„Rohrspatz sollst du heißen”
Wieder einmal
war für Otto Görß, die ein ums andere Mal verlängerte Frist, zur Fertigstellung
der Unterwasserschilfschneidemaschine, abgelaufen.
Am Abend des
letzten Junitages klopfte es an Wilhelm Bartels Wohnungstür im Badehaus.
„Heiner!”,
hörte der Vorsitzende die junge, von Weinkrämpfen geschüttelte, schwangere
Ehefrau
seines jüngsten Genossenschaftsmitgliedes Mikusch schluchzen. Ihr
Heiner sei nun schon seit drei
Tagen nicht mehr nach Hause gekommen. Entweder
hätte er eine andere gefunden oder, und das war
das Wahrscheinlichere, er habe
sich auf Nimmerwiedersehen in den Westen abgesetzt. Aufseufzend
musste Bartel
sogleich auch an Otto Görß denken. Vier lange Wochen hatte Otto sich nicht
blicken
lassen.
Nahm denn diese
Anzahl der Probleme nie ab?
Eine ganze Stunde
lang heulte die junge Frau und nervte ihn, während er gegen einen weiteren
furchtbaren Verdacht ankämpfen musste. In der Tat. Otto Görß und Mikusch
konnten mancherlei
miteinander abgesprochen haben. „Dreitausend Mark!”,
murmelte er, indem er an die Summe
dachte, die der Buchhalter Adi Voß Otto
teilweise zur freien Verfügung oder in Form von blanko unterschriebenen
Verrechnungsschecks ausgehändigt hatte. Schon ganz andere Leute waren so
weit
gegangen, Rechnungen zu fingieren. Wenn Otto wollte, dann ...
Nein! Otto war
kein Betrüger. Otto war ein ehrlicher Mann!
Wilhelm Bartel
schrumpfte zusammen, als er sich seiner eigenen Nachfrage stellte: Bist du
sicher?
Trau, schau,
wem.
Sehr reuig
wiederholte er vor sich selbst: ‚Ich habe mich breitschlagen lassen!’
Er war nicht
dafür gewesen, dass Görß sich zum Konstrukteur und gar zum Erfinder
aufschwingen
wollte. Eulenspiegel wollte auch über den Kirchturm springen. Dem
zusammengeströmten
erstaunten Publikum erklärte der Narr dann: ‚Na, ja, ich
will ja immer noch. Daran liegt es nicht! Bloß, der Kirchturm ist mir zu hoch.’
Otto könnte
allemal beteuern, dass es an seinem guten Willen nicht gelegen habe.
Die Schwangere
ging schließlich. Halb hatte er sie gebeten, ihn endlich schlafen zu lassen,
zur andern Hälfte sah sie wohl ein, dass selbst Wilhelm ihr den Ehemann nicht
herbeizaubern konnte. Vorsitzender Bartel entnahm der fast geleerten Schachtel
eine neue Zigarillo. Tief in schwarze Gedanken versunken schaute er aufs dunkle
Wasser. Von nebenan hörte er die Wanduhr. Es war Mitternacht geworden.
Morgen früh
sehe ich nach! Das schwor er sich. Wilhelm litt sehr unter dem plötzlich
massiven Selbstvorwurf, nicht eher misstrauisch geworden zu sein. Seiner
Aufsichtspflicht war er nicht nachgekommen.
Mit geweiteten
Augen lag er im Bett und starrte noch lange an die Zimmerdecke.
Gleich am
nächsten Morgen begab Wilhelm sich mit dem blauen LKW “Phänomen” zum
Blumenborn, in die Zehdeniker Straße, wo Otto wohnte und angeblich die
hochkomplizierte Technik zusammenbaute.
Diesmal wollte
er Fakten sehen, schlechte oder gute. Die Zeit der Geduld und der Ausreden war
endgültig vorüber.
Ihr Mann sei
nicht daheim, sagte Frau Erna leise. Ein wenig gekrümmt stand sie in der
Eingangstür des grauen, kleinen Einfamilienhauses. Ihr Otto sei, bereits vor
zwei Tagen, nach Waren gefahren. Sie schlug die Augen nieder. Eigentlich müsste
er längst zurück sein. Sie wog ihr jüngstes Kind auf dem Arm, während ein
zweites und drittes an ihrem Rockzipfel hingen, alle mit großen, dunklen
Kulleraugen. Verschüchtert betrachteten die Kleinen den erregt paffenden
Eindringling. Beide in den Westen abgehauen! Abgesprochen! Bartels graue
Mausaugen rotierten. Er wehrte sich zwar gegen die Vorstellung, auch Otto hätte
sich davon gestohlen. Doch es galt nun, den unangenehmen Wirklichkeiten ins
Auge zu blicken.
Nervös zupfte
er weiße Blütenblätter von der duftenden Spiräe. Er zerrieb sie.
Das also war des Pudels Kern.
Statt es zu Ende zu qualmen, zerbiss Wilhelm
sein Zigarillo.
Es war äußerst unwahrscheinlich, dass Otto
über Sonntag in Waren hockte.
Beide waren mit dem Geld durchgebrannt!
Hatte er nicht
gleich befürchtet, aus dem Vorhaben komme nie und nimmer Gutes heraus? Für Geld
und Weiber ließen die Kerle ihr Leben. Otto ist auch nicht besser. Warum auch?
Alle sind sie gleich, die blöden jungschen Böcke. Ihm schien, dass er beide
Familienväter in einer der grauschwarzen Holzhütten am Bahnhof Zoo sitzen sah,
wo sie den Westberlinern vorjammerten: Die Partei hetze hinter ihnen her, wie
der Teufel hinter den frommen Seelen.
Wilhelm
hustete.
So schlimm traf
es nur selten zu. Die meisten gingen nur rüber, weils hier so grau war und der
Goldglanz von drüben herüberschimmerte.
Er war einmal
in einer dieser Flüchlingsauffangsbaracken in Marienfelde gewesen und hatte
dort aus purer Neugierde ein Gespräch mit einem der jungen Angestellten, einem
Mitglied der ‚Berliner Falken’, gesucht: „Was wäre, wenn ich mittellos hier
ankäme?“ Darauf hatten sie ihm schwach geantwortet.
Ohne Bedeutung
war dieses kurze Gespräch geblieben. An die sonderbare Stimmung von damals
konnte er sich erinnern.
Dieses düstere
Bild, da säße er als Bettler und Flüchtling, und er hätte die Brücken hinter
sich abgebrochen, er hätte seinen bunten reichen See hinter sich gelassen und
mit ihm ein zwar hartes Leben, aber auch die Vorzüge des auf eigenen Füßen stehenden Fischers.
Nee!
Niemandem würde
er je raten, einer blanken Illusion zu folgen. Das Leben wiegt im Westen wie im
Osten seine sechsundsiebzig Kilogramm. Denen entkommt man nicht.
Das schöne
Geld!
Es zerriss ihm
fast das Herz. Er hatte sich zum letzten Mal Anfang Mai um den Fortgang der
übernommenen ‚Heim’ - Arbeit Ottos gekümmert und schon damals dieses miserable
Gefühl gehabt, dass mehr als nur eine Kleinigkeit nicht stimmte. Otto war
niemals imstande eine Bauzeichnung anzufertigen, geschweige denn ein derart
komplexes technisches Gerät. ‚Bekloppter Ernst Stöckelt.’
So etwas
brockten ihm nur die führenden Genossen ein und die Partei wird obendrein nicht
den Verursacher, sondern ihn als Vorsitzenden für schuldig halten, wenn die
furchtbare Pleite offen zutage tritt. Versäumnis der Kontrolle. Vertrauen ist
gut, Kontrolle ist besser. So nannte man das. Von wegen, was die Partei
beschloss, das wird sein.
Nun wird ihn
die gerechte Strafe für seine Kapitulation vor der Unvernunft ereilen. Wilhelm
fragte nicht lange, er ging an Ottos Frau Erna und ihren schüchternen Kindern
vorbei, einfach durch den schmalen Flur in den Hof. Sein Verdacht trieb ihn
gewaltsam vorwärts. Aufgeregt zog er eine Zeltplane beiseite.
Das hatte er
sich gedacht!
Von Luftikus
Otto war erst der glatte Boden des Bootes gelegt, sowie die ersten Spanten und
ein bisschen Schrot in die Ecken der kleinen, knapp überdachten Hoffläche
gestellt worden, zum Schein und für alle Fälle. Otto hatte die dreitausend Mark
eingesackt und war nun ein für allemal verschollen. Wie stand doch gleich der
Wechselkurs, den die Westberliner Geldhändler manchmal jede Stunde neu
festlegten?
Vierfünfzig Ost
für eine Westmark? Blitzschnell hatte Wilhelm es ausgerechnet: schäbige
sechshundertundsechsundsechzig Mark West für so einen Berg Vertrauen. Für jeden
der beiden dreihundertunddreiunddreißig Mark. Wenn das wenigstens zehntausend
gewesen wären.
Da saßen sie
also, seine gutgläubige Erna mit den Vieren und die kleine schöne Mikusch, die
ihr Kind erwartete.
„Nö!”,
entgegnete Erna entschieden, als sie endlich verstand, was der missgelaunte
Fischerchef andeutete. „Doch Otto nüch!” und: „Wülhelm schäm di wat!”
Wilhelm versuchte es mit einer Ausrede. Er
hätte nur Spaß gemacht.
„Över mit Vertrugen mökt man kein’n Spoß!” 144,
tadelte sie ihn.
Ihr Mann suche
nur noch zwei Windenräder. Spätestens morgen käme er zurück.
Haushoch war
ihr Vertrauen.
Wilhelm
blinzelte Erna an. Er wollte ja hinter und vor und neben seinen Männern stehen.
Am guten Willen seinerseits lag es nicht. Andererseits war sein guter Wille
immer nur die eine Sache.
Nee, die Ottos
und Mikusch machten doch, was sie wollten. Wie könnt ihr Frauen nur so
leichtgläubig sein? Vertraut doch diesen Windhunden nicht!
Wilhelm hockte
anderntags seiner Gewohnheit entsprechend in der Fischereibaracke und studierte
die “Freie Erde”. Er las und begriff nicht, was er da buchstabierte. Er könnte
heulen. Nichts lief, wie es sollte.
Da ging, im
Augenblick seiner furchtbarsten Gedanken, die Tür auf und als käme um
Mitternacht die Sonne zum Vorschein, leuchtete Ottos spitzbübisches, helles
Gesicht. Sein schiefes Lächeln war es. Das war Otto, wie er leibte und lebte.
Brüderlich
spöttisch schaute er in Wilhelms geweitete Augen. Jetzt habe er alles, auch das
letzte Schräubchen, beisammen.
Wilhelm
schluckte und erhob sich. Er kratzte die buschigen schon von einigen weißen
Fäden durchzogenen Brauen, er kratzte über seine schlecht rasierten
eingefallenen Wangen, hob die gefurchte Stirn, atmete tief aus. Im Geiste sah
er eine gewisse Baracke in der Nähe von Bahnhof Zoo. Seine gebräunte Stirn
zuckte. Aber irgendwo musste doch die ganze Wahrheit stecken.
Ottos ganze
Wahrheit lautete, er hätte bisher bloß siebenhundert Mark ausgegeben. Dreißig
für Getränke und Geschenke, zweihundert für Holz, Farbe und den Rest für eine
Kardanwelle sowie den Dieselmotor und ein paar Mark für das Material vom
Schrottplatz, sowie für Transportfahrten. Otto holte seinen Brustbeutel unter
dem rotblauen Hemd hervor. Er nestelte daran, nahm dreizehn Hunderter heraus,
und blätterte sie hin, auch die Blanko - Verrechnungsschecks.
Als ginge es um
wenig mehr als nichts, setzte er hinzu: „Hew ick mi glicks dacht. De brukte ick
gornich.” 145
In höchstens
sechs Wochen liefe das Ding.
Wilhelm, als er
das Geld und die Schecks sah, wurde vor Freude schlecht: „Sagen wir in acht
Wochen!”, erwiderte er. Zum Glück konnte niemand seine Gedanken lesen.
Sollte die
Zukunft für ihn doch noch Gutes bereithalten?
Auf der
Pritsche des betriebseigenen LKW sitzend, einem Zweitonner “Phänomen”, fuhren
wir an jenem Frühsommertag hin zu Otto. Insgeheim hoffend und zweifelnd
zugleich tauschten meine neuen Kollegen ihre Gedanken aus. Keiner wagte die
Möglichkeit eines Misserfolges ernsthaft in Erwägung zu ziehen. Wenn Otto etwas
in die Hand nahm, dann kam dabei immer ein Erfolg heraus.
Das war vor
allem Fritz Biederstaedts Überzeugung. Die Unterwasserschilfschneidemaschine
würde wie ein Uhrwerk laufen, dafür stehe er gerade. Aber Biederstaedt nahm
Otto ja allezeit in Schutz.
Wir drängelten
uns ungeduldig durch den schmalen Flur des Hauses, um das Gerät zu sehen.
Otto hatte
alles bedacht, wie es schien.
Da befand sich
auf dem kleinen begrünten Hof etwas unter der Zeltplane. Dass es groß war, sah
man. Ja, aber, war es auch die angekündigte Maschine? Oder ein modernes
Kunstwerk, das zu nichts zu gebrauchen war? Ein zusammengeschweißter
Schrotthaufen? Da riss Otto die mit dem Seil gezogene Schleife auf und sogleich
auch die graugrüne Plane beiseite. Seine braunen Augen leuchteten.
Vor uns stand
nun wie eine Selbstverständlichkeit das nur etwa sechs Meter lange Boot. Die
Eisenteile waren teilweise mit glänzend schwarzer Nitrofarbe bepinselt. Es war
nicht höher als ein normales Motorboot, vielleicht anderthalb Meter breit und
am Bug mit dem oft erwähnten Senkrechtschnittwerk ausgestattet, sowie mit der
höhenverstellbaren Waagerechtschnitteinrichtung. Otto erklärte uns kurz und
knapp wie es funktionieren sollte.
Biederstaedt
ging, stürzte fast auf seinen Freund Otto zu, umarmte und schmatzte ihn rechts
und links ab, wie die Kremlstaatsmänner auf dem Flugplatz, nach uralter
Christensitte, mit dem Bruderkuss, von Grotewohl und Ulbricht begrüßt wurden.
Wenn das kein
Grund zur Freude und zum Feiern ist?
Gratulation!
Mönsch Otto!
Nur der Beweis
der Funktionstüchtigkeit fehlte noch, und dass die vielen eisernen Einzelteile
der Schneidemaschine von diesem Boot auch getragen werden könnten, - und dass
der Probelauf gelang, dass sie vollbrachte, was man von ihr erwartete.
Wenn es ein
voller Erfolg würde, dann stimmten sie anschließend meinem Antrag auf
Mitgliedschaft in der Genossenschaft zu. Wie eine Klette hing mir diese
Hoffnung an.
Andernfalls könnten sie erklären,
dass sie mich nicht mehr benötigten. So gern würde ich bleiben. Keine langen
Reden und Fragen. Die Männer packten das schwere schwarz- und blaubemalte Boot,
nahmen es heftig in Besitz, und trugen es stöhnend mit sich, luden es, nachdem
der niedrige Zaun zur Straße beiseite geräumt worden war, auf den LKW “Phänomen”.
Die von Anfang an Beteiligten
wollten doch sofort sehen, ob alles seine Richtigkeit hat. Ernas Kinder standen
aufgereiht neben den roten Polyantharosenbüschen und lutschten gelbe Bonbons am
Stiel. Die hatte der fürsorgliche Vater aus seiner Jackettasche
hervorgezaubert.
Erna lächelte
still vor sich hin.
Ihr Otto!
Endlich langte
der LKW am Bollwerk des kleinen Fischereihafens an. Er hielt unter einer
Moorbirke.
Biederstaedt
strahlte. Er streckte die Brust heraus. Sein Freund Otto und er!
Weiße Wolken
segelten unter dem blauen Himmelszelt. Die gelblichen Halteleinen wurden
gelöst. Wilhelm Bartel sprach unbeholfen ein paar Worte. Sehr karg im Lob.
Seine leichte Sorge klang hindurch: Otto, hoffentlich geht alles gut.
Von stets einer
‚handbreit Wasser’ unter dem platten Bootsboden sagte er nichts.
„Ich taufe dich auf den Namen: ?” Verlegen schaute Wilhelm herüber.
„Ruhrspatz!”,
erwiderte Otto schmunzelnd. Das hatte er ganz vergessen zu sagen. Den Titel auf
die schwache Holzhaut zu schreiben, wäre ja immer noch möglich.
„Rohrspatz,
sollst du heißen!”
„Und schneiden
wie der Teufel”, ergänzte keuchend Hermann Müller, dabei legte er die helle
Stirn in tiefe Falten und zog den roten Ballon aus der Tasche, sprühte Balsam
in seine Kehle, versteckte das Gerät wieder in seinem grünen Anzugsjackett und
hielt sich hinterher den Hals.
Mit einem Ruck,
fast so gut vorbereitet wie von einer Helling herunter, sauste der Rohrspatz
über zwei Bohlen vom sicheren Trockenen hinein ins weißblaue Nass des
Bootshafens. Es platschte. Das Boot tauchte kurz mit dem überladenen Bug ins
Wasser und richtete sich wieder auf, so stolz und selbstherrlich wie niemand es
vorausgesehen hatte. Blaurotschwarz war es nun und ein wenig komisch anzusehen,
weil die Nase des Maschinenbootes zu tief im Wasser lag. “Hurra!”, schrie
Biederstaedt, aber nur er. Wir klatschten. Wenn er, Biederstaedt, jemandem
volles Glück wünschte, dann Otto. Milster und Neumann ruckten, wogen die Köpfe,
Boote, die ihren Bug zu tief ins Wasser tauchten, missfielen ihnen.
Otto beruhigte
sie. Wenn er selbst einsteigen würde und der Motor ebenfalls im Heckteil zum
Tragen käme, dann wäre die Normallage hergestellt. „De ‚Ruhrspatz’ möt leicht
gohn!” 146, erläuterte er uns. Schwere Klamotten könne jeder bauen.
Darauf sei es doch gerade angekommen, ein Gerät zu fertigen, das in jeder
Hinsicht leicht zu handhaben ist.
Sofort zog Otto sich seine Schöpfung mit der Fangleine heran und
stieg, ganz und gar nicht andächtig, ein. Der Motor wurde eingebaut. Das
Anflanschen nahm auch nur wenige Minuten Zeit in Anspruch. Otto holte aus
seiner Jacke das Zündpapier, drehte den Luntenhalter fest, steckte die Kurbel
in die Halterung, brachte die Schwungräder des wassergekühlten Deutzmotors zum
Rotieren. Der Diesel tuckerte los. Als wäre das eine Alltäglichkeit legte der
Binnenfischer und gelernte Zimmermann Görs den Gang ein und rauschte los, den
Oberbach hinauf. Unter den ragenden Pappeln mit ihren sich leicht im Winde
wiegenden Zweigen und Blättern hindurch fuhr er zur “Fläkt” hinauf.
Wir rannten, längst des träge fließenden, graugrün schimmernden
Oberbaches, hinter dem Wunderwerk her. Aber da war Otto schon angelangt an
jenem riesigen, im leichten Wellenschlag sich wiegenden Simsenfeld, das ohnehin
einem künftigen Badestrand weichen sollte. Er schaltete mit verschiedenen
Hebeln, versenkte das Horizontalschnittwerk und rauschte nur Sekunden später
durchs olivgrüne Dickicht, eine fast zwei Meter breite Schneise hinterlassend.
Das war der Beweis. Blaurotschwarz triumphierte und die SED Grundorganisation
‚Stadtmitte’ hätte es auch können, wäre eine gewisse Wette rechtskräftig
geworden... Ich spürte das Glück des Lebens. Denn noch an diesem Abend
beförderten sie mich vom Hilfsfischer zu ihrem jüngsten
Genossenschaftsmitglied.
Auch weil eine
Karte des jungen Mannes Mikusch mit Absender Westberlin bewies, dass er nicht
die Absicht hege in die ‚bescheuerte’ DDR zurückzukehren. Das kurze
Aufnahmeverfahren kostete mich zwei Flaschen eines scheußlich riechenden,
braunen Getränkes.
Zum zweiten Mal
in meinem Leben, nach der von mir nicht ganz freiwillig aufgegebenen Ausbildung
zum Berufsschullehrer, hatte ich den Platz gefunden, der mir ebenfalls wie auf
den Leib zugeschnitten war.
Mir blieben nun
all diese Herrlichkeiten erhalten: die strahlende Natur, der lachende Himmel,
das blaue Wasser, die stets sich wandelnde Landschaft, die unerschöpflichen
Reichtümer der Seen, die Chancen des Lotteriespiels Fischfang.
Zudem war ich
jung und glücklich verheiratet, allerdings fast ohne Ausbildung.
Hier könnte ich
mir die Unabhängigkeit meines Denkens bewahren!
An keinem
anderen Ort der Welt, hätte ich glücklicher sein können, gäbe es nicht
Tollenseheim und wäre von daher nicht der Zwang einer eisernen Konsequenz zu
erwarten, der ich bisher nur vorübergehend entronnen war. Denn da gab es immer
noch die Vierergig und Leute die ihren stillen Verdacht gegen mich hegten, -
Klassenfeinde müssen wie Feinde behandelt werden!
Schon am
nächsten Tage sank der “Rohrspatz” auf den Seegrund.
Das hatte so kommen
müssen.
Fritz
Biederstaedt wollte Otto begleiten und mit ihm hinauffahren zur Lieps.
Freudetrunken, aber auch voll der Triumphgetränke begingen die erfahrenen
Männer einen simplen Fehler.
Statt das
funkelnagelneue Boot sicher anzubinden, nämlich den kopflastigen Bug gegen die
Laufrichtung, hatte Otto seinen “Rohrspatz” umgekehrt ans Heck des
Schleppbootes gehängt.
Zuerst ging es
gut. Höchstens Windstärke fünf lautete die Wettervoraussage, und so war es.
Nur, der Tollensesee, lang gestreckt und windanfällig, zeigte sich wie immer
schnell erregt. Schon bei Windstärke vier rollen mitunter bereits meterhohe
Wellen, wenn sie bei ‚Unterwind’ aus Südwesten daher geschaukelt kommen.
Biederstaedt
und Otto Görß waren nur dreihundert Meter weit hinaus gefahren. Da ereignete es
sich.
Ein leichter
Schwung hob sie jäh herauf und ehe sie sich dessen versahen, schwappte eine
zweite Welle. Der Rohrspatz verschluckte sich sofort.
Bis dahin
hatten beide Männer, wie zwei prallvolle Hundertkiloweizensäcke, stur nebeneinander
gehockt, jeder mit einer grünen Flasche in der Rechten.
Otto, durch den
Schreck schmerzhaft aus der Starre geweckt, schrie nach dem Messer.
Biederstaedt griff in die Hosentasche. Tatsch-ratsch, und die zwingend
erforderliche Trennung ward vollzogen. Sonst wäre auch das Heck des kleinen
Heuers folgenreich überflutet worden.
Der Rohrspatz ging sang- und
klanglos unter. „So!”, sagte Otto. Nur dieses eine Wort und drückte seinen
entgeisterten Freund Fritz Biederstaedt zurück auf die Ducht. Da solle er sitzen
bleiben.
Biederstaedt
wollte handeln. Aber was wollte er tun?
Langsam schob
und steuerte Otto Görß den Heuer mit einem Ruder zu den aus dem Wasser ragenden
Pfählen der nahe gelegenen Zugnetzhenkstelle. Dort befestigte er das
Schleppschiff und fiel vorübergehend in Ratlosigkeit.
Otto hätte ein
elender Pessimist sein müssen, um ratlos zu bleiben.
Schon von
weitem erkannten wir vom Fangplatz Heimkehrenden das Malheur.
Natürlich
stellte keiner dumme Fragen. Niemand erlaubte sich gegen das Genie Görß Vorwürfe
zu erheben. Das hätte jedem zustoßen können.
Wir legten
unsere mit Handwinden ausgerüsteten Fangboote bei. Ankerten vor Ort und halfen.
Sogleich zog Otto sich die Kleidung, Stiefel, Strümpfe, vom Leib. Nackt
tauchend fand er die beiden Stellen an dem Kahnbord des Havaristen, an denen er
in der Tiefe zwei Drahtseile knüpfen konnte, um ihn wieder ans Tageslicht
befördern zu lassen. Sein weißer Körper leuchtete verheißungsvoll herauf.
Unsere Winden
begannen ihr Werk. Das klappte.
Der „Rohrspatz”
tauchte langsam aber zuverlässig auf.
Fritz
Biederstaedt, der solange kummervoll und gehorsam auf der Heckbank sitzend
abgewartet und vielleicht sogar gebetet hatte, dass es gelinge, sprang vor
Erregung hoch. Aus der Entfernung gab er gute Ratschläge, die so überflüssig
waren wie Regengüsse in den Tollensesee. Er stieg in eben dem Augenblick, als
die Bordwände des wieder neugeborenen Rohrspatzes sichtbar wurden, hocherfreut
aufs Schweff des Heuers und riss begeistert die beiden Arme gleichzeitig in die
Höhe. Seine und Ottos Ehre waren gerettet.
Die Wucht
seiner Gefühle riss ihn hin, er konnte sie nicht mehr beherrschen. Ob es nun
das mäßige von Wellen verursachte Wiegen war, oder die Reaktionen seines leicht
beeinträchtigten Gleichgewichtsorganes. Biederstaedt wankte. Langsam, als
befände er sich, oder wir uns, in der Irrealität eines Traumes, bog sich sein
Körper. Biederstaedt beeindruckend großer Kopf näherte sich unwiderruflich den
Wogen, während seine Füße sich von den Schweffdeckeln lösten, als seien sie von
dort abgefedert worden, wie von einem Trampolin.
Er schlug ein
halbes Rad. Das Obere gelangte nach unten und umgekehrt. Seine erste Hälfte
verschwand auf schier unwirkliche Weise im See.
Als schwebe
eine Feder, sank er hinunter. Gleichmäßig pendelten seine mit pechschwarzen
Gummistiefeln bewehrten Beine. Die kraftvollen Waden wedelten wie
abschiedwinkende Hände und Arme. Sie wollten durchaus nicht in der Tiefe
verschwinden.
Ein letztes Mal
ging es her und hin.
Ringsum
strahlte das sommerliche Blau. Möwen kurvten harmlos kreischend vierzig Meter
über ihm.
Verwundert und
rund wie eine Robbe tauchte der prustende Teil des stellvertretenden
Vorsitzenden der Fischereigenossenschaft wieder auf. Kaum hatte er Luft
bekommen, brüllte er: „Dat sech ick juch!” 147
Das Wasser
gluckste.
Eifrig und
ungeschickt strampelnd, aber mit den Jahren geübt darin mit Gummistiefeln zu
schwimmen, fand Biederstaedt schließlich festen Boden unter den Füßen.
„Dat sech ick
juch”, spottete Neumann hinter seinen Urfeind her, „en för allemol, wenn sopen
wat, denn wat nich arbeit’t” 148
Das war es, was
Biederstaedt zum Besten gegeben hätte, wie immer, wenn er wieder einmal wegen seiner Leidenschaft für klare Getränke
in den See gefallen war. Das hätte er zitiert wäre ihm nicht eine Welle hart
über den Mund gefahren. Tags darauf kam Schulleiter Herbert Maque angesaust.
Wir verließen gerade den Oberbach, waren gerade am linken Schilfkopf angekommen
und fuhren erst mit halber Kraft. Ich stand draußen auf dem Schweff des
morschen schwarzen Achtmeterkutters, auf diesen ziemlich verrotteten Deckeln
der Wasserkammer, in die stets die gefangenen Fische hineingekeschert wurden,
um sie so lange wie möglich lebend zu hältern. Maque lenkte das schnittige
Vorderkajütboot scharf heran. Er nahm die Fahrt weg und glitt plötzlich sehr
verlangsamt auf uns zu. Seine eher dunklen als grauen Augen suchten meine
Blicke. Seine Miene besagte, dass er mit mir noch eine nicht gerade kleine
Rechnung zu begleichen hätte.
Maques geballte
Rechte bedeutete mir, dass ich ihm nicht entkäme. Meine Kollegen scherzten.
Sie ahnten ja
nichts.
Sie grüßten auf
dieselbe Weise zurück, wie sie glaubten begrüßt worden zu sein.
Er rief etwas
herüber.
Aber beider
Motoren Geräusche und der Wellenschlag ließen nur Wortfetzen hörbar werden.
„Teufel”, hatte
er gesagt!
Maque machte
noch eine scharfe Bemerkung, deren Sinn ebenfalls nur mich betraf und schon war
die Begegnung beendet. Meine Mitfischer, die sich in den Fangbooten befanden,
winkten freundlich hinter dem Besitzer des Wellenbinders her. Sie fühlten sich
gewürdigt. Der große Chef von Tollenseheim hatte sie beachtet. Ich indessen
dachte: Herbert Maque musste also in der Zwischenzeit die zerstörte Vierergig
entdeckt haben.
Die schlagartige Zunahme meines Unbehagens
blieb meinen Kollegen verborgen. Mir war klar, es würde zu einer unangenehmen
Befragung kommen. Exhausmeister Paul würde auf ‚Teufelkommheraus’ leugnen und
Herbert Maque dürfte mir mit harter
Stimme ins Gesicht hinein schmettern: „Haben wir sie doch noch erwischt!
Deshalb also sind sie getürmt! Deshalb der Wiesenbrand. Sie sind sich doch
hoffentlich dessen bewusst, dass wir auf Schadensersatz klagen werden.” Ich
schaute dem elegant gekleideten Schulleiter besorgt hinterher.
Einmal, während
meiner Tollenseheimzeit, als Herbert Maque den LPG-Buchhaltern seinen
Einführungsvortrag hielt, hörten wir seine markigen Worte durch die Tür
dringen:
„Die
verfluchten Imperialisten haben vor, die Welt in Brand zu stecken, um die
Spuren ihrer Verbrechen zu vertuschen.”
Ich war
ebenfalls ein Brandstifter, einer, der vertuschen wollte.
Vom
Klassenkampf redete er am liebsten. Reden konnte er wie kein Zweiter, aber auch
klassenbewusst handeln. Die Klasse schöner, liebesbedürftiger Mädchen war ihm
die liebste, die Klasse der Brandstifter die verhassteste.
Jetzt zeigt er
mich doch noch an.
Während der
einen Fahrstunde über den blauen See nach ‚oben’ in den Bereich der Fischinsel
beruhigte ich mich allmählich. Das wird er sich dreimal überlegen, mich
anzuzeigen. Erstens käme es dann an die berühmte ‚große Glocke’, dass er
staatliche Mittel zu eigensüchtigen Zwecken fehlgeleitet hatte. Zweitens würde
ich es darauf ankommen lassen und im Falle eines Gerichtsverfahrens darauf
bestehen, Paul und mich versuchsweise je einen Messstab werfen lassen.
Natürlich war
das alles nur theoretisch von Belang, denn falls die Dozentin für Philosophie
befragt würde, sah es für mich trübe aus. Wer Lenin beschimpfte, der konnte nur
im Auftrage des Klassenfeindes handeln. Das Gesetz zum Schutze des Friedens
sprach mich in jedem Falle schuldig.
Drei Wochen
lang, nach dieser ihrer richtigen Taufe, schnitt die
Unterwasserschilfschneidemaschine den Weg frei für einen späteren Aufstieg der
Tollensefischer aus dem Elend zu bescheidenem
Wohlstand. Aber das sollte noch
dauern. In der Fischerei bedarf es von der Saat bis zur Ernte manchmal fünf bis
zehn Jahre Geduld, vor allem wenn es sich um Aale handelte.
Noch war erst der Grund gelegt für eine neue,
bessere Zeit.
Noch sah es trübe aus.
Noch hatten wir nicht einmal die Talsohle
erreicht.
Am Jahresende
erfuhren wir von unserem Buchhalter Voß, dass der Finanzplan zwar mit 110
Prozent erfüllt worden sei, dass jedoch keine Aussicht bestand, den
Jahresverdienst von vier auf viereinhalbtausend Mark zu erhöhen.
Nun gut, für
unsere beiden je 10 Quadratmeter kleinen Stübchen, bezahlten wir ja auch nur
zehn Mark Monatsmiete. Schuhe allerdings kosteten immer noch einhundert Mark,
ein Dreipfundbrot neunundsechzig Pfennige. Schokolade gab es, aber die Qualität
war, verglichen mit Sarotti, miserabel. Vier Mark musste man in einem Geschäft
der HO für eine Tafel hinlegen, und das war viel Geld für jemanden, der nur
dreihundert im Monat nach Hause brachte. Einen Anzug konnte man für
fünfundsiebzig Mark kaufen, der allerdings sah dann auch aus wie ein Gewand aus
Sackzeug. Mit mindestens zweihundert Mark musste man schon rechnen, wenn es
etwas einigermaßen Gutes sein sollte.
Daheim in den
eigenen vier Wänden waren wir glücklich.
Zum Schlimmsten
entwickelte sich für uns das folgende Jahr während der Sommermonate. Das 3.
Quartal schloss kumulativ mit der absolut niedrigsten Ertragshöhe von
durchschnittlich 26 kg Fischen je ha
Wasserfläche.
Sauferei,
Sorglosigkeit und Fangpech führten zur Vorstufe einer Katastrophe.
Otto und Fritz
Biederstaedt bestanden darauf, die Flachseen, die dem Betrieb zur
Bewirtschaftung übergeben worden waren, intensiver zu nutzen. Fritz
Biederstaedt und Otto glaubten, die Schleienseen könnten zehnmal mehr
produzieren als die tiefen Gewässer wie der Tollensessee, dessen Hauptareal
unter einer Wassersäule von 25 Meter liegt. Für die bodentierfressenden
Friedfische ist es da unten viel zu kalt, wenn dort auch keineswegs
Sauerstoffmangel herrscht.
Zooplanktonfressende
Fischarten von wirtschaftlicher Bedeutung gab es nicht. Fritz und Otto fingen
beträchtliche Mengen Schleien. Sogleich wuchsen in ihren Fangbüchern die
Gutschriften. Otto hatte keine Wahl, er musste seine Familie durchbringen.
Ottos und Biederstaedt Erfolge weckten Neid. Scheel sahen die weniger
Erfolgreichen, dass Biederstaedt und Görß doppelt so viel wie sie verdienten.
Ich hielt nach
einer Möglichkeit Ausschau, es ihnen gleich zu tun. Aber man hielt mir
entgegen, für alle reichten die Niedrigwasserflächen nicht aus. Wir würden uns
gegenseitig ins Gehege kommen.
Neid zieht Streit nach sich.
Biederstaedt und Otto Görß
berieten sich. Otto klagte, er risse sich beide Beine aus und der Lohn sei
Zänkerei. Natürlich beanspruchte er die reelle Vergütung seines Fanges gemäß
dem Gesetz der Genossenschaft und dessen Basis sei die Arbeitseinheit.
Man erhielt für
einhundert Kilogramm Schleie 10 Arbeitseinheiten gutgeschrieben. Wenn der
Finanzplan erfüllt würde, hieße das, er bekäme 160 Mark ausgezahlt, wenn er
zwei Zentner Schleie anlandete. Das bedeutete, er bekäme 1600 Mark zusätzliche
Nachzahlung im Januar, nach der Endabrechnung.
Aber er hatte
nicht hinlänglich beachtet, dass der Finanzplan nicht erfüllt werden konnte.
Damit stand fest, es werde diesmal überhaupt keine Nachzahlung geben können.
Neumann mäkelte: „Otto, du
hesst di övernohmen.” 149 Sein riesiger Schnauzbart zitterte, seine
derben Pfoten nicht minder.
Otto würde
immer bevorzugt werden, immer bekäme der das größere Wochenendpaket
Frischfische.
„Hei hett uk
miehr Kinner as du!”150, konterte Biederstaedt grollend.
Aber seine
Verwandtschaft sei genauso zahlreich, lautete Neumanns geharnischte Erwiderung.
Entnervt lenkte Otto ein. Er gäbe des
lieben Friedens willen nach. Er ginge fort, würde die Genossenschaft
verlassen. So sei es nicht gemeint gewesen. Ohne ihn ginge es nicht.
Bartel
bestätigte das. Otto habe die Liepser Rohrbestände so gekonnt zurecht gestutzt,
das Karpfenwirtschaft fortan sinnvoll sei. Sie würden hochkommen. Er sehe jetzt
doch eine gewisse Berechtigung auf gute Zeiten zu hoffen.
“Ja, aber
wann?“, fragte Otto ihn, wie sich selbst. Im Grunde hatten sie nur gepokert. Ob
der Radikalschnitt in absehbarer Zeit jenen Erfolg bringen würde, von dem sie
träumten, das bezweifle er noch. Für ihn sei der Bau der
Unterwasserschilfschneidemaschine eine Herausforderung gewesen, eine größere
als die der Fischfängerei.
Er käme mit
allem zurecht, aber nicht mit ständiger Eifersucht.
Otto, son Kerl
als du bist, der lässt sich doch nich umschmeißen von ein bisschen Meckerei!
Versprich uns weiterzumachen!”
Otto sagte zu.
Er würde sich bemühen.
Doch schon eine
Woche später beklagte Neumann sich, er sei schon wieder von Otto betrogen
worden.
Biederstaedt
verteidigte seinen Freund Görß, der maßgeblich daran beteiligt gewesen war, die
Rationen zusammenzustellen. Wütend erklärte Biederstaedt, dann müssten die Fische
eben ausgelost werden.
Damit erklärte
Neumann sich einverstanden.
Der Augenblick
kam. Karl wurde ausersehen, die blinde Justitia zu spielen. Er beugte den
gewaltigen Rücken, die imprägnierte schwarze Schürze um den mächtigen Bauch
gebunden stand er breitbeinig da. Diesmal, endlich konnte er sicher sein. Horst
Gruß, der Augenzwinkerer, hielt dem Ahnungslosen die Lider zu. Karl Neumann
presste seine vor Aufregung nassgeschwitzte Stirn in Grußens Arbeiterhände.
„Puck-puck
Korl, weker sall dissen Hümpel hem?” 151
Karl nannte,
nach einigen anderen, seinen Namen. In der Tat der größte Zander wäre ihm
zugefallen, hätte in diesem Augenblick nicht der Schalk mitgespielt. Alle
nickten und grinsten Zustimmung als einer der beiden Reiniger, den herrlichen
Edelfisch gegen ein paar mittelmäßige
Barsche und einen Blei austauschte.
„De Düwel salt
holen!” 152, entfuhr es Karl Neumann, als er die Bescherung sah.
Wieder einmal war ihm das Glück nicht gewogen gewesen.
Er wusste es
irgendwie, dahinter steckte Görß. Nur ihm war nicht klar, wie das vor sich
gehen konnte. Wie ein Trompeter blies der Muskelmann seine Backen auf und zog
los, Unflätigkeiten vor sich hin brummend.
Diesem Görß
würde er eines Tages den Kopf nach hinten drehen. Dann hätte er Genugtuung. Es
drohte uns das ‚Aus’ In der letzten Oktoberdekade bemerkte Buchhalter Voß
lapidar: „Männer wir sind zahlungsunfähig!”
Biederstaedt runzelte die Stirn
und schluckte.
Görß schimpfte auf den kalten
Sommer.
Bartel verkniff die Lippen. Schon
vor Tagen hatte ihm der Buchhalter eröffnet, dass sie noch nie in ähnlich
verzweifelter Lage gewesen wären. „Vollversammlung“, sagte er nur.
Er hatte es kommen sehen.
Doch kein
Ratschlag, keine Versammlung konnte ihn aus der Misere befreien. Er habe schon
vor acht Jahren mehr Aalbrut kaufen und in die Gewässer einsetzen wollen. Aber
das hätte er nur tauben Ohren gepredigt. Seit eh und je befürchteten sie, dass
diese zusätzlichen Kosten ihren augenblicklichen Verdienst schmälern würden.
Mensch, wer
bloß auf den Augenblicksvorteil starrt, der darf sich über kärgliche Ernten
nicht wundern.
Die seit Jahren
zu geringen Besatzmengen wirkten sich nun natürlich verheerend aus. Selbst wenn
sie das bisher Versäumte reuevoll nachholen würden, käme alles Bemühen für die
nächsten Jahre zu spät.
Buchhalter Voß
machte seine unschöne Rechnung präzise auf.
Wilhelm Bartel
senkte den Kopf. Otto Görß und Biederstaedt zuckten mit den Achseln. Schleie
fangen durften sie nicht mehr. Sie beide hätten der Genossenschaft noch zu zwei
Tonnen Feinfischen und damit zu erheblichen Mehreinnahmen verhelfen können.
Doch, das
sollte ja nicht sein.
Milster holte
tief Luft. Neumann ballte die Fäuste. Nur Hermann Müller sah noch Hoffnung. Er
tröstete mit Vergleichen. Auch Ernst Peters hätte jahrelang ums Überleben als
Pächter gerungen. „Euch steht das große Glück bald ins Haus!“ Buchhalter Voß
zog sich in den Bretterverschlag zurück, den Otto Görß ihm gerade
zurechtgezimmert und als Büro übergeben konnte.
Dies war ein
Würfel und Bretterkasten von je zweieinhalb Meter Kantenlänge mit einer
abschließbaren Tür. Allemal reichlich Aufwand und Raum für das bisschen
‚Aktenkromt’, wie einige meinten. Beheizbar war der Raum nicht.
Neumann sagte,
im Winter hätte der Buchhalter ohnehin nichts zu schreiben und im Sommer
erübrige sich das Heizen. Dafür genösse er den herrlichen Ausblick auf den
Oberbach.
Vor fünf Jahren
hätten sie ihm das noch nicht bieten können. Damals gab es diese Baracke noch
nicht, sondern nur einen Unterstand.
Tatsächlich
standen wir bald buchstäblich mittellos da und die Gutachter der Bauernbank
Neubrandenburg stellten die unangenehmen Fragen unmissverständlich. Zur
Lohnzahlung würde sie einen Überbrückungskredit einräumen, doch wie sollte es
dann weitergehen? Das Geld plus 2% Zinsen müsste schnell wieder zurückfließen.
Fische im See, die gab es hinlänglich. Davon seien sie ja überzeugt, nur sie
zweifelten aufgrund der Erfahrungen, die wir und sie gesammelt hätten, ob wir
imstande wären, sie auch zu fangen.
Altkommunist
Hermann Göck, aus Höflichkeitsgründen vor kurzem zum „Ehrenfischer” ernannt, etwa
fünfundvierzigjährig, fast einsneunzig und sehr von sich selber überzeugt, ließ
in der vorverlegten Quartalsversammlung seinem Unmut freien Lauf. Dass es so
schlimm werden könnte, habe er sich nicht vorgestellt: „Ihr habt gefälligst
einen Ausweg zu finden.” Sein blasses, langes Gesicht wurde noch länger.
Ernst Stöckelt
der ebenfalls in dieser schicksalhaften Versammlung anwesend war zog die aus
seiner Sicht einzige Konsequenz: „Ji möten de Hälft’ von de Lüd entloten.”
153
„Kommt gar
nicht Frage!” konterte Göck mit der vollen Autorität eines Mitgliedes der
SED-Bezirksleitung Neubrandenburg. Im Sozialismus gebe es keine Firmenpleiten
und schon gar keine Kündigungen.
„Möten!
154 beharrte der Fachmann
gnadenlos.
Ich war der Jüngste, außerdem der
fischereilich ungebildetste.
Mich würde es zuerst treffen. Das war klar.
Und wieder einmal werde ich von vorne
anfangen, aber wo?
Da nutzte mir der Status eines Mitgliedes der
Genossenschaft gar nichts.
Ökonomische
Gesetze sind unerbittlich. Nichts sprach für mich. Zudem hatte es zwischen
Stöckelt und mir nicht gerade höflich ausgetragene Meinungsverschiedenheiten in
Fragen der SED-Politik gegeben. Was ich von Diktaturen hielt, hatte ich ihn
auch aus gewisser Eitelkeit wissen lassen.
Er dagegen
stand für harte ‚Disziplin’ ein. Diese übrigens sollte ihn bald darauf ereilen
und ihn hinausbefördern aus seinem hohen Amt.
Nachdem ich im
Januar ‘52 meine Lehrerausbildung zum Berufsschullehrer abgebrochen hatte, -
einfach weil ich mich außer Stande sah, den Lehrauftrag der DDR zu erfüllen -
war meine berufliche Zukunft nun fünf Jahre später, einmal mehr als ungewiss.
Gegen den zur Staatsdoktrin erhobenen Atheismus hatte ich mich gestellt. War
auch deshalb freiwillig aus dem öffentlichen Leben ausgeschieden und befand
mich danach auf der untersten Stufe der Gesellschaft.
Ich wollte
dennoch wer sein und hatte deshalb gegen Stöckelts Ansichten argumentiert. Auch
dieser Umstand müsste sich für mich nachteilig auswirken. Sie können gar nicht
anders, sie werden mich auf die Straße setzten müssen.
Ich war ratlos.
Aber Hermann Göck nicht minder.
Ein paar
Gesichtspunkte wurden betrachtet. Es half alles nicht. Das Denkresultat
lautete: von den dreizehn beschäftigten Männern müssten fünf entlassen werden.
In der
Versammlungspause beriet der Vorstand.
Binnen einer
halben Stunde werden sie fünfmal Schicksal spielen.
Ich ging auf
den kleinen Hof und sah die Kähne, auch den bewährten “Rohrspatz” am Bollwerk
liegen. Träge floss das graugrüne Wasser des Oberbaches in Richtung
Vierrademühle.
Nun war ich
fast achtundzwanzig und stand abermals vor einem Trümmerhaufen. Also doch eine
verkrachte Existenz.
Meine Versuche
zu schreiben und vielleicht einmal mit dem Schreiben von Geschichten und
Reportagen meinen Lebensunterhalt zu verdienen, waren ebenfalls gescheitert.
Die Leiter der Arbeitsgruppe “Junge Autoren” hatten mich auf Empfehlung des
Friedrich - Wolf - Theaters Neustrelitz zwar eingeladen an den Schulungen für
angehende Schriftsteller teilzunehmen, doch sie hatten mich da nach wenigen
Wochen Teilnahme gerade in diesem Sommer geext. Mit Leuten wir mir, wollten sie
nichts zu tun haben. Horst Blume, damals Direktor der Polytechnischen
Oberschule „Fritz Reuter”, Alfred Wellm,
Joachim Wohlgemuth, Gerhard Diekelmann und andere fanden meine Ansichten und
Arbeiten skurril. Im Zusammenhang mit einer Vorlesung über die Leninsche
Widerspiegelungstheorie, gehalten von Horst Blume, dem ehemaligen Rechtsberater
in einer Hitlerjugendbannführung, nahm ich mir heraus die dominierenden
Auffassungen zu kritisieren. Vielleicht wäre es besser gewesen, zu schweigen
und nur klug mit dem Kopf zu nicken. Doch ich musste das Maul weit aufreißen
und behaupten, dass es nicht allein die Umwelt ist, die den Menschen prägt und
bestimmt, sondern auch der Wille nach der Einsicht.
Für mich stünde
fest, dass sich jeder Mensch kraft seiner Urteilsfähigkeit für das Bessere
gegen das Schlechtere entscheiden kann, wenn er das will und zwar unabhängig
von äußeren Einflüssen.
Wie ich das
meine?
Sie lästerten, dann könnte ich
gewiss auch beweisen, dass es absolut Gutes gibt. Mir fiel ein Goethewort aus
dem “Faust“ ein.
Die Ablehnung meiner Ideen aus
Vorsicht, - nicht aus Gründen der Vernunft - stand den meisten meiner neuen
Freunde in die Gesichter geschrieben. Mir schien, sie würden mir zustimmen, aber
nur dann, wenn es allgemeiner Konsens wäre. Zumindest ahnten sie, was ich
meinte. Ich konstruierte ein Beispiel. Hätten sie Recht, dann wären die meisten
KZ-Aufseher ja eher für unschuldig als für schuldig zu erklären.
Ziemlich
intensiv haben wir diesen Aspekt diskutiert, zeitweise sogar heftig.
Wahrscheinlich erkannten sie mein Bemühen, dem Problem gerecht werden zu
wollen. Denn es geht um Schuld und Sühne.
Meiner
Überzeugung nach verfügt jeder Mensch in sich über einen untrüglichen Maßstab
für Recht und Unrecht. Es ist das moralische Gewissen. Es mag unterschiedlich
stark entwickelt sein, doch es ist da.
Vor allem der
immer brillierende Horst Blume vertrat gegen mich die Auffassung, dass die
Notwendigkeiten vor dem Gewissen rangierten. Er strich mit seinen Lehrerhänden
langsam über den sehr gepflegten graumelierten Kinnbart und schaute mich an,
wie ein strenger Vater seinen begriffsstutzigen Sohn.
Ich widersprach
ihm dennoch und insofern, als ich einwandte, dass Notwendigkeiten vom Gewissen
geprüft werden müssten.
Er ereiferte
sich. Sein kahler Schädel, seine energischen Züge, seine gewählte
Ausdrucksweise, sein ganzes Erscheinungsbild sprachen ganze Bände zu meinen
Ungunsten.
Ich wurde zum
Ewiggestrigen erklärt.
Alle anderen
Autoren gingen mit der neuen Zeit. Daran sollte ich mir ein Beispiel nehmen.
Die Kategorien des dialektischen Materialismus müsse schließlich jeder Mensch
akzeptieren.
Leute wie ich,
die am Alten und noch am Glauben an einen Schöpfergott hingen, brächten bloß
nicht den Mut auf, den unmodernen, hinderlichen Zopf abzuschneiden.
Alfred Wellm
beugte sich anschließend zu mir. Freundlich werbend sagte er: „Wir vollziehen
in diesem Lande eine Revolution in den Köpfen. Es geht nicht nach dem Gewissen
schlechthin, sondern nach der uns zugewachsenen Erkenntnis aus der leninschen
Philosophie. Sie macht aus uns starke, staatsbewusste Bürger. Wir wollen etwas
aufbauen, das es in der deutschen Geschichte noch nicht gab. Den Sozialismus.
Komm zu uns! Wo du hingehörst!”
„Wie sollte
ich, nachdem ihr mich nicht überzeugen konntet?”
In Folge dieses
Gespräches beschloss der Vorstand der Arbeitsgemeinschaft “Junger Autoren”,
meiner Argumentation aus dem Wege zu gehen.
Das geschah
denn auch. Als an jenem Tag im Tagungsort Volkshaus, von Horst Blume bekannt
gegeben wurde, dass es fortan zwei Gruppen geben würde, nämlich: die jungen
Autoren, und die jungen Schriftsteller, da vermutete ich noch nicht, dass sie
die Stirn haben würden, mich vor die Tür zu setzen. Nachdem zuerst die Namen
der Fortgeschrittenen aufgezählt wurden, dachte ich, na, ja, sie werden dich zu
den jungen Autoren stecken. Aber als deren Namen verlesen wurden, fand ich
meinen wieder nicht erwähnt.
„Warum habt ihr
mich ausgelassen?”
Ungefähr
dreißig Augenpaare richteten sich auf mich. Eine Weile knisterte es im Raum,
wie mir schien. Die Spannung lag wie Gewitter in der Luft.
Ein älterer
Mann aus Anklam meinte, sie hätten mich vergessen.
„Nein, wir
haben ihn nicht vergessen”, entgegnete Joachim Wohlgemuth, und Horst Blume
setzte erläuternd hinzu: „Mit dir haben wir nur Scherereien. Geh du deiner
Wege! Unbegabt bist du nicht, aber dir fehlt der Zug und das Wollen zum
Staatsbewusstsein.”
Ich hörte es
als Echo, mit Ausnahme des Anklamers, von sämtlichen Anwesenden.
Dieser eine
verteidigte mich. Ich hätte doch ein beachtliches Drama geschrieben. Die
anderen angehenden Schriftsteller wünschten mit mir nicht mehr zu reden. Nicht
mit einem Querschläger. Ja, wenn ich mich nicht geäußert hätte. Aber mich immer
wieder konträr in die Diskussion einzumischen, das sei zu viel gewesen.
Da musste ein
Schlussstrich gezogen werden. Das sei nun geschehen.
Sie waren so tapfer…
Auch die Fischer müssen nun einen dicken
Schlussstrich ziehen und reduzieren, das leuchtete mir ein.
Vielleicht könnte ich eine Bürotätigkeit
finden.
Tote Zahlenkolonnen willst du
zusammenrechnen?
Du doch nicht! In den Westen gehen? Auch
meine Frau war dagegen.
Zurück in die
Lehrerausbildung? Mein Entscheid war definitiv gewesen. In dieser langen
Beratungspause des Fischereivorstandes ging mir mancherlei durch den Kopf. Ich
war und bin für das Zusammenarbeiten der Menschen in Genossenschaften, aber
nicht für die Rohheit eines Systems, gegen das sich im Grunde nahezu alle
Leute, die ich kannte, deutlich aussprachen. Das könnte ich ja auch für mich
behalten, statt es immer wieder herauszuposaunen. Gerade in einer
Genossenschaft - nicht in einem volkseigenen Unternehmen - in dem Gewinne
restlos an den Staatshaushalt abgeführt werden, konnte ein Großfang oder
beständig bessere Fänge allen Beteiligten richtigen Wohlstand bescheren.
Abenteuer Fischfang war für mich wie erlaubtes Vabanquespiel. Ich liebte es zu
spielen. Deshalb wäre die Fischerei nebst den Berufswünschen, die sich
zerschlagen hatten, für mich das Beste.
Ich sah den
Genossenschaftsvorstand aus dem Nebenraum kommen. Den Mienen konnte ich
ansehen, dass in der internen Runde die Würfel gefallen waren. Biederstaedt und
Görß kamen auf mich zu. Sie schauten mich sehr freundlich an: Du bleibst!
Einstimmiger Beschluss.
Ausgerechnet
die vier Nichttrinker traf es.
Neumann,
Milster, Sablotny, Müller. Fast ihr ganzes Leben hatten diese vier als Fänger
zwischen offenem Himmel und bewegten Wassermassen zugebracht. Aus! Mit einem
Mal wurden sie für immer an Land gesetzt. So sahen sie auch aus, als sie das
Urteil entgegen nahmen, wie unglückliche Vögel, die besser schwimmen als laufen
konnten.
Für die vier
über Fünfzigjährigen erhob sich damit dieselbe Frage, die mich schwer bedrückt
hatte. Was nun?
Selbst wenn ich freiwillig
verzichtet hätte, wäre nur einer gerettet worden.
Doch welcher Name folgte als
fünfter?
Das stünde noch offen.
Von einem Tage zum anderen
verloren vier Prachtkerle ihren Traumberuf.
Mit Feuereifer
verlegten wir Restlichen uns auf den Herbstfang.
Görß hatte die Handwinden
umgebaut. Motoren zogen nun die Netze. Folglich konnten die Netze größer
werden.
„Richtig!”,
bestätigte Fritz Reiniger. „Genau das werden wir jetzt machen.” Was bis dahin fast ängstlich vermieden wurde:
ein Zugnetz von der ungeheuren Länge von zweimal siebenhundert Meter Länge
wurde aus vielen schlecht zueinander passenden Teilstücken zusammengesteckt.
Damit gingen die Erfahrenen das Risiko ein, es in den Morast zu fahren und zu
zerfetzen. Aber angesichts der noch nicht gebannten Katastrophe widersprach
niemand. Bloß noch sechs Wochen, dann kam der Winter.
Es musste
gewagt werden auf der Lieps mit einer Gesamtlänge von mindestens 1 400 m Netz
zu fischen. Die Lieps ist flach, nur zwei bis höchstens zweieinhalb Meter tief,
ihr Untergrund von weicher, toniger Beschaffenheit. Wenn Wadenstücke von dieser
Länge eingesetzt werden, muss die Unterleine so präpariert sein, dass die
Beschwerungssteine sie während der Zugphase nicht ins Bodenlose hinabreißen.
Das leichte Zeug gehörte in den Sackbereich, das schwerere nach vorne. Das
Unterwassergewicht der Leinen und der Netzteile muss beachtet werden.
Sonst kann es
passieren, dass die Drahtseile wie Zwirnsfäden reißen. Statt einer Tonne Last
zerren unter Umständen drei- vierfache Kräfte an den Windentrommeln und können
sie aus der Verankerung katapultieren. Das kann zu tödlichen Unfällen führen.
Vorschriftsmäßig, nachdem wir es ausgerudert und ausgesetzt hatten, kam das
riesige Umfassungsnetz im Halbkreis heran. Der beste Großzug, Lohwiek genannt,
war von den alten Meistern ausgewählt und angelegt worden. Wir spürten den
gewaltigen Druck, der auf dem Drahtseil, dann auf den Dederonleinen, lag.
Es kam der
Augenblick des Netzeinholens.
Große Fische
erschienen auf den Seitenstücken des Garns. Ein gutes, stets mit Spannung
erwartetes Omen. Wir ahnten nicht, dass in vierhundert Metern Entfernung ein
Teilstück des Zugnetzes bereits zerfetzt worden war. Auch hatten wir noch keine
Erfahrungen mit den gerade aufkommenden synthetischen Leinen, die sich, noch
nicht mit dem Zusatzstoff Lanon als Antidehnungsmittel versehen, wie ein
Gummiband strecken ließen. Da es im Fortgang nicht zur Entspannung der Leinen
kommen konnte, speicherte sich der Druck auf den Trommelwinden. Das wäre nicht
weiter schlimm gewesen, hätte sich dieser Gesamtdruck nicht auch auf die
Seiten, auf die Führungsscheibe der Windenrolle ausgewirkt.
Mit Krachen und
Tosen eines Paares jäh aufeinander gedröhnter Schellenbecken riss nach einer
halben Stunde die sechzig Zentimeter breite Führungsscheibe von der
Trommelwinde meines Arbeitskahnes ab. Einige Schlaufen der Windenleine
rutschten hart klatschend auf die Antriebswelle. Augenblicklich würgten sie den
Motor ab.
Nun war guter
Rat teuer. Eine Schnellreparatur unmöglich. Von Hand ließ sich der immer noch beträchtlich
lange Rest des Zugnetzes nicht einholen. Wechselseitig musste nun die Winde des
anderen Kahnes das Netz heranziehen. Dieser Umstand änderte die Winkel.
Die Netzwände
wurden nun gegeneinander bewegt. Sie klappten zusammen. Die Fische, die sich im
Umfassungsbereich aufhielten, fanden keinen Raum mehr, sich frei zu bewegen.
Statt sich im Wadensack, der sozusagen als Sammelbehälter dienen sollte,
zusammen zu finden, zwangen die Umstände die eingekreisten Fische im
Aufzugsbereich unter den Zugnetzleinen und wo sonst noch möglich auszubrechen.
Hätten wir
aufgeben sollen? Es dunkelte bereits, als die letzten Netzteile eingeholt
wurden. Da erst bemerkten wir die zerfledderten Netzteile. Sämtliche Fische
werden durch diese riesige Lücke geflohen sein.
Das mussten wir
annehmen und befürchteten. Umso größer die Überraschung. Wir bemerkten, dass
der Wadensack breit dalag. Das bedeutete, wir hatten allen Widrigkeiten zum
Trotz wahrscheinlich gut gefangen. Biederstaedt lobte Wilhelm Bartel, der in
den Wadensack eine “Kehle”, gewissermaßen einen Trichter aus raffiniert
geschnitten Netzstücken eingebaut hatte. Wenn sich eine bemerkenswerte Menge
Fische im Sack befinden sollte, dann mussten sie sich vor dem Zusammenschlagen
der Netzwände, sogar vor der Zerfetzung unserer Netzseite dort eingefunden
haben. Ich sah aufgeregt wie es “qualmte”. Große Fischmengen wühlen und wirbeln
über weichem Seegrund die Morastmassen auf. Das war allemal ein sicheres
Zeichen für beachtlichen Erfolg. Wie sich herausstellte, hatten wir fast
zwanzig Zentner Hechte, Zander sowie große Karpfen und Brassen gefangen, dazu
stattliche Barsche sogar Schleien. Bis es völlig dunkel wurde, kescherten wir
die Qualitätsfische aus dem unversehrten Wadensack und freuten uns wie
Schuljungen, die unverhofft statt einer Fünf auf dem Zeugnis ein Lob bekamen.
Dieser unter
enormen Handlungsdruck ausgewählte Wadenzug und einige andere halfen uns zu
überleben.
Otto Görß
allerdings überraschte uns. Er kündigte anderntags. Er nannte uns seine Gründe
nicht. Vielleicht suchte er eine größere Aufgabe.
Görß wurde
DDR-bester Raupenbaggerfahrer, das und wenig später die Anzeige von seinem
plötzlichen Tod, lasen wir in der Zeitung.
Wäre uns nach
diesem Zufallszug nicht gelungen eine Wende herbeizuführen, hätten die Oberen
des Bezirkes die Produktionsgenossenschaft werktätiger Fischer “Tollense”
wahrscheinlich liquidiert. Benachbarte Betriebe wie die Genossenschaft
“Müritz”, mit Sitz in Waren, hätten uns übernehmen müssen. Dann wäre es mit
unserer Selbständigkeit aus gewesen. Wir hätten uns den Weisungen Fremder fügen
müssen. Dann wäre aus der Oase Fischerei für mich ein Arbeitsplatz wie jeder
andere geworden. Deshalb schwor ich mir, mich dafür einzusetzen, dass wir nie
wieder in eine ähnlich gefährliche Situation geraten würden. Ich träumte von
meiner Unabhängigkeit.
Doppelt
dringlich hieß es deshalb, das kommende Jahr gut vorzubereiten. Nicht eine
einzige Chance, die sich uns bieten könnte mehr zu fangen, durfte ausgelassen
werden.
Erster Schritt
dazu war die vermehrte Produktion hochwertiger Fanggeräte.
„Ein Fünftel
des Umfangs ist die Kehlenlänge!”
Diesen
Grundsatz der damals üblichen Reusenherstellung bläute mir Wilhelm Bartel ein.
Er war der erste von zehn, die ich lernen musste, ehe ich mit dem Messer ins
maschinengestrickte Maschenzeug hineinschneiden durfte.
Ich musste und
wollte lernen große Geschirre anzufertigen. Man hat ja nur weiße Netzballen vor
sich liegen. Wie ein Schneider steht der Fischer vor den nicht weiter
vorbereiteten Stoffbahnen. Ich lernte, dass man durchgehende Diagonalschnitte
anwenden kann, um dann durch Zusammenstricken der nun um 90 Grad gedrehten
Teilstücke aus den großen Rechtecken mit ursprünglich rhombisch stehenden
Maschen quadratisches Ausgangsmaterial herzustellen. Daraus resultieren bei
entsprechender Berechnung Reusensysteme, die nicht von Rundbügeln sondern nur
mittels Leinen offen gehalten werden.
Zum ersten Mal
in meinem Leben arbeitete ich auch an Sonnabenden bis zehn Uhr abends. Als wir
die Reusen nach Eisabgang Anfang April in den See einbauten und wenig später
die Bungen auf dem Barschberg auslegten, konnte ich in den ersten Nächten vor
Aufregung kaum einschlafen.
Was brachte uns
die neue Wirtschaftsweise ein?
Ich rechnete
vom ersten Fangtag des neuen Jahres gewissenhaft mit. Frei bleiben hieß, ich
musste Erfolg haben.
Bald darauf
kamen Brassen aus der Mode. Kaum jemand interessierte sich für Fische dieser
Art. Aus Hausfrauen waren nahezu ausnahmslos Werktätige mit Kantinenverpflegung
geworden. Wer außerdem wusste noch, welche Köstlichkeiten aus entgräteten
Bleien zubereitet werden konnten?
In der
Entwicklung der DDR hatte es jedoch einen Sprung nach vorne gegeben. Das wirkte
sich mehrfach positiv aus. Immerhin schrieben wir schon das Jahr 1959.
Wir neun Fänger
erzielten zum ersten Mal seit Jahren einen nennenswerten Überschuss, nämlich
vierundzwanzigtausend Mark. Das ergab eine Barauszahlung für jeden von
2400.-Mark. Was das bedeutet, kann nur ermessen, der weiß, dass DDR-weit
Spezialisten in der Industrie erst seit Januar 1956 durchschnittlich 437 Mark
monatlich verdienten.
Nun, da wir
fünfhundert Mark Monatslohn nach Hause trugen, begannen auch die ersten von uns
an mehr, viel mehr an sich selbst und damit an eine kommunistische Zukunft zu
glauben.
Zwischen Anspruch und Wirklichkeit
Gruß, nun
Besitzer eines neuen Motorrades trat als erster der SED bei, ich glaube, mit
ehrlicher Überzeugung.
Er wurde nie
wieder wankend. Die anderen Männer in unserer Fischerei fühlten sich vor allem
von der plumpen Propaganda und von Agitatoren wie dem Rundfunkkommentator
Karl-Eduard von Schnitzler abgestoßen.
Das Ostradio
nahm seine, ihm vom Parteiapparat vorgegebene Aufgabe immer sehr ernst: Ohne
SED-Begleittöne hätte kein LPG-Bauer auch nur eine einzige Kartoffel richtig
legen können. Das Granulieren von Superphosphat war ein Schlag gegen den
Imperialismus. So der Bauernfunk, so stand es auf den Plakaten geschrieben. Der
Bäcker sollte morgens um drei Uhr beachten, dass die DDR der bessere deutsche
Staat war. Undenkbar, dass bei uns ein Handwerkergeselle politisch unmotiviert
arbeiten konnte. Wenn der Dreher aus einem Rohling eine Präzisionswelle
herausspanen wollte, dann konnte ihm das nur gelingen, weil er den Frieden
liebte.
Lückenlos
dehnte sich das Propagandanetz über unseren zweifelnden Häuptern aus. Die
Wolken der Ideologie, die uns stets einhüllten
waren gefüllt mit Banalitäten, Lügen und Verheißungen auf das in
kommunistischer Ferne liegende Paradies.
Schüler lernten
im Fach Mathematik die DDR lieben, weil sie
angeblich berechenbar sei. Ihr Anspruch war, der erste Friedensstaat in
der deutschen Geschichte zu sein, was sie aber nicht daran hinderte die
militärische Aufrüstung mit äußerster Kraft voran zu treiben. Es hieß allemal:
der Friede muss bewaffnet sein.
Nur, wenn die
Sechzehnjährigen die zehnte Klasse der polytechnischen Oberschule verließen und
mit der rauen Realität des sozialistischen Alltags konfrontiert wurden,
erlitten nicht wenige einen Schock.
Altkommunist
Hermann Göck wünschte sehr, dass wir uns an Horst Gruß ein Beispiel nehmen
sollten und der Partei beitreten. Für ihn war es unfassbar, dass wir
werktätigen Genossenschafter hartnäckig bei unserm Nein blieben.
Natürlich muss
es an feststehende Grundsätze geknüpfte Ideen geben. Aber niemals dürfen
Prinzipien schließlich wie sausende Knüppel wirken.
Es können
logischerweise nur die kombinierten Ideen von der Unantastbarkeit der
individuellen Entscheidungsfreiheit und der liebevollen Wahrhaftigkeit sein,
die uns helfen, glücklicher zu werden.
Ausgerechnet
ein Altgenosse bewies mir, dass ich mich in diesem wichtigen Kritikpunkt nicht
irrte. Ernst Kay, hieß dieser Mann, ein durch Schicksalsschläge klug gewordener
Junggeselle, der mir bestätigte, dass wir ein Organ für die Wahrheit haben. Er
wusste um eine für unser aller Urteilsfähigkeit höchst wichtige Sache.
Etwa Jahrgang
1900 gehörte er der Werkleitung des Panzerreparaturwerkes Neubrandenburg an,
genannt RWN. Er war für den Bereich innere Sicherung mitverantwortlich und wenn
wir am Ostufer des Tollensesees fischen wollten, begleitete er uns häufig. Er
oder einer seiner Männer ‚bewachten’ uns. Groß und hager kam Ernst Kay auch an
jenem Frühlingsmorgen des Jahres ’59
daher. Er wirkte fast zerbrechlich und schritt doch sicher. Fest setzte er die
langen Beine auf den Boden der Tatsachen. Ernst war mehr als hager. Er ging
leicht gebückt.
Aus kleinen,
mausgrauen Augen schaute er offen in die Welt. Ihm machte man nichts vor.
Unausgesprochen hieß das: Ich, Ernst Kay, bleibe, wer ich bin. Zahllose Riefen
und Kniffe kreuzten die gebräunte Haut seines langen, schmalen Gesichtes,
dessen kämpferischer Ausdruck für einen Kommunisten typisch zu sein schien. Er
trug an diesem frischen Morgen eine graue, ein wenig zu große Schiebermütze.
Sie hing auf seinem linken Ohr. Ernst konnte sowohl unentwegt reden wie auch
ebenso wirkungsvoll schweigen. Die Hose baumelte so lose an seinem dürren Leib,
dass man befürchten musste, es sei in diesem Stock kaum Leben. Aber man
täuschte sich. Seit fast drei Jahren kannte ich ihn. Sein Sohn war so alt wie
ich. Vielleicht gab das den Ausschlag. Vielleicht hätte er mich sonst gar nicht
beachtet. Denn er konnte ziemlich schroff werden, wenn ihm jemand nicht gefiel.
Der Kuttermotor
dröhnte. Der neue, grüne Kutter aus Lärchenholz gebaut, setzte sich wieder in
Bewegung. Das Wasser spritzte.
„Na!”, fragte
Ernst, „wü geiht di dat, mien Söhn?” 155 Vielleicht gefiel ihm, dass
ich ihm gern zuhörte. Ich musste hören, ich musste wissen. Irgendwann ist der
Tag herangerückt, an dem man es genau wissen will.
Ob es die
Zeitung dieses Tages war oder ob ich sie für den Zweck aufgehoben hatte, ihm
eine wichtige Frage zu stellen, weiß ich nicht mehr. Dass ich ihm das ND mit
einer gewissen Schlagzeile vor die Nase hielt, ist wahr.
Da verkündigten
die Lettern: „Nikita Sergejewitsch Chrustschow: Für eine Welt ohne Waffen!”
Ernst Kay warf nur einen müden Blick auf die Schlagzeile. Mit jener ungeheuren
Selbstverständlichkeit, die gewisse Wirklichkeiten eben begleiten, grummelte er
nur zwei knappe Worte heraus: ”Hei lücht!” 156
Auch ich war
vom Text beeindruckt worden, ich war im Begriff gewesen, Chrustschow Glauben zu
schenken!
Wenigstens
guten Willen wollte ich ihm unterstellen.
Hei lücht!
Ernst schaute mich unnachahmlich an, ein wenig spöttisch und überheblich, aber
auch fragend und vieldeutig. Was ist? Du wolltest doch die Wahrheit von mir
hören oder etwa nicht?
So dumm bist du doch nicht, mien
Söhn! Wie überrascht ich war, von einem Mann der sich selber als Kommunisten
bezeichnete, zu hören, dass er seinem Generalsekretär kein Sterbenswörtchen
abnahm. Das sah mir der alte, kluge ‚Genosse’ gewiss an. Gleichmütig, als gieße
er ein Glas Wasser in den See, erklärte er: Weder Trotzki noch Lenin, kein
Tuchatschewski und niemand im Politbüro der KPdSU hätten jemals, in
Friedenszeiten, dermaßen brutal auf militärische Rüstung gesetzt wie
Chrustschow.
Die Vokabel ‚brutal’ drang in
mich wie kalter Wind durch die Haut.
Diese Vokabel
stand aber auch vor mir wie ein Bandit mit einem Schlagring.
Ich fasste noch
einmal nach, doch Ernst Kay verweigerte sich mir diesmal. Er langte in seine
Jackettasche, holte eine kleine Flasche heraus.
Seelenruhig und
mit dem Ausdruck der Erwartung von sehr Gutem schraubte er die silbern
schimmernde Kappe ab. „Prost!” Er trank etwas, das wie Wasser aussah. Ernst Kay
betrachtete den Rest des Inhaltes traurig und steckte das durchsichtige Gefäß
zurück, wo er es hergeholt hatte. Aus Frauen und Militärs mache er sich nichts
mehr. Für ihn sei die pünktliche Einnahme seiner Seelenmedizin immer noch das
Wichtigste. Ob wir viel fingen an diesem Tage weiß ich nicht mehr. Ich vermute,
ich vergaß über Ernst Kay die obligatorische Eintragung ins Fangbuch.
Darin hielt ich
sonst fest, was wir wo unter welchen Wetterbedingungen gefangen hatten. Vor
meinen inneren Augen sind zwei stattliche, grünrot schimmernde Barsche. Die
nahm Ernst Kay mit, um sie sich auf seiner Jungegesellenbude im RWN zu braten.
Mehr brauche er nicht, einer war zuwenig, drei zuviel. Ernst winkte kategorisch
ab. Immer mit nicht gerade kleinen Gesten.
Das war er. Wie
ein Rohrspatz konnte er auf die Kapitalisten schimpfen. Er vergaß jedoch nie
seinen eigenen Genossen einen Satz ins Stammbuch zu schreiben. Der lautete: „Ji
sünd uk nich better!” 157
So war das
Leben. Wer sich nicht selber disziplinierte, der hatte keinen Anspruch auf ein
Lob von Ernst Kay.
Er ließ sich nicht beirren, im
Osten gäbe es nicht weniger Schweinehunde als im Westen. Wer sollte sie
gebessert haben? Er schob sein Kinn nach vorne. Ernst Kay kannte die Welt.
„Hauptsok ick!” 158
Das verstand
ich. Ihn ärgerte das. Jeder war sich hüben wie drüben der Nächste. „Ümmer
ihrlich blieben!” 159, pflegte Ernst zu sagen.
Ehrlich gesagt,
er wird so manches Mal angeeckt haben.
Kritische
Genossen hatten nie einen leichten Stand. Sie mussten mit dem Grundkonflikt
leben, ihre Ehrlichkeit gegen die unrichtige Behauptung der Partei zu stellen,
sie handele stets im Auftrage des werktätigen Volkes. Deshalb war der Anteil
halbabtrünniger Altgenossen so hoch.
Tatsache war ebenfalls, dass Nikita S. Chrustschow auf diese Weise in
unsern Köpfen eine Hauptrolle spielte. Fast süchtig, sammelten wir
biographische Daten wie diese: während seiner USA-Reise 1959 schloss er bei der
Besichtigung einiger Musterfarmen leichtfertig Wetten ab und verlor sie.
Seine Bauern
hätten noch bessere Maissorten, noch schönere Pferde gezüchtet. Chrustschow
konnte nicht gewinnen. Er war das Opfer der Ungenauigkeiten seiner Biologen und
seiner eigenen Chefideologen.
Die ihn
begleitenden Landwirtschaftsfachleute staunten, als sie die amerikanische
Kleintechnik sahen. Ein einziger Mann und nur ein Traktor schnitten, trockneten
oder verluden und transportierten und entluden riesige Heumengen. Mit
Zollstock, Bleistift und Papier bewaffnet begaben sich seine Fachberater an die
Heuerntefront. Von Feinden lernen, heißt siegen lernen. Fest stand für uns,
soweit hatten sie uns im Verlaufe der zurückliegenden anderthalb Jahrzehnte
überzeugt, dass nur eines der beiden Systeme überleben würde, nämlich das
bessere. Professor Beier Red zeichnete damals eine Karikatur, die voll ins
Schwarze traf. Sie erschien erst später im “Neuen Deutschland”, dem offizielle
Organ der SED, das faktisch jeder Betrieb zu halten verpflichtet war. Groß aufgeschlagen sehe ich das Blatt
auf dem Universaltisch der
Fischereigenossenschaft liegen: Beier-Red’s Zeichnung zeigte einen auf dem Nordpol des Globus! sitzenden
Rotarmisten mit seiner
Budjonnymütze. Der hat den Schaft der mit Hammer und Sichel bestückten roten
Fahne in den Bauch der Mutter Erde
gesteckt. Ausschließlich der Kommunist besitzt das Überlebensrecht. Kess
lächelnd teilt der von seiner Mission restlos überzeugte Bolschewist diesen
unabweisbaren Anspruch Uncle Sam mit.
Der Ami kratzt
sich sorgenvoll den Kopf. Er kann es nicht und soll doch begreifen, dass statt
der Freiheitsidee die Frechheit siegen wird. Der Russe macht, dass der
Kapitalist abrutschen und verschwinden muss. Der Erdball, den Beier-Red zeigt,
bietet nur einem die Bleibemöglichkeit. Die westlichen Imperialisten sind laut
Lehrbuch des Marxismus-Leninismus dazu verurteilt, den Globus zu verlassen. So,
angeblich, will es das Gesetz des gesellschaftlichen Fortschritts.
Die rote Fahne für das Kapitol in Washington
ist schon gestickt, so wie einstens Adolf Hitler ein bisschen verfrüht, den
Siegesmarsch für den Einzug seiner Räuberbande in Moskau komponieren ließ.
Um eben die Verwirklichung dieses Zieles der
erfolgreichen Weltrevolution ging es.
Deshalb herrschte ‘kalter Krieg’.
Ob wir Fische
fingen oder sie sortierten. Dieses unverschämte Trachten nach Weltvorherrschaft
bezog uns DDR-Bürger intensiv ein. Tag und Nacht, bei jeder Nachricht
beschäftigte und beunruhigte es unseren Geist. Manchmal - wenn ich nicht
gewusst hätte, dass der Mensch sich an nahezu jeden Zustand zu gewöhnen und
anzupassen vermag - wäre ich an mir selbst irre geworden und hätte an meinem
Verstand gezweifelt.
Denn, obwohl
permanent die ernste Ursache bestand, das Schlimmste - den Atomkrieg - zu
befürchten, fühlten wir uns bei der Arbeit und zu Hause häufig wohl.
Ein
Widerspruch, den man erlebt haben muss, um ihn verstehen zu können.
Vor allem, wenn
wir frühmorgens bei herrlichstem Wetter und bildschöner Umgebung zum Fischfang
hinausfuhren oder wenn wir während der Arbeitszeit die Schönheit der Natur
genossen, uns sonnten und uns des manchmal auch faulen Lebens erfreuten,
während der kleine Kutter uns mühelos über das Wasser beförderte, fragte ich
mich, womit ich das verdient hatte, inmitten des sich dramatisch zuspitzenden
Großgeschehens glücklich zu sein.
Ich erinnerte
mich dabei einmal dieses Bildes der russischen Lehrerin Irena. Durch ein
blühendes Feld blauer Kornrade und roten Mohns geht sie, pflückt ein paar
Blumen. Es ist der frühe friedliche Morgen des 21. Juni 1941. Sie hat einen
weiten Weg bis zu ihrer Schule vor sich. Sie singt. Sie ist verliebt. Sie wird
geliebt.
Dreihundert
Meter von ihr entfernt liegen, von Büschen und Strauchwerk geschützt und
versteckt, mehrere hundert deutsche Panzer.
Sekunden später
befindet sie sich in der Hölle zwischen platzenden Granaten und dröhnenden
Todesmaschinen. Die exzellente sowjetische Filmkunst unterschlug uns hier, dass
Irenas Geschichte in Wladimir-Wolynskij spielte, nahe dem Bug. Nämlich, dass es
sich hier um das Gebiet handelte, welches die Rote Armee im gemeinsamen Krieg
der Sowjetunion und Hitlerdeutschlands gegen Polen erobert hatte.
Als
Neunjähriger sah ich in Wolgast im Kino die Bilder der Wochenschau. Nie wieder
vergaß ich diese enorm beeindruckenden, ganz offensichtlich ungestellten Szenen
der Verbrüderung. Deutsche Wehrmachtsangehörige und sowjetrussische
Armeeoffiziere umarmten sich als Waffenbrüder am Bug. Später vervollständigte
sich mein Wissen: Hitlers SSler und Stalins GPU-Kommissare reichten sich auf
Kosten Polens als gemeinsame Verbrecher an Polen freundschaftlich die Hände,
und sie gaben und nahmen der SU unliebsame Kommunisten, wie Margarete Buber-Neumann,
entgegen und sperrten sie in deutsche KZ ein.
Wie oft hatte
ich mich an diese unterschiedlichen, unwiderruflich in meinem Gedächtnis
gespeicherten Szenen erinnern müssen.
Einerseits
hofften wir, dass uns ein besseres Schicksal beschieden sein würde als den
damals Lebenden, andererseits schürte die DDR-Presse die Kriegshysterie 1959
erheblich.
Am 01. Juni
schrieb ND: „KPD fordert Verzicht auf Gewalt”. Am nächsten Tag hieß es dort:
„Westberliner Spionagezentrum von unschätzbarem Wert (für die Kapitalisten)”,
aber, ... „es ist militärisch nicht zu verteidigen”... „Franz Joseph Strauß
lässt zivile Fahrzeuge für den Tag X erfassen”.
Unentwegt
sollten wir befürchten, dass uns der 3. Weltkrieg unmittelbar bevorstünde. In
derselben Presseausgabe hieß es in einem Artikel von Lothar Bolz: „Westberlin
darf nicht länger Pulverfass sein.” Was nicht anders zu verstehen war, als dass
man ein Pulverfass durch eine schnelle Aktion unter Wasser setzen muss.
Am 14. Juni
schrieb ND: „Den deutschen Militarismus bändigen.” Einen Tag später im selben
Tenor: „Bonn soll Atomrüstung einstellen!”
Chrustschow
befragt, wem er denn die 20 Megatonnenbombe, deren Prototyp er damals in der
Arktis zündete, zugedacht habe, antwortete unverfroren: „Amerika!“ Solche
Drohung schockierte nicht nur die Amerikaner.
Ich aber
erinnerte mich der Worte des Altkommunisten Ernst Kay.
Am 17. Juni
prangten die schwarzen Lettern im ND: „Empörung über Adenauers Kriegskurs!”
Wenig
beruhigend die Kommentare der NVA Offiziere: „Wir sind
zum Kampf
bereit!” Ich fragte nach.
Die Antwort,
gegeben in einer Gaststätte, lautete: „Mein Körper gehört der NVA der DDR!” Das machte Angst. Bis einer
schallend lachte: „Klar! Von Geist keine Spur!”
In eben diesen
aufregenden Sommertagen 1959 gerieten uns auf einem Wadenzug in Höhe
Tollenseheim einige hundert Stück Silberlinge ins Netz. „Das sind Maränen!”,
erklärte Fritz Reiniger.
Er fügte
nachdenklich hinzu: „Sind sie also doch hochgekommen!”
Damit spielte er auf die verwirklichte Idee
der Doktoren des Institutes für Binnenfischerei und auf Eduard Jochims
Überzeugung an, der 1955 mit Mitteln des Rates des Bezirkes 5 Millionen
Maränenbrütlinge in den Tollensesee einsetzen ließ.
Niemand konnte
bis dahin ernsthaft daran glauben, dass von den in ein Eisloch eingelassenen
Millionen, nur wenige Millimeter langen, wie Glas durchsichtigen,
hochempfindlichen Maränchen, auch nur ein einziges überlebt haben könnte.
Denn allemal
kommt, selbst unter günstigeren Umständen, von etwa zwanzigtausend geschlüpften
Fischchen in der Natur nur ein einziges Exemplar weiter. Wären es mehr, würden
die Anzahl Fische sich jährlich verdoppeln, was nur ausnahmsweise geschehen
darf. Das biologische Gleichgewicht würde empfindlich gestört werden. Lediglich
durch Verzögerung des Schlupftermines in Fischbrutanstalten lassen sich diese
drastischen Verluste reduzieren.
Stefan Schmid, Bernried, Österreich - Große Maräne- |
Die Embryonen,
gleichgültig, ob sie auf dem Seeboden liegen oder in so genannten Zugergläsern
künstlich erbrütet werden, zeigen ungefähr im Februar ihre Augen. Durch die
dünn gewordene Eihaut hindurch schimmern die von einem kleinen Silberring
eingefassten schwarzen Punkte. Dieses Augenpunktstadium wird nach dreiviertel
der Embryonalentwicklungszeit erreicht. Sie wälzen sich dann bereits in ihrer
anscheinend gemütlichen, wenn auch recht engen Behausung. Sie drehen und wenden
sich. Mit der Lupe betrachtet sieht man ihr winziges Herz schlagen und schon
bei fünfzigfacher Vergrößerung erkennt der Beobachter die grünlich schimmernden
Blutplättchen durch die unsichtbaren Adern schwimmen.
Wilhelm Bartel
nahm, als wir die Kleinen Maränen auswogen, einen der Silberlinge in die Hand.
„Gut gewachsen!”, bemerkte er und betrachtete den runden Rücken der ungefähr
hundertundfünfzig Gramm wiegenden fangreifen Fische und nickte.
„Geeignet!”,
sagte er, in einem Tonfall der an übertrieben salbungsvolle Worte eines
evangelischen Geistlichen erinnerte. Er schaute mich an. Ich spürte, das war
ein gewichtiges Wort. „Du wirst sehen, dass wir mit der Zeit zu Maränenfischern
werden.” Bis zehn Prozent der angelandeten Gesamtfischmenge könnten dann
Maränen sein. Denn wenn ein Gewässer seine Eignung für eine bestimmte Fischart
erweist, dann bietet es dieser auch die Chance, im Kampf ums Dasein zu
dominieren.
So weit zu
kommen, ist nicht leicht. Denn so genannte ökologische Nischen gibt es in
intakten Seen kaum. Die sind normalerweise besetzt. Wenn Bartel Recht behielte,
würden wir eines Tages mit Kleinen Maränen als bedeutendem Wirtschaftsfisch
rechnen können. Jahresfänge über 20 Tonnen dürften wir einplanen. Er wies auf
die Fettflosse: „Das macht sie zu den Lachsartigen, geräuchert sind alle
Fettflossenträger eine Delikatesse.”
Noch waren es
nur vage Hoffnungen und der Fang von dreihundert Stück Maränen blieb nur ein
kleines Ereignis.
Wir hofften jedoch…
Das Jahr ‘61 kam herauf
Am 22. April
hielt ich in meinem Tagebuch zwei Bemerkungen fest:
„Bezirksfischmeister
Eduard Jochim ging in seinem politischen Referat anlässlich der
Quartalsversammung weniger auf den Fischfang ein, als auf das Ereignis Weltraumfahrt.
Eduard sprach feierlich von einer ‚Großtat der Sowjetunion’: Major Juri Gagarin
war als erster Mensch am 12. April in den Orbit geflogen.“
Zweitens: Der
wichtigste Beschluss der Mitgliederversammlung lautet: Wer am 1. Mai
mitmarschiert, erhält 25,-Mark.
Wir marschierten wegen der 25,-
Mark.
Aber das ist nur die halbe
Wahrheit.
Wir Fischer
gingen auch zur Maiparade, weil dieser Tag seinen eigenen Reiz auf den ausübte,
der mitmachte. Es herrschte immer für einige Stunden richtige Feststimmung.
Auch wenn in
diesem Jahr die Apfelbäume am ersten Maientag nicht in voller Blüte gestanden
hätten, wäre er mir in Erinnerung geblieben.
Denn am
Vorabend war ich zum ersten Mal als Aktivist ausgezeichnet worden.
Einen
Augenblick lang war ich am Morgen versucht gewesen, meinen ‚Orden’ anzulegen.
Erika sah mich
vor dem Spiegel stehen, als ich das braunrote Band mit dem Metall dicht ans
Revers meines neuen Anzuges hielt. Während ich dachte: Soll ich oder soll ich
nicht? schmunzelte sie mich halb spöttisch, halb anerkennend von der Seite an.
Sie legte ein paar kleine Falten in ihre helle Stirn. Ihre Augen lachten.
Das hieß
ihrerseits, wenn du es tust, ist es ein Kompliment an das System der
Kommunisten, ich denke, dass du es so nicht haben willst! Oder?
Na ja! Alles
ist ja wirklich nicht schlecht. Die Solidarität und so...
In diesem
Augenblick kam die Moskauer Militärparade in meine gute Stube hineingeflimmert.
Von einem mit schweren
Ordensleisten behangenen Marschall der Sowjetunion wurde die Tageslosung
verkündet: „Bereit zur Verteidigung des Friedens”. Aber ich wusste was das
bedeutete. Dieser Friedenskampf, den die Kremlherren meinten, würde mehr als
doppelt so viele Opfer fordern, wie die beiden Weltkriege zusammen. Da machte
es gar nichts aus ob dieser Kampf des Friedens oder des Krieges wegen
stattfand. Die ruhmreichen Garderegimenter marschierten auf, die
Elitedivisionen, die Offiziersschüler der berühmten sechsten... alles in meiner
Wohnung. Sie paradierten hingebungsvoll und exakter als die Preußen, starr die
kaum ruckenden Köpfe zur dicht besetzten Empore des Leninmausoleum ausgerichtet.
Ihre Arme schwenkten nicht. Ihre in makellos weißen Handschuhen steckenden
Fäuste berührten die ihrer Nebenmänner. Nikita Sergejewitsch winkte
freundlichst herunter. Die SU ist auf Friedenskurs! O, je!
Des Marschalls Parole, die er
stark akzentuiert ins unsichtbare Mikrofon hineinrief, bewegte mich
sekundenlang. Es imponierte vielen. So haben die Welteroberer zu allen Zeiten
mit ihren Säbeln gerasselt. Ihr bemannter Weltraumflug war nichts weiter als
der Ausdruck ihres mit ungeheurer Anstrengung erzielten Vorlaufes im
Rüstungswettbewerb. Deshalb die im Morgensonnenschein glitzernden
Langstreckenraketen...
Schließlich
verzichtete ich, mir ‘was ans Jackett zu heften.
Hermann Göck
stand an diesem lauen und blauen Maienmorgen neben einem oder zwei sowjetischen
Generälen mit ungefähr einhundert anderen Prominenten auf der Haupttribüne.
Viele der Leute da oben hatte ich noch nie gesehen.
Diesmal befand
sich das Gerüst auf halbem Wege zwischen der Johannis- und der Marienkirche, in
der Thälmannstraße. Aus seinem Hintergrund ragte ein großer Baukran hervor. Von
dessen langer Trosse hing ein Seil bis einige Meter über dem Erdboden herab und
an ihm befestigt eine rote, riesige Papiernelke. Es war der Ort der späteren
Grundsteinlegung für den “Kulturfinger“.
Natürlich sahen
wir zu Hermann Göck auf. Er hielt die geballte Linke in die Höhe. Wir Fischer
schauten uns gegenseitig fragend an. Wenn wir ihm zuwinkten, dann hielt er das
für ein Bekenntnis, unterließen wir den Gruß jedoch, dann missachteten wir ihn.
Also winkten wir. Immer war auf solchen Großveranstaltungen beides miteinander
vermischt, echtes und unechtes Pathos, Bewundern und Prahlen. Am neuen “Vier-Tore-Hotel” scherten
die meisten Demonstranten aus. Ich auch. In Höhe der Edwin-Hoernle-Buchhandlung
fand ich eine gute Position. Um mit der AK 8 filmen zu können, musste ich mich
vordrängeln.
Eine Papprakete
wurde im Festzug gefahren. Drinnen saß jemand. Er sollte einen Kosmonauten
darstellen.
„Eifern wir
Juri Gagarin nach!”, schallte es über die Lautsprecher. Die Stimme des
Reporters überschlug sich fast: „Der neue Mensch ist in seiner reinsten Form
erschaffen worden.” Hatte ich mich verhört? „Vorwärts zu den lichten Höhen des
Sozialismus.”
Dazwischen
tönten Siegesmeldungen von der Produktionsfront, Maurer marschierten auf,
hinter ihnen rollten die farbigen Hausattrappen her. Fleischer in weißen Blusen
und roten Schärpen, darunter die Lederscheiden für ihre Messer. Beide Kapitäne
der Neubrandenburger Fahrgastschiffe kamen in tiefem Marineblau. Horre, sünd
wie Kierls! 160
Kinder mit
blauen Pionierhalstüchern begleitet von Lehrern fuhren fröhlich winkend auf
ihren mit frischem Birkengrün geschmückten Fahrrädern an uns und den
Ehrengästen vorbei.
„Ein Lied geht
um die Welt” Das Lied vom Frieden.
„Der Friede
muss bewaffnet sein!”
Eine Hundertschaft
Volkspolizei klapperte auf den harten Hacken ihrer neuen Stiefel mit ihren MP
über das Pflaster, während aus dem Hintergrund immer neue Zehnerreihen
Zivilisten heranrückten. Unter schmetternder Marschmusik näherte sich
schließlich die Blaskapelle der NVA. Ihr voran schritt fest und sicher ein
Hauptmann, die stattlichste Erscheinung auf dem Platz. Er ging wie seine Männer
bedeckt mit seinem straff unter dem Kinn festgeschnallten Stahlhelm in blinkend
neuer, feldgrauer
Uniform. Er ahnte ganz gewiss nicht, dass er
den nächsten Monat nicht mehr sehen würde. Er dirigierte mit forschem Gesicht
wie ein Generalmusikdirektor.
Der
ungewöhnlich zeitige Frühling 1961 mit seinen häufigen Nordoststürmen verbunden
mit Wasserhochstand des Tollensesees sollte uns in diesem Mai eine besondere
Überraschung bescheren. Gegen die Windrichtung, aber mit der Tiefenströmung in
Richtung Oberbach und Ölmühlenbach wanderten, zum ersten Mal, seitdem ich
Fischer geworden war, bemerkenswert große Aalbestände ab. Zu beträchtlichen
Stückgrößen herangewachsen, ließen sich die kiloschweren geschlechtsreifen
Aalweibchen und die gegen sie nahezu winzigen Männchen nicht mehr halten. Der
ferne Ozean lockte sie unwiderstehlich an. Beide metallenen Aalfänge, sowohl
der in der Vierrademühle als auch der andere im Bereich der ehemaligen Ölmühle
stehende, gut gewartet und intakt fingen in allen mondschwachen April- und vor
allem Maiennächten jeweils mehrere hunderte Kilogramm. Zweihundert Zentner insgesamt.
Nichts hatten
wir zuvor von diesem Reichtum bemerkt, nicht einmal geahnt. Mit sicheren
Instinkten ausgestattet überwindet der abwandernde Aal selbst vierzig
Zentimeter hochgestellte Netzabsperrungen oder er findet längs der Vorfront
zwischen den Gitterstäben, die zum System des Aalfanges gehören, seitliche
Schlupflöcher. Die ungemein flinken Aale finden das kleinste Löchlein, wenn
auch nicht jedes. Denn rasend schnell spielen sich die Ereignisse in der
Dunkelheit ab. Der im abfließenden zuletzt vor dem Fangkasten in immer
schneller strömenden Seewasser befindliche Aal hat nur zehntel Sekunden Zeit,
um die winzige Chance zu Flucht zu erspüren und auszunutzen. Dennoch gelingt
das erwiesenermaßen nicht wenigen. Fischer Blohm in Altentreptow, hinter diesen
beiden Totalabsperrungen fischend, fing immerhin noch einhundert Zentner (sie
wurden, da Fritz Blohm inzwischen unserer Genossenschaft angehörte, von unserer
Buchhaltung korrekt erfasst.) Also war
mindestens einem von drei Aalen gelungen das komplizierte, nur scheinbar dichte
Maschenwerk aus verflochtenen ein-Zentimter-starken Eisenstäben zu überwinden.
Wahrscheinlich entkam auf dieselbe Weise jeder zweite Aal. Dann müssen in
diesem Jahr und Frühling 1961 mindesten vierhundert Zentner stattliche Aale den
Tollensesee verlassen haben. Ein Großereignis der Binnenseenfischwelt, das in
ähnlicher Weise sicherlich nur zwei- oder dreimal in einem Jahrhundert
geschieht
Der 13. August
Die Nachrichten
der frühen Morgenstunden dieses Tages, vom SFB verbreitet, trafen mich hart.
Krachend war um
Mitternacht die letzte Tür hinter mir ins Schloss gefallen. Die Letzte... Nie
wieder würde ich frei sein!
Eine Situation
und Erkenntnis , die mir schlagartig das ganze Ausmaß eines nicht wieder
gutzumachenden Fehlers bewusst machte.
Gefühle der
Menschen zog die entscheidungstragende Partei bei ihren taktischen Erwägungen
und Aktionen selten oder nie in Betracht. Als Ausdruck dafür stand unter
anderem diese überraschende Errichtung der Berliner Mauer. Wie bereits während
der ein Jahr zuvor erfolgten Zwangskollektivierung der Landwirtschaft bewiesen
ihre Köpfe uns, dass sie nicht daran dachten, uns jemals zu fragen, was wir
dazu meinen, sondern dass sie rigoros ihre Vorstellungen, wie die Zukunft
aussehen soll, durchsetzen werden.
Nicht nur mir
schien, dass die Männer der Partei- und Staatsführung meinten, was sie sagten,
wenn sie von ‚unseren’ Menschen sprachen. Bis Mitte August ’61 entflohen ihnen
deshalb über eine Million Andersdenkender. Sie konnten und wollten mit der
beängstigenden Abnahme ihrer Freiräume nicht weiter leben.
Nicht jeder war
anpassungsfähig.
Ich sah während
der Kollektivierungskampagne in Ballwitz den Mittelbauern J. der seine 50
Hektar Ackerland stets vorbildlich bewirtschaftet hatte. Seine Frau stand, als
ich bei ihm in einer Versicherungsangelegenheit vorsprach, auf den Stufen des
schlichten Wohnhauses.
Über ihr
schlossen die Zweige zweier blühender, duftender Fliederbüsche. An ihrer Seite
standen zwei kleine Kinder, die Muttis Finger umklammerten und die scheu zu mir
aufsahen. „Ich lasse mich nicht zwingen!”, erwiderte der stattliche Dreißiger
auf meine Frage wie er diese Entwicklung ertrage.
Drei Tage
später stand sein Wohnhaus leer.
Tausende
Mittelbauern ließen die Scholle im Stich, die ihre Vorfahren jahrhundertelang
als stolze, unabhängige Bauern bewirtschaftet hatten. Undialektisch wurden
diese vielen traurig Davongehenden von der gleichgeschalteten DDR-Presse
obendrein als Republikflüchtige verunglimpft. Niemals lasen oder hörten wir ein
Wort des Bedauerns und der Entschuldigung von denen, die diese Massenflucht
verursachten. Zudem konnten nicht alle, die sich auf der Schattenseite des
Sozialismus befanden, rechtzeitig fliehen. Noch einen Tag vor der Abriegelung
Ostberlins gegen den Westen vertraute ich Polizeimeister Jochen Appel an, was
mich an der DDR störte. Er gehörte zu den vielen Hobbyfischern, die so manche
Gelegenheit nutzten, mit uns hinauszufahren.
Mich regte die
innere Unredlichkeit auf, mit der sie uns nötigten, alle zwei Jahre an die
Wahlurnen zu gehen. Sie führten genauestens Buch darüber, wer an den
‚Volkswahlen’ nicht teilnahm. Bei den Nichtteilnehmern konnte es sich nur um
Feinde der DDR handeln. Ich betrachtete es als schlauen Trick und böse
Manipulation der Partei, jede Wahl effektiv zu einer persönlichen Erklärung für
oder gegen den Frieden der Welt zu erklären. Agitatoren der SED behaupteten
unverfroren: „Wenn du für den Frieden bist, dann darfst du das doch offen
bekennen. Nur wer gegen den Frieden ist, der kommt nicht oder er benutzt die
Wahlkabine.“ Hatten die ihren Verstand und Gewissen gegen Geld verscherbelt?
Solche Argumentation war kein Anzeichen für Schwachsinn, sondern für
Gerissenheit. Millionen wurden am ‚Wahltag’ Zettel in die Hand gedrückt mit
Namen von den ‚wählbaren’ Leuten, von denen jeder wusste, sie könnten, selbst
wenn sie wollten, nie etwas anderes vertreten als Walter Ulbrichts Linie.
Uns blieb also
keine Wahl.
Etwa 98 % der
Bevölkerung sprachen sich so, in Zweijahresabständen, ‚für’ den bewaffneten Frieden
aus.
Wie die zwei
Prozent Mutigen es zustande brachten sich ‚gegen’ den Weltfrieden auszusprechen
und trotzdem ruhig zu schlafen, ist mir immer unfassbar geblieben. Wer den Mut
aufbrachte, die Wahlkabine zu benutzen, der verachtete auch die letzten
Vorzüge, die ihm das ansonsten von der Partei reglementierte Leben noch bot.
Die Wochen und
Monate vergingen, die Zeit milderte die Heftigkeit des unseligen Gefühls, nun
lebenslänglich eingesperrt hinter der Mauer leben zu müssen.
Wir gingen Tag
um Tag derselben immer neuen Arbeit des Zugnetzfischens nach. Es kam der
November herauf. Wilhelm Bartel und ich wurden zum Rat des Kreises bestellt.
Dort legte man uns ein Papier vor. Es handelte sich um einen Aufruf zur
Planerfüllung und -übererfüllung.
“Wettbewerb für
sozialistische Genossenschaften” stand da oben geschrieben.
Wenn wir die
staatliche Planauflage allseitig erfüllten, dann erhielten wir die Summen
oberhalb einhundert Prozent aus dem Betriebsgesamtplan steuerfrei als
Nachzahlung. „Das gibt es nicht!”, erwiderte Wilhelm Bartel und steckte sich
vor Schreck an der heruntergebrannten anderen ein neues Zigarillo an. Meistens
unterbrach er das Rauchen nämlich für zehn Minuten. Diesmal nicht.
Wir fuhren mit
unseren Fahrrädern wieder hinunter zur Fischereibaracke. Während wir radelten,
rechnete er mir überzeugend vor, dass es uns ohnehin leider nicht betreffen
würde. Wir könnten allenfalls den Finanzplan, auch noch den Konsumfischplan
erfüllen und übererfüllen, aber im Bereich Feinfische blieben wir, wie üblich,
weit vor dem Ziel stecken.
Schade. Wann
gäbe es das wieder? Steuerfreiheit für Gewinne? Nie.
Biederstaedt bekräftigte
dieses Unmöglich!
Von den
geplanten 28 Tonnen Feinfischen fehlten zehn. Die Fehlmenge war, nur finanziell
allerdings, durch vermehrte Anlandungen anderer Fischarten ausgeglichen worden.
Im November ereignen sich keine Fangwunder mehr. Jedenfalls nicht in dieser
Größenordnung. Das sei gewiss. Auch er zog die Achseln bedauernd und schüttelte
den Kopf. Illusionen gäbe er sich in seinem Alter nicht mehr hin. Gegen uns
drehte sich sogar der Wind. Er blies in den ersten acht Novembertagen heftig
aus Ostsüdost. Der durch ihn erzeugte Tiefenstrom würde allenfalls die großen
Barsche in Zugnetzbereiche treiben. Aber zehn Tonnen große Barsche gab der
Tollensesee selbst in besten Fangjahren nicht her. Das leuchtete mir ein,
obwohl ich erst fünf Jahre dabei war.
Vom
langgestreckten Tollensesee können etwa 85% der Gesamtseefläche fischereilich
nicht erfasst werden. In diesen Rückzugsgebieten bleiben die besten Fische
stets ungestört.
Bartel
versuchte uns zu ermutigen, dennoch das Mögliche zu tun. Die Lieps habe ihre
Mengen zwar längst abgegeben. „Doch wir haben den Krickower und den Neveriner
See noch nicht abgefischt.” Zusammen könnten uns die beiden Gewässer zwei
Tonnen Feinfische bescheren. Wo jedoch ließe sich eine dritte, vierte Tonne
Feinfische fangen?
Da zuckte er resignierend die
Achseln.
Nirgendwo! Das Zugnetz und die
Kähne wurden zunächst eiligst nach Neverin transportiert, wo tatsächlich, wie
vorausgesagt, eine Tonne Zander gefangen wurde. Anschließend ging es nach
Krickow. Phantastische Gedanken- und Zahlenspielereien zogen durch unsere
Köpfe. Aber bei genauer Betrachtung kamen immer nur Minuszahlen heraus: zum
Schluss werden uns mehr als sechs Tonnen fehlen.
Eifrig,
begleitet vom Sausen des starken Ostwindes, setzten wir die Netzteile im
steilscharigen Krickower See aus. Sofort, als wir das Zugnetz in Bewegung
brachten, ging das von Plasteschwimmern an der Seeoberfläche gehaltene Netz der
rechten Seite unter. Es hakte.
Die Männer, die
diesen Flügel zogen, begaben sich so schnell wie sie konnten an jene Stelle der
Netzwand die zuerst abgetaucht war. Dort musste ein Hindernis in der Tiefe
liegen. Eine Stunde lang wühlten und stöhnten sie. Es kam nach und nach ein
sonderbarer Aufbau, schließlich eine ganze komplette Kutsche zum Vorschein.
Fünfzehn Jahre
lang muss das Netz günstiger ausgelegt worden sein. Der Riss, von der
versenkten Kalesche verursacht, konnte schnell ausgeflickt werden, doch alle
Mühe war schließlich vergebens. Denn Feinfische gab es dort nur kiloweise. Wir
rochen die Frostluft. Das Ende der Saison stand uns also aus Witterungsgründen
unmittelbar bevor.
Bartel zog das
schiefe Gesicht wieder gerade. Er hatte es ja gleich gesagt. Er habe sich nun
endgültig damit abgefunden, dass schöne Träume bleiben, was sie sind.
Nur
Biederstaedt, Witte und ich wollten es noch einmal mit dem Einsatz des
Zugnetzes auf dem Tollensesee versuchen. Einige beschimpften uns als Spinner.
Es habe ja doch keinen Zweck. Zehn Tonnen Hechte oder große Bleie fing man
nicht mehr im vorgerückten November, schon gar nicht bei Ostwind, sondern
höchstens Plötzen.
Wir zankten
uns.
Biederstaedt
hob die Hand beschwichtigend. „Lot’t uns dat doch utprobieren!” 161
Ein denkwürdiger Tag
Dieser
Novembertag des Jahres ‘62 begann trist. Nur weil es ihre Pflicht forderte zu
fischen, fuhren auch die Spötter mit uns auf den See. Meine Hoffnung brannte
noch lichterloh. Natürlich, manchmal gibt es nichts mehr zu hoffen und man
rennt dennoch. Wir legten das große Zugnetz auf halbem Wege zwischen
Neubrandenburg und Buchort vierhundert Meter von Land aus. Je zweihundert Meter
parallel zum Uferstreifen. Allen Bemühungen zum Trotz fingen wir innerhalb fünf
Stunden nur vier Stück Kleine Maränen. Das war noch nicht einmal ein einziges
Kilogramm Fisch.
Die einen
freuten sich, wir andern zogen die Mundwinkel herunter. Die Klügeren hatten
Recht behalten. Enttäuschung ist wahrscheinlicher als Erfüllung.
Bösartig
argumentierend könnte man sagen: der See sei bereits überfischt worden.
Die Uhrzeiger
rückten auf die zweite Nachmittagsstunde vor. Winterluft wehte wieder spürbar.
Der Wind blies nun aus Nordwesten. Doch so plötzlich wie er aufgekommen war,
legte er sich wieder, wie das an Nachmittagen häufig üblich ist.
Selbst
Biederstaedt verspürte nur noch wenig Lust, noch einen weiteren Zug anzulegen.
Sie entmutigten einander und ich gab
ebenfalls auf.
Wir dachten an die uns bevorstehende
Freizeit.
Also fuhren wir, die nächste Enttäuschung
hinter uns lassend heim.
Der Motor
brummte. Kurt Reiniger legte den Gang ein. Schäumend wirbelte des Kutters
Heckwasser.
Kurt mied die
gefährlichen Steine unterhalb des Steilufers von Belvedere. Er steuerte auf
Augustabad zu. Dieser kleine Umstand sollte große Folgen haben. Denn da,
fünfhundert Meter von Land, passierte etwas.
Da, noch einmal! Das dürfte keine
Täuschung gewesen sein.
Fast
unbemerkbar, wie ein Lamettafaden aufblitzt, der in der Dunkelheit der Nacht in
einhundert Meter Entfernung nur kurz vom schwachen Mondlicht beleuchtet wird.
Wieder! Diesmal zwei oder drei dieser winzigen nur für den Bruchteil einer
Sekunde erscheinenden Silberstreifen, aber bereits nur noch sechzig, siebzig
Meter von uns weg. Sie rissen mich aus der Lethargie in die Höhe.
Biederstaedt
bemerkte es ebenfalls. Er legte die Hand beschattend über seine starken
Augenbrauen. Wir starrten nun zu zweit. Wie elektrisiert und in Hochspannung
versetzt und abwartend wandten wir unsere ganze Aufmerksamkeit der plötzlich
sich völlig glättenden Wasserhaut zu.
Fritz Reiniger
stieß die rechte Hand vor. „Maränen!”, rief er. Auch er erregt. Jetzt
erschienen vier, fünf Silberfunken auf einmal, mehrten sich.
Alle sahen nun
das sich unglaublich schnell entfaltende Bild. Immer mehr Fische sprangen aus
dem Seespiegel heraus. „Maränen, Maränen! Überall Maränen.” Nur der
Kutterfahrer Kurt Reiniger ahnte nichts. Er saß in der Kabine und hatte
lediglich den stumpfen Turm der Marienkirche im Blick.
Purer Übermut
trieb diese auf Hochzeit gestimmten Winterlaicher. Nur für Zehntel Sekunden
ließen sich die Einzelexemplare blicken. Mit großer Geschwindigkeit sausten sie
knapp über den schnell durchschnittenen Wasserspiegel hin. Geräuschlos für uns,
noch, solange der Kuttermotor lief. Von meinem Arbeitskahn aus schlug ich mit
ziemlicher Wucht und mit der flachen Seite meines Ruders auf das Dach der
Fahrerkabine, unseres neuen Kutters.
Jäh aus seinen
Träumen gerissen wandte sich Kutterfahrer Kurt Reiniger um. Wütend stieß er das
kleine, hintere Fenster auf. Seine Stirn furchte den Ausdruck unbeherrschter
Wut. Sein stets gebräunt wirkendes Grobschmiedsgesicht schien Hass zu sprühen.
Er fauchte mich an und ich fauchte zurück: „Bist du blind?”
Ringsherum
spritzten die Silberlinge inzwischen zu Tausenden immer mutiger, immer höher
hinaus, immer weiter.
Fritz Reiniger,
Kurts Bruder, gab als Brigadier Weisung, er möge sofort wenden. Seinem älteren
Bruder laut zu widersprechen, hätte Kurt nie gewagt. Doch offensichtlich immer
noch in Zorn zog Kurt sich zurück. Ich vermutete richtig, dass er da im
Motorenraum maßlos vor sich hingeflucht hat und dennoch gehorchte. Er muss das
Steuerrad aus Ärger gefühllos herumgerissen haben, denn sofort schleuderten die
Kähne bedrohlich scharf nach außen. So sind selbst schon höherbordige Boote zum
Kentern gebracht worden. Noch befanden wir uns vier-, fünfhundert Meter von der
Einfahrtsrinne zum Oberbach entfernt. Da war der See noch tief genug. Noch
konnte Kutterfahrer Kurt einen Halbkreis mit Vollgas ausfahren. Das mutete er
uns auch zu. Wir gerieten unnötigerweise in diese Schieflage. Lediglich
Millimeter fehlten und das schäumende Wasser wäre nicht nur spritzerweise,
sondern massiv in die Arbeitskähne hineingeschlagen. Wo das passiert war, da
gab es bereits der Netze wegen, die dann automatisch über die Gekenterten
hinweggeschleppt werden, Tote.
Dem Umkippen
immer noch nahe, noch während des hitzig ausgeführten Wendemanövers wiederholte
sich das Schauspiel unmittelbar neben uns. Aus den von uns verursachten Wellen
sprangen nun die kostbaren Fischchen und zeigten sich jetzt in voller Pracht
ihres Gruppenfluges. Das war einmalig schön und aufregend.
Als wir auf
Höhe der Linie Belvedere - (ehemalige) Torpedoversuchsanstalt ankamen, warfen
wir das Netz zum zweiten Mal aus. Die Sonne färbte den Horizont bereits rötlich
zu rot, dann violett zu herrlicher Farbenvielfalt.
Von der
Trommelwinde fuhren wir jeweils ungefähr vierhundert Meter Drahtseil ab. Dann
im flachen Seebereich steckten wir unsere Haltepfähle in den sandigen Seeboden,
kurbelten die kleinen Dieselmotoren der Maschinenwinden an und warteten
eigentlich eher ungewiss darauf, wann das zwar recht lange, aber nicht sehr
tiefe Netz endlich auftauchen würde. Denn durch den Wasserwiderstand, der den
Maschen entgegensteht, baucht das Fangnetz während der Windephase beträchtlich
aus.
Manchmal ist es
dann nur noch sechs Meter hoch. Reduziert um fast die Hälfte der theoretischen
Stauhöhe. Solange also die Flottenleine nicht an die Seeoberfläche stieß, war
den Fischen der Ausbruch durch einfaches Überschwimmen des Netzes allemal
möglich. So können selbst die größten Fischschwärme bis auf den letzten Schwanz
entkommen. Ihrem Instinkt folgend haben sogar die in Laichstimmung
hineintaumelnden Fische stets noch ihre Fluchtchancen. Deshalb sahen wir dem
Zeitpunkt des Netzauftauchens eher gelassen, als mit hochgespannter Erwartung
entgegen. Zu oft hatten wir es erlebt, dass Großfische mitten auf dem ‚Zug’ im
scheinbar sicher eingekreisten Bereich aus Lust oder Erregung herausplatschten
und dann war es doch nicht gelungen, sie zu fangen. Die Unberechenbarkeit der
stets nur teilweise eingekreisten Fische machte die Arbeit so spannend. Trotz
enormen Fleißes unsererseits blieb sie ein Glücksspiel, und deshalb gewöhnte
man sich nach und nach, selbst bei allerbesten Anzeichen ab, irgendeine
Fanghoffnung zu übersteigern.
Doch, wo immer
die ‚Springer’ ihre Anwesenheit demonstrierten, da bemühten wir uns auch, sie
zu fangen.
Es geschah in
diesem Augenblick bereits das nächste wunderbare Ereignis. Wie von Geisterhand
bewegt flog das Netz plötzlich auf einem guten Drittel seiner Gesamtlänge, also
auf einer Länge von etwa zweihundert Metern in die Luft. Wie mir schien, einen
halben Meter hoch.
Mir ging vor
Staunen der Mund auf. Noch nie hatte ich Vergleichbares erlebt. Gegen das
Gesetz der Schwerkraft kann das tonnenschwere Netz sich nicht aus dem Wasser in
die Lüfte erheben, nicht einen einzigen Millimeter.
Und doch war es
so. Meine Kollegen vom nebenan liegenden Boot schrieen jubelnd: „Wir haben
sie.” Sie hatten es also wie ich als ungewöhnliches Schauspiel empfunden. Was
war wirklich geschehen?
Es gab nur eine
Erklärung: Alle Energie, die von aufgerüttelten Maräneninstinkten zur
Überlebenssicherung in hunderttausenden Fischen zeitgleich freigesetzt wurde,
verlor sich im gemeinsamen Anrennen gegen die Netzwand. Die Vorderen rasten mit
ihren spitzen Köpfen in die Maschen, die nächsten stießen gegen die aufgeregt
weiterschwimmenden, aber schon gefangenen und die letzten, meisten, taten das
Übrige. So schob eine Fischwelle die andere in Panik vor sich her und
verursachte auf diese Weise das sensationell sichtbare Ergebnis dieses
Massenansturmes.
Unmittelbar
hinter den schon kahlen Buchenkronen und der Silhouette von dem im klassizistischen
Stil erbauten, tempelartigen Belvedere zog sich schon die Sonne zurück und
färbte den hinter dem Zugnetzsack liegenden Seeteil von violett zu blaugrau,
strengen Frost ankündigend.
Über dem
Wadensack in nahezu noch dreihundert Metern Entfernung flatterten tausend
Seeschwalben und Möwen. Wie aufgewirbelte, weiße, schnell ihre Konturen
ändernde Wolken wogten die Vogelscharen. Immer wieder stießen die Räuber aus
der grauweißgesprenkelten Höhe herab und zerrten mehr oder weniger erfolgreich
an den mit ihren Silberleibern in den Netzmaschen steckenden Fischen. Rings
herum tönte dieses wilde Kreischen.
Inzwischen
fuhren wir mit unseren pechschwarzen Arbeitskähnen mittig im Flachwasserbereich
zusammen, um schließlich die Arbeit des Garneinholens vorzubereiten. Noch lag
die von weißen Ekazellflotten umrahmte Seefläche spiegelblank vor uns, als sich
plötzlich, ohne Windeinwirkung, eine erhebliche Woge auf uns zubewegte.
Ozeanische Massen Maränen! Niemand konnte sie aufhalten. Jedes Stellnetz, das
wir vielleicht als Sperre hätten einsetzen können, wäre von ihnen binnen
Sekunden zu Boden gerissen worden. Unter dem Verlust einiger hundert Leiber
hätte sich die Masse freie Bahn gebrochen. Das müssen hunderte Zentner gewesen
sein. Sie erschwammen sich ihre Freiheit durch Gleichzeitigkeit ihrer Flucht.
Wir sahen im niedrigen Wasser unter uns die zahllosen Fische, die Leib an Leib
gedrückt schnell dahin schossen. Entzückt und zugleich von Ärger betroffen
sahen wir staunend diese unglaublich großen, blauschimmernden Scharen.
Oft stand mir
später dieses Bild vor Augen und irgendwann kam mir der Gedanke: Keine
totalitäre Regierung der Welt, könnte ihre Grenzzäune halten, wären
fluchtwillige Menschen fähig ihre Verstandeskräfte zeitgleich einzusetzen.
Endlich, bei allmählich schwindendem Tageslicht konnten wir den Kreis
schließen. Von dem Augenblick an, wenn die eng beieinander liegenden Fangboote
das Zeug einholen, mindern sich für die restlichen, im Umfassungsraum
herumschwimmenden Fische die Möglichkeiten zu entkommen erheblich. Die beiden
Netzwände kamen nun wie ein silbern genoppter Teppich heran. Nach und nach,
während des Zuladens des fischgespickten Garns brachte die Fischmenge die
beiden Kähne fast zum Sinken. Wie Hirschgeweihe stießen die Vordersteven
unserer Boote in die Höhe, während die Heckteile nahezu mit der
glücklicherweise nun völlig ruhigen Wasseroberfläche abschnitten.
Wir durften uns
kaum noch bewegen, sonst gingen wir unter.
Massenweise
versuchten die verbleibenden Maränen im Wadensack Platz und Durchkommen zu
finden. Da schwammen sie zwar noch, waren aber, wie die in den Maschen
steckenden, endgültig gefangen. Anders wären wir der Fischmassen nicht Herr
geworden.
Einhundertundsechsundsiebzig
Zentner Maränen konnten wir in dieser Nacht aus den Weiten des Wadensackes
herauskeschern. „Fast neun Tonnen!“ jubelte ich, - ich glaube laut.
Glücklicherweise
sanken die Temperaturen in den Minusbereich.
Wir fühlten uns
mehr als beschenkt. Biederstaedt schlug lachend, wuchtig und kreuzweise die
steifen Hände und Arme über der Brust zusammen.
„Dat sünd de
ollen Tieden!”, frohlockte er. Sein flächiges Gesicht strahlte: „Dat sünd de
teigen Tunnen!” 162 An der Möglichkeit zur Vollendung der nun
unbedeutend gewordenen Feinfischmenge zur Überschreitung der so
bedeutungsvollen Zehntonnengrenze gab es nun keinen Zweifel mehr.
Jeder wusste
plötzlich guten Rat. Euphorisch wurde diskutiert. Da und dort ließen sich noch
‚gute’ Fische fangen. Nur noch eine knappe halbe Tonne!
Nur noch dieses
Fastnichts von gut dreihundert Kilogramm Feinfischen. „Und außerdem die
Maränen!”, sagte Wilhelm Bartel, krumm nach der Arbeit und der Plackerei. Das
nächste aber bereits durchnässte ‚Tabakinchen’ hielt er statt eines qualmenden
mit den Lippen fest. Er konnte es nicht anstecken. In die nach oben gezogene
Mundecke hatte er es geschoben, wo es sonst nie saß. Das müsse doch mit dem
Teufel zugehen, wenn nun nicht gelingen würde noch eins draufzulegen.
Es war nur
sonderbar, dass wir während des ganzen Sommers bloß hin und wieder ein paar
Silberlinge gefangen und sonst nichts von ihnen bemerkt hatten. Plötzlich
schien der See von Maränen überzuquellen. Geheimnisse der Tiefe. Sie hatten
sich gesammelt. Aus den Weiten der siebzehn Quadratkilometer Fläche, verteilt
auf die durchschnittliche Wassersäule von sechsundzwanzig Metern waren uns die
Kleinen Maränen in letzter Minute glücklicherweise entgegen gekommen. Sie
hatten gezeigt, dass es sie in Massen gibt und ich erkannte, wie wenig wir vom
Geschehen unterhalb der Wasserhaut wussten.
Einige dieser
Verborgenheiten verraten sich durch das Echolot, andere zeigen ihre Existenz
erst unter dem Mikroskop. Bewundernswert ist diese Mikrowelt der Kieselalgen,
Rotatorien, Nauplien. Staunend sieht der Beobachter die Anlage des Herzens im
Embryo der Fischeier. Andere Wesenheiten sind uns schon vertrauter und sogar
einige Geheimnisse der Natur scheinen bereits entschlüsselt zu sein. Am
beeindruckendsten erschienen mir stets die genetischen Skripte, die sich als
Instinkte der winzigsten Geschöpfe äußern. Dass ungesteuerte Evolution sie
geschrieben hat, halte ich für undenkbar.
In diesen
Jahren vermittelten die Lehrbücher für Biologie der 12. Klassen sowie der
Biologiestudenten der DDR und der UdSSR noch die verwegenen, absurden Theorien
eines Herrn Lyssenko und erklärten sie für definitiv richtig, obwohl sämtliche
westlichen Genetiker längst das Gegenteil bewiesen hatten.
Doch wehe dem,
der im Machtbereich des Kreml lebte und Lyssenkos Lehren ernsthaft anzuzweifeln
wagte.
In allen
fünfziger und den ersten sechziger Jahren hatten wir Lyssenko und Konsorten,
gemäß Parteidirektiven, zu glauben. Sie lehrten, dass sämtliche Fisch- oder Getreidearten,
wenn man sie zig Generationen unter gewissen Bedingungen in artverwandten
Monokulturen halten würde, ab der zehnten, zwanzigsten Geschlechterfolge ihre
Wesensmerkmale entscheidend ändern müssten. Irgendwann wäre die Anpassung
perfekt.
Lyssenkos
“Beweisführung” war für die Parteitheoretiker wichtig. Weil daraus gefolgert
werden sollte, dass unter sozialistischen Seinsverhältnissen bald der ‚neue
Mensch”’ hervorkäme.
Vielleicht
hofften einige der glaubenstreuen Kremljünger wirklich, dass der “neue Mensch”
biologisch ein Übermensch sein könnte, hervorgebracht in den Ländern des
Fortschritts.
Lyssenko, der
Präsident der Akademie der landwirtschaftlichen Wissenschaften der UdSSR, muss
höchst beunruhigt gewesen sein, als die Herren James Dewey Watson und F. Crick
- in diesem Jahr unseres Wunderfanges im November ‘62 - den Nobelpreis für ihr
Modell der Erbsubstanz erhielten. Sie bewiesen damit, gewollt oder nicht, dass
er, Lyssenko, ein Scharlatan war. Doch
Herr Akademiepräsident schummelte ernsthaft weiter und das mit handfester
Unterstützung gewisser Philosophen. Die biologischen Gesetzmäßigkeiten sollten
mit dem einen oder dem anderen Grundsatz des dialektischen Materialismus in
Einklang gebracht werden.
Der deutsche
Kommunist Robert Havemann schrieb dagegen an.
(„Dialektik
ohne Dogma“, 1962)
(ND
veröffentlichte Passagen.)
Bis zu dieser
Veröffentlichung hielt Walter Ulbricht seine Hände schützend über diesen klugen
Denker. Nun fühlte sich der SED-Generalsekretär kompromittiert.
Havemann wurde
verwarnt, schließlich aus dem Lehrkörper der Huboldt-Universität ausgeschlossen
und später unter Hausarrest gestellt. Wir konnten gar nicht anders, wir litten
mit diesem Mann.
Bis 1962 gab es
nur wenige Mutige wie Professor Wawilow, die sich offen gegen die Auffassungen
ihres Chefs zu stellen wagten. Wawilow wurde als Anhänger des angeblich
reaktionären Weiß-mannismus-Morganismus diffamiert und inhaftiert.
Unerschrocken
wie Giordano Bruno trotzte Wawilow Herrn Lügenbaron Lyssenko und jener Macht,
die hinter dem führenden Sowjetbiologen stand und die über Tod und Leben
entscheiden konnte.
Wawilow starb
in einem der Lager des Archipel Gulak.
Prof. Stubbe
von der Akademie der Wissenschaften der DDR gehörte ebenfalls zu den
Standhaften. Er weigerte sich zu akzeptieren, dass die Nachkommen eines
Roggenkornes, gleichgültig unter welchen Bedingungen, je zu Weizensamen
mutieren könnten.
Selbst wenn
Roggengenerationen einer speziellen Schocktherapie unterzogen und einige
Jahrzehnte lang in einem Weizenfeld aufwachsen würden, sei ein Artensprung
unwahrscheinlich. Doch auf Biegen und Brechen sollte nachgewiesen werden, dass
die Umgebung der das Sein bestimmende Faktor ist. Viele Jahre bewahrte ich
diese Zeitungen auf, die den wissenschaftlichen Streit zu diesem Thema auf den
Punkt bringen sollten. Prof. Stubbe wurde seines Unglaubens wegen öffentlich
schwer getadelt.
Doch auch das
änderte die Tatsachen nicht: Seitdem es identische Reduplikation gibt - und das
ist seit einigen hundert Millionen Jahren der Fall - bestimmen die in der
Doppelhelix untergebrachten Desoxyribonukleinsäuren, sozusagen als Buchstaben,
die tatsächlich ein Bauanleitungsbuch bilden, das Sein.
So kompliziert
sich das anhört, so einfach war dieser Fakt zu begreifen. Seitdem zum ersten
Mal ein Einzeller einen ihm gleichen Einzeller hervorbrachte, und sei es auch
nur durch Zellteilung, bestimmte die in der Doppelhelix festgeschriebene
Information, was zu geschehen hat.
Der Aufwand,
den ein gewöhnliches Stichlingspaar zur Pflege seiner Brut leistet, ist
lediglich das automatische Abhaspeln eines außerordentlich komplexen
Softwareprogramms. Die Installation solcher Programme im Kopf eines winzigen
Fisches ist mindestens so bewundernswert wie ihre Sinnhaftigkeit.
Wir genossen
Steuerfreiheit.
Innerhalb
sechsunddreißig Stunden ununterbrochener Arbeit, hatte jeder Neubrandenburger
Fischer 2600 Mark verdient. Das tröstete mich über den Verlust der Freiheit,
den mit mir viele hunderttausende erst ein Jahr und drei Monate vor diesem
Ausnahmezug erleiden mussten.
Nun musste ich
anerkennen, dass die Partei doch nicht immer im Unrecht war. Die beiden
Bezirksfischmeister, hatten eine gute Entscheidung gefällt.
Jochen
Jochen Appel
gehörte der Neubrandenburger Morduntersuchungskommission an.
Er war einige
Jahre jünger als ich, wog neunzig Kilo und trug ein verschmitztes, offenes
Gesicht.
Es war übrigens
stockdunkel gewesen in jener ersten Nacht, die er mit mir auf dem See zu
verbringen gedachte.
Er wollte sich
die zwei Kilo Aale verdienen, die wir als Naturalvergütung für eine
Nachtschicht aussetzten. Man konnte die Hand nicht vor Augen sehen. Als erstes
zerbrach er beide Ruder, weil er glaubte, man müsste die Kähne mit äußerstem
Ruck in Bewegung bringen. An Land, während die Motoren für uns arbeiteten, und
nachdem ich ihn tüchtig ausgeschimpft hatte, erzählte ich ihm versöhnlich einen
politischen Witz. „Was ist der Unterschied zwischen Walter Ulbricht und einer
Rakete?“ ...
„Das weißt du
nicht? Da ist keiner! Beide sind ferngesteuert. “
Wir lachten
noch, denn niemand konnte uns gehört haben.
Er behielt
diese drei Sätze zu seinem Verhängnis.
Hätte er sie
doch vergessen.
Törichterweise
stellte er ausgerechnet seinen Mitgenossen der Offiziersschule Aschersleben
dieselbe provokante Frage.
Denn der Tag
auf dem LPG Acker war langweilig gewesen. Jochen wollte sie nur aufmuntern.
Schließlich hatten sie acht Stunden Rüben verzogen.
Alle lachten
darüber.
„Stell’ dir
vor!”, erzählte er mir wenig später, „da war ein Schweinehund drunter.” Sie
beorderten Jochen ins Büro des Chefs. Augenblicklich sei ihm klar gewesen, was
die Schulleitung von ihm wollte. „Wer hat ihnen diese Gemeinheit erzählt?”
Jochen schwieg, aber seine Art
nicht darüber zu reden muss ihn verdächtig gemacht haben.
Sie beharrten
eisern.
Sollte er mich
verpetzen?
Sein Oberst,
die Gnadenlosigkeit in Person, machte Jochen herunter, indem er lautstark über
das Thema Klassenbewusstsein referierte: „Die Arbeiterklasse versteht keinen
Spaß.”
Jochen suchte
Ausreden. „Kleinen Witz nennen sie das?” Wie dann die großen aussehen sollten.
„Also, haben
sie nicht die Absicht ihre Ausbildung erfolgreich abzuschließen. Ja?” In diesem kritischen Augenblick habe er,
Jochen, mich vor sich gesehen, wie ich in der Kahnecke sitze und in der Bibel
lese.
Auf dem See las ich eher
Feuchtwanger und Gorki, als in der Bibel, obwohl auch das der Fall war.
Mitte Oktober
’62 erfuhr ich es von Jochen.
„Und jetzt?”, fragte ich zurück?
Jetzt sei die Sache erledigt. Er
bleibe Polizeimeister.
„Ick künn di doch nich verroden,
Jung!“ 163
(Erst viel später erfuhr ich die
ganze Wahrheit: Sie verhörten meinen Jochen noch monatelang. Nachts holten sie
ihn aus dem Schlaf. In meiner Naivität ahnte ich nichts von alledem. Seine
unerbittlichen Gegenspieler quälten ihn, bis er zusammenbrach und den Freitod
wählte. Er ertränkte sich. Er hätte nur meinen Namen preisgeben müssen… Immer
wieder stehe ich betroffen vor seinem Grab, über dessen Gedenkstein, auf dem
Neubrandenburger Friedhof Carlshöhe, eine weiße Birke ragt und Schatten
spendet.)
Es kam etwas
hinzu: Am 22. schossen die Kubaner einen US Aufklärer ab. Ich hörte, glaube
ich, die Nachricht am frühen Morgen des nächsten Tages, weckte Erika und
äußerte meine Bedenken. Das lassen sich die Amis doch nicht gefallen! Und so
war es.
Bereits wenige
Stunden später überraschte uns die Information, sowjetische Raketenstellungen
bedrohten von Kuba aus die USA. Ein Blick in den Atlas genügte. Von Santa Clara
bis Miami war es nur ein Katzensprung. Anstelle des bis dahin anscheinend eher
harmlosen Inselstaates Kuba, befand sie plötzlich ein mit tödlichen Waffen
gespickter, unsinkbarer Flugzeugträger der Roten Armee unmittelbar vor Florida.
Jeden Kommentar, den wir hören konnten, verfolgten wir angespannt. RIAS sagte:
„Chrustschow droht der freien Welt ihren Untergang an.”
Von der
Gegenseite tönte es ebenso hart zurück: „Provokation der US-Imperialisten!“
Tatsächlich
erging von Präsident John Fitzgerald Kennedy Weisung ans Pentagon: Sofort sind
die Sowjetschiffe mit Kurs Kuba im Bahamabereich zu stoppen. Er bestehe auf
sofortigen Abzug der sowjetischen Raketen von Kuba, sonst... Sonst? Wer da
nicht gezittert hatte, wusste nichts. Wir ahnten, dass die US Militärs von
ihrem Präsidenten die umgehende Besetzung Kubas verlangten. Das hätten die
Russen mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln unterbunden.
Stunde um
Stunde setzten sie einander und uns unter Hochdruck.
Es mag ja
Menschen geben, die den Tod nicht fürchten. Doch wer am Leben hing, wie wir,
der verfolgte jede Nuance im Wechsel des hochpolitischen Ränkespiels, das
zwischen Moskau und Washington Zug um Zug mit äußerstem Einsatz an Willenskraft
und Intelligenz durchgezogen wurde.
Ein Fehlerchen
hier oder ein Fehler da, und schon verbrannte die entfesselte Atomkraft die
ganze Welt.
Seit Hiroshima
stand fest, wer im Besitz von Massenvernichtungsmitteln ist, der ist auch
bereit sie einzusetzen.
Wird
Chrustschow nachgeben? Oder wird er seiner Atlantikflotte befehlen die
Bahamaroute gewaltsam offen zu halten?
Krachte es auch
nur ein weiteres Mal in Fernost oder Fernwest, dann hätte das unabsehbare
Folgen. Eingekreist die alliierten Truppenteile in Westberlin, draußen nur
durch ein paar hundert Meter Mauerwerk und Luftlinie von einander getrennt die
zig hochgerüsteten Sowjetdivisionen. Jeder einzelne Mann, Tag für Tag unter dem
Deckmantel des Klassenkampfes moralisch auf dieses ‚letzte Gefecht’
vorbereitet, wäre williges und fähiges Werkzeug geworden diesen Lauerzustand in
die ‚letzte’ Qualität umschlagen zu lassen. Diese entschiedenste,
ausgereifteste Form des ‚Friedenskampfes’ wäre fast zur bösen Vollendung
gekommen. Im günstigsten Fall binnen eines Tages, im schlimmsten Fall nach dem
Tod der wenigen Überlebenden eines Atombrandes.
Vier Tage und
Nächte lang zerrte die Ungewissheit an uns allen.
Nicht wenige
NVA Offiziere wurden nervös, das konnten viele nicht verbergen. Sie wussten
ohnehin, dass bei zunehmender Reibung gegeneinander wirkender Massen die
Spannung nicht endlos zunehmen kann, sondern dass ein gewaltiges Beben die
Folge sein muss.
Verrückte
meinten: Je eher, je lieber!
Aber
Chrustschows Militärstrategen errechneten, dass sie die heraufkommende
Auseinandersetzung nicht eindeutig für ihre Seite entscheiden konnten.
Der Kremlführer
gab nach. Nach der Kubakrise fiktiv befragt, welche Komponisten er bevorzugt,
antwortete der Kremlführer: “Ich liebe Händel, Liszt und (K) Grieg!” Ein
makabrer Unwitz, den mir einer der Doktoren des Instituts für Binnenfischerei
erzählte.
Ungewöhnliche Alltage
Im Januar ’63
herrschte sehr strenger Frost. Aus tausenden Neubrandenburger Schornsteinen
quoll der Rauch senkrecht in die blaue, eisige Luft. Massenweise wurden in
zahllosen Stubenöfen Senftenberger Briketts verfeuert. Schnee lag wadenhoch auf
Äckern und Eisflächen. Den Fischen in den kleineren Seen drohte der
Erstickungstod. Gewässer, wie der Woldegker See oder die Hecht-Schleiseen im
Raum Lübbenow, die uns der Rat des Bezirkes schon vor Jahren zu Bewirtschaftung
übertrug, sind hochproduktiv, aber eben ausstickungsgefährdet. Denn wenn die
nur metertiefe Wasserschicht erstens durch Vereisung um mehr als die Hälfte
reduziert wird, und zweitens lange Zeiten der Schneebedeckung die Assimilation
unterbinden, dann kommt es zur tödlichen Sauerstoffverknappung.
Andererseits
können geschickte Fischer solchen Seentypen in guten Jahren tonnenweise
wertvolle Speisefische entnehmen. Der Strasburger Stadtsee, nur 12 ha groß,
lieferte zuverlässig und das bei nur einmaliger Abfischung jeweils im September
8o bis 100 kg Hechte pro Hektar.
Ein
Riesenertrag! Dagegen gab der ebenfalls sehr produktive Tollensesee jahrein,
jahraus an uns nur zwei Kilogramm Hechte je Hektar ab. Laien und Hobbyfischer,
wann immer sie die Mengen Fische sahen, die wir den kleinen Seen entnahmen,
ärgerten sich regelmäßig. Sie befürchteten immer den völligen Zusammenbruch der
Feinfischpopulationen. Sie redeten von ‚Raubbau’, als ob die Gewässer je leer
gefischt werden könnten. Eine Annahme, die von der Fangstatistik nicht gestützt
wird. Die nämlich beweist jahrzehntelange Kontinuität, vorausgesetzt, die
Fänger rühren den Nachwuchs nicht an.
Wenn es in
besonders harten und langen Wintern, zur Totalausstickung infolge Sauerstoffmangels
kommt, geschieht in den sonst gesunden Seen anschließend das Wunder der
Verzehnfachung.
In diesem
Winter sollte es unsere besten Hecht- und Schleienseen treffen. Obwohl wir
damals, im Januar, Februar ’63 mit Unterstützung der örtlichen Feuerwehr und
vieler Interessenten und Naturfreunde
alles zur Rettung der Fischbestände unternahmen, fror das nur ein Meter flache
Woldegker Gewässer vollständig aus. Tagelang hatten wir Schnee gefegt.
Wochenlang waren die Pumpenaggregate gelaufen. Von einem in gewisser Entfernung
gelegenen Eisloch pressten die Helfer das Wasser mit Luft angereichert in
andere Löcher der Eisfläche. Doch alle Mühen erwiesen sich schließlich als
vergeblich.
Wenn mehr als
die Hälfte des Wasservolumens eines Flachsees zu einem gewaltigen
Kristallpanzer zusammenfriert, der zudem mit einer Schneematte bedeckt liegt,
genügt den Unterwasserpflanzen, und selbst den Algen auch die intensivste
‚künstliche Beatmung’ nicht. Wochenlang dem Dunkel ausgesetzt und somit von der
Energiezufuhr abgeschnitten, sterben sie ab. Sämtliche Fische außer jenen
Winzlingen, denen es gelingt im meist nur sehr flachem Wasserzulaufbereich zu
stehen, ersticken. So rigoros kann ein gewissensloser Bewirtschafter sein
Gewässer nicht ausplündern, wie es die “gnadenlose” Natur vermag.
In demselben
Jahr der Auswinterung ist natürlich kein Ertrag zu erwarten. Aber im darauf
folgenden Fangjahr gestattet ein so vernichtend betroffener See nicht selten
eine vier- bis zehnfache Ernte. Jeder Fachmann weiß das. Von tausend übermächtigen
Nahrungskonkurrenten befreit wächst eine vermehrte Fischpopulation heran. Auf
den “Gesamtverlust” antwortet die Natur mit absoluten Spitzenleistungen.
Ich war dabei.
Wir fischten im nächsten Jahr in Woldegk. Meiner Meinung nach hätten wir kein
Recht gehabt, schon wieder mit unseren riesigen Netzen da einzufallen, wo der
Winter, vor erst achtzehn Monaten, so hart zugeschlagen hatte. Es sollte sich
aber erweisen, dass meine eigene Meinung gelegentlich keinen Pfifferling wert
ist. Wir waren gewohnt, im Woldegker Stadtsee bis zu eine Tonne “gute” Fische
zu ernten. Selbst das gelang nicht in jedem Jahr, weil riesige Krautbänke und
ungeheure Mengen Wasserlinsen die Maschen unserer Fanggeräte verstopften.
Mitunter kamen wir von unserem Ausflug über Land mit nur wenigen Fischen heim
und die Kosten, die wir verursacht hatten, übertrafen die Einnahmen bei weitem.
Im November ’64
setzten wir unser Zugnetz in Woldegk probeweise aus. Der kalte Nordwind pfiff
und stieß derart scharf herunter, dass
er den See nicht auf übliche Weise zufrieren ließ, sondern zahllose,
zehntelmillimeterstarke Eisplättchen bildete, alle nur wenig größer als die
Fläche eines Daumennagels. Massenweise trieb uns dieses Gemisch aus Schnee und
Eisschuppen entgegen, während wir das Zugnetz herauszogen. Zentnerweise,
tonnenweise mussten wir die Menge der Eisblätter, bis zum Ende des
Aufzugsvorganges aus dem Garn schütten. Wir befürchteten bereits, wir kämen aus
diesem Höllenmischmasch nie wieder heraus. Man kann in solchem Medium nicht
schwimmen, nicht rudern, nicht staken, nicht vorwärts kommen. Wer da
hineinfällt, der ist, wenn ihm von außen keiner zur Hilfe kommt, verloren.
Einmal haben wir, auf dem Tollensesee einen Rennkanuten gerettet, der sich
leichtfertigerweise, anscheinend um seinen Weg abzukürzen, in den Bereich einer
mehlpampenartigen Eismasse hineingewagt hatte. Dieses Teufelszeug entsteht
mitunter als Ergebnis des Eisabganges unter Sturmbedingungen. Windkräfte reiben
bei Tauwetterlage gelegentlich die Eisschollen gegeneinander zu einem Brei auf.
Der noch unerfahrene Wassersportler befand sich nur zehn Meter von Land
entfernt, als er kenterte. Zufällig waren wir in der Nähe. Eine schnell
ergriffene Fangleine verhütete den Tod durch Unterkühlung des Jungen, der
atemringend bis zu den Achseln im Eisgemisch stand. Er klammerte sich
verzweifelt ans Seil und wir konnten ihn herausziehen. Nach zehn Minuten Kampf
ums Überleben schwinden unter diesen Bedingungen die Körperkräfte rasant. In
Woldegk ließ Neptun zu, dass wir unser Netz herausbekamen und uns selbst
befreien konnten. Fische über Fische ernteten wir. Wir zwickten uns ins Fell.
Wir glaubten den Augen nicht zu trauen. Sechs Tonnen Karauschen, alles erste
Wahl, zwei Tonnen (Portions-) Schleie, eine Tonne Hechte, allerdings kleine Anderthalbpfündige,
die am meisten gefragte Größe. Das war mindestens das Siebenfache einer
Normaltour.
Hermann Witte
sagte trocken: „Dat givt dat nich!” 164
Und wir ahnten,
was er meinte. Acht lange Jahre hatte er den Woldegker See glücklos
bewirtschaftet und war schließlich an den Tücken des Gewässers und auch wegen
der nächtlichen Übergriffe einiger, wenn auch weniger, seiner so genannten
Helfer gescheitert. Sie waren keine Kleptomanen, sondern ganz normale Klauer,
die dümmlich lächelnd eine Existenz vernichten konnten.
(Ein besonders übler Bursche prahlte noch,
Jahre später, mit seinem Geschick ‚abzusahnen’.) Fleißig arbeitend hatte
Hermann immer wieder vergeblich versucht, die Pachtsummen zu erwirtschaften und
darüber hinaus soviel Geld zu verdienen, um überleben zu können. Nun fielen uns
zu fünft auf eben dieser Wasserfläche binnen weniger Stunden mehr Fische zu,
als er insgesamt in zwei Wirtschaftsjahren fangen und in Geld umsetzen konnte.
In diesem Jahr
kam Reinhardt Lüdtke zu uns. „Ich werde nie Genosse!” Das war das Zweite, was
er mir anvertraute. Aber die Länge hat die Last, sagt man. Viele andere
SED-Leute wollten ursprünglich ebenfalls keine Genossen werden. Auch Wilhelm
Bartel schwor vor uns Stock und Bein, dass er mit ‚denen’ nie mitmachen würde.
Der Leithammel, die bloß ihre persönlichen Vorteile suchten, gäbe es schon zu
viele. Mir schien, dass er eigentlich einen schärferen Begriff verwenden
wollte. Er hielt sich zurück. Provokationen kamen ihm vielleicht in den Sinn,
aber nur höchst selten über die Lippen. Doch wenn Hermann Göck ihm wieder
einmal nahe legte, sich der Partei der Arbeiterklasse anzuschließen, dann
wehrte Wilhelm sich und zählte auch extreme Beispiele von gewissen Karrieristen
auf. „Ne, ne, Hermann Göck, sieh sie dir doch an. Solange die Grenze offen war,
haben sie montags noch die Zeitungsschau gehalten und am Dienstag saßen sie
schon im Flüchtlingslager Westberlin.“ Einer seiner guten Bekannten hätte ihn
schon fast überredet, den Aufnahmeantrag als Kandidat der SED zu
unterschreiben, doch nur eine Woche später rief derselbe Mann von Bahnhof Zoo
aus an: „Mit eurer blöden DDR könnt
ihr mir gestohlen bleiben.“
„Wenn ich nicht ehrlich zu mir selber bün, bün ich ein Halunke!”,
pflegte er zu sagen und sog dabei den blauen Qualm wie reine Waldluft in sich
und ausatmend bekräftigte er: „Nü und Nümmer!” Daraufhin stellte Hermann Göck
den Vorsitzenden zur Rede. Ob Bartel damit sagen wolle, dass alle Genossen
unehrlich sind. Der vielerfahrene Mann Bartel krümmte sich wie ein Wurm. Göck
schaute ihn durchdringend an.
„In der Zeit
der Nazibarbarei haben zehntausende unserer besten Genossen ihr Leben in die
Bresche geschlagen. Ich war einer davon! Wir Kommunisten haben aus tiefster
Überzeugung der Unmenschlichkeit die Stirn geboten. Auf welcher Seite hast du
damals gestanden?”
Wilhelm konnte
nichts erwidern.
Ehrenfischer
Göck ballte die Faust und schlug mit ihr gegen eine unsichtbare Wand: „Jawohl,
so hart und klar muss die Frage gestellt werden. Noch nie in der Weltgeschichte
gab es ein so bösartiges System wie das des Verbrechers Hitler und ihr habt das
Maul gehalten.” Fischermeister Bartel wusste, dass der Altgenosse die Wahrheit
sagte und fragte.
Wenn ihm nur
nicht so vieles missfallen würde, was die Partei Lenins betrieb.
Ein Mann wie
Bartel hasste die Bespitzelung und die prahlerischen Militärparaden wie die
Pest.
Er habe sich in
Stalingrad geschworen nie wieder einer Ideologie mit Anspruch auf
Weltherrschaft zu glauben, nie wieder durfte ein Deutscher eine Waffe in die
Hand nehmen.
Hermann Göck
machte einen weiteren Versuch: „Mensch, Wilhelm Bartel. Du bist doch auch ein
Arbeiter.”
Verlockendes Angebot
Prillwitz liegt
am malerisch schönen Südufer der Lieps. Dieses Gewässer ist eines der vielen
blau und grün-bunt schillernden Pfauenaugen in der Mecklenburger Landschaft.
Dieter Helm,
Vorsitzender der PGH “Heinrich Hertz” spielte mit seiner goldenen Posaune zum
Betriebsfest der Fischer auf. Seine kleine Kapelle tönte herrlich. Aber nun
schon weit nach drei Uhr morgens, an diesem Junitag des Jahres 1964, konnten
selbst die schönsten Töne keinen Tänzer mehr auf das Parkett des Festsaales
locken.
Ich ging
langsam und nachdenklich zur blendend weiß gestrichenen Anlegestelle für die
Fahrgastschiffe hinunter. Da lag die “Fritz Reuter”, das weißblaue
Passagierschiff im Dunst des heraufdämmernden Tages und wartete auf uns. Ich
wandte den Blick zum roten Gebäude, bevor ich als erster und allein einstieg. Es war das vielleicht schönste der Schlösser der
ehemaligen Mecklenburg-Strelitzer Herzöge, das ich sah. Es schimmerte durch die
Stämme und das Blätterdach einiger weniger, aber gewaltiger Platanen hindurch.
Dann sah ich
beide Göcks ankommen. Auch sie erschöpft, wie man sah, aber beide in heiterer
Stimmung. Hermann, hoch gewachsen und schlank, ging wie stets ein wenig nach
vorne gebeugt. Sie untersetzt und von sehr fraulicher Molligkeit. Als sie
eingestiegen waren, kamen sie näher und lächelten freundlich. Am Nachbartisch
nahmen sie Platz. Nach ein paar Minuten der Entspannung schaute Hermann
herüber: „Setze dich zu uns!” Ich nahm die Einladung an. Ich mochte beide wegen
der Herzlichkeit, die sie mir immer entgegen brachten. Die Sonne, im Begriff
aufzugehen, rötete den Himmel im Nordosten und seine Widerspiegelung befand
sich am Horizont links über dem Areal, wo das versunkene Wendendorf Bacherswall
einst gelegen hatte. „Wie geht es deiner Frau?” Es klang mir nicht nur
angenehm, es war echt. Es erinnerte an die erste Begegnung, als Erika mit
unserem damals zweijährigen Sohn Hartmut neben Göcks auf der Fischerinsel im
Schatten der hohen rauschenden Pappeln an einer Festtafel Platz nahm. Fritz
Biederstaedt hatte sie so herrlich arrangiert. Gekonnt war die aus einfachen
Klapptischen bestehende, teilweise mit blendend weißen Tischtüchern abgedeckte
lange Tafel dekoriert und hergerichtet worden. Die frischen Räucherfische
dufteten. Die Menge der Delikatessen bot einen verlockenden Anblick. Die Gläser
blitzten im Gefunkel der vom nahen See spiegelnden Sonnenstrahlen. Nicht
weniger beleuchtet sahen wir die je dreißig Teller und Tassen.
Für jeden gab
es einen ganzen, goldbraun geräucherten Aal.
Das sei ja
unglaublich, hatte Helene Göck gerührt ausgerufen, als wir gebeten wurden
ungeniert zuzugreifen.
Erika trug an
jenem Nachmittag ihr schönes blaues Kostüm, Hartmut eine rotweiße Bluse.
Helene Göck
nickte, als ich es erwähnte. Sie denke ebenfalls sehr gerne an diesen Tag und
die Harmonie der Feststunden zurück.
Wie es Erika
jetzt ginge?
„Danke für die
Nachfrage!”, erwiderte ich. „Von der letzten Herzattacke hat sie sich erholt.
Es geht wieder bergauf.” Hermann sagte: „Grüße sie von uns!” Dann fuhr er fort:
„Wir haben Dich beobachtet.” Seine Augen blitzten auf, als er feststellte: „Du
hast dich korrekt verhalten.”
Er meinte
wahrscheinlich, ich hätte die Gelegenheit des Betriebfestes nicht genutzt, um
mit hübschen Damen zu flirten.
Ich dachte mir
meinen Teil. Die anderen kamen inzwischen den nur etwa einhundert Meter kurzen
Weg vom Schloss zur Anlegestelle herunter. Hermann Witte paffte eine Zigarre.
Er trug einen braunen Schlips zu seinem hellen Anzug und machte ein Gesicht wie
ein kerngesunder VEB-Direktor, jedenfalls war er auffallend runder geworden.
Wenn er so ging, die Beine nach außen aufsetzend und dabei langsam, genussvoll
den Rauch seiner Kubazigarre in die Luft blasend, signalisierte das, sein Glück
sei vollkommen. Er trat auf, als hätte er schon Besitz von der halben Erde
genommen, zumindest von halb Alt Rhäse. Immerhin standen nun mehr als
zehntausend Mark auf seinem Konto. Er besaß ein neues Motorboot und hatte sich
einen Bungalow in schöner Uferlage gebaut. Von Woldegker Zeiten, als
Fischkisten dreiviertel seines Wohnzimmermöbiliars ausmachten, war keine Rede
mehr, ja nicht einmal einen einzigen Gedanken verlor er daran.
Immerhin war
ihm im Ausstickungswinter die Idee gekommen, mittels einfacher Stalllaternen,
die er an die Eislöcher stellte, die taumelnden nach Sauerstoff ringenden
Fische anzulocken um sie mit den vielen vom ihm speziell konstruierten Senken
zu fangen. Sonst wären sie verreckt.
In einer
einzigen Nacht war ihm gelungen, fast dreißig Zentner hochwertiger Schleien zu
überlisten. Augenblicklich gefroren die Schleien zu Stein. Das tötete sie
nicht, nicht alle jedenfalls. Denn vierundzwanzig Stunden später, begannen
einige der noch in hölzernen Fischkisten im Sortierraum stehenden Fische wieder
zu zappeln. Ganz allmählich waren sie aufgetaut.
Hermann Witte
schuftete immer, sobald er sah, dass es sich lohnen würde. Sein
Pflichtbewusstsein hätte Faulheit gar nicht zugelassen.
An diesem
Morgen nach durchfeierter Nacht muss ihm der Gedanke zu Kopf gestiegen sein,
dass er nun wer geworden war.
Der Motor des
Fahrgastschiffes begann beruhigend zu schnurren. Das Boot legte ab und nahm
eine Kurve beschreibend langsam Fahrt an.
„Wie wäre es,
Gerd Skibbe, wenn du den Vorsitz in der PwF übernimmst?” Obwohl mich dieses
Angebot Hermann Göcks nicht wirklich überraschte, schmeichelte es mir. Er war
Mitglied der Bezirksleitung der SED und hätte die Macht gehabt, mich im
Verlaufe der nächsten Monate an die Stelle des gesundheitlich doch schon recht
angeschlagenen Wilhelm Bartels zu setzen.
Mittlerweile
erreichten wir den Alten Graben, den sechshundert Meter langen Kanal zwischen
Tollensesee und Lieps.
Was beide Göcks
eigentlich wissen mussten: ihre wenn auch unausgesprochenen Bedingungen,
konnte ich nicht akzeptieren. Andererseits machte mich diese Versuchung
ziemlich nachdenklich.
Durch die
Scheiben schaute ich hinaus, sah die Birken, die den Wall der schmalen, gerade
wieder ausgebaggerten Wasserverbindung säumten, und dachte, nun bist du
fünfunddreißig. Das ist ein guter Zeitpunkt noch mehr aus deinen Möglichkeiten
zu machen. Hermann Göck könnte dich nach vorne bringen. Ich käme meinem Ziel,
einen Studienplatz an der Fischerei-Ingenieurschule in Hubertushöhe zu
bekommen, näher.
Zudem ging es
in der DDR sichtlich voran. Wer es sich leisten konnte, fuhr ein Auto,
zumindest einen P50. Die Schließung der Grenze lag jetzt drei Jahre zurück und
je länger ich das Eingesperrtsein erlitt, umso mehr gewöhnte ich mich an diesen
Dauerschmerz, der immer mehr abnahm.
Nachdem ich mir
ersparte, immer wieder bewusst dem Verlust der Freiheit nachzutrauern, konnte
ich ganz gut mit den Verhältnissen leben. Schließlich bedeutete mir meine Frau
und meine beiden Söhne das höchst denkbare Glück.
Göcks
betrachteten mich geduldig. Ich bemerkte, dass sie mich wieder beobachteten.
Ihnen war klar, dass es mich reizte, ihr Angebot anzunehmen: „Du kannst doch
mehr als Fische zu fangen. Komm zu uns in die Partei! Wirf deine Bedenken
einfach über Bord.”
Bis jetzt hatte
ich mich ziemlich eng an Polonius guten Rat gehalten: „Sei dir selber treu!”
Und das hat seine Konsequenzen: „Daraus folgt wie Tag der Nacht, du kannst
nicht falsch sein gegen irgendwen.”
Zwanzig lange
Propagandajahre hatte ich mich aus meinen Gründen gegen den auch mich
gelegentlich nicht wirkungslos anfallenden Atheismus gestellt.
Kaum eine
andere Sache hatte mich mehr beschäftigt als die dazu gehörenden Fragen. Mein
Fazit war, dass meine Mitmenschen nicht als Folge von Bemühungen Atheisten
geworden waren, sondern nach meiner Erfahrung ist es umgekehrt.
Der Atheismus
ist ein Naturgewächs. Es entspringt unserem Wesen und diesem Wesen entspricht,
dass wir wie Wasser den Weg des geringsten Widerstandes suchen. Kulturgeschöpfe
aber, wie der Glaube, unterliegen dem Zerstörungstrieb der menschlichen Natur.
Gegen diese Natur bedarf es der Anstrengung, nicht zu zerfließen.
Schlimmer!
Meinem Verständnis nach war und ist der allgemeine Atheismus, eben weil er
natürlich ist, das Einfallstor für Opportunismus und inneres Chaos. Viele
Genossen waren Opportunisten, auch wenn sie das vehement bestritten. Wenn ich
sie an dem maß, was sie mir sagten, glaubten die meisten ihrer Partei nicht.
Sie ordneten
sich ihr nur aus taktischen Gründen unter. Sozialismus war für sie und mich
dasselbe. Nämlich als Realität, einem überstrengen herrschsüchtigen Vater
vergleichbar, der neben seiner eigenen, keine andere Meinung gelten ließ. Es
gibt keinen Menschen, der das mag.
Mit dieser
Absicht balancierten seine Cheferbauer frech am Rande des Untergangs der
Menschheit.
Was er uns
sonst anbot, waren pure Versprechungen. Dieselben nämlich, die seine
Verteidiger und vorgeblichen Verehrer den in Saus und Braus lebenden
Kirchenfürsten vergangener Epochen ankreideten. Es war wie diese Vertröstung
der Kirchen aufs Jenseits: Wenn wir erst den Kommunismus verwirklicht haben!
Dann!
Von den Kanzeln
wurde es seit urdenklichen Zeiten herabgepredigt: die Ewigkeit müsst ihr im
Blick haben, nicht die Gegenwart.
Während ich an
diesem herrlichen Sommermorgen in der Ecke der blaugepolsterten Sitzbank auf
dem blinkend neuen Fahrgastschiff saß und die bunten Bilder der bezaubernd
schönen, sich ständig verändert darbietenden Landschaft in mich aufnahm, wankte
ich, und fragte mich, ob ich richtig dachte und ob ich der Wirklichkeit mit
solcher Beurteilung gerecht wurde.
Wir fuhren nun
der gleißenden Sonne entgegen.
Der Tollensesee
hatte uns wieder.
Das Seewasser
rauschte wieder kräftiger. Das Fahrgastschiff nahm große Fahrt an.
Beide Göcks
recht ermüdet sagten übereinstimmend: „Lasse dir Zeit, Gerd. Überlege es dir.”
Ich überlegte ernsthaft. Wenn ich mich an diesem frühen Morgen nach Hause
begeben würde, müsste ich an mindestens zwölf Schrifttafeln vorbeigehen, alle
gefüllt mit den jeweiligen Parolen der Partei der Werktätigen des Landes. Die erste Botschaft würde mir
bereits auf der Anschlagtafel am letzten Bootshafen begegnen.
Ich würde sie
nicht aufmerksam lesen, doch ich kannte den Text längst auswendig. Ihre
Gedankentropfen würden mich treffen, ob ich wollte oder nicht.
Dann rückte
bereits am Haus der ‚Gesellschaft für Sport und Technik’ der zweite SED-Spruch,
einigen Quadratmeter groß, in mein Blickfeld. Es war die Aufforderung, den
Frieden wehrhafter zu machen.
In der
Lessingstraße empfing mich dann die dritte Losung.
Zwei weitere
würden meine Aufmerksamkeit schon wenige Schritte später beanspruchen. Sie
hingen an der Frontseite der EOS (erweiterte Oberschule). Die „Ewige,
unverbrüchliche Freundschaft mit der Sowjetunion” beschworen sie, und die
Behauptung, dass die Bonner Ultras auf Kriegskurs sind.
In meiner
Aufzählung, die ich schweigend vornahm, kamen nun die beiden an den Gebäuden
des Wehrkreiskommandos.
Da hieß es,
dass der Weg zum Sozialismus gesetzmäßig sei.
Zwei weitere
Plakate hingen im Kinobereich.
Ich musste an
den Bahnhofsvorplatz denken. Auf der rechten Seite, neben dem
HO-Kleidungsgeschäft befanden sich zwei große Holztafeln. Auf einem der beiden
Schilder stand bereits monatelang Weiß auf Rot: „Die SED ist die höchste Form
der gesellschaftlich-politischen Organisation der Arbeiterklasse, die führende
Kraft der sozialistischen Gesellschaft. Die Partei gibt diesem Kampf Richtung
und Ziel.”
Unentwegt
fielen diese Tropfen. Sie bildeten in unseren Hirnen Kalkstein. Niemand entkam
diesem Einfluss. Wie die Luftfeuchtigkeit war der Parteigeist allgegenwärtig.
Es war die Machtfrage: Wer wen?
Fortschritt durch Diktat! Jedes Menschenhirn
empfand diese Kombination als grundfalsch, weil unzumutbar.
Wo bewirkten Zwang und Indoktrination jemals
Gutes?
Nicht wenige Genossen hatten mir ihre
Aversionen enthüllt.
Oder waren das
nur die Spötteleien von Menschen über ihren herrschsüchtigen Vater, den sie trotz
alledem liebten?
Als wir
anlegten am Steg vor dem Badehaus und von Bord gehen wollten, umfasste Hermann
Göck mit seiner Rechten meine Schulter. „Bleibe ruhig. Sage mir, wenn du soweit
bist!”
Seiner
Überzeugung nach hing mir eine überholte Denkweise an, wie einem alten
Galeerensträfling eine verrostete Kette. „Du musst dich befreien!”
Ihm war auch
nicht annähernd klar, was er forderte. Allein seine Vorstellung, dass
Erkenntnisse fesselnde Funktionen haben sollen, verwunderte mich. Er war
unfähig zu erkennen, dass mir die Freiheit des Denkens so viel bedeutete.
Wenige Wochen
später trat Wilhelm Bartel überraschend der SED bei. Im Rausch, eben weil er
fast nie trank, müssen ihm kurz zuvor ungeheure Beleidigungen führender
Genossen über die Zunge gerutscht sein. Es war nicht Bartels Art, Menschen
anzugreifen oder zu kränken. Er gehörte zu den Friedlichen. Einer der
Stasioffiziere, die als Freizeitfischer bei uns verkehrten, wollte es angeblich
gehört haben. Er nahm den kleinen Vorsitzenden beiseite. Er müsse Hermann Göck
unterrichten.
Bartels
Verunglimpfungen hätten ein Nachspiel. Er sei immerhin der Vorsitzende einer
sozialistischen Produktionsgenossenschaft.
Ich meine:
Wilhelms Argumente gegen die Partei können nur pragmatischer Art gewesen sein.
Ihm konnte allenfalls das Missgeschick unterlaufen sein, sich mehrdeutig
ausgedrückt zu haben.
Aber wie wollte
er seine Unschuld beweisen?
Er soll auch
gesagt haben, Hermann Göck sei selber schuld daran gewesen, dass er ins KZ kam.
Göck wäre ein Übertreter.
Ein fataler
Fehler.
Wilhelm gab zu
erkennen, dass er außerstande sei, sich an irgendetwas zu erinnern. Aus der
Angst, in die sie ihn versetzten, sowie aus der Befürchtung heraus, er könnte
seine innere Sicherheit verlieren, auch aus Reue und getrieben von dem Wunsch
die Kränkungen wieder gut zu machen, die er angeblich Männern wie Hermann Göck
zugefügt hätte, bat Wilhelm Bartel um Aufnahme in die Partei.
Anders glaubte
er seine Loyalität, wie er plötzlich befürchtete, nicht mehr belegen zu können.
Ich sah ihn unmittelbar nach dem gewichtigen Gespräch in dem ihm vorwurfsvoll
gesagt wurde, wozu er sich habe hinreißen lassen.
Grau und
reuevoll in sich gekehrt sah Wilhelm
aus, wie einer, der im Zustand der Volltrunkenheit Vater und Mutter erschlagen
hat.
Ihm sollte Biederstaedt
folgen.
Doch wie Fritz
Biederstaedt es mir erklärte, verblüffte mich.
Wenn es hochkommt, war das Leben ein Traum
Ende Februar
‘65 ernteten wir Rohr. Neben Fritz Biederstaedt lief ich den zwei Kilometer
langen Weg zu den Neubrandenburger Torfwiesen. Unsere Sicheln in der Hand
marschierten wir und tauschten unsere Gedanken aus, die sich zunächst nur auf
die Arbeit bezogen. Ein Rohraufkäufer bot uns für je drei Stunden Schinderei
fünfunddreißig Mark. Für je ein Schock Rohr sollten wir diesen Betrag erhalten.
Sechs Stunden konnte man täglich die Qual solcher Anstrengung durchhalten. Zwei
Paar solide Halbschuhe ließen sich dann für diese siebzig Mark erwerben. Das
war viel. Rohrschnitt bedeutete, mit einer auf halbe Sensenlänge gestutzten
Schnittfläche Rohrhalm für Rohrhalm möglichst bodennah abzuschneiden.
Wir zogen
unsere blauen Wattejacken aus und begannen. Je einen Arm voll Rohr nahmen wir
und ratschten, was wir so festhielten, mit unseren Kleinsensen ab.
Fritz wandte
sich bald nach links, ich in die andere Richtung. Nach mehr als zwei Stunden
rückten wir wieder aufeinander zu. Wie eine Erntekombine, die mitten durch ein
Maisfeld fährt, schufen wir Schneisen und Räume, die sich ständig veränderten.
Seine braune Schiebermütze schief aufgesetzt, mit seinen schwarzen
hochschäftigen Lederstiefel im Morast patschend sah ich ihn in dreißig Meter
Entfernung eifrig rackern. Plötzlich hielt er inne. Fritz drehte mir sein
großes Gesicht zu. Er hatte bemerkt, dass ich ihn beobachtete. Seine Rechte
umklammerte den ellenkurzen Sichelstiel. Er kam auf mich zu. Der schwarze Torf
spritzte. Seine braunen Augen funkelten. Ihm war anzusehen, dass er mir
Wichtiges mitteilen wollte. Fritz presste einen knappen Satz heraus: „De Partei
will uns de Sääl ut den Liev rieten!” 165 Er lächelte, wog den Kopf.
Sofort wusste ich, was er meinte. Natürlich, das war ja mein Grund mich zu
widersetzen. Ich kam nicht dazu ihm beizupflichten, denn er
vollendete, morgen werde
er den Antrag stellen, Kandidat der SED zu werden.
Mir schien er hätte mich und sich kopfgestellt. Nein, es war alles in Ordnung.
Äußerlich jedenfalls.
Ich sah eine
Szene, die er mir bereits früher schilderte. Ich sah ihn als jungen Diener im
Hause seiner Herrschaft, wie er in einem Streitfall vor Wut kochte und dennoch
pflichtbeflissen lächelnd dastand.
Auf dem letzten
Teil des Hermarsches hatte Biederstaedt bereits unentwegt auf Ulbricht und
Anhang mehr geflucht als geschimpft.
Nun erklärte er
mir: Diese Leute würde er dennoch ab sofort seine Genossen nennen. Mir
verschlug es die Sprache. Ich stotterte hilflos und war verwirrt: „Fritz! Wenn
du so denkst, kannst du doch nicht ...!”
Er schüttelte den kaum ergrauten
Kopf. Mit der Wahrheit käme man nicht weit. Ich betrachtete seine helle,
fliehende Stirn und fragte ihn und mich. Wohin willst du gehen, wenn nicht auf
die nächste, bessere Erkenntnis zu? „Wenn du wat warn wisst, denn mösst du
dat!” 166, erklärte er kurz und bündig. Er sei nun neunundfünfzig
geworden und für die letzten vor ihm liegenden Lebensjahre hätte er sich noch
viel vorgenommen. „An de twintig Johren hew ich noch!” 167 War das
mein guter, alter Biederstaedt? Wir schauten einander an. Aber weder er noch
ich sahen weit genug. Jedenfalls seinen Todesengel, der ebenfalls mit einer
Sense bewaffnet, direkt hinter ihm auftauchte gewahrten wir nicht. Wir ahnten
gar nichts. Genau 146 Lebenstage lagen noch vor ihm.
Anfang Juli
warf ihn ein schwerer Schlaganfall aufs Sterbelager.
Als die
Sargträger Biederstaedt mit seiner letzte Behausung in die Grube nieder
senkten, überkam mich ein Gefühl der Wehmut.
Er war ein
unerschrockener Kämpfer gewesen. Nicht immer konsequent und oft gewillt, auch
das offensichtlich Falsche zu tun, nur um der Illusion zu folgen, schneller
glücklicher zu werden. Seine eigene Logik hatte er niedergerungen und trotzdem
gehofft, das letzte Größte sei auch für ihn erreichbar.
Fand ich mich
nicht in ihm wieder? Fanden wir uns nicht allesamt in ihm wieder? Stachelte
mich nicht viel zu oft etwas an, gegen meine Einsichten zu handeln?
Über den
blaugrünen Omorikafichten, die sein Grab beschatteten, dehnte sich ein ungeheurer
Himmel. Sachte trieben die Wolkengebirge über uns dahin. Das ganze Leben ist
voller Widersprüche. Es gibt kein Leben ohne Gegensätze.
Meinen bunten
Nelkenstrauß versuchte ich behutsam auf den in der Grube dunkel schimmernden
Deckel seines Sarges niederfallen zu lassen. Drei Sekunden lang, während
weicher, weißer Sand durch meine Finger rieselte, versprach ich ihm, ihn
niemals zu vergessen. Er und ich, wir hatten zu viel erlebt, um nicht zu
wissen, dass die Wahrheit sich nicht nach unseren Wünschen richtet. Irgendwie
wussten wir, dass sie etwas unbeugsam Ehernes an sich ist, wie eine unendliche
Gerade. Die Wahrheit rankt sich nicht um uns. Sie kann sich niemals anpassen.
Wir müssen es. Deshalb sind wir ihr bis zur Todesstunde verpflichtet.
Wir beide
wussten es. Jeder Lüge folgt die unsichtbare, gnadenlose Hand, um ihre Zinsen
für den scheinbar freigebig gewährten Kredit einzufordern.
Reuig oder
nicht, wir haben den Preis zu entrichten.
Als alle
davongingen, wandte ich mich noch einmal nach seinem Ruheplatz um. Uns will
scheinen, dass der Lauf der Welt sich ändert, wenn ein Freund von uns geht.
Es geschieht
tatsächlich. Wenn wir nachdenklich in uns gehen, verändert uns selbst ein
letzter Abschied ein wenig mehr zum Guten.
Karpfenwiederfang mit Hindernissen
Fritz
Biederstaedt hatte ein Jahr zuvor noch mit den meisten anderen gegen mich
gestimmt. Deshalb wurden einige Landseen intensiv mit Karpfen besetzt. Ich
hielt es für eine Verschwendung von Zeit und Getreide, in natürlichen Gewässern
wie in Teichwirtschaften zu operieren. Die Camminer Seenkette, namentlich der
Gramelower und der Camminer See, wurden geradezu mit Karpfensetzlingen
gespickt. Geplant war eine Steigerung der Karpfenproduktion um dreihundert
Prozent auf mindestens dreißig Tonnen jährlich. Sechzig Tonnen Futtermittel,
Weizen oder Mais müssten zugefüttert werden.
Die
Vorstellung, dass zwei Männer im Bereich der herkömmlichen Produktion fehlen
und das Bild von den Kornmengen, die ins Wasser geschüttet würden, gefielen mir
gar nicht.
Immerhin, es
ging nach Beschlusslage, die noch vom Bezirksfischmeister Ernst Stöckelt
eingebracht worden war.
Frühestens
Mitte November sollten die geplanten 12 Tonnen Weihnachtskarpfen auf dem
Gramelower See gefangen und in speziell gefertigte, geräumige Holzhälterkästen
bis zum Festtagsverkauf gesetzt werden.
Aber Planung
und Leben sind natürlich zweierlei. Exakt Mitte November 1965 brach vorzeitig
der Winter über das Land herein.
Eisiger Sturm
fegte über Wälder und Seen. Nun war nur zu hoffen, dass die Gewässer, wennschon
- dennschon richtig zufroren, damit wir tragfähige Eisflächen bekamen. Die
ersten fünf Zentimeter Eisstärke wuchsen in zwei Nächten heran. Der
Wetterbericht sagte anhaltenden Frost voraus. Hoffentlich hielt die Natur, was
die Meteorologen versprachen. Am fünfundzwanzigsten maßen wir erst zehn
Zentimer Eis, trotz der enormen Kälte. Die tiefen Seen wie der Tollensesee
zeigten noch nicht die Spur von Wirkung, ihre Wärmeschichten wurden nur langsam
abgebaut und ausgetauscht. Erst wenn die Wassersäule durchgehend vier Grad
Celsius erreicht, beginnt die Winterstagnation,
dann kann der Frost die Wassermoleküle zwingen kristalline Strukturen anzunehmen. Bis dahin sinken sie
immer wieder die Tiefe ab. Selbst
kleinere Gewässer weisen bei vorzeitigem Wintereinbruch noch beachtliche
Wärmekapazitäten auf und die Eisbildung erfolgt deshalb im Spätherbst
verzögert.
Endlich am 1.
Dezember durften wir es wagen, den Gramelower See mit schwerem Geschirr zu
belasten. Auf gewohnte Weise kippten wir die Schlittenfuhre ins “Inlett”. Stets
unterstand der linke Flügel mir. Auf ‚meiner’ Seite arbeitete sich Hermann
Witte mit der Stoßaxt schnell voran. Wir konnten ihm nicht folgen. Natürlich
ging es zu langsam. Erst die Hälfte des Fanggeschirres hatte die parallel zum
Ufer verlaufende Strecke zurückgelegt. Beide Flügel müssen sich unter dem Eise
ausbreiten wie zwei Arme, die sich nach und nach möglichst schnell ausstrecken.
Die Vorderstücke des insgesamt zweimal vierhundert Meter langen Netzes sollen
eigentlich ohne großen Kraftaufwand jeweils an die entgegengesetzt liegenden
Eckpunkte befördert werden.
Dorthin zieht
man diese Wadenstücke, wenn genügend Kräfte zur Verfügung stehen, normalerweise
mit bloßen Händen.
Aber wir
mussten sie an diesem Morgen mit Gewalt heranwinden. Sofort, als sich diese
Unnormalität bemerkbar machte, hätte ich handeln müssen. ‚Etwas’ stimmte nicht
und dieses Etwas war von mir verursacht worden. Auf meine Weisung hin wurden
gegen den Rat des erfahrenen Witte zu wenige Steine von der Unterleine
abgebunden. Noch war ich starrsinnig. Es musste auch so gehen, meiner Meinung
nach.
Am anderen
Flügel schien es ebenfalls zu hapern. Die kämpften mit ähnlichen
Schwierigkeiten. Das sah man.
Gruß und die
Reinigerbrüder waren doch auch keine Neulinge.
Wiegenden
Schrittes, aber schon in Eile, kam Hermann schließlich auf uns zu, nachdem er
bereits die Hälfte des knapp fünfhundert Meter langen Weges vom Ost- zum
Westufer in den geforderten Zwölffußschritt-Abständen durchlöchert hatte und
wir uns immer noch am Umlenkloch aufhielten. Ihm war klar, woran das lag. Jede
seiner Bewegungen verriet, dass er zunehmend in Wut geriet. Hermann schaute
mich aus zusammengekniffenen Augenlidern an und knurrte: „Dat möt ännert warn!”
168
Zweimal schlug
er heftig die Arme über Kreuz.
Mit verzerrtem
Gesicht und ohne mich zu fragen handelte er. Er nahm die Eisaxt und vergrößerte
das Eisloch vor unseren Füßen ums Doppelte auf sechs Quadratmeter Fläche. Ich
wusste, was er vorhatte. Es war in dieser Situation richtig und ich biss mir
auf die Zunge. Wenn die übermäßig beschwerte Grundleine des Zugnetzes an
wahrscheinlich sogar mehreren Stellen in den weichen Seeboden einschneidet,
dann gibt es nur eine Konsequenz: Steine abbinden!
Da ich noch zögerte,
riss Hermann mir abrupt die Oberleine des Zugnetzes aus der Hand. Er presste
die schmalen, blauen Lippen zusammen, haspelte sich bis an die Unterleine, nahm
sein Messer, schnitt den ersten Wadenstein ab, dann den nächsten und so fort.
Er fluchte. Ich fluchte zurück.
Durch einen
Schicksalsschlag verbittert, war ich zu hart geworden.
Mein Vater nahm
sich vor erst sechs Wochen das Leben und ich musste mit dem Selbstvorwurf
fertig werden, versagt zu haben. Hätte ich doch mehr Zeit verwandt, um ihn aus
seiner tiefen Depression herauszureißen. Mir war es ja fast gelungen. Aber
immer ging die Arbeit vor.
Hermann begann
sogar die vorderen Wadenstücke zurückzuziehen, ohne meine Mithilfe und
Mitsprache zuzulassen. Pure Übertreibung war das. Klafter um Klafter holte er
die Unterleine heraus, legte sie aufs Eis, hielt sie mit dem Fuß fest, und,
ratzbatz schnitt sein Messer.
Als wäre ich
Luft für ihn handelte er, als wäre er und nicht ich für diesen Flügel des
Gesamtnetzes verantwortlich. Zum Überfluss beorderte er ein paar jener Helfer,
die sich immer einstellen, um ein für sie so seltenes Ereignis wie die
Eisfischerei mitzuerleben, zum fünften Eisloch in etwa vierzig Meter
Entfernung. Dort sollten sie von Hand die acht Millimetervorderleine soweit
ziehen, wie möglich, bis nämlich der meterlange Buttknüppel, der dem ersten
Stück vorangeht, sich quer vor das nur waschschüsselgroße Eisloch legt.
Ich fühlte mich
mehr als angestachelt die Initiative wieder an mich zu nehmen. Noch war ich
nicht der Fangleiter, noch kein Brigadier, aber dieser Flügel war ‚meiner’. Was
suchte er überhaupt auf meiner Seite?
„ Hau ab!”,
fauchte ich ihn an.
Wir bellten uns
an, wie zwei Straßenköter. Der aufkommende scharfe Morgenwind sauste und fegte
Eispartikel über die stellenweise bloßliegende graublaue Eisfläche. Der Schnee
knirschte unter unsern Gummistiefeln. Von der Sonne und angenehmeren
Temperaturen keine Spur. Grau in Grau der abweisende Himmel. Die jungen Männer
zogen das bereits von fast allen Zugnetzsteinen befreite Buttstück weiter. Wir
aber befanden uns dreihundert Meter von ihnen entfernt auf halbem Weg zwischen
Wadensack und der Umlenkstelle. Hermann vergrößerte immer noch ein Loch ums
andere laut schimpfend, zerrte, zog, schnitt. Da platzte mir der Geduldsfaden,
ich entriss Hermann die Leine. Im Begriff sein scharfes Messer, das auf dem Eis
lag ins Loch zu stoßen, richtete er sich im Zorn auf, griff augenblicklich zum
Stiel seiner in die Eishaut hineingedroschenen Axt, die griffbereit dastand
weil er sie ins Eis, wie in einen Haublock hinein geschlagen hatte.
Die Axt machte
mir keine Angst. Zuschlagen würde ein Hermann Witte nicht. Nicht er und schon gar nicht hier.
Wirklich nicht?
Ich schaute ihn
ebenso grimmig an wie er mich. „Hau bloß ab!”, entfuhr es mir erneut und
scharf. Da warf er die große, langstielige Axt mit einem Ausdruck von maßlosem
Hass von sich, als schleudere er einen Knüppel weit über die Eisfläche. Das
Eisen surrte über das Glatte in eine Schneewehe hinein. Er kehrte mir danach
den Rücken zu und ging, stürzte, den Kopf wie ein Wildkater nach vorne
gestreckt, immer schneller, lief davon, raffte seine geflickte Wattejacke auf
und rannte dem Festland zu in Richtung Camminer Bahnhof.
Ich rief hinter
ihm her, bereute meine Reaktionen. Aber er ließ sich nicht aufhalten. Mit uns
Idioten wolle er nichts mehr zu schaffen haben.
Mir legte sich
eine zusätzliche Last auf den Brustkorb. Aber es musste weitergehen. Am anderen
Flügel in einem halben Kilometer Entfernung unternahmen sie anscheinend
dasselbe, was Hermann zuvor auf meiner Seite getan hatte. Der Grund des
Gramelower Sees war zu weich für unser grobes Geschirr. Dieses Gewässer
bewirtschafteten wir erst seit kurzem. Uns fehlte die Erfahrung, soweit es
seinen Seeboden betraf.
Mittlerweile
hatten wir das Netz im Halbkreis unter der Eisdecke auf voller Länge
ausgebreitet. Wilhelm Bartel, der immer noch scheinbar gleichmütig am
Einlassloch neben dem Wadesack stand und aus der Ferne winzig wirkte, winkte
plötzlich. Er gab das Zeichen: Jetzt bewegt ihr die Hökelsteine, alles in
Ordnung! Wir wussten, was sich da tat. In halbem Schritttempo rutschte nun der
riesige Garnbeutel in die Tiefe.
Nun ging es ums
Ganze.
Allerdings war,
wie sich noch herausstellen sollte, erst die halbe Arbeit geleistet und immer
noch zu wenig Rundsteine entfernt worden.
Schon waren
statt der üblichen zwei Stunden bereits fast vier vergangen. Die bereits am
anderen Seeufer windenden Männer stöhnten und schwitzten. Sie drehten an den
Knüppelwinden als hätten sie schwere, hochbeladene Ackerwagen aus einem
Lehmloch herauszuwühlen.
Plötzlich
krachte es wie Karabinerschüsse. Nahezu gleichzeitig waren auf beiden
Flügelseiten die Sechszehnmillimeterseile geplatzt. Ächzend hatten sie solange
die Windenschlitten an Land festgehalten. Rechts und links des Schlittens
flogen die uns helfenden fremden, ahnungslosen, kräftigen langen Kerle wie von
Kinderhand geworfene Zinnsoldaten zur Seite und zu Boden. Als wären sie Pappkameraden.
Die
Windenschlitten waren fünf, sechs Meter in Richtung See katapultiert worden.
Böse Folgen
hätte das haben können. „Ist ja nichts passiert”, beruhigte ich mich.
„Es hätte aber
auch Schwerverletzte, wenn nicht Tote geben können”, konterte mein Verstand.
Aus einigen Metern Entfernung war ich nur Zuschauer gewesen. Eigentlich durften
wir nicht zulassen, dass Fremde sich einschalteten. Aber wir waren ja froh,
wenn sich Leute fanden, die ohne lange zu fragen mitmachten. Etwa zehn Männer,
zur Zeit tätigkeitslose LPG-Traktoristen, halfen uns mittlerweile.
Fast mehr als
wir fieberten sie dem Fangerfolg entgegen.
Sie gaben sich
nicht so schnell geschlagen. Die Kerle mit ihren schier überschäumenden
Körperkräften, die froh waren sich regen zu dürfen, rappelten sich schnell
wieder auf, wollten ungestüm weitermachen. Deshalb machten sie sich wieder an
dieselbe Arbeit.
Nein!
Wahrscheinlich
war sich keiner der Gefahr bewusst, in der er sich befunden hatte. Jetzt hieß
es, sich vor Hermann Wittes Einsicht zu beugen: „Sämtliche Steine ab!” Wenn das
Zugnetz in voller Länge durch den Seeboden schneidet, dann lässt es sich zwar
noch eine Weile vorwärts bewegen, aber der Gesamtwiderstand wächst
unaufhörlich. Ein Fischer schrie den anderen an.
Wilhelm Bartel
hatte es angemahnt, sich aber nicht durchsetzen können. Wozu bedurfte man in
einem flachen Gewässer der Beschwerungen an den Unterleinen? Die Steine sollen
ja lediglich dem Zweck dienen in Seen, die tiefer sind als das Netz, den
Schwimmern an den Oberleinen entgegen zu wirken. Denn von Ausnahmefällen
abgesehen, soll das Zugnetz ‚Grund halten’.
Jetzt galt es,
das unregelmäßig ausbuchtende Netz unter der undurchsichtigen Eisdecke zu
finden und es dann partiell aus dem Morast zu heben. Wir wussten, dass auch dieser
Befreiungsversuch nicht ungefährlich sein würde. Denn die überbeanspruchten
Unterleinen schießen erfahrungsgemäß, wie starke bis zum Reißen gedehnte
Gummiseile augenblicklich vor, sobald sie auch nur teilweise aus der Tiefe des
Morastes gezogen werden.
Den
übereifrigen Traktoristen mussten wir einschärfen, dass sie unter keinen
Umständen das unter Hochspannung stehende Garn festhalten dürfen. Jederzeit
muss es reibungslos aus den Händen gleiten können. Eben wie der unberechenbare
Netzdruck das erfordert.
Ein
ostpreußischer Wadenmeister war ertrunken, weil sich eine einzige Masche des
Netzes unbemerkt an seine Eiskrampe geheftet hatte. Ihm war es widerfahren,
dass ihn ein jäher Netzruck plötzlich davonschießender Leinen zu Boden warf und
ihn mit hineinriss ins große Inlett, wahrscheinlich gleich einige Meter weit
unter das Starkeis. In solchem Fall gibt es keine Rettung.
Nachmittags
nach drei Uhr, nach weiterer vierstündiger Arbeit, hatten wir zehn Fischer und
unsere zu allem entschlossenen Helfer, den Eispanzer an achtzig bis hundert
Stellen aufgebrochen und schwer schuftend das gewissermaßen eingeklemmte
Zugnetz im Wesentlichen befreit. Mehr als einmal riss mir bei dieser Arbeit der
Gegendruck das Netz gewaltsam aus der Hand. Hoffentlich war uns gelungen auch
den letzten der insgesamt dreihundert Wadensteine zu finden und abzuschneiden.
Hier und da
schlängelten sich Aale im Schnee und auf dem nackten Eisboden, die auf
erheblich unsanfte Art aus ihrem Winterquartier ans Tageslicht befördert worden
waren. Unsere fleißigen Hilfsfischer freuten sich, als wir jedem erlaubten,
zwei Aale einzusacken. Nur wenige Männer hatten vorsorglich einen Fischbeutel
mitgebracht. Aber das sprichwörtliche ‚Not macht erfinderisch’ half ihnen.
Einer zog seine Strümpfe aus und fuhr mit den Socken zurück in die Stiefel, ein
anderer band die Hosenbeine seiner Oberhose zu. Endlich, als es bereits dunkel
geworden war, spürten wir, dass unser Zugnetz sich wieder bewegen ließ.
Die zerfetzten
Schlittenleinen hatten wir längst provisorisch verknotet, das Drahtseil wieder
aufgerollt. Wenn auch nur dezimeterweise, es ging voran. Schließlich erschienen
im Aufzugsloch über dem sehr flachen Wasser die Buttstücke. Endlich war klar,
dass wir es schaffen konnten, ohne erneut an diversen Stellen das Eis
aufzubrechen, um nachzuhelfen.
Nie wieder
würde ich mich leichtfertig über die Meinung eines Mannes hinwegsetzen, der
über mehr Berufs- und Lebenserfahrung verfügte, als ich. Selbst bester Wille
kann zwei von Enttäuschungen erfüllte Jahrzehnte nicht ersetzen. Vielleicht ist
das der Sinn unseres Lebens, dass wir durch bittere Erfahrung klüger werden.
Anderthalb Stunden später sprudelten unsere meist zweieinhalbpfündigen
Weihnachtskarpfen im Wadensack sowie eine stattliche Anzahl großer Zander, Hechte,
Barsche und - was wir erst dreißig Stunden später bemerkten, nachdem wir auch
den letzten Zentner Fische verladen hatten - fast vierzig Stück Aale. Die
hatten wir ausgepflügt.
An jenem späten
Abend ahnten, hofften wir nur, wir hätten tatsächlich die Hauptmenge der
gesuchten einhundertundzwanzig Dezitonnen Karpfen gefunden und gefangen.
So verlangte es
der Plan von uns.
An Land,
unterhalb des graudüsteren Wiesenhanges, loderte ein noch eher kleines
Lagerfeuer auf der Viehkoppel. Inzwischen allerdings transportierten die
teilweise mit ihren Traktoren vorgefahrenen LPG-Männer große abgestorbene
Erlenbäume herbei und bald erhellten die prasselnden Flammen das Gelände in
einhundert Meter Umkreis taghell. Zwölf Stunden abenteuerlicher Geschäftigkeit
lagen hinter uns und vor uns stand die Arbeit der Verladung und des Transportes
der ersten Fuhre Karpfen, um sie in die bereitstehenden Fischbehälter im
Oberbach einzusetzen.
Ein neuer
Trecker kam durch die Nacht polternd mit einem Hänger angefahren, wir kümmerten
uns naturgemäß nicht um ihn und das, was die Männer trieben. Plötzlich jedoch
bemerkten wir, was vor sich ging. Die sorglosen Burschen warfen eine Anzahl
übermannshoher Treckerreifen mit Schwung vom Fahrzeug ins Feuer hinein. Wenig
später begannen die lichterloh brennenden Reifen zu krachen. Sie nährten ein
Feuer wie ich es nur einmal, in meinen Kindertagen in Wolgast bei einem von
Wind forcierten Brand einer randvoll mit Stroh gefüllten Scheune gesehen hatte.
Zur Buße meines Verhaltens Hermann gegenüber auferlegte ich mir, die Nachtwache
zu halten. Mir war allerdings klar, wenn ich Herr der Lage sein wollte, mussten
erst die Helfer völlig zufrieden gestellt werden, dann ebenfalls angemessen
anteilig die Nachzügler, die von den drei Dörfern Cammin, Gramelow und Riepke
vom Licht magisch angelockt worden waren, um beim Verladen der Fische zu
helfen.
Der Mann, der
sich die Hosenbeine zugebunden hatte, damit ihm die durch seine Körperwärme
lebhafter gewordenen Aale nicht entwischten, stand unauffällig im
Halbschattenbereich, bis er aufgefordert wurde einen Bottich Fische zu tragen .
Er zögerte, doch seine Mittraktoristen machten ihm Beine.
Während er
unbeholfen ein paar Schritte ging, platzte das Band. Er bewegte sich gerade in
diesem Augenblick mitten in die hellste Lichtzone hinein, als sich sein Raub
selbständig machte. Drei Zander und zwei Aale kamen zum Vorschein. Aller Blicke
wurden durch einen Aufschrei von einem der Helfer auf das nun wie im
Rampenlicht dastehende Mannsbild gelenkt. Unleugbar, er hatte sich gegenüber
allen anderen erhebliche Vorteile verschafft. Niemand hätte ihn getadelt wäre
er mit zwei Zandern und zwei Aalen zufrieden gewesen. Aber das andere, noch
luftballonartig aufgeblähte Hosenbein verriet seine durch nichts zu entschuldigende
Unverschämtheit. Das prall ummantelte Bein gemessen an dem nun so unglaublich
dünnen anderen, stempelte ihn in aller Augen zu einem gemeinen Dieb.
Die stämmigen
Treckerfahrer regelten das untereinander.
Der da hatte
eine unsichtbare Grenze überschritten. Bloß einen großen Karpfen und einen Aal
ließen sie ihm. Von Halunken hielten sie gar nichts. Sie jagten ihn weg und
setzten damit das Recht wieder in seine natürliche Funktion ein. Als ich nach
der Mitternachtsstunde allein am lodernden Feuer saß, während ich mir einen
Hecht über dem Extrafeuer aus Erlenstämmen briet und räucherte, stellte ich
zufrieden fest, dass es ganz ruhig um mich herum geworden war.
Wie ich ohne
die Regelung, die seitens der Männer untereinander erfolgt war, die lange Nacht
ohne Übergriffe überstanden hätte, wagte ich nicht auszudenken.
Zwei Jahre
später erlaubten meine Kollegen nicht, dass ich an der
Fischerei-Ingenieurschule ein Fernstudium aufnahm. Sie waren vom Grundsatz der
Gleichheit dermaßen durchdrungen, dass sie es ablehnten. Sie hatten nicht
studiert, ich hätte es ebenfalls nicht nötig. Außerdem wäre mit Reinhard Lüdtke
bereits ein Überstudierter da. Gegen ihren Willen sei er auf bezirkliche
Weisung als Diplomfischwirt in den Betrieb eingestellt worden. Wie sie glaubten,
war das bereits allzu viel der unguten Schlauheit.
„Nö”,
verweigerte auch Bartel sich, der über das Thema Qualifizierung zwar anders
dachte als sie. Er habe dasselbe wie ich vier Jahre zuvor gewollt und ich hätte
mich ja auch gegen seine gute Absicht ausgesprochen.
Das entsprach
den Tatsachen. Ich hielt ihn für zu alt und wollte selbst vorwärts kommen.
Doch Reinhardt
Lüdtke, der sich inzwischen Respekt erworben hatte, setzte sich vehement für
mich ein und so begann ich, inzwischen siebenunddreißigjährig das langersehnte
Fernstudium.
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