ideen von der Unantastbarkeit der individuellen Entscheidungsfreiheit und der liebevollen Wahrhaftigkeit sein, die uns helfen, glücklicher zu werden.
Ausgerechnet ein Altgenosse bewies mir, dass ich mich in diesem wichtigen Kritikpunkt nicht irrte. Ernst Kay, hieß dieser Mann, ein durch Schicksalsschläge klug gewordener Junggeselle, der mir bestätigte, dass wir ein Organ für die Wahrheit haben. Er wusste um eine für unser aller Urteilsfähigkeit höchst wichtige Sache.
Etwa Jahrgang 1900 gehörte er der Werkleitung des Panzerreparaturwerkes Neubrandenburg an, genannt RWN. Er war für den Bereich innere Sicherung mitverantwortlich und wenn wir am Ostufer des Tollensesees fischen wollten, begleitete er uns häufig. Er oder einer seiner Männer ‚bewachten’ uns. Groß und hager kam Ernst Kay auch an jenem Frühlingsmorgen des Jahres  ’59 daher. Er wirkte fast zerbrechlich und schritt doch sicher. Fest setzte er die langen Beine auf den Boden der Tatsachen. Ernst war mehr als hager. Er ging leicht gebückt.
Aus kleinen, mausgrauen Augen schaute er offen in die Welt. Ihm machte man nichts vor. Unausgesprochen hieß das: Ich, Ernst Kay, bleibe, wer ich bin. Zahllose Riefen und Kniffe kreuzten die gebräunte Haut seines langen, schmalen Gesichtes, dessen kämpferischer Ausdruck für einen Kommunisten typisch zu sein schien. Er trug an diesem frischen Morgen eine graue, ein wenig zu große Schiebermütze. Sie hing auf seinem linken Ohr. Ernst konnte sowohl unentwegt reden wie auch ebenso wirkungsvoll schweigen. Die Hose baumelte so lose an seinem dürren Leib, dass man befürchten musste, es sei in diesem Stock kaum Leben. Aber man täuschte sich. Seit fast drei Jahren kannte ich ihn. Sein Sohn war so alt wie ich. Vielleicht gab das den Ausschlag. Vielleicht hätte er mich sonst gar nicht beachtet. Denn er konnte ziemlich schroff werden, wenn ihm jemand nicht gefiel.
Der Kuttermotor dröhnte. Der neue, grüne Kutter aus Lärchenholz gebaut, setzte sich wieder in Bewegung. Das Wasser spritzte.
„Na!”, fragte Ernst, „wü geiht di dat, mien Söhn?” 155 Vielleicht gefiel ihm, dass ich ihm gern zuhörte. Ich musste hören, ich musste wissen. Irgendwann ist der Tag herangerückt, an dem man es genau wissen will.
Ob es die Zeitung dieses Tages war oder ob ich sie für den Zweck aufgehoben hatte, ihm eine wichtige Frage zu stellen, weiß ich nicht mehr. Dass ich ihm das ND mit einer gewissen Schlagzeile vor die Nase hielt, ist wahr.
Da verkündigten die Lettern: „Nikita Sergejewitsch Chrustschow: Für eine Welt ohne Waffen!” Ernst Kay warf nur einen müden Blick auf die Schlagzeile. Mit jener ungeheuren Selbstverständlichkeit, die gewisse Wirklichkeiten eben begleiten, grummelte er nur zwei knappe Worte heraus: ”Hei lücht!” 156
Auch ich war vom Text beeindruckt worden, ich war im Begriff gewesen, Chrustschow Glauben zu schenken!
Wenigstens guten Willen wollte ich ihm unterstellen.
Hei lücht! Ernst schaute mich unnachahmlich an, ein wenig spöttisch und überheblich, aber auch fragend und vieldeutig. Was ist? Du wolltest doch die Wahrheit von mir hören oder etwa nicht?
So dumm bist du doch nicht, mien Söhn! Wie überrascht ich war, von einem Mann der sich selber als Kommunisten bezeichnete, zu hören, dass er seinem Generalsekretär kein Sterbenswörtchen abnahm. Das sah mir der alte, kluge ‚Genosse’ gewiss an. Gleichmütig, als gieße er ein Glas Wasser in den See, erklärte er: Weder Trotzki noch Lenin, kein Tuchatschewski und niemand im Politbüro der KPdSU hätten jemals, in Friedenszeiten, dermaßen brutal auf militärische Rüstung gesetzt wie Chrustschow.
Die Vokabel ‚brutal’ drang in mich wie kalter Wind durch die Haut.
Diese Vokabel stand aber auch vor mir wie ein Bandit mit einem Schlagring.
Ich fasste noch einmal nach, doch Ernst Kay verweigerte sich mir diesmal. Er langte in seine Jackettasche, holte eine kleine Flasche heraus.
Seelenruhig und mit dem Ausdruck der Erwartung von sehr Gutem schraubte er die silbern schimmernde Kappe ab. „Prost!” Er trank etwas, das wie Wasser aussah. Ernst Kay betrachtete den Rest des Inhaltes traurig und steckte das durchsichtige Gefäß zurück, wo er es hergeholt hatte. Aus Frauen und Militärs mache er sich nichts mehr. Für ihn sei die pünktliche Einnahme seiner Seelenmedizin immer noch das Wichtigste. Ob wir viel fingen an diesem Tage weiß ich nicht mehr. Ich vermute, ich vergaß über Ernst Kay die obligatorische Eintragung ins Fangbuch.
Darin hielt ich sonst fest, was wir wo unter welchen Wetterbedingungen gefangen hatten. Vor meinen inneren Augen sind zwei stattliche, grünrot schimmernde Barsche. Die nahm Ernst Kay mit, um sie sich auf seiner Jungegesellenbude im RWN zu braten. Mehr brauche er nicht, einer war zuwenig, drei zuviel. Ernst winkte kategorisch ab. Immer mit nicht gerade kleinen Gesten.
Das war er. Wie ein Rohrspatz konnte er auf die Kapitalisten schimpfen. Er vergaß jedoch nie seinen eigenen Genossen einen Satz ins Stammbuch zu schreiben. Der lautete: „Ji sünd uk nich better!” 157
So war das Leben. Wer sich nicht selber disziplinierte, der hatte keinen Anspruch auf ein Lob von Ernst Kay.
Er ließ sich nicht beirren, im Osten gäbe es nicht weniger Schweinehunde als im Westen. Wer sollte sie gebessert haben? Er schob sein Kinn nach vorne. Ernst Kay kannte die Welt. „Hauptsok ick!” 158
Das verstand ich. Ihn ärgerte das. Jeder war sich hüben wie drüben der Nächste. „Ümmer ihrlich blieben!” 159, pflegte Ernst zu sagen.
Ehrlich gesagt, er wird so manches Mal angeeckt haben.
Kritische Genossen hatten nie einen leichten Stand. Sie mussten mit dem Grundkonflikt leben, ihre Ehrlichkeit gegen die unrichtige Behauptung der Partei zu stellen, sie handele stets im Auftrage des werktätigen Volkes. Deshalb war der Anteil halbabtrünniger Altgenossen so hoch.  Tatsache war ebenfalls, dass Nikita S. Chrustschow auf diese Weise in unsern Köpfen eine Hauptrolle spielte. Fast süchtig, sammelten wir biographische Daten wie diese: während seiner USA-Reise 1959 schloss er bei der Besichtigung einiger Musterfarmen leichtfertig Wetten ab und verlor sie.
Seine Bauern hätten noch bessere Maissorten, noch schönere Pferde gezüchtet. Chrustschow konnte nicht gewinnen. Er war das Opfer der Ungenauigkeiten seiner Biologen und seiner eigenen Chefideologen.
Die ihn begleitenden Landwirtschaftsfachleute staunten, als sie die amerikanische Kleintechnik sahen. Ein einziger Mann und nur ein Traktor schnitten, trockneten oder verluden und transportierten und entluden riesige Heumengen. Mit Zollstock, Bleistift und Papier bewaffnet begaben sich seine Fachberater an die Heuerntefront. Von Feinden lernen, heißt siegen lernen. Fest stand für uns, soweit hatten sie uns im Verlaufe der zurückliegenden anderthalb Jahrzehnte überzeugt, dass nur eines der beiden Systeme überleben würde, nämlich das bessere. Professor Beier Red zeichnete damals eine Karikatur, die voll ins Schwarze traf. Sie erschien erst später im “Neuen Deutschland”, dem offizielle Organ der SED, das faktisch jeder Betrieb zu halten verpflichtet  war. Groß aufgeschlagen sehe ich das Blatt auf  dem Universaltisch der Fischereigenossenschaft liegen: Beier-Red’s Zeichnung zeigte  einen auf dem Nordpol des Globus!  sitzenden  Rotarmisten  mit seiner Budjonnymütze. Der hat den Schaft der mit Hammer und Sichel bestückten roten Fahne in den  Bauch der Mutter Erde gesteckt. Ausschließlich der Kommunist besitzt das Überlebensrecht. Kess lächelnd teilt der von seiner Mission restlos überzeugte Bolschewist diesen unabweisbaren Anspruch Uncle Sam mit.
Der Ami kratzt sich sorgenvoll den Kopf. Er kann es nicht und soll doch begreifen, dass statt der Freiheitsidee die Frechheit siegen wird. Der Russe macht, dass der Kapitalist abrutschen und verschwinden muss. Der Erdball, den Beier-Red zeigt, bietet nur einem die Bleibemöglichkeit. Die westlichen Imperialisten sind laut Lehrbuch des Marxismus-Leninismus dazu verurteilt, den Globus zu verlassen. So, angeblich, will es das Gesetz des gesellschaftlichen Fortschritts.
Die rote Fahne für das Kapitol in Washington ist schon gestickt, so wie einstens Adolf Hitler ein bisschen verfrüht, den Siegesmarsch für den Einzug seiner Räuberbande in Moskau komponieren ließ.
Um eben die Verwirklichung dieses Zieles der erfolgreichen Weltrevolution   ging es.
Deshalb herrschte ‘kalter Krieg’.

Ob wir Fische fingen oder sie sortierten. Dieses unverschämte Trachten nach Weltvorherrschaft bezog uns DDR-Bürger intensiv ein. Tag und Nacht, bei jeder Nachricht beschäftigte und beunruhigte es unseren Geist. Manchmal - wenn ich nicht gewusst hätte, dass der Mensch sich an nahezu jeden Zustand zu gewöhnen und anzupassen vermag - wäre ich an mir selbst irre geworden und hätte an meinem Verstand gezweifelt.
Denn, obwohl permanent die ernste Ursache bestand, das Schlimmste - den Atomkrieg - zu befürchten, fühlten wir uns bei der Arbeit und zu Hause häufig wohl.
Ein Widerspruch, den man erlebt haben muss, um ihn verstehen zu können.
Vor allem, wenn wir frühmorgens bei herrlichstem Wetter und bildschöner Umgebung zum Fischfang hinausfuhren oder wenn wir während der Arbeitszeit die Schönheit der Natur genossen, uns sonnten und uns des manchmal auch faulen Lebens erfreuten, während der kleine Kutter uns mühelos über das Wasser beförderte, fragte ich mich, womit ich das verdient hatte, inmitten des sich dramatisch zuspitzenden Großgeschehens glücklich zu sein.
Ich erinnerte mich dabei einmal dieses Bildes der russischen Lehrerin Irena. Durch ein blühendes Feld blauer Kornrade und roten Mohns geht sie, pflückt ein paar Blumen. Es ist der frühe friedliche Morgen des 21. Juni 1941. Sie hat einen weiten Weg bis zu ihrer Schule vor sich. Sie singt. Sie ist verliebt. Sie wird geliebt.
Dreihundert Meter von ihr entfernt liegen, von Büschen und Strauchwerk geschützt und versteckt, mehrere hundert deutsche Panzer.
Sekunden später befindet sie sich in der Hölle zwischen platzenden Granaten und dröhnenden Todesmaschinen. Die exzellente sowjetische Filmkunst unterschlug uns hier, dass Irenas Geschichte in Wladimir-Wolynskij spielte, nahe dem Bug. Nämlich, dass es sich hier um das Gebiet handelte, welches die Rote Armee im gemeinsamen Krieg der Sowjetunion und Hitlerdeutschlands gegen Polen erobert hatte.
Als Neunjähriger sah ich in Wolgast im Kino die Bilder der Wochenschau. Nie wieder vergaß ich diese enorm beeindruckenden, ganz offensichtlich ungestellten Szenen der Verbrüderung. Deutsche Wehrmachtsangehörige und sowjetrussische Armeeoffiziere umarmten sich als Waffenbrüder am Bug. Später vervollständigte sich mein Wissen: Hitlers SSler und Stalins GPU-Kommissare reichten sich auf Kosten Polens als gemeinsame Verbrecher an Polen freundschaftlich die Hände, und sie gaben und nahmen der SU unliebsame Kommunisten, wie Margarete Buber-Neumann, entgegen und sperrten sie in deutsche KZ ein.
Wie oft hatte ich mich an diese unterschiedlichen, unwiderruflich in meinem Gedächtnis gespeicherten Szenen erinnern müssen.
Einerseits hofften wir, dass uns ein besseres Schicksal beschieden sein würde als den damals Lebenden, andererseits schürte die DDR-Presse die Kriegshysterie 1959 erheblich.
Am 01. Juni schrieb ND: „KPD fordert Verzicht auf Gewalt”. Am nächsten Tag hieß es dort: „Westberliner Spionagezentrum von unschätzbarem Wert (für die Kapitalisten)”, aber, ... „es ist militärisch nicht zu verteidigen”... „Franz Joseph Strauß lässt zivile Fahrzeuge für den Tag X erfassen”.
Unentwegt sollten wir befürchten, dass uns der 3. Weltkrieg unmittelbar bevorstünde. In derselben Presseausgabe hieß es in einem Artikel von Lothar Bolz: „Westberlin darf nicht länger Pulverfass sein.” Was nicht anders zu verstehen war, als dass man ein Pulverfass durch eine schnelle Aktion unter Wasser setzen muss.
Am 14. Juni schrieb ND: „Den deutschen Militarismus bändigen.” Einen Tag später im selben Tenor: „Bonn soll Atomrüstung einstellen!”
Chrustschow befragt, wem er denn die 20 Megatonnenbombe, deren Prototyp er damals in der Arktis zündete, zugedacht habe, antwortete unverfroren: „Amerika!“ Solche Drohung schockierte nicht nur die Amerikaner.
Ich aber erinnerte mich der Worte des Altkommunisten Ernst Kay.
Am 17. Juni prangten die schwarzen Lettern im ND: „Empörung über Adenauers Kriegskurs!”
Wenig beruhigend die Kommentare der NVA Offiziere: „Wir sind
zum Kampf bereit!” Ich fragte nach.

Die Antwort, gegeben in einer Gaststätte, lautete: „Mein Körper gehört der  NVA der DDR!” Das machte Angst. Bis einer schallend lachte: „Klar! Von Geist keine Spur!”
In eben diesen aufregenden Sommertagen 1959 gerieten uns auf einem Wadenzug in Höhe Tollenseheim einige hundert Stück Silberlinge ins Netz. „Das sind Maränen!”, erklärte Fritz Reiniger.
Er fügte nachdenklich hinzu: „Sind sie also doch hochgekommen!”
Damit spielte er auf die verwirklichte Idee der Doktoren des Institutes für Binnenfischerei und auf Eduard Jochims Überzeugung an, der 1955 mit Mitteln des Rates des Bezirkes 5 Millionen Maränenbrütlinge in den Tollensesee einsetzen ließ.

Niemand konnte bis dahin ernsthaft daran glauben, dass von den in ein Eisloch eingelassenen Millionen, nur wenige Millimeter langen, wie Glas durchsichtigen, hochempfindlichen Maränchen, auch nur ein einziges überlebt haben könnte.
Denn allemal kommt, selbst unter günstigeren Umständen, von etwa zwanzigtausend geschlüpften Fischchen in der Natur nur ein einziges Exemplar weiter. Wären es mehr, würden die Anzahl Fische sich jährlich verdoppeln, was nur ausnahmsweise geschehen darf. Das biologische Gleichgewicht würde empfindlich gestört werden. Lediglich durch Verzögerung des Schlupftermines in Fischbrutanstalten lassen sich diese drastischen Verluste reduzieren.
 
Stefan Schmid, Bernried, Österreich - Große Maräne- 


Die Embryonen, gleichgültig, ob sie auf dem Seeboden liegen oder in so genannten Zugergläsern künstlich erbrütet werden, zeigen ungefähr im Februar ihre Augen. Durch die dünn gewordene Eihaut hindurch schimmern die von einem kleinen Silberring eingefassten schwarzen Punkte. Dieses Augenpunktstadium wird nach dreiviertel der Embryonalentwicklungszeit erreicht. Sie wälzen sich dann bereits in ihrer anscheinend gemütlichen, wenn auch recht engen Behausung. Sie drehen und wenden sich. Mit der Lupe betrachtet sieht man ihr winziges Herz schlagen und schon bei fünfzigfacher Vergrößerung erkennt der Beobachter die grünlich schimmernden Blutplättchen durch die unsichtbaren Adern schwimmen.
Wilhelm Bartel nahm, als wir die Kleinen Maränen auswogen, einen der Silberlinge in die Hand. „Gut gewachsen!”, bemerkte er und betrachtete den runden Rücken der ungefähr hundertundfünfzig Gramm wiegenden fangreifen Fische und nickte.
„Geeignet!”, sagte er, in einem Tonfall der an übertrieben salbungsvolle Worte eines evangelischen Geistlichen erinnerte. Er schaute mich an. Ich spürte, das war ein gewichtiges Wort. „Du wirst sehen, dass wir mit der Zeit zu Maränenfischern werden.” Bis zehn Prozent der angelandeten Gesamtfischmenge könnten dann Maränen sein. Denn wenn ein Gewässer seine Eignung für eine bestimmte Fischart erweist, dann bietet es dieser auch die Chance, im Kampf ums Dasein zu dominieren.
So weit zu kommen, ist nicht leicht. Denn so genannte ökologische Nischen gibt es in intakten Seen kaum. Die sind normalerweise besetzt. Wenn Bartel Recht behielte, würden wir eines Tages mit Kleinen Maränen als bedeutendem Wirtschaftsfisch rechnen können. Jahresfänge über 20 Tonnen dürften wir einplanen. Er wies auf die Fettflosse: „Das macht sie zu den Lachsartigen, geräuchert sind alle Fettflossenträger eine Delikatesse.”
Noch waren es nur vage Hoffnungen und der Fang von dreihundert Stück Maränen blieb nur ein kleines Ereignis.
Wir hofften jedoch…


Das Jahr ‘61 kam herauf


Am 22. April hielt ich in meinem Tagebuch zwei Bemerkungen fest:
„Bezirksfischmeister Eduard Jochim ging in seinem politischen Referat anlässlich der Quartalsversammung weniger auf den Fischfang ein, als auf das Ereignis Weltraumfahrt. Eduard sprach feierlich von einer ‚Großtat der Sowjetunion’: Major Juri Gagarin war als erster Mensch am 12. April in den Orbit geflogen.“
Zweitens: Der wichtigste Beschluss der Mitgliederversammlung lautet: Wer am 1. Mai mitmarschiert, erhält 25,-Mark.
Wir marschierten wegen der 25,- Mark.
Aber das ist nur die halbe Wahrheit.
Wir Fischer gingen auch zur Maiparade, weil dieser Tag seinen eigenen Reiz auf den ausübte, der mitmachte. Es herrschte immer für einige Stunden richtige Feststimmung.
Auch wenn in diesem Jahr die Apfelbäume am ersten Maientag nicht in voller Blüte gestanden hätten, wäre er mir in Erinnerung geblieben.
Denn am Vorabend war ich zum ersten Mal als Aktivist ausgezeichnet worden.
Einen Augenblick lang war ich am Morgen versucht gewesen, meinen ‚Orden’ anzulegen.
Erika sah mich vor dem Spiegel stehen, als ich das braunrote Band mit dem Metall dicht ans Revers meines neuen Anzuges hielt. Während ich dachte: Soll ich oder soll ich nicht? schmunzelte sie mich halb spöttisch, halb anerkennend von der Seite an. Sie legte ein paar kleine Falten in ihre helle Stirn. Ihre Augen lachten.
Das hieß ihrerseits, wenn du es tust, ist es ein Kompliment an das System der Kommunisten, ich denke, dass du es so nicht haben willst! Oder?
Na ja! Alles ist ja wirklich nicht schlecht. Die Solidarität und so...
In diesem Augenblick kam die Moskauer Militärparade in meine gute Stube hineingeflimmert.
Von einem mit schweren Ordensleisten behangenen Marschall der Sowjetunion wurde die Tageslosung verkündet: „Bereit zur Verteidigung des Friedens”. Aber ich wusste was das bedeutete. Dieser Friedenskampf, den die Kremlherren meinten, würde mehr als doppelt so viele Opfer fordern, wie die beiden Weltkriege zusammen. Da machte es gar nichts aus ob dieser Kampf des Friedens oder des Krieges wegen stattfand. Die ruhmreichen Garderegimenter marschierten auf, die Elitedivisionen, die Offiziersschüler der berühmten sechsten... alles in meiner Wohnung. Sie paradierten hingebungsvoll und exakter als die Preußen, starr die kaum ruckenden Köpfe zur dicht besetzten Empore des Leninmausoleum ausgerichtet. Ihre Arme schwenkten nicht. Ihre in makellos weißen Handschuhen steckenden Fäuste berührten die ihrer Nebenmänner. Nikita Sergejewitsch winkte freundlichst herunter. Die SU ist auf Friedenskurs! O, je!
Des Marschalls Parole, die er stark akzentuiert ins unsichtbare Mikrofon hineinrief, bewegte mich sekundenlang. Es imponierte vielen. So haben die Welteroberer zu allen Zeiten mit ihren Säbeln gerasselt. Ihr bemannter Weltraumflug war nichts weiter als der Ausdruck ihres mit ungeheurer Anstrengung erzielten Vorlaufes im Rüstungswettbewerb. Deshalb die im Morgensonnenschein glitzernden Langstreckenraketen...
Schließlich verzichtete ich, mir ‘was ans Jackett zu heften.
Hermann Göck stand an diesem lauen und blauen Maienmorgen neben einem oder zwei sowjetischen Generälen mit ungefähr einhundert anderen Prominenten auf der Haupttribüne. Viele der Leute da oben hatte ich noch nie gesehen.
Diesmal befand sich das Gerüst auf halbem Wege zwischen der Johannis- und der Marienkirche, in der Thälmannstraße. Aus seinem Hintergrund ragte ein großer Baukran hervor. Von dessen langer Trosse hing ein Seil bis einige Meter über dem Erdboden herab und an ihm befestigt eine rote, riesige Papiernelke. Es war der Ort der späteren Grundsteinlegung für den “Kulturfinger“.
Natürlich sahen wir zu Hermann Göck auf. Er hielt die geballte Linke in die Höhe. Wir Fischer schauten uns gegenseitig fragend an. Wenn wir ihm zuwinkten, dann hielt er das für ein Bekenntnis, unterließen wir den Gruß jedoch, dann missachteten wir ihn. Also winkten wir. Immer war auf solchen Großveranstaltungen beides miteinander vermischt, echtes und unechtes Pathos, Bewundern und  Prahlen. Am neuen “Vier-Tore-Hotel” scherten die meisten Demonstranten aus. Ich auch. In Höhe der Edwin-Hoernle-Buchhandlung fand ich eine gute Position. Um mit der AK 8 filmen zu können, musste ich mich vordrängeln.
Eine Papprakete wurde im Festzug gefahren. Drinnen saß jemand. Er sollte einen Kosmonauten darstellen.
„Eifern wir Juri Gagarin nach!”, schallte es über die Lautsprecher. Die Stimme des Reporters überschlug sich fast: „Der neue Mensch ist in seiner reinsten Form erschaffen worden.” Hatte ich mich verhört? „Vorwärts zu den lichten Höhen des Sozialismus.”
Dazwischen tönten Siegesmeldungen von der Produktionsfront, Maurer marschierten auf, hinter ihnen rollten die farbigen Hausattrappen her. Fleischer in weißen Blusen und roten Schärpen, darunter die Lederscheiden für ihre Messer. Beide Kapitäne der Neubrandenburger Fahrgastschiffe kamen in tiefem Marineblau. Horre, sünd wie Kierls! 160
Kinder mit blauen Pionierhalstüchern begleitet von Lehrern fuhren fröhlich winkend auf ihren mit frischem Birkengrün geschmückten Fahrrädern an uns und den Ehrengästen vorbei.
„Ein Lied geht um die Welt” Das Lied vom Frieden.
„Der Friede muss bewaffnet sein!”

Eine Hundertschaft Volkspolizei klapperte auf den harten Hacken ihrer neuen Stiefel mit ihren MP über das Pflaster, während aus dem Hintergrund immer neue Zehnerreihen Zivilisten heranrückten. Unter schmetternder Marschmusik näherte sich schließlich die Blaskapelle der NVA. Ihr voran schritt fest und sicher ein Hauptmann, die stattlichste Erscheinung auf dem Platz. Er ging wie seine Männer bedeckt mit seinem straff unter dem Kinn festgeschnallten Stahlhelm in blinkend neuer, feldgrauer

  Uniform. Er ahnte ganz gewiss nicht, dass er den nächsten Monat nicht mehr sehen würde. Er dirigierte mit forschem Gesicht wie ein Generalmusikdirektor.

Der ungewöhnlich zeitige Frühling 1961 mit seinen häufigen Nordoststürmen verbunden mit Wasserhochstand des Tollensesees sollte uns in diesem Mai eine besondere Überraschung bescheren. Gegen die Windrichtung, aber mit der Tiefenströmung in Richtung Oberbach und Ölmühlenbach wanderten, zum ersten Mal, seitdem ich Fischer geworden war, bemerkenswert große Aalbestände ab. Zu beträchtlichen Stückgrößen herangewachsen, ließen sich die kiloschweren geschlechtsreifen Aalweibchen und die gegen sie nahezu winzigen Männchen nicht mehr halten. Der ferne Ozean lockte sie unwiderstehlich an. Beide metallenen Aalfänge, sowohl der in der Vierrademühle als auch der andere im Bereich der ehemaligen Ölmühle stehende, gut gewartet und intakt fingen in allen mondschwachen April- und vor allem Maiennächten jeweils mehrere hunderte Kilogramm. Zweihundert Zentner insgesamt.
Nichts hatten wir zuvor von diesem Reichtum bemerkt, nicht einmal geahnt. Mit sicheren Instinkten ausgestattet überwindet der abwandernde Aal selbst vierzig Zentimeter hochgestellte Netzabsperrungen oder er findet längs der Vorfront zwischen den Gitterstäben, die zum System des Aalfanges gehören, seitliche Schlupflöcher. Die ungemein flinken Aale finden das kleinste Löchlein, wenn auch nicht jedes. Denn rasend schnell spielen sich die Ereignisse in der Dunkelheit ab. Der im abfließenden zuletzt vor dem Fangkasten in immer schneller strömenden Seewasser befindliche Aal hat nur zehntel Sekunden Zeit, um die winzige Chance zu Flucht zu erspüren und auszunutzen. Dennoch gelingt das erwiesenermaßen nicht wenigen. Fischer Blohm in Altentreptow, hinter diesen beiden Totalabsperrungen fischend, fing immerhin noch einhundert Zentner (sie wurden, da Fritz Blohm inzwischen unserer Genossenschaft angehörte, von unserer Buchhaltung korrekt erfasst.)  Also war mindestens einem von drei Aalen gelungen das komplizierte, nur scheinbar dichte Maschenwerk aus verflochtenen ein-Zentimter-starken Eisenstäben zu überwinden. Wahrscheinlich entkam auf dieselbe Weise jeder zweite Aal. Dann müssen in diesem Jahr und Frühling 1961 mindesten vierhundert Zentner stattliche Aale den Tollensesee verlassen haben. Ein Großereignis der Binnenseenfischwelt, das in ähnlicher Weise sicherlich nur zwei- oder dreimal in einem Jahrhundert geschieht


Der 13. August


Die Nachrichten der frühen Morgenstunden dieses Tages, vom SFB verbreitet, trafen mich hart.
Krachend war um Mitternacht die letzte Tür hinter mir ins Schloss gefallen. Die Letzte... Nie wieder würde ich frei sein!
Eine Situation und Erkenntnis , die mir schlagartig das ganze Ausmaß eines nicht wieder gutzumachenden Fehlers bewusst machte.
Gefühle der Menschen zog die entscheidungstragende Partei bei ihren taktischen Erwägungen und Aktionen selten oder nie in Betracht. Als Ausdruck dafür stand unter anderem diese überraschende Errichtung der Berliner Mauer. Wie bereits während der ein Jahr zuvor erfolgten Zwangskollektivierung der Landwirtschaft bewiesen ihre Köpfe uns, dass sie nicht daran dachten, uns jemals zu fragen, was wir dazu meinen, sondern dass sie rigoros ihre Vorstellungen, wie die Zukunft aussehen soll, durchsetzen werden.
Nicht nur mir schien, dass die Männer der Partei- und Staatsführung meinten, was sie sagten, wenn sie von ‚unseren’ Menschen sprachen. Bis Mitte August ’61 entflohen ihnen deshalb über eine Million Andersdenkender. Sie konnten und wollten mit der beängstigenden Abnahme ihrer Freiräume nicht weiter leben.
Nicht jeder war anpassungsfähig.
Ich sah während der Kollektivierungskampagne in Ballwitz den Mittelbauern J. der seine 50 Hektar Ackerland stets vorbildlich bewirtschaftet hatte. Seine Frau stand, als ich bei ihm in einer Versicherungsangelegenheit vorsprach, auf den Stufen des schlichten Wohnhauses.
Über ihr schlossen die Zweige zweier blühender, duftender Fliederbüsche. An ihrer Seite standen zwei kleine Kinder, die Muttis Finger umklammerten und die scheu zu mir aufsahen. „Ich lasse mich nicht zwingen!”, erwiderte der stattliche Dreißiger auf meine Frage wie er diese Entwicklung ertrage.
Drei Tage später stand sein Wohnhaus leer.
Tausende Mittelbauern ließen die Scholle im Stich, die ihre Vorfahren jahrhundertelang als stolze, unabhängige Bauern bewirtschaftet hatten. Undialektisch wurden diese vielen traurig Davongehenden von der gleichgeschalteten DDR-Presse obendrein als Republikflüchtige verunglimpft. Niemals lasen oder hörten wir ein Wort des Bedauerns und der Entschuldigung von denen, die diese Massenflucht verursachten. Zudem konnten nicht alle, die sich auf der Schattenseite des Sozialismus befanden, rechtzeitig fliehen. Noch einen Tag vor der Abriegelung Ostberlins gegen den Westen vertraute ich Polizeimeister Jochen Appel an, was mich an der DDR störte. Er gehörte zu den vielen Hobbyfischern, die so manche Gelegenheit nutzten, mit uns hinauszufahren.
Mich regte die innere Unredlichkeit auf, mit der sie uns nötigten, alle zwei Jahre an die Wahlurnen zu gehen. Sie führten genauestens Buch darüber, wer an den ‚Volkswahlen’ nicht teilnahm. Bei den Nichtteilnehmern konnte es sich nur um Feinde der DDR handeln. Ich betrachtete es als schlauen Trick und böse Manipulation der Partei, jede Wahl effektiv zu einer persönlichen Erklärung für oder gegen den Frieden der Welt zu erklären. Agitatoren der SED behaupteten unverfroren: „Wenn du für den Frieden bist, dann darfst du das doch offen bekennen. Nur wer gegen den Frieden ist, der kommt nicht oder er benutzt die Wahlkabine.“ Hatten die ihren Verstand und Gewissen gegen Geld verscherbelt? Solche Argumentation war kein Anzeichen für Schwachsinn, sondern für Gerissenheit. Millionen wurden am ‚Wahltag’ Zettel in die Hand gedrückt mit Namen von den ‚wählbaren’ Leuten, von denen jeder wusste, sie könnten, selbst wenn sie wollten, nie etwas anderes vertreten als Walter Ulbrichts Linie.
Uns blieb also keine Wahl.
Etwa 98 % der Bevölkerung sprachen sich so, in Zweijahresabständen, ‚für’ den bewaffneten Frieden aus.
Wie die zwei Prozent Mutigen es zustande brachten sich ‚gegen’ den Weltfrieden auszusprechen und trotzdem ruhig zu schlafen, ist mir immer unfassbar geblieben. Wer den Mut aufbrachte, die Wahlkabine zu benutzen, der verachtete auch die letzten Vorzüge, die ihm das ansonsten von der Partei reglementierte Leben noch bot.
Die Wochen und Monate vergingen, die Zeit milderte die Heftigkeit des unseligen Gefühls, nun lebenslänglich eingesperrt hinter der Mauer leben zu müssen.
Wir gingen Tag um Tag derselben immer neuen Arbeit des Zugnetzfischens nach. Es kam der November herauf. Wilhelm Bartel und ich wurden zum Rat des Kreises bestellt. Dort legte man uns ein Papier vor. Es handelte sich um einen Aufruf zur Planerfüllung und -übererfüllung.
“Wettbewerb für sozialistische Genossenschaften” stand da oben geschrieben.
Wenn wir die staatliche Planauflage allseitig erfüllten, dann erhielten wir die Summen oberhalb einhundert Prozent aus dem Betriebsgesamtplan steuerfrei als Nachzahlung. „Das gibt es nicht!”, erwiderte Wilhelm Bartel und steckte sich vor Schreck an der heruntergebrannten anderen ein neues Zigarillo an. Meistens unterbrach er das Rauchen nämlich für zehn Minuten. Diesmal nicht.
Wir fuhren mit unseren Fahrrädern wieder hinunter zur Fischereibaracke. Während wir radelten, rechnete er mir überzeugend vor, dass es uns ohnehin leider nicht betreffen würde. Wir könnten allenfalls den Finanzplan, auch noch den Konsumfischplan erfüllen und übererfüllen, aber im Bereich Feinfische blieben wir, wie üblich, weit vor dem Ziel stecken.
Schade. Wann gäbe es das wieder? Steuerfreiheit für Gewinne? Nie.

Biederstaedt bekräftigte dieses Unmöglich!

Von den geplanten 28 Tonnen Feinfischen fehlten zehn. Die Fehlmenge war, nur finanziell allerdings, durch vermehrte Anlandungen anderer Fischarten ausgeglichen worden. Im November ereignen sich keine Fangwunder mehr. Jedenfalls nicht in dieser Größenordnung. Das sei gewiss. Auch er zog die Achseln bedauernd und schüttelte den Kopf. Illusionen gäbe er sich in seinem Alter nicht mehr hin. Gegen uns drehte sich sogar der Wind. Er blies in den ersten acht Novembertagen heftig aus Ostsüdost. Der durch ihn erzeugte Tiefenstrom würde allenfalls die großen Barsche in Zugnetzbereiche treiben. Aber zehn Tonnen große Barsche gab der Tollensesee selbst in besten Fangjahren nicht her. Das leuchtete mir ein, obwohl ich erst fünf Jahre dabei war.
Vom langgestreckten Tollensesee können etwa 85% der Gesamtseefläche fischereilich nicht erfasst werden. In diesen Rückzugsgebieten bleiben die besten Fische stets ungestört.
Bartel versuchte uns zu ermutigen, dennoch das Mögliche zu tun. Die Lieps habe ihre Mengen zwar längst abgegeben. „Doch wir haben den Krickower und den Neveriner See noch nicht abgefischt.” Zusammen könnten uns die beiden Gewässer zwei Tonnen Feinfische bescheren. Wo jedoch ließe sich eine dritte, vierte Tonne Feinfische fangen?
Da zuckte er resignierend die Achseln.
Nirgendwo! Das Zugnetz und die Kähne wurden zunächst eiligst nach Neverin transportiert, wo tatsächlich, wie vorausgesagt, eine Tonne Zander gefangen wurde. Anschließend ging es nach Krickow. Phantastische Gedanken- und Zahlenspielereien zogen durch unsere Köpfe. Aber bei genauer Betrachtung kamen immer nur Minuszahlen heraus: zum Schluss werden uns mehr als sechs Tonnen fehlen.
Eifrig, begleitet vom Sausen des starken Ostwindes, setzten wir die Netzteile im steilscharigen Krickower See aus. Sofort, als wir das Zugnetz in Bewegung brachten, ging das von Plasteschwimmern an der Seeoberfläche gehaltene Netz der rechten Seite unter. Es hakte.
Die Männer, die diesen Flügel zogen, begaben sich so schnell wie sie konnten an jene Stelle der Netzwand die zuerst abgetaucht war. Dort musste ein Hindernis in der Tiefe liegen. Eine Stunde lang wühlten und stöhnten sie. Es kam nach und nach ein sonderbarer Aufbau, schließlich eine ganze komplette Kutsche zum Vorschein.
Fünfzehn Jahre lang muss das Netz günstiger ausgelegt worden sein. Der Riss, von der versenkten Kalesche verursacht, konnte schnell ausgeflickt werden, doch alle Mühe war schließlich vergebens. Denn Feinfische gab es dort nur kiloweise. Wir rochen die Frostluft. Das Ende der Saison stand uns also aus Witterungsgründen unmittelbar bevor.
Bartel zog das schiefe Gesicht wieder gerade. Er hatte es ja gleich gesagt. Er habe sich nun endgültig damit abgefunden, dass schöne Träume bleiben, was sie sind.
Nur Biederstaedt, Witte und ich wollten es noch einmal mit dem Einsatz des Zugnetzes auf dem Tollensesee versuchen. Einige beschimpften uns als Spinner. Es habe ja doch keinen Zweck. Zehn Tonnen Hechte oder große Bleie fing man nicht mehr im vorgerückten November, schon gar nicht bei Ostwind, sondern höchstens Plötzen.
Wir zankten uns.
Biederstaedt hob die Hand beschwichtigend. „Lot’t uns dat doch utprobieren!” 161


Ein denkwürdiger Tag


Dieser Novembertag des Jahres ‘62 begann trist. Nur weil es ihre Pflicht forderte zu fischen, fuhren auch die Spötter mit uns auf den See. Meine Hoffnung brannte noch lichterloh. Natürlich, manchmal gibt es nichts mehr zu hoffen und man rennt dennoch. Wir legten das große Zugnetz auf halbem Wege zwischen Neubrandenburg und Buchort vierhundert Meter von Land aus. Je zweihundert Meter parallel zum Uferstreifen. Allen Bemühungen zum Trotz fingen wir innerhalb fünf Stunden nur vier Stück Kleine Maränen. Das war noch nicht einmal ein einziges Kilogramm Fisch.
Die einen freuten sich, wir andern zogen die Mundwinkel herunter. Die Klügeren hatten Recht behalten. Enttäuschung ist wahrscheinlicher als Erfüllung.
Bösartig argumentierend könnte man sagen: der See sei bereits überfischt worden.
Die Uhrzeiger rückten auf die zweite Nachmittagsstunde vor. Winterluft wehte wieder spürbar. Der Wind blies nun aus Nordwesten. Doch so plötzlich wie er aufgekommen war, legte er sich wieder, wie das an Nachmittagen häufig üblich ist.
Selbst Biederstaedt verspürte nur noch wenig Lust, noch einen weiteren Zug anzulegen.
Sie entmutigten einander und ich gab ebenfalls auf.
Wir dachten an die uns bevorstehende Freizeit.
Also fuhren wir, die nächste Enttäuschung hinter uns lassend heim.
Der Motor brummte. Kurt Reiniger legte den Gang ein. Schäumend wirbelte des Kutters Heckwasser.
Kurt mied die gefährlichen Steine unterhalb des Steilufers von Belvedere. Er steuerte auf Augustabad zu. Dieser kleine Umstand sollte große Folgen haben. Denn da, fünfhundert Meter von Land, passierte etwas.
Da, noch einmal! Das dürfte keine Täuschung gewesen sein.
Fast unbemerkbar, wie ein Lamettafaden aufblitzt, der in der Dunkelheit der Nacht in einhundert Meter Entfernung nur kurz vom schwachen Mondlicht beleuchtet wird. Wieder! Diesmal zwei oder drei dieser winzigen nur für den Bruchteil einer Sekunde erscheinenden Silberstreifen, aber bereits nur noch sechzig, siebzig Meter von uns weg. Sie rissen mich aus der Lethargie in die Höhe.
Biederstaedt bemerkte es ebenfalls. Er legte die Hand beschattend über seine starken Augenbrauen. Wir starrten nun zu zweit. Wie elektrisiert und in Hochspannung versetzt und abwartend wandten wir unsere ganze Aufmerksamkeit der plötzlich sich völlig glättenden Wasserhaut zu.
Fritz Reiniger stieß die rechte Hand vor. „Maränen!”, rief er. Auch er erregt. Jetzt erschienen vier, fünf Silberfunken auf einmal, mehrten sich.
Alle sahen nun das sich unglaublich schnell entfaltende Bild. Immer mehr Fische sprangen aus dem Seespiegel heraus. „Maränen, Maränen! Überall Maränen.” Nur der Kutterfahrer Kurt Reiniger ahnte nichts. Er saß in der Kabine und hatte lediglich den stumpfen Turm der Marienkirche im Blick.
Purer Übermut trieb diese auf Hochzeit gestimmten Winterlaicher. Nur für Zehntel Sekunden ließen sich die Einzelexemplare blicken. Mit großer Geschwindigkeit sausten sie knapp über den schnell durchschnittenen Wasserspiegel hin. Geräuschlos für uns, noch, solange der Kuttermotor lief. Von meinem Arbeitskahn aus schlug ich mit ziemlicher Wucht und mit der flachen Seite meines Ruders auf das Dach der Fahrerkabine, unseres neuen Kutters.
Jäh aus seinen Träumen gerissen wandte sich Kutterfahrer Kurt Reiniger um. Wütend stieß er das kleine, hintere Fenster auf. Seine Stirn furchte den Ausdruck unbeherrschter Wut. Sein stets gebräunt wirkendes Grobschmiedsgesicht schien Hass zu sprühen. Er fauchte mich an und ich fauchte zurück: „Bist du blind?”
Ringsherum spritzten die Silberlinge inzwischen zu Tausenden immer mutiger, immer höher hinaus, immer weiter.
Fritz Reiniger, Kurts Bruder, gab als Brigadier Weisung, er möge sofort wenden. Seinem älteren Bruder laut zu widersprechen, hätte Kurt nie gewagt. Doch offensichtlich immer noch in Zorn zog Kurt sich zurück. Ich vermutete richtig, dass er da im Motorenraum maßlos vor sich hingeflucht hat und dennoch gehorchte. Er muss das Steuerrad aus Ärger gefühllos herumgerissen haben, denn sofort schleuderten die Kähne bedrohlich scharf nach außen. So sind selbst schon höherbordige Boote zum Kentern gebracht worden. Noch befanden wir uns vier-, fünfhundert Meter von der Einfahrtsrinne zum Oberbach entfernt. Da war der See noch tief genug. Noch konnte Kutterfahrer Kurt einen Halbkreis mit Vollgas ausfahren. Das mutete er uns auch zu. Wir gerieten unnötigerweise in diese Schieflage. Lediglich Millimeter fehlten und das schäumende Wasser wäre nicht nur spritzerweise, sondern massiv in die Arbeitskähne hineingeschlagen. Wo das passiert war, da gab es bereits der Netze wegen, die dann automatisch über die Gekenterten hinweggeschleppt werden, Tote.
Dem Umkippen immer noch nahe, noch während des hitzig ausgeführten Wendemanövers wiederholte sich das Schauspiel unmittelbar neben uns. Aus den von uns verursachten Wellen sprangen nun die kostbaren Fischchen und zeigten sich jetzt in voller Pracht ihres Gruppenfluges. Das war einmalig schön und aufregend.
Als wir auf Höhe der Linie Belvedere - (ehemalige) Torpedoversuchsanstalt ankamen, warfen wir das Netz zum zweiten Mal aus. Die Sonne färbte den Horizont bereits rötlich zu rot, dann violett zu herrlicher Farbenvielfalt.
Von der Trommelwinde fuhren wir jeweils ungefähr vierhundert Meter Drahtseil ab. Dann im flachen Seebereich steckten wir unsere Haltepfähle in den sandigen Seeboden, kurbelten die kleinen Dieselmotoren der Maschinenwinden an und warteten eigentlich eher ungewiss darauf, wann das zwar recht lange, aber nicht sehr tiefe Netz endlich auftauchen würde. Denn durch den Wasserwiderstand, der den Maschen entgegensteht, baucht das Fangnetz während der Windephase beträchtlich aus.
Manchmal ist es dann nur noch sechs Meter hoch. Reduziert um fast die Hälfte der theoretischen Stauhöhe. Solange also die Flottenleine nicht an die Seeoberfläche stieß, war den Fischen der Ausbruch durch einfaches Überschwimmen des Netzes allemal möglich. So können selbst die größten Fischschwärme bis auf den letzten Schwanz entkommen. Ihrem Instinkt folgend haben sogar die in Laichstimmung hineintaumelnden Fische stets noch ihre Fluchtchancen. Deshalb sahen wir dem Zeitpunkt des Netzauftauchens eher gelassen, als mit hochgespannter Erwartung entgegen. Zu oft hatten wir es erlebt, dass Großfische mitten auf dem ‚Zug’ im scheinbar sicher eingekreisten Bereich aus Lust oder Erregung herausplatschten und dann war es doch nicht gelungen, sie zu fangen. Die Unberechenbarkeit der stets nur teilweise eingekreisten Fische machte die Arbeit so spannend. Trotz enormen Fleißes unsererseits blieb sie ein Glücksspiel, und deshalb gewöhnte man sich nach und nach, selbst bei allerbesten Anzeichen ab, irgendeine Fanghoffnung zu übersteigern.
Doch, wo immer die ‚Springer’ ihre Anwesenheit demonstrierten, da bemühten wir uns auch, sie zu fangen.
Es geschah in diesem Augenblick bereits das nächste wunderbare Ereignis. Wie von Geisterhand bewegt flog das Netz plötzlich auf einem guten Drittel seiner Gesamtlänge, also auf einer Länge von etwa zweihundert Metern in die Luft. Wie mir schien, einen halben Meter hoch.
Mir ging vor Staunen der Mund auf. Noch nie hatte ich Vergleichbares erlebt. Gegen das Gesetz der Schwerkraft kann das tonnenschwere Netz sich nicht aus dem Wasser in die Lüfte erheben, nicht einen einzigen Millimeter.
Und doch war es so. Meine Kollegen vom nebenan liegenden Boot schrieen jubelnd: „Wir haben sie.” Sie hatten es also wie ich als ungewöhnliches Schauspiel empfunden. Was war wirklich geschehen?
Es gab nur eine Erklärung: Alle Energie, die von aufgerüttelten Maräneninstinkten zur Überlebenssicherung in hunderttausenden Fischen zeitgleich freigesetzt wurde, verlor sich im gemeinsamen Anrennen gegen die Netzwand. Die Vorderen rasten mit ihren spitzen Köpfen in die Maschen, die nächsten stießen gegen die aufgeregt weiterschwimmenden, aber schon gefangenen und die letzten, meisten, taten das Übrige. So schob eine Fischwelle die andere in Panik vor sich her und verursachte auf diese Weise das sensationell sichtbare Ergebnis dieses Massenansturmes.
Unmittelbar hinter den schon kahlen Buchenkronen und der Silhouette von dem im klassizistischen Stil erbauten, tempelartigen Belvedere zog sich schon die Sonne zurück und färbte den hinter dem Zugnetzsack liegenden Seeteil von violett zu blaugrau, strengen Frost ankündigend.
Über dem Wadensack in nahezu noch dreihundert Metern Entfernung flatterten tausend Seeschwalben und Möwen. Wie aufgewirbelte, weiße, schnell ihre Konturen ändernde Wolken wogten die Vogelscharen. Immer wieder stießen die Räuber aus der grauweißgesprenkelten Höhe herab und zerrten mehr oder weniger erfolgreich an den mit ihren Silberleibern in den Netzmaschen steckenden Fischen. Rings herum tönte dieses wilde Kreischen.
Inzwischen fuhren wir mit unseren pechschwarzen Arbeitskähnen mittig im Flachwasserbereich zusammen, um schließlich die Arbeit des Garneinholens vorzubereiten. Noch lag die von weißen Ekazellflotten umrahmte Seefläche spiegelblank vor uns, als sich plötzlich, ohne Windeinwirkung, eine erhebliche Woge auf uns zubewegte. Ozeanische Massen Maränen! Niemand konnte sie aufhalten. Jedes Stellnetz, das wir vielleicht als Sperre hätten einsetzen können, wäre von ihnen binnen Sekunden zu Boden gerissen worden. Unter dem Verlust einiger hundert Leiber hätte sich die Masse freie Bahn gebrochen. Das müssen hunderte Zentner gewesen sein. Sie erschwammen sich ihre Freiheit durch Gleichzeitigkeit ihrer Flucht. Wir sahen im niedrigen Wasser unter uns die zahllosen Fische, die Leib an Leib gedrückt schnell dahin schossen. Entzückt und zugleich von Ärger betroffen sahen wir staunend diese unglaublich großen, blauschimmernden Scharen.
Oft stand mir später dieses Bild vor Augen und irgendwann kam mir der Gedanke: Keine totalitäre Regierung der Welt, könnte ihre Grenzzäune halten, wären fluchtwillige Menschen fähig ihre Verstandeskräfte zeitgleich einzusetzen. Endlich, bei allmählich schwindendem Tageslicht konnten wir den Kreis schließen. Von dem Augenblick an, wenn die eng beieinander liegenden Fangboote das Zeug einholen, mindern sich für die restlichen, im Umfassungsraum herumschwimmenden Fische die Möglichkeiten zu entkommen erheblich. Die beiden Netzwände kamen nun wie ein silbern genoppter Teppich heran. Nach und nach, während des Zuladens des fischgespickten Garns brachte die Fischmenge die beiden Kähne fast zum Sinken. Wie Hirschgeweihe stießen die Vordersteven unserer Boote in die Höhe, während die Heckteile nahezu mit der glücklicherweise nun völlig ruhigen Wasseroberfläche abschnitten.
Wir durften uns kaum noch bewegen, sonst gingen wir unter.
Massenweise versuchten die verbleibenden Maränen im Wadensack Platz und Durchkommen zu finden. Da schwammen sie zwar noch, waren aber, wie die in den Maschen steckenden, endgültig gefangen. Anders wären wir der Fischmassen nicht Herr geworden.
Einhundertundsechsundsiebzig Zentner Maränen konnten wir in dieser Nacht aus den Weiten des Wadensackes herauskeschern. „Fast neun Tonnen!“ jubelte ich, - ich glaube laut.
Glücklicherweise sanken die Temperaturen in den Minusbereich.
Wir fühlten uns mehr als beschenkt. Biederstaedt schlug lachend, wuchtig und kreuzweise die steifen Hände und Arme über der Brust zusammen.
„Dat sünd de ollen Tieden!”, frohlockte er. Sein flächiges Gesicht strahlte: „Dat sünd de teigen Tunnen!” 162 An der Möglichkeit zur Vollendung der nun unbedeutend gewordenen Feinfischmenge zur Überschreitung der so bedeutungsvollen Zehntonnengrenze gab es nun keinen Zweifel mehr.
Jeder wusste plötzlich guten Rat. Euphorisch wurde diskutiert. Da und dort ließen sich noch ‚gute’ Fische fangen. Nur noch eine knappe halbe Tonne!
Nur noch dieses Fastnichts von gut dreihundert Kilogramm Feinfischen. „Und außerdem die Maränen!”, sagte Wilhelm Bartel, krumm nach der Arbeit und der Plackerei. Das nächste aber bereits durchnässte ‚Tabakinchen’ hielt er statt eines qualmenden mit den Lippen fest. Er konnte es nicht anstecken. In die nach oben gezogene Mundecke hatte er es geschoben, wo es sonst nie saß. Das müsse doch mit dem Teufel zugehen, wenn nun nicht gelingen würde noch eins draufzulegen.
Es war nur sonderbar, dass wir während des ganzen Sommers bloß hin und wieder ein paar Silberlinge gefangen und sonst nichts von ihnen bemerkt hatten. Plötzlich schien der See von Maränen überzuquellen. Geheimnisse der Tiefe. Sie hatten sich gesammelt. Aus den Weiten der siebzehn Quadratkilometer Fläche, verteilt auf die durchschnittliche Wassersäule von sechsundzwanzig Metern waren uns die Kleinen Maränen in letzter Minute glücklicherweise entgegen gekommen. Sie hatten gezeigt, dass es sie in Massen gibt und ich erkannte, wie wenig wir vom Geschehen unterhalb der Wasserhaut wussten.
Einige dieser Verborgenheiten verraten sich durch das Echolot, andere zeigen ihre Existenz erst unter dem Mikroskop. Bewundernswert ist diese Mikrowelt der Kieselalgen, Rotatorien, Nauplien. Staunend sieht der Beobachter die Anlage des Herzens im Embryo der Fischeier. Andere Wesenheiten sind uns schon vertrauter und sogar einige Geheimnisse der Natur scheinen bereits entschlüsselt zu sein. Am beeindruckendsten erschienen mir stets die genetischen Skripte, die sich als Instinkte der winzigsten Geschöpfe äußern. Dass ungesteuerte Evolution sie geschrieben hat, halte ich für undenkbar.
In diesen Jahren vermittelten die Lehrbücher für Biologie der 12. Klassen sowie der Biologiestudenten der DDR und der UdSSR noch die verwegenen, absurden Theorien eines Herrn Lyssenko und erklärten sie für definitiv richtig, obwohl sämtliche westlichen Genetiker längst das Gegenteil bewiesen hatten.
Doch wehe dem, der im Machtbereich des Kreml lebte und Lyssenkos Lehren ernsthaft anzuzweifeln wagte.
In allen fünfziger und den ersten sechziger Jahren hatten wir Lyssenko und Konsorten, gemäß Parteidirektiven, zu glauben. Sie lehrten,  dass sämtliche Fisch- oder Getreidearten, wenn man sie zig Generationen unter gewissen Bedingungen in artverwandten Monokulturen halten würde, ab der zehnten, zwanzigsten Geschlechterfolge ihre Wesensmerkmale entscheidend ändern müssten. Irgendwann wäre die Anpassung perfekt.
Lyssenkos “Beweisführung” war für die Parteitheoretiker wichtig. Weil daraus gefolgert werden sollte, dass unter sozialistischen Seinsverhältnissen bald der ‚neue Mensch”’ hervorkäme.
Vielleicht hofften einige der glaubenstreuen Kremljünger wirklich, dass der “neue Mensch” biologisch ein Übermensch sein könnte, hervorgebracht in den Ländern des Fortschritts.
Lyssenko, der Präsident der Akademie der landwirtschaftlichen Wissenschaften der UdSSR, muss höchst beunruhigt gewesen sein, als die Herren James Dewey Watson und F. Crick - in diesem Jahr unseres Wunderfanges im November ‘62 - den Nobelpreis für ihr Modell der Erbsubstanz erhielten. Sie bewiesen damit, gewollt oder nicht, dass er, Lyssenko, ein Scharlatan  war. Doch Herr Akademiepräsident schummelte ernsthaft weiter und das mit handfester Unterstützung gewisser Philosophen. Die biologischen Gesetzmäßigkeiten sollten mit dem einen oder dem anderen Grundsatz des dialektischen Materialismus in Einklang gebracht werden.
Der deutsche Kommunist Robert Havemann schrieb dagegen an.
(„Dialektik ohne Dogma“, 1962)
(ND veröffentlichte Passagen.)
Bis zu dieser Veröffentlichung hielt Walter Ulbricht seine Hände schützend über diesen klugen Denker. Nun fühlte sich der SED-Generalsekretär kompromittiert.
Havemann wurde verwarnt, schließlich aus dem Lehrkörper der Huboldt-Universität ausgeschlossen und später unter Hausarrest gestellt. Wir konnten gar nicht anders, wir litten mit diesem Mann.
Bis 1962 gab es nur wenige Mutige wie Professor Wawilow, die sich offen gegen die Auffassungen ihres Chefs zu stellen wagten. Wawilow wurde als Anhänger des angeblich reaktionären Weiß-mannismus-Morganismus diffamiert und inhaftiert.
Unerschrocken wie Giordano Bruno trotzte Wawilow Herrn Lügenbaron Lyssenko und jener Macht, die hinter dem führenden Sowjetbiologen stand und die über Tod und Leben entscheiden konnte.
Wawilow starb in einem der Lager des Archipel Gulak.
Prof. Stubbe von der Akademie der Wissenschaften der DDR gehörte ebenfalls zu den Standhaften. Er weigerte sich zu akzeptieren, dass die Nachkommen eines Roggenkornes, gleichgültig unter welchen Bedingungen, je zu Weizensamen mutieren könnten.
Selbst wenn Roggengenerationen einer speziellen Schocktherapie unterzogen und einige Jahrzehnte lang in einem Weizenfeld aufwachsen würden, sei ein Artensprung unwahrscheinlich. Doch auf Biegen und Brechen sollte nachgewiesen werden, dass die Umgebung der das Sein bestimmende Faktor ist. Viele Jahre bewahrte ich diese Zeitungen auf, die den wissenschaftlichen Streit zu diesem Thema auf den Punkt bringen sollten. Prof. Stubbe wurde seines Unglaubens wegen öffentlich schwer getadelt.
Doch auch das änderte die Tatsachen nicht: Seitdem es identische Reduplikation gibt - und das ist seit einigen hundert Millionen Jahren der Fall - bestimmen die in der Doppelhelix untergebrachten Desoxyribonukleinsäuren, sozusagen als Buchstaben, die tatsächlich ein Bauanleitungsbuch bilden, das Sein.
So kompliziert sich das anhört, so einfach war dieser Fakt zu begreifen. Seitdem zum ersten Mal ein Einzeller einen ihm gleichen Einzeller hervorbrachte, und sei es auch nur durch Zellteilung, bestimmte die in der Doppelhelix festgeschriebene Information, was zu geschehen hat.
Der Aufwand, den ein gewöhnliches Stichlingspaar zur Pflege seiner Brut leistet, ist lediglich das automatische Abhaspeln eines außerordentlich komplexen Softwareprogramms. Die Installation solcher Programme im Kopf eines winzigen Fisches ist mindestens so bewundernswert wie ihre Sinnhaftigkeit.
Wir genossen Steuerfreiheit.
Innerhalb sechsunddreißig Stunden ununterbrochener Arbeit, hatte jeder Neubrandenburger Fischer 2600 Mark verdient. Das tröstete mich über den Verlust der Freiheit, den mit mir viele hunderttausende erst ein Jahr und drei Monate vor diesem Ausnahmezug erleiden mussten.
Nun musste ich anerkennen, dass die Partei doch nicht immer im Unrecht war. Die beiden Bezirksfischmeister, hatten eine gute Entscheidung gefällt.


Jochen


Jochen Appel gehörte der Neubrandenburger Morduntersuchungskommission an.
Er war einige Jahre jünger als ich, wog neunzig Kilo und trug ein verschmitztes, offenes Gesicht.
Es war übrigens stockdunkel gewesen in jener ersten Nacht, die er mit mir auf dem See zu verbringen gedachte.
Er wollte sich die zwei Kilo Aale verdienen, die wir als Naturalvergütung für eine Nachtschicht aussetzten. Man konnte die Hand nicht vor Augen sehen. Als erstes zerbrach er beide Ruder, weil er glaubte, man müsste die Kähne mit äußerstem Ruck in Bewegung bringen. An Land, während die Motoren für uns arbeiteten, und nachdem ich ihn tüchtig ausgeschimpft hatte, erzählte ich ihm versöhnlich einen politischen Witz. „Was ist der Unterschied zwischen Walter Ulbricht und einer Rakete?“ ...
„Das weißt du nicht? Da ist keiner! Beide sind ferngesteuert. “
Wir lachten noch, denn niemand konnte uns gehört haben.
Er behielt diese drei Sätze zu seinem Verhängnis.
Hätte er sie doch vergessen.
Törichterweise stellte er ausgerechnet seinen Mitgenossen der Offiziersschule Aschersleben dieselbe provokante Frage.
Denn der Tag auf dem LPG Acker war langweilig gewesen. Jochen wollte sie nur aufmuntern. Schließlich hatten sie acht Stunden Rüben verzogen.
Alle lachten darüber.
„Stell’ dir vor!”, erzählte er mir wenig später, „da war ein Schweinehund drunter.” Sie beorderten Jochen ins Büro des Chefs. Augenblicklich sei ihm klar gewesen, was die Schulleitung von ihm wollte. „Wer hat ihnen diese Gemeinheit erzählt?”
Jochen schwieg, aber seine Art nicht darüber zu reden muss ihn verdächtig gemacht haben.
Sie beharrten eisern.
Sollte er mich verpetzen?
Sein Oberst, die Gnadenlosigkeit in Person, machte Jochen herunter, indem er lautstark über das Thema Klassenbewusstsein referierte: „Die Arbeiterklasse versteht keinen Spaß.”
Jochen suchte Ausreden. „Kleinen Witz nennen sie das?” Wie dann die großen aussehen sollten.
„Also, haben sie nicht die Absicht ihre Ausbildung erfolgreich abzuschließen. Ja?”  In diesem kritischen Augenblick habe er, Jochen, mich vor sich gesehen, wie ich in der Kahnecke sitze und in der Bibel lese.
Auf dem See las ich eher Feuchtwanger und Gorki, als in der Bibel, obwohl auch das der Fall war.
Mitte Oktober ’62 erfuhr ich es von Jochen. 
„Und jetzt?”, fragte ich zurück?
Jetzt sei die Sache erledigt. Er bleibe Polizeimeister.
„Ick künn di doch nich verroden, Jung!“ 163
(Erst viel später erfuhr ich die ganze Wahrheit: Sie verhörten meinen Jochen noch monatelang. Nachts holten sie ihn aus dem Schlaf. In meiner Naivität ahnte ich nichts von alledem. Seine unerbittlichen Gegenspieler quälten ihn, bis er zusammenbrach und den Freitod wählte. Er ertränkte sich. Er hätte nur meinen Namen preisgeben müssen… Immer wieder stehe ich betroffen vor seinem Grab, über dessen Gedenkstein, auf dem Neubrandenburger Friedhof Carlshöhe, eine weiße Birke ragt und Schatten spendet.)

Es kam etwas hinzu: Am 22. schossen die Kubaner einen US Aufklärer ab. Ich hörte, glaube ich, die Nachricht am frühen Morgen des nächsten Tages, weckte Erika und äußerte meine Bedenken. Das lassen sich die Amis doch nicht gefallen! Und so war es.
Bereits wenige Stunden später überraschte uns die Information, sowjetische Raketenstellungen bedrohten von Kuba aus die USA. Ein Blick in den Atlas genügte. Von Santa Clara bis Miami war es nur ein Katzensprung. Anstelle des bis dahin anscheinend eher harmlosen Inselstaates Kuba, befand sie plötzlich ein mit tödlichen Waffen gespickter, unsinkbarer Flugzeugträger der Roten Armee unmittelbar vor Florida. Jeden Kommentar, den wir hören konnten, verfolgten wir angespannt. RIAS sagte: „Chrustschow droht der freien Welt ihren Untergang an.”
Von der Gegenseite tönte es ebenso hart zurück: „Provokation der US-Imperialisten!“
Tatsächlich erging von Präsident John Fitzgerald Kennedy Weisung ans Pentagon: Sofort sind die Sowjetschiffe mit Kurs Kuba im Bahamabereich zu stoppen. Er bestehe auf sofortigen Abzug der sowjetischen Raketen von Kuba, sonst... Sonst? Wer da nicht gezittert hatte, wusste nichts. Wir ahnten, dass die US Militärs von ihrem Präsidenten die umgehende Besetzung Kubas verlangten. Das hätten die Russen mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln unterbunden.
Stunde um Stunde setzten sie einander und uns unter Hochdruck.
Es mag ja Menschen geben, die den Tod nicht fürchten. Doch wer am Leben hing, wie wir, der verfolgte jede Nuance im Wechsel des hochpolitischen Ränkespiels, das zwischen Moskau und Washington Zug um Zug mit äußerstem Einsatz an Willenskraft und Intelligenz durchgezogen wurde.
Ein Fehlerchen hier oder ein Fehler da, und schon verbrannte die entfesselte Atomkraft die ganze Welt.
Seit Hiroshima stand fest, wer im Besitz von Massenvernichtungsmitteln ist, der ist auch bereit sie einzusetzen. 
Wird Chrustschow nachgeben? Oder wird er seiner Atlantikflotte befehlen die Bahamaroute gewaltsam offen zu halten?
Krachte es auch nur ein weiteres Mal in Fernost oder Fernwest, dann hätte das unabsehbare Folgen. Eingekreist die alliierten Truppenteile in Westberlin, draußen nur durch ein paar hundert Meter Mauerwerk und Luftlinie von einander getrennt die zig hochgerüsteten Sowjetdivisionen. Jeder einzelne Mann, Tag für Tag unter dem Deckmantel des Klassenkampfes moralisch auf dieses ‚letzte Gefecht’ vorbereitet, wäre williges und fähiges Werkzeug geworden diesen Lauerzustand in die ‚letzte’ Qualität umschlagen zu lassen. Diese entschiedenste, ausgereifteste Form des ‚Friedenskampfes’ wäre fast zur bösen Vollendung gekommen. Im günstigsten Fall binnen eines Tages, im schlimmsten Fall nach dem Tod der wenigen Überlebenden eines Atombrandes.
Vier Tage und Nächte lang zerrte die Ungewissheit an uns allen.
Nicht wenige NVA Offiziere wurden nervös, das konnten viele nicht verbergen. Sie wussten ohnehin, dass bei zunehmender Reibung gegeneinander wirkender Massen die Spannung nicht endlos zunehmen kann, sondern dass ein gewaltiges Beben die Folge sein muss.
Verrückte meinten: Je eher, je lieber!
Aber Chrustschows Militärstrategen errechneten, dass sie die heraufkommende Auseinandersetzung nicht eindeutig für ihre Seite entscheiden konnten.
Der Kremlführer gab nach. Nach der Kubakrise fiktiv befragt, welche Komponisten er bevorzugt, antwortete der Kremlführer: “Ich liebe Händel, Liszt und (K) Grieg!” Ein makabrer Unwitz, den mir einer der Doktoren des Instituts für Binnenfischerei erzählte.


Ungewöhnliche Alltage


Im Januar ’63 herrschte sehr strenger Frost. Aus tausenden Neubrandenburger Schornsteinen quoll der Rauch senkrecht in die blaue, eisige Luft. Massenweise wurden in zahllosen Stubenöfen Senftenberger Briketts verfeuert. Schnee lag wadenhoch auf Äckern und Eisflächen. Den Fischen in den kleineren Seen drohte der Erstickungstod. Gewässer, wie der Woldegker See oder die Hecht-Schleiseen im Raum Lübbenow, die uns der Rat des Bezirkes schon vor Jahren zu Bewirtschaftung übertrug, sind hochproduktiv, aber eben ausstickungsgefährdet. Denn wenn die nur metertiefe Wasserschicht erstens durch Vereisung um mehr als die Hälfte reduziert wird, und zweitens lange Zeiten der Schneebedeckung die Assimilation unterbinden, dann kommt es zur tödlichen Sauerstoffverknappung. 
Andererseits können geschickte Fischer solchen Seentypen in guten Jahren tonnenweise wertvolle Speisefische entnehmen. Der Strasburger Stadtsee, nur 12 ha groß, lieferte zuverlässig und das bei nur einmaliger Abfischung jeweils im September 8o bis 100 kg Hechte pro Hektar.
Ein Riesenertrag! Dagegen gab der ebenfalls sehr produktive Tollensesee jahrein, jahraus an uns nur zwei Kilogramm Hechte je Hektar ab. Laien und Hobbyfischer, wann immer sie die Mengen Fische sahen, die wir den kleinen Seen entnahmen, ärgerten sich regelmäßig. Sie befürchteten immer den völligen Zusammenbruch der Feinfischpopulationen. Sie redeten von ‚Raubbau’, als ob die Gewässer je leer gefischt werden könnten. Eine Annahme, die von der Fangstatistik nicht gestützt wird. Die nämlich beweist jahrzehntelange Kontinuität, vorausgesetzt, die Fänger rühren den Nachwuchs nicht an.
Wenn es in besonders harten und langen Wintern, zur Totalausstickung infolge Sauerstoffmangels kommt, geschieht in den sonst gesunden Seen anschließend das Wunder der Verzehnfachung.
In diesem Winter sollte es unsere besten Hecht- und Schleienseen treffen. Obwohl wir damals, im Januar, Februar ’63 mit Unterstützung der örtlichen Feuerwehr und vieler Interessenten  und Naturfreunde alles zur Rettung der Fischbestände unternahmen, fror das nur ein Meter flache Woldegker Gewässer vollständig aus. Tagelang hatten wir Schnee gefegt. Wochenlang waren die Pumpenaggregate gelaufen. Von einem in gewisser Entfernung gelegenen Eisloch pressten die Helfer das Wasser mit Luft angereichert in andere Löcher der Eisfläche. Doch alle Mühen erwiesen sich schließlich als vergeblich.
Wenn mehr als die Hälfte des Wasservolumens eines Flachsees zu einem gewaltigen Kristallpanzer zusammenfriert, der zudem mit einer Schneematte bedeckt liegt, genügt den Unterwasserpflanzen, und selbst den Algen auch die intensivste ‚künstliche Beatmung’ nicht. Wochenlang dem Dunkel ausgesetzt und somit von der Energiezufuhr abgeschnitten, sterben sie ab. Sämtliche Fische außer jenen Winzlingen, denen es gelingt im meist nur sehr flachem Wasserzulaufbereich zu stehen, ersticken. So rigoros kann ein gewissensloser Bewirtschafter sein Gewässer nicht ausplündern, wie es die “gnadenlose” Natur vermag.
In demselben Jahr der Auswinterung ist natürlich kein Ertrag zu erwarten. Aber im darauf folgenden Fangjahr gestattet ein so vernichtend betroffener See nicht selten eine vier- bis zehnfache Ernte. Jeder Fachmann weiß das. Von tausend übermächtigen Nahrungskonkurrenten befreit wächst eine vermehrte Fischpopulation heran. Auf den “Gesamtverlust” antwortet die Natur mit absoluten Spitzenleistungen.
Ich war dabei. Wir fischten im nächsten Jahr in Woldegk. Meiner Meinung nach hätten wir kein Recht gehabt, schon wieder mit unseren riesigen Netzen da einzufallen, wo der Winter, vor erst achtzehn Monaten, so hart zugeschlagen hatte. Es sollte sich aber erweisen, dass meine eigene Meinung gelegentlich keinen Pfifferling wert ist. Wir waren gewohnt, im Woldegker Stadtsee bis zu eine Tonne “gute” Fische zu ernten. Selbst das gelang nicht in jedem Jahr, weil riesige Krautbänke und ungeheure Mengen Wasserlinsen die Maschen unserer Fanggeräte verstopften. Mitunter kamen wir von unserem Ausflug über Land mit nur wenigen Fischen heim und die Kosten, die wir verursacht hatten, übertrafen die Einnahmen bei weitem.
Im November ’64 setzten wir unser Zugnetz in Woldegk probeweise aus. Der kalte Nordwind pfiff und stieß derart scharf  herunter, dass er den See nicht auf übliche Weise zufrieren ließ, sondern zahllose, zehntelmillimeterstarke Eisplättchen bildete, alle nur wenig größer als die Fläche eines Daumennagels. Massenweise trieb uns dieses Gemisch aus Schnee und Eisschuppen entgegen, während wir das Zugnetz herauszogen. Zentnerweise, tonnenweise mussten wir die Menge der Eisblätter, bis zum Ende des Aufzugsvorganges aus dem Garn schütten. Wir befürchteten bereits, wir kämen aus diesem Höllenmischmasch nie wieder heraus. Man kann in solchem Medium nicht schwimmen, nicht rudern, nicht staken, nicht vorwärts kommen. Wer da hineinfällt, der ist, wenn ihm von außen keiner zur Hilfe kommt, verloren. Einmal haben wir, auf dem Tollensesee einen Rennkanuten gerettet, der sich leichtfertigerweise, anscheinend um seinen Weg abzukürzen, in den Bereich einer mehlpampenartigen Eismasse hineingewagt hatte. Dieses Teufelszeug entsteht mitunter als Ergebnis des Eisabganges unter Sturmbedingungen. Windkräfte reiben bei Tauwetterlage gelegentlich die Eisschollen gegeneinander zu einem Brei auf. Der noch unerfahrene Wassersportler befand sich nur zehn Meter von Land entfernt, als er kenterte. Zufällig waren wir in der Nähe. Eine schnell ergriffene Fangleine verhütete den Tod durch Unterkühlung des Jungen, der atemringend bis zu den Achseln im Eisgemisch stand. Er klammerte sich verzweifelt ans Seil und wir konnten ihn herausziehen. Nach zehn Minuten Kampf ums Überleben schwinden unter diesen Bedingungen die Körperkräfte rasant. In Woldegk ließ Neptun zu, dass wir unser Netz herausbekamen und uns selbst befreien konnten. Fische über Fische ernteten wir. Wir zwickten uns ins Fell. Wir glaubten den Augen nicht zu trauen. Sechs Tonnen Karauschen, alles erste Wahl, zwei Tonnen (Portions-) Schleie, eine Tonne Hechte, allerdings kleine Anderthalbpfündige, die am meisten gefragte Größe. Das war mindestens das Siebenfache einer Normaltour.
Hermann Witte sagte trocken: „Dat givt dat nich!” 164
Und wir ahnten, was er meinte. Acht lange Jahre hatte er den Woldegker See glücklos bewirtschaftet und war schließlich an den Tücken des Gewässers und auch wegen der nächtlichen Übergriffe einiger, wenn auch weniger, seiner so genannten Helfer gescheitert. Sie waren keine Kleptomanen, sondern ganz normale Klauer, die dümmlich lächelnd eine Existenz vernichten konnten.
 (Ein besonders übler Bursche prahlte noch, Jahre später, mit seinem Geschick ‚abzusahnen’.) Fleißig arbeitend hatte Hermann immer wieder vergeblich versucht, die Pachtsummen zu erwirtschaften und darüber hinaus soviel Geld zu verdienen, um überleben zu können. Nun fielen uns zu fünft auf eben dieser Wasserfläche binnen weniger Stunden mehr Fische zu, als er insgesamt in zwei Wirtschaftsjahren fangen und in Geld umsetzen konnte.
In diesem Jahr kam Reinhardt Lüdtke zu uns. „Ich werde nie Genosse!” Das war das Zweite, was er mir anvertraute. Aber die Länge hat die Last, sagt man. Viele andere SED-Leute wollten ursprünglich ebenfalls keine Genossen werden. Auch Wilhelm Bartel schwor vor uns Stock und Bein, dass er mit ‚denen’ nie mitmachen würde. Der Leithammel, die bloß ihre persönlichen Vorteile suchten, gäbe es schon zu viele. Mir schien, dass er eigentlich einen schärferen Begriff verwenden wollte. Er hielt sich zurück. Provokationen kamen ihm vielleicht in den Sinn, aber nur höchst selten über die Lippen. Doch wenn Hermann Göck ihm wieder einmal nahe legte, sich der Partei der Arbeiterklasse anzuschließen, dann wehrte Wilhelm sich und zählte auch extreme Beispiele von gewissen Karrieristen auf. „Ne, ne, Hermann Göck, sieh sie dir doch an. Solange die Grenze offen war, haben sie montags noch die Zeitungsschau gehalten und am Dienstag saßen sie schon im Flüchtlingslager Westberlin.“ Einer seiner guten Bekannten hätte ihn schon fast überredet, den Aufnahmeantrag als Kandidat der SED zu unterschreiben, doch nur eine Woche später rief derselbe Mann von Bahnhof Zoo aus an: „Mit  eurer blöden DDR könnt ihr  mir gestohlen bleiben.“
„Wenn ich nicht ehrlich zu mir selber bün, bün ich ein Halunke!”, pflegte er zu sagen und sog dabei den blauen Qualm wie reine Waldluft in sich und ausatmend bekräftigte er: „Nü und Nümmer!” Daraufhin stellte Hermann Göck den Vorsitzenden zur Rede. Ob Bartel damit sagen wolle, dass alle Genossen unehrlich sind. Der vielerfahrene Mann Bartel krümmte sich wie ein Wurm. Göck schaute ihn durchdringend an.
„In der Zeit der Nazibarbarei haben zehntausende unserer besten Genossen ihr Leben in die Bresche geschlagen. Ich war einer davon! Wir Kommunisten haben aus tiefster Überzeugung der Unmenschlichkeit die Stirn geboten. Auf welcher Seite hast du damals gestanden?”
Wilhelm konnte nichts erwidern.
Ehrenfischer Göck ballte die Faust und schlug mit ihr gegen eine unsichtbare Wand: „Jawohl, so hart und klar muss die Frage gestellt werden. Noch nie in der Weltgeschichte gab es ein so bösartiges System wie das des Verbrechers Hitler und ihr habt das Maul gehalten.” Fischermeister Bartel wusste, dass der Altgenosse die Wahrheit sagte und fragte.
Wenn ihm nur nicht so vieles missfallen würde, was die Partei Lenins betrieb.
Ein Mann wie Bartel hasste die Bespitzelung und die prahlerischen Militärparaden wie die Pest.
Er habe sich in Stalingrad geschworen nie wieder einer Ideologie mit Anspruch auf Weltherrschaft zu glauben, nie wieder durfte ein Deutscher eine Waffe in die Hand nehmen.
Hermann Göck machte einen weiteren Versuch: „Mensch, Wilhelm Bartel. Du bist doch auch ein Arbeiter.”


Verlockendes Angebot


Prillwitz liegt am malerisch schönen Südufer der Lieps. Dieses Gewässer ist eines der vielen blau und grün-bunt schillernden Pfauenaugen in der Mecklenburger Landschaft.
Dieter Helm, Vorsitzender der PGH “Heinrich Hertz” spielte mit seiner goldenen Posaune zum Betriebsfest der Fischer auf. Seine kleine Kapelle tönte herrlich. Aber nun schon weit nach drei Uhr morgens, an diesem Junitag des Jahres 1964, konnten selbst die schönsten Töne keinen Tänzer mehr auf das Parkett des Festsaales locken.
Ich ging langsam und nachdenklich zur blendend weiß gestrichenen Anlegestelle für die Fahrgastschiffe hinunter. Da lag die “Fritz Reuter”, das weißblaue Passagierschiff im Dunst des heraufdämmernden Tages und wartete auf uns. Ich wandte den Blick zum roten Gebäude, bevor ich als erster  und allein einstieg. Es war  das vielleicht schönste der Schlösser der ehemaligen Mecklenburg-Strelitzer Herzöge, das ich sah. Es schimmerte durch die Stämme und das Blätterdach einiger weniger, aber gewaltiger Platanen hindurch.
Dann sah ich beide Göcks ankommen. Auch sie erschöpft, wie man sah, aber beide in heiterer Stimmung. Hermann, hoch gewachsen und schlank, ging wie stets ein wenig nach vorne gebeugt. Sie untersetzt und von sehr fraulicher Molligkeit. Als sie eingestiegen waren, kamen sie näher und lächelten freundlich. Am Nachbartisch nahmen sie Platz. Nach ein paar Minuten der Entspannung schaute Hermann herüber: „Setze dich zu uns!” Ich nahm die Einladung an. Ich mochte beide wegen der Herzlichkeit, die sie mir immer entgegen brachten. Die Sonne, im Begriff aufzugehen, rötete den Himmel im Nordosten und seine Widerspiegelung befand sich am Horizont links über dem Areal, wo das versunkene Wendendorf Bacherswall einst gelegen hatte. „Wie geht es deiner Frau?” Es klang mir nicht nur angenehm, es war echt. Es erinnerte an die erste Begegnung, als Erika mit unserem damals zweijährigen Sohn Hartmut neben Göcks auf der Fischerinsel im Schatten der hohen rauschenden Pappeln an einer Festtafel Platz nahm. Fritz Biederstaedt hatte sie so herrlich arrangiert. Gekonnt war die aus einfachen Klapptischen bestehende, teilweise mit blendend weißen Tischtüchern abgedeckte lange Tafel dekoriert und hergerichtet worden. Die frischen Räucherfische dufteten. Die Menge der Delikatessen bot einen verlockenden Anblick. Die Gläser blitzten im Gefunkel der vom nahen See spiegelnden Sonnenstrahlen. Nicht weniger beleuchtet sahen wir die je dreißig Teller und Tassen.
Für jeden gab es einen ganzen, goldbraun geräucherten Aal.
Das sei ja unglaublich, hatte Helene Göck gerührt ausgerufen, als wir gebeten wurden ungeniert zuzugreifen.
Erika trug an jenem Nachmittag ihr schönes blaues Kostüm, Hartmut eine rotweiße Bluse.
Helene Göck nickte, als ich es erwähnte. Sie denke ebenfalls sehr gerne an diesen Tag und die Harmonie der Feststunden zurück.
Wie es Erika jetzt ginge?
„Danke für die Nachfrage!”, erwiderte ich. „Von der letzten Herzattacke hat sie sich erholt. Es geht wieder bergauf.” Hermann sagte: „Grüße sie von uns!” Dann fuhr er fort: „Wir haben Dich beobachtet.” Seine Augen blitzten auf, als er feststellte: „Du hast dich korrekt verhalten.”
Er meinte wahrscheinlich, ich hätte die Gelegenheit des Betriebfestes nicht genutzt, um mit hübschen Damen zu flirten.
Ich dachte mir meinen Teil. Die anderen kamen inzwischen den nur etwa einhundert Meter kurzen Weg vom Schloss zur Anlegestelle herunter. Hermann Witte paffte eine Zigarre. Er trug einen braunen Schlips zu seinem hellen Anzug und machte ein Gesicht wie ein kerngesunder VEB-Direktor, jedenfalls war er auffallend runder geworden. Wenn er so ging, die Beine nach außen aufsetzend und dabei langsam, genussvoll den Rauch seiner Kubazigarre in die Luft blasend, signalisierte das, sein Glück sei vollkommen. Er trat auf, als hätte er schon Besitz von der halben Erde genommen, zumindest von halb Alt Rhäse. Immerhin standen nun mehr als zehntausend Mark auf seinem Konto. Er besaß ein neues Motorboot und hatte sich einen Bungalow in schöner Uferlage gebaut. Von Woldegker Zeiten, als Fischkisten dreiviertel seines Wohnzimmermöbiliars ausmachten, war keine Rede mehr, ja nicht einmal einen einzigen Gedanken verlor er daran.
Immerhin war ihm im Ausstickungswinter die Idee gekommen, mittels einfacher Stalllaternen, die er an die Eislöcher stellte, die taumelnden nach Sauerstoff ringenden Fische anzulocken um sie mit den vielen vom ihm speziell konstruierten Senken zu fangen. Sonst wären sie verreckt.
In einer einzigen Nacht war ihm gelungen, fast dreißig Zentner hochwertiger Schleien zu überlisten. Augenblicklich gefroren die Schleien zu Stein. Das tötete sie nicht, nicht alle jedenfalls. Denn vierundzwanzig Stunden später, begannen einige der noch in hölzernen Fischkisten im Sortierraum stehenden Fische wieder zu zappeln. Ganz allmählich waren sie aufgetaut.
Hermann Witte schuftete immer, sobald er sah, dass es sich lohnen würde. Sein Pflichtbewusstsein hätte Faulheit gar nicht zugelassen.
An diesem Morgen nach durchfeierter Nacht muss ihm der Gedanke zu Kopf gestiegen sein, dass er nun wer geworden war.
Der Motor des Fahrgastschiffes begann beruhigend zu schnurren. Das Boot legte ab und nahm eine Kurve beschreibend langsam Fahrt an.
„Wie wäre es, Gerd Skibbe, wenn du den Vorsitz in der PwF übernimmst?” Obwohl mich dieses Angebot Hermann Göcks nicht wirklich überraschte, schmeichelte es mir. Er war Mitglied der Bezirksleitung der SED und hätte die Macht gehabt, mich im Verlaufe der nächsten Monate an die Stelle des gesundheitlich doch schon recht angeschlagenen Wilhelm Bartels zu setzen.
Mittlerweile erreichten wir den Alten Graben, den sechshundert Meter langen Kanal zwischen Tollensesee und Lieps.
Was beide Göcks eigentlich wissen mussten: ihre wenn auch unausgesprochenen  Bedingungen,  konnte ich nicht akzeptieren. Andererseits machte mich diese Versuchung ziemlich nachdenklich.
Durch die Scheiben schaute ich hinaus, sah die Birken, die den Wall der schmalen, gerade wieder ausgebaggerten Wasserverbindung säumten, und dachte, nun bist du fünfunddreißig. Das ist ein guter Zeitpunkt noch mehr aus deinen Möglichkeiten zu machen. Hermann Göck könnte dich nach vorne bringen. Ich käme meinem Ziel, einen Studienplatz an der Fischerei-Ingenieurschule in Hubertushöhe zu bekommen, näher.
Zudem ging es in der DDR sichtlich voran. Wer es sich leisten konnte, fuhr ein Auto, zumindest einen P50. Die Schließung der Grenze lag jetzt drei Jahre zurück und je länger ich das Eingesperrtsein erlitt, umso mehr gewöhnte ich mich an diesen Dauerschmerz, der immer mehr abnahm.
Nachdem ich mir ersparte, immer wieder bewusst dem Verlust der Freiheit nachzutrauern, konnte ich ganz gut mit den Verhältnissen leben. Schließlich bedeutete mir meine Frau und meine beiden Söhne das höchst denkbare Glück.
Göcks betrachteten mich geduldig. Ich bemerkte, dass sie mich wieder beobachteten. Ihnen war klar, dass es mich reizte, ihr Angebot anzunehmen: „Du kannst doch mehr als Fische zu fangen. Komm zu uns in die Partei! Wirf deine Bedenken einfach über Bord.”
Bis jetzt hatte ich mich ziemlich eng an Polonius guten Rat gehalten: „Sei dir selber treu!” Und das hat seine Konsequenzen: „Daraus folgt wie Tag der Nacht, du kannst nicht falsch sein gegen irgendwen.”
Zwanzig lange Propagandajahre hatte ich mich aus meinen Gründen gegen den auch mich gelegentlich nicht wirkungslos anfallenden Atheismus gestellt.
Kaum eine andere Sache hatte mich mehr beschäftigt als die dazu gehörenden Fragen. Mein Fazit war, dass meine Mitmenschen nicht als Folge von Bemühungen Atheisten geworden waren, sondern nach meiner Erfahrung ist es  umgekehrt.
Der Atheismus ist ein Naturgewächs. Es entspringt unserem Wesen und diesem Wesen entspricht, dass wir wie Wasser den Weg des geringsten Widerstandes suchen. Kulturgeschöpfe aber, wie der Glaube, unterliegen dem Zerstörungstrieb der menschlichen Natur. Gegen diese Natur bedarf es der Anstrengung, nicht zu zerfließen.
Schlimmer! Meinem Verständnis nach war und ist der allgemeine Atheismus, eben weil er natürlich ist, das Einfallstor für Opportunismus und inneres Chaos. Viele Genossen waren Opportunisten, auch wenn sie das vehement bestritten. Wenn ich sie an dem maß, was sie mir sagten, glaubten die meisten ihrer Partei nicht.
Sie ordneten sich ihr nur aus taktischen Gründen unter. Sozialismus war für sie und mich dasselbe. Nämlich als Realität, einem überstrengen herrschsüchtigen Vater vergleichbar, der neben seiner eigenen, keine andere Meinung gelten ließ. Es gibt keinen Menschen, der das mag.
Mit dieser Absicht balancierten seine Cheferbauer frech am Rande des Untergangs der Menschheit.
Was er uns sonst anbot, waren pure Versprechungen. Dieselben nämlich, die seine Verteidiger und vorgeblichen Verehrer den in Saus und Braus lebenden Kirchenfürsten vergangener Epochen ankreideten. Es war wie diese Vertröstung der Kirchen aufs Jenseits: Wenn wir erst den Kommunismus verwirklicht haben! Dann!
Von den Kanzeln wurde es seit urdenklichen Zeiten herabgepredigt: die Ewigkeit müsst ihr im Blick haben, nicht die Gegenwart.
Während ich an diesem herrlichen Sommermorgen in der Ecke der blaugepolsterten Sitzbank auf dem blinkend neuen Fahrgastschiff saß und die bunten Bilder der bezaubernd schönen, sich ständig verändert darbietenden Landschaft in mich aufnahm, wankte ich, und fragte mich, ob ich richtig dachte und ob ich der Wirklichkeit mit solcher Beurteilung gerecht wurde.
Wir fuhren nun der gleißenden Sonne entgegen.
Der Tollensesee hatte uns wieder.
Das Seewasser rauschte wieder kräftiger. Das Fahrgastschiff nahm große Fahrt an.
Beide Göcks recht ermüdet sagten übereinstimmend: „Lasse dir Zeit, Gerd. Überlege es dir.” Ich überlegte ernsthaft. Wenn ich mich an diesem frühen Morgen nach Hause begeben würde, müsste ich an mindestens zwölf Schrifttafeln vorbeigehen, alle gefüllt mit den jeweiligen Parolen der Partei der Werktätigen  des Landes. Die erste Botschaft würde mir bereits auf der Anschlagtafel am letzten Bootshafen begegnen.
Ich würde sie nicht aufmerksam lesen, doch ich kannte den Text längst auswendig. Ihre Gedankentropfen würden mich treffen, ob ich wollte oder nicht.
Dann rückte bereits am Haus der ‚Gesellschaft für Sport und Technik’ der zweite SED-Spruch, einigen Quadratmeter groß, in mein Blickfeld. Es war die Aufforderung, den Frieden wehrhafter  zu machen.
In der Lessingstraße empfing mich dann die dritte Losung.
Zwei weitere würden meine Aufmerksamkeit schon wenige Schritte später beanspruchen. Sie hingen an der Frontseite der EOS (erweiterte Oberschule). Die „Ewige, unverbrüchliche Freundschaft mit der Sowjetunion” beschworen sie, und die Behauptung, dass die Bonner Ultras auf Kriegskurs sind.
In meiner Aufzählung, die ich schweigend vornahm, kamen nun die beiden an den Gebäuden des Wehrkreiskommandos.
Da hieß es, dass der Weg zum Sozialismus gesetzmäßig sei.
Zwei weitere Plakate hingen im Kinobereich.
Ich musste an den Bahnhofsvorplatz denken. Auf der rechten Seite, neben dem HO-Kleidungsgeschäft befanden sich zwei große Holztafeln. Auf einem der beiden Schilder stand bereits monatelang Weiß auf Rot: „Die SED ist die höchste Form der gesellschaftlich-politischen Organisation der Arbeiterklasse, die führende Kraft der sozialistischen Gesellschaft. Die Partei gibt diesem Kampf Richtung und Ziel.”
Unentwegt fielen diese Tropfen. Sie bildeten in unseren Hirnen Kalkstein. Niemand entkam diesem Einfluss. Wie die Luftfeuchtigkeit war der Parteigeist allgegenwärtig. Es war die Machtfrage: Wer wen?
Fortschritt durch Diktat! Jedes Menschenhirn empfand diese Kombination als grundfalsch, weil unzumutbar.
Wo bewirkten Zwang und Indoktrination jemals Gutes?
Nicht wenige Genossen hatten mir ihre Aversionen enthüllt.
Oder waren das nur die Spötteleien von Menschen über ihren herrschsüchtigen Vater, den sie trotz alledem liebten?
Als wir anlegten am Steg vor dem Badehaus und von Bord gehen wollten, umfasste Hermann Göck mit seiner Rechten meine Schulter. „Bleibe ruhig. Sage mir, wenn du soweit bist!”
Seiner Überzeugung nach hing mir eine überholte Denkweise an, wie einem alten Galeerensträfling eine verrostete Kette. „Du musst dich befreien!”
Ihm war auch nicht annähernd klar, was er forderte. Allein seine Vorstellung, dass Erkenntnisse fesselnde Funktionen haben sollen, verwunderte mich. Er war unfähig zu erkennen, dass mir die Freiheit des Denkens so viel bedeutete.
Wenige Wochen später trat Wilhelm Bartel überraschend der SED bei. Im Rausch, eben weil er fast nie trank, müssen ihm kurz zuvor ungeheure Beleidigungen führender Genossen über die Zunge gerutscht sein. Es war nicht Bartels Art, Menschen anzugreifen oder zu kränken. Er gehörte zu den Friedlichen. Einer der Stasioffiziere, die als Freizeitfischer bei uns verkehrten, wollte es angeblich gehört haben. Er nahm den kleinen Vorsitzenden beiseite. Er müsse Hermann Göck unterrichten.
Bartels Verunglimpfungen hätten ein Nachspiel. Er sei immerhin der Vorsitzende einer sozialistischen Produktionsgenossenschaft.
Ich meine: Wilhelms Argumente gegen die Partei können nur pragmatischer Art gewesen sein. Ihm konnte allenfalls das Missgeschick unterlaufen sein, sich mehrdeutig ausgedrückt zu haben.
Aber wie wollte er seine Unschuld beweisen?
Er soll auch gesagt haben, Hermann Göck sei selber schuld daran gewesen, dass er ins KZ kam. Göck wäre ein Übertreter.
Ein fataler Fehler.
Wilhelm gab zu erkennen, dass er außerstande sei, sich an irgendetwas zu erinnern. Aus der Angst, in die sie ihn versetzten, sowie aus der Befürchtung heraus, er könnte seine innere Sicherheit verlieren, auch aus Reue und getrieben von dem Wunsch die Kränkungen wieder gut zu machen, die er angeblich Männern wie Hermann Göck zugefügt hätte, bat Wilhelm Bartel um Aufnahme in die Partei.
Anders glaubte er seine Loyalität, wie er plötzlich befürchtete, nicht mehr belegen zu können. Ich sah ihn unmittelbar nach dem gewichtigen Gespräch in dem ihm vorwurfsvoll gesagt wurde, wozu er sich habe hinreißen lassen.
Grau und reuevoll in sich gekehrt  sah Wilhelm aus, wie einer, der im Zustand der Volltrunkenheit Vater und Mutter erschlagen hat.
Ihm sollte Biederstaedt folgen.
Doch wie Fritz Biederstaedt es mir erklärte, verblüffte mich.

 

Wenn es hochkommt,  war das Leben ein Traum


Ende Februar ‘65 ernteten wir Rohr. Neben Fritz Biederstaedt lief ich den zwei Kilometer langen Weg zu den Neubrandenburger Torfwiesen. Unsere Sicheln in der Hand marschierten wir und tauschten unsere Gedanken aus, die sich zunächst nur auf die Arbeit bezogen. Ein Rohraufkäufer bot uns für je drei Stunden Schinderei fünfunddreißig Mark. Für je ein Schock Rohr sollten wir diesen Betrag erhalten. Sechs Stunden konnte man täglich die Qual solcher Anstrengung durchhalten. Zwei Paar solide Halbschuhe ließen sich dann für diese siebzig Mark erwerben. Das war viel. Rohrschnitt bedeutete, mit einer auf halbe Sensenlänge gestutzten Schnittfläche Rohrhalm für Rohrhalm möglichst bodennah abzuschneiden.
Wir zogen unsere blauen Wattejacken aus und begannen. Je einen Arm voll Rohr nahmen wir und ratschten, was wir so festhielten, mit unseren Kleinsensen ab.
Fritz wandte sich bald nach links, ich in die andere Richtung. Nach mehr als zwei Stunden rückten wir wieder aufeinander zu. Wie eine Erntekombine, die mitten durch ein Maisfeld fährt, schufen wir Schneisen und Räume, die sich ständig veränderten. Seine braune Schiebermütze schief aufgesetzt, mit seinen schwarzen hochschäftigen Lederstiefel im Morast patschend sah ich ihn in dreißig Meter Entfernung eifrig rackern. Plötzlich hielt er inne. Fritz drehte mir sein großes Gesicht zu. Er hatte bemerkt, dass ich ihn beobachtete. Seine Rechte umklammerte den ellenkurzen Sichelstiel. Er kam auf mich zu. Der schwarze Torf spritzte. Seine braunen Augen funkelten. Ihm war anzusehen, dass er mir Wichtiges mitteilen wollte. Fritz presste einen knappen Satz heraus: „De Partei will uns de Sääl ut den Liev rieten!” 165 Er lächelte, wog den Kopf. Sofort wusste ich, was er meinte. Natürlich, das war ja mein Grund mich zu widersetzen. Ich kam nicht dazu ihm beizupflichten, denn  er  vollendete,  morgen  werde  er  den  Antrag stellen, Kandidat der SED zu werden. Mir schien er hätte mich und sich kopfgestellt. Nein, es war alles in Ordnung. Äußerlich jedenfalls.
Ich sah eine Szene, die er mir bereits früher schilderte. Ich sah ihn als jungen Diener im Hause seiner Herrschaft, wie er in einem Streitfall vor Wut kochte und dennoch pflichtbeflissen lächelnd dastand.
Auf dem letzten Teil des Hermarsches hatte Biederstaedt bereits unentwegt auf Ulbricht und Anhang mehr geflucht als geschimpft.
Nun erklärte er mir: Diese Leute würde er dennoch ab sofort seine Genossen nennen. Mir verschlug es die Sprache. Ich stotterte hilflos und war verwirrt: „Fritz! Wenn du so denkst, kannst du doch nicht ...!”
Er schüttelte den kaum ergrauten Kopf. Mit der Wahrheit käme man nicht weit. Ich betrachtete seine helle, fliehende Stirn und fragte ihn und mich. Wohin willst du gehen, wenn nicht auf die nächste, bessere Erkenntnis zu? „Wenn du wat warn wisst, denn mösst du dat!” 166, erklärte er kurz und bündig. Er sei nun neunundfünfzig geworden und für die letzten vor ihm liegenden Lebensjahre hätte er sich noch viel vorgenommen. „An de twintig Johren hew ich noch!” 167 War das mein guter, alter Biederstaedt? Wir schauten einander an. Aber weder er noch ich sahen weit genug. Jedenfalls seinen Todesengel, der ebenfalls mit einer Sense bewaffnet, direkt hinter ihm auftauchte gewahrten wir nicht. Wir ahnten gar nichts. Genau 146 Lebenstage lagen noch vor ihm.

Anfang Juli warf ihn ein schwerer Schlaganfall aufs Sterbelager.
Als die Sargträger Biederstaedt mit seiner letzte Behausung in die Grube nieder senkten, überkam mich ein Gefühl der Wehmut.
Er war ein unerschrockener Kämpfer gewesen. Nicht immer konsequent und oft gewillt, auch das offensichtlich Falsche zu tun, nur um der Illusion zu folgen, schneller glücklicher zu werden. Seine eigene Logik hatte er niedergerungen und trotzdem gehofft, das letzte Größte sei auch für ihn erreichbar.
Fand ich mich nicht in ihm wieder? Fanden wir uns nicht allesamt in ihm wieder? Stachelte mich nicht viel zu oft etwas an, gegen meine Einsichten zu handeln?
Über den blaugrünen Omorikafichten, die sein Grab beschatteten, dehnte sich ein ungeheurer Himmel. Sachte trieben die Wolkengebirge über uns dahin. Das ganze Leben ist voller Widersprüche. Es gibt kein Leben ohne Gegensätze.
Meinen bunten Nelkenstrauß versuchte ich behutsam auf den in der Grube dunkel schimmernden Deckel seines Sarges niederfallen zu lassen. Drei Sekunden lang, während weicher, weißer Sand durch meine Finger rieselte, versprach ich ihm, ihn niemals zu vergessen. Er und ich, wir hatten zu viel erlebt, um nicht zu wissen, dass die Wahrheit sich nicht nach unseren Wünschen richtet. Irgendwie wussten wir, dass sie etwas unbeugsam Ehernes an sich ist, wie eine unendliche Gerade. Die Wahrheit rankt sich nicht um uns. Sie kann sich niemals anpassen. Wir müssen es. Deshalb sind wir ihr bis zur Todesstunde verpflichtet.
Wir beide wussten es. Jeder Lüge folgt die unsichtbare, gnadenlose Hand, um ihre Zinsen für den scheinbar freigebig gewährten Kredit einzufordern.
Reuig oder nicht, wir haben den Preis zu entrichten.
Als alle davongingen, wandte ich mich noch einmal nach seinem Ruheplatz um. Uns will scheinen, dass der Lauf der Welt sich ändert, wenn ein Freund von uns geht.
Es geschieht tatsächlich. Wenn wir nachdenklich in uns gehen, verändert uns selbst ein letzter Abschied ein wenig mehr zum Guten.


Karpfenwiederfang mit Hindernissen


Fritz Biederstaedt hatte ein Jahr zuvor noch mit den meisten anderen gegen mich gestimmt. Deshalb wurden einige Landseen intensiv mit Karpfen besetzt. Ich hielt es für eine Verschwendung von Zeit und Getreide, in natürlichen Gewässern wie in Teichwirtschaften zu operieren. Die Camminer Seenkette, namentlich der Gramelower und der Camminer See, wurden geradezu mit Karpfensetzlingen gespickt. Geplant war eine Steigerung der Karpfenproduktion um dreihundert Prozent auf mindestens dreißig Tonnen jährlich. Sechzig Tonnen Futtermittel, Weizen oder Mais müssten zugefüttert werden.
Die Vorstellung, dass zwei Männer im Bereich der herkömmlichen Produktion fehlen und das Bild von den Kornmengen, die ins Wasser geschüttet würden, gefielen mir gar nicht.
Immerhin, es ging nach Beschlusslage, die noch vom Bezirksfischmeister Ernst Stöckelt eingebracht worden war.
Frühestens Mitte November sollten die geplanten 12 Tonnen Weihnachtskarpfen auf dem Gramelower See gefangen und in speziell gefertigte, geräumige Holzhälterkästen bis zum Festtagsverkauf gesetzt werden.
Aber Planung und Leben sind natürlich zweierlei. Exakt Mitte November 1965 brach vorzeitig der Winter über das Land herein.
Eisiger Sturm fegte über Wälder und Seen. Nun war nur zu hoffen, dass die Gewässer, wennschon - dennschon richtig zufroren, damit wir tragfähige Eisflächen bekamen. Die ersten fünf Zentimeter Eisstärke wuchsen in zwei Nächten heran. Der Wetterbericht sagte anhaltenden Frost voraus. Hoffentlich hielt die Natur, was die Meteorologen versprachen. Am fünfundzwanzigsten maßen wir erst zehn Zentimer Eis, trotz der enormen Kälte. Die tiefen Seen wie der Tollensesee zeigten noch nicht die Spur von Wirkung, ihre Wärmeschichten wurden nur langsam abgebaut und ausgetauscht. Erst wenn die Wassersäule durchgehend vier Grad Celsius erreicht, beginnt die Winterstagnation,  dann kann der Frost die Wassermoleküle zwingen kristalline  Strukturen anzunehmen. Bis dahin sinken sie immer wieder  die Tiefe ab. Selbst kleinere Gewässer weisen bei vorzeitigem Wintereinbruch noch beachtliche Wärmekapazitäten auf und die Eisbildung erfolgt deshalb im Spätherbst verzögert.
Endlich am 1. Dezember durften wir es wagen, den Gramelower See mit schwerem Geschirr zu belasten. Auf gewohnte Weise kippten wir die Schlittenfuhre ins “Inlett”. Stets unterstand der linke Flügel mir. Auf ‚meiner’ Seite arbeitete sich Hermann Witte mit der Stoßaxt schnell voran. Wir konnten ihm nicht folgen. Natürlich ging es zu langsam. Erst die Hälfte des Fanggeschirres hatte die parallel zum Ufer verlaufende Strecke zurückgelegt. Beide Flügel müssen sich unter dem Eise ausbreiten wie zwei Arme, die sich nach und nach möglichst schnell ausstrecken. Die Vorderstücke des insgesamt zweimal vierhundert Meter langen Netzes sollen eigentlich ohne großen Kraftaufwand jeweils an die entgegengesetzt liegenden Eckpunkte befördert werden.
Dorthin zieht man diese Wadenstücke, wenn genügend Kräfte zur Verfügung stehen, normalerweise mit bloßen Händen.
Aber wir mussten sie an diesem Morgen mit Gewalt heranwinden. Sofort, als sich diese Unnormalität bemerkbar machte, hätte ich handeln müssen. ‚Etwas’ stimmte nicht und dieses Etwas war von mir verursacht worden. Auf meine Weisung hin wurden gegen den Rat des erfahrenen Witte zu wenige Steine von der Unterleine abgebunden. Noch war ich starrsinnig. Es musste auch so gehen, meiner Meinung nach.
Am anderen Flügel schien es ebenfalls zu hapern. Die kämpften mit ähnlichen Schwierigkeiten. Das sah man.
Gruß und die Reinigerbrüder waren doch auch keine Neulinge.
Wiegenden Schrittes, aber schon in Eile, kam Hermann schließlich auf uns zu, nachdem er bereits die Hälfte des knapp fünfhundert Meter langen Weges vom Ost- zum Westufer in den geforderten Zwölffußschritt-Abständen durchlöchert hatte und wir uns immer noch am Umlenkloch aufhielten. Ihm war klar, woran das lag. Jede seiner Bewegungen verriet, dass er zunehmend in Wut geriet. Hermann schaute mich aus zusammengekniffenen Augenlidern an und knurrte: „Dat möt ännert warn!” 168
Zweimal schlug er heftig die Arme über Kreuz.
Mit verzerrtem Gesicht und ohne mich zu fragen handelte er. Er nahm die Eisaxt und vergrößerte das Eisloch vor unseren Füßen ums Doppelte auf sechs Quadratmeter Fläche. Ich wusste, was er vorhatte. Es war in dieser Situation richtig und ich biss mir auf die Zunge. Wenn die übermäßig beschwerte Grundleine des Zugnetzes an wahrscheinlich sogar mehreren Stellen in den weichen Seeboden einschneidet, dann gibt es nur eine Konsequenz: Steine abbinden!
Da ich noch zögerte, riss Hermann mir abrupt die Oberleine des Zugnetzes aus der Hand. Er presste die schmalen, blauen Lippen zusammen, haspelte sich bis an die Unterleine, nahm sein Messer, schnitt den ersten Wadenstein ab, dann den nächsten und so fort. Er fluchte. Ich fluchte zurück.
Durch einen Schicksalsschlag verbittert, war ich zu hart geworden.
Mein Vater nahm sich vor erst sechs Wochen das Leben und ich musste mit dem Selbstvorwurf fertig werden, versagt zu haben. Hätte ich doch mehr Zeit verwandt, um ihn aus seiner tiefen Depression herauszureißen. Mir war es ja fast gelungen. Aber immer ging die Arbeit vor.
Hermann begann sogar die vorderen Wadenstücke zurückzuziehen, ohne meine Mithilfe und Mitsprache zuzulassen. Pure Übertreibung war das. Klafter um Klafter holte er die Unterleine heraus, legte sie aufs Eis, hielt sie mit dem Fuß fest, und, ratzbatz schnitt sein Messer.
Als wäre ich Luft für ihn handelte er, als wäre er und nicht ich für diesen Flügel des Gesamtnetzes verantwortlich. Zum Überfluss beorderte er ein paar jener Helfer, die sich immer einstellen, um ein für sie so seltenes Ereignis wie die Eisfischerei mitzuerleben, zum fünften Eisloch in etwa vierzig Meter Entfernung. Dort sollten sie von Hand die acht Millimetervorderleine soweit ziehen, wie möglich, bis nämlich der meterlange Buttknüppel, der dem ersten Stück vorangeht, sich quer vor das nur waschschüsselgroße Eisloch legt.
Ich fühlte mich mehr als angestachelt die Initiative wieder an mich zu nehmen. Noch war ich nicht der Fangleiter, noch kein Brigadier, aber dieser Flügel war ‚meiner’. Was suchte er überhaupt auf meiner Seite?
„ Hau ab!”, fauchte ich ihn an.
Wir bellten uns an, wie zwei Straßenköter. Der aufkommende scharfe Morgenwind sauste und fegte Eispartikel über die stellenweise bloßliegende graublaue Eisfläche. Der Schnee knirschte unter unsern Gummistiefeln. Von der Sonne und angenehmeren Temperaturen keine Spur. Grau in Grau der abweisende Himmel. Die jungen Männer zogen das bereits von fast allen Zugnetzsteinen befreite Buttstück weiter. Wir aber befanden uns dreihundert Meter von ihnen entfernt auf halbem Weg zwischen Wadensack und der Umlenkstelle. Hermann vergrößerte immer noch ein Loch ums andere laut schimpfend, zerrte, zog, schnitt. Da platzte mir der Geduldsfaden, ich entriss Hermann die Leine. Im Begriff sein scharfes Messer, das auf dem Eis lag ins Loch zu stoßen, richtete er sich im Zorn auf, griff augenblicklich zum Stiel seiner in die Eishaut hineingedroschenen Axt, die griffbereit dastand weil er sie ins Eis, wie in einen Haublock hinein geschlagen hatte.
Die Axt machte mir keine Angst. Zuschlagen würde ein Hermann Witte nicht. Nicht er  und schon gar nicht hier.
Wirklich nicht?
Ich schaute ihn ebenso grimmig an wie er mich. „Hau bloß ab!”, entfuhr es mir erneut und scharf. Da warf er die große, langstielige Axt mit einem Ausdruck von maßlosem Hass von sich, als schleudere er einen Knüppel weit über die Eisfläche. Das Eisen surrte über das Glatte in eine Schneewehe hinein. Er kehrte mir danach den Rücken zu und ging, stürzte, den Kopf wie ein Wildkater nach vorne gestreckt, immer schneller, lief davon, raffte seine geflickte Wattejacke auf und rannte dem Festland zu in Richtung Camminer Bahnhof.
Ich rief hinter ihm her, bereute meine Reaktionen. Aber er ließ sich nicht aufhalten. Mit uns Idioten wolle er nichts mehr zu schaffen haben.
Mir legte sich eine zusätzliche Last auf den Brustkorb. Aber es musste weitergehen. Am anderen Flügel in einem halben Kilometer Entfernung unternahmen sie anscheinend dasselbe, was Hermann zuvor auf meiner Seite getan hatte. Der Grund des Gramelower Sees war zu weich für unser grobes Geschirr. Dieses Gewässer bewirtschafteten wir erst seit kurzem. Uns fehlte die Erfahrung, soweit es seinen Seeboden betraf.
Mittlerweile hatten wir das Netz im Halbkreis unter der Eisdecke auf voller Länge ausgebreitet. Wilhelm Bartel, der immer noch scheinbar gleichmütig am Einlassloch neben dem Wadesack stand und aus der Ferne winzig wirkte, winkte plötzlich. Er gab das Zeichen: Jetzt bewegt ihr die Hökelsteine, alles in Ordnung! Wir wussten, was sich da tat. In halbem Schritttempo rutschte nun der riesige Garnbeutel in die Tiefe.
Nun ging es ums Ganze.
Allerdings war, wie sich noch herausstellen sollte, erst die halbe Arbeit geleistet und immer noch zu wenig Rundsteine entfernt worden.
Schon waren statt der üblichen zwei Stunden bereits fast vier vergangen. Die bereits am anderen Seeufer windenden Männer stöhnten und schwitzten. Sie drehten an den Knüppelwinden als hätten sie schwere, hochbeladene Ackerwagen aus einem Lehmloch herauszuwühlen.
Plötzlich krachte es wie Karabinerschüsse. Nahezu gleichzeitig waren auf beiden Flügelseiten die Sechszehnmillimeterseile geplatzt. Ächzend hatten sie solange die Windenschlitten an Land festgehalten. Rechts und links des Schlittens flogen die uns helfenden fremden, ahnungslosen, kräftigen langen Kerle wie von Kinderhand geworfene Zinnsoldaten zur Seite und zu Boden. Als wären sie Pappkameraden.
Die Windenschlitten waren fünf, sechs Meter in Richtung See katapultiert worden.
Böse Folgen hätte das haben können. „Ist ja nichts passiert”, beruhigte ich mich.
„Es hätte aber auch Schwerverletzte, wenn nicht Tote geben können”, konterte mein Verstand. Aus einigen Metern Entfernung war ich nur Zuschauer gewesen. Eigentlich durften wir nicht zulassen, dass Fremde sich einschalteten. Aber wir waren ja froh, wenn sich Leute fanden, die ohne lange zu fragen mitmachten. Etwa zehn Männer, zur Zeit tätigkeitslose LPG-Traktoristen, halfen uns mittlerweile.
Fast mehr als wir fieberten sie dem Fangerfolg entgegen.
Sie gaben sich nicht so schnell geschlagen. Die Kerle mit ihren schier überschäumenden Körperkräften, die froh waren sich regen zu dürfen, rappelten sich schnell wieder auf, wollten ungestüm weitermachen. Deshalb machten sie sich wieder an dieselbe Arbeit.
Nein!
Wahrscheinlich war sich keiner der Gefahr bewusst, in der er sich befunden hatte. Jetzt hieß es, sich vor Hermann Wittes Einsicht zu beugen: „Sämtliche Steine ab!” Wenn das Zugnetz in voller Länge durch den Seeboden schneidet, dann lässt es sich zwar noch eine Weile vorwärts bewegen, aber der Gesamtwiderstand wächst unaufhörlich. Ein Fischer schrie den anderen an.
Wilhelm Bartel hatte es angemahnt, sich aber nicht durchsetzen können. Wozu bedurfte man in einem flachen Gewässer der Beschwerungen an den Unterleinen? Die Steine sollen ja lediglich dem Zweck dienen in Seen, die tiefer sind als das Netz, den Schwimmern an den Oberleinen entgegen zu wirken. Denn von Ausnahmefällen abgesehen, soll das Zugnetz ‚Grund halten’.
Jetzt galt es, das unregelmäßig ausbuchtende Netz unter der undurchsichtigen Eisdecke zu finden und es dann partiell aus dem Morast zu heben. Wir wussten, dass auch dieser Befreiungsversuch nicht ungefährlich sein würde. Denn die überbeanspruchten Unterleinen schießen erfahrungsgemäß, wie starke bis zum Reißen gedehnte Gummiseile augenblicklich vor, sobald sie auch nur teilweise aus der Tiefe des Morastes gezogen werden.
Den übereifrigen Traktoristen mussten wir einschärfen, dass sie unter keinen Umständen das unter Hochspannung stehende Garn festhalten dürfen. Jederzeit muss es reibungslos aus den Händen gleiten können. Eben wie der unberechenbare Netzdruck das erfordert.
Ein ostpreußischer Wadenmeister war ertrunken, weil sich eine einzige Masche des Netzes unbemerkt an seine Eiskrampe geheftet hatte. Ihm war es widerfahren, dass ihn ein jäher Netzruck plötzlich davonschießender Leinen zu Boden warf und ihn mit hineinriss ins große Inlett, wahrscheinlich gleich einige Meter weit unter das Starkeis. In solchem Fall gibt es keine Rettung.
Nachmittags nach drei Uhr, nach weiterer vierstündiger Arbeit, hatten wir zehn Fischer und unsere zu allem entschlossenen Helfer, den Eispanzer an achtzig bis hundert Stellen aufgebrochen und schwer schuftend das gewissermaßen eingeklemmte Zugnetz im Wesentlichen befreit. Mehr als einmal riss mir bei dieser Arbeit der Gegendruck das Netz gewaltsam aus der Hand. Hoffentlich war uns gelungen auch den letzten der insgesamt dreihundert Wadensteine zu finden und abzuschneiden.
Hier und da schlängelten sich Aale im Schnee und auf dem nackten Eisboden, die auf erheblich unsanfte Art aus ihrem Winterquartier ans Tageslicht befördert worden waren. Unsere fleißigen Hilfsfischer freuten sich, als wir jedem erlaubten, zwei Aale einzusacken. Nur wenige Männer hatten vorsorglich einen Fischbeutel mitgebracht. Aber das sprichwörtliche ‚Not macht erfinderisch’ half ihnen. Einer zog seine Strümpfe aus und fuhr mit den Socken zurück in die Stiefel, ein anderer band die Hosenbeine seiner Oberhose zu. Endlich, als es bereits dunkel geworden war, spürten wir, dass unser Zugnetz sich wieder bewegen ließ.
Die zerfetzten Schlittenleinen hatten wir längst provisorisch verknotet, das Drahtseil wieder aufgerollt. Wenn auch nur dezimeterweise, es ging voran. Schließlich erschienen im Aufzugsloch über dem sehr flachen Wasser die Buttstücke. Endlich war klar, dass wir es schaffen konnten, ohne erneut an diversen Stellen das Eis aufzubrechen, um nachzuhelfen.
Nie wieder würde ich mich leichtfertig über die Meinung eines Mannes hinwegsetzen, der über mehr Berufs- und Lebenserfahrung verfügte, als ich. Selbst bester Wille kann zwei von Enttäuschungen erfüllte Jahrzehnte nicht ersetzen. Vielleicht ist das der Sinn unseres Lebens, dass wir durch bittere Erfahrung klüger werden. Anderthalb Stunden später sprudelten unsere meist zweieinhalbpfündigen Weihnachtskarpfen im Wadensack sowie eine stattliche Anzahl großer Zander, Hechte, Barsche und - was wir erst dreißig Stunden später bemerkten, nachdem wir auch den letzten Zentner Fische verladen hatten - fast vierzig Stück Aale. Die hatten wir ausgepflügt.
An jenem späten Abend ahnten, hofften wir nur, wir hätten tatsächlich die Hauptmenge der gesuchten einhundertundzwanzig Dezitonnen Karpfen gefunden und gefangen.
So verlangte es der Plan von uns.
An Land, unterhalb des graudüsteren Wiesenhanges, loderte ein noch eher kleines Lagerfeuer auf der Viehkoppel. Inzwischen allerdings transportierten die teilweise mit ihren Traktoren vorgefahrenen LPG-Männer große abgestorbene Erlenbäume herbei und bald erhellten die prasselnden Flammen das Gelände in einhundert Meter Umkreis taghell. Zwölf Stunden abenteuerlicher Geschäftigkeit lagen hinter uns und vor uns stand die Arbeit der Verladung und des Transportes der ersten Fuhre Karpfen, um sie in die bereitstehenden Fischbehälter im Oberbach einzusetzen.
Ein neuer Trecker kam durch die Nacht polternd mit einem Hänger angefahren, wir kümmerten uns naturgemäß nicht um ihn und das, was die Männer trieben. Plötzlich jedoch bemerkten wir, was vor sich ging. Die sorglosen Burschen warfen eine Anzahl übermannshoher Treckerreifen mit Schwung vom Fahrzeug ins Feuer hinein. Wenig später begannen die lichterloh brennenden Reifen zu krachen. Sie nährten ein Feuer wie ich es nur einmal, in meinen Kindertagen in Wolgast bei einem von Wind forcierten Brand einer randvoll mit Stroh gefüllten Scheune gesehen hatte. Zur Buße meines Verhaltens Hermann gegenüber auferlegte ich mir, die Nachtwache zu halten. Mir war allerdings klar, wenn ich Herr der Lage sein wollte, mussten erst die Helfer völlig zufrieden gestellt werden, dann ebenfalls angemessen anteilig die Nachzügler, die von den drei Dörfern Cammin, Gramelow und Riepke vom Licht magisch angelockt worden waren, um beim Verladen der Fische zu helfen.
Der Mann, der sich die Hosenbeine zugebunden hatte, damit ihm die durch seine Körperwärme lebhafter gewordenen Aale nicht entwischten, stand unauffällig im Halbschattenbereich, bis er aufgefordert wurde einen Bottich Fische zu tragen . Er zögerte, doch seine Mittraktoristen machten ihm Beine.
Während er unbeholfen ein paar Schritte ging, platzte das Band. Er bewegte sich gerade in diesem Augenblick mitten in die hellste Lichtzone hinein, als sich sein Raub selbständig machte. Drei Zander und zwei Aale kamen zum Vorschein. Aller Blicke wurden durch einen Aufschrei von einem der Helfer auf das nun wie im Rampenlicht dastehende Mannsbild gelenkt. Unleugbar, er hatte sich gegenüber allen anderen erhebliche Vorteile verschafft. Niemand hätte ihn getadelt wäre er mit zwei Zandern und zwei Aalen zufrieden gewesen. Aber das andere, noch luftballonartig aufgeblähte Hosenbein verriet seine durch nichts zu entschuldigende Unverschämtheit. Das prall ummantelte Bein gemessen an dem nun so unglaublich dünnen anderen, stempelte ihn in aller Augen zu einem gemeinen Dieb.
Die stämmigen Treckerfahrer regelten das untereinander.
Der da hatte eine unsichtbare Grenze überschritten. Bloß einen großen Karpfen und einen Aal ließen sie ihm. Von Halunken hielten sie gar nichts. Sie jagten ihn weg und setzten damit das Recht wieder in seine natürliche Funktion ein. Als ich nach der Mitternachtsstunde allein am lodernden Feuer saß, während ich mir einen Hecht über dem Extrafeuer aus Erlenstämmen briet und räucherte, stellte ich zufrieden fest, dass es ganz ruhig um mich herum geworden war.
Wie ich ohne die Regelung, die seitens der Männer untereinander erfolgt war, die lange Nacht ohne Übergriffe überstanden hätte, wagte ich nicht auszudenken.
Zwei Jahre später erlaubten meine Kollegen nicht, dass ich an der Fischerei-Ingenieurschule ein Fernstudium aufnahm. Sie waren vom Grundsatz der Gleichheit dermaßen durchdrungen, dass sie es ablehnten. Sie hatten nicht studiert, ich hätte es ebenfalls nicht nötig. Außerdem wäre mit Reinhard Lüdtke bereits ein Überstudierter da. Gegen ihren Willen sei er auf bezirkliche Weisung als Diplomfischwirt in den Betrieb eingestellt worden. Wie sie glaubten, war das bereits allzu viel der unguten Schlauheit.
„Nö”, verweigerte auch Bartel sich, der über das Thema Qualifizierung zwar anders dachte als sie. Er habe dasselbe wie ich vier Jahre zuvor gewollt und ich hätte mich ja auch gegen seine gute Absicht ausgesprochen.
Das entsprach den Tatsachen. Ich hielt ihn für zu alt und wollte selbst vorwärts kommen.

Doch Reinhardt Lüdtke, der sich inzwischen Respekt erworben hatte, setzte sich vehement für mich ein und so begann ich, inzwischen siebenunddreißigjährig das langersehnte Fernstudium.

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