Dienstag, 17. November 2020

Eine wahre Szene aus meinem kürzlich veröffentlichten Buch "Fischerleben im Wandel der Zeit!

1955 ... Für das durch den Schulleiter H. M. (ehemaliger Kreisvorsitzender der bis 1946 existierenden KOMMUNISTISCHEN Partei Neutrelitz) illegal und neu erworbene Vorderkajütboot musste ein Anlegesteg gebaut werden. Hausmeister Paul – ein Kerl um die dreißig, wie aus Eicchenholz geschnitzt - machte sich an die Arbeit. Gegen die Grundregel verzichtete er darauf, Leinen zu spannen, an denen entlang die Pfähle zu rammen sind. Sein Machwerk sah dementsprechend aus. Eher einem zufällig entstandenen Schrotthaufen ähnlich, als einem Werk von Menschenhirn und -hand, stand das Unding krumm und windschief da, sogar gefährlich wacklig. Eine Schande! Als ich auf dem von Paul zusammen geschusterten Laufsteg entlang ging, wurde mir schlecht. Meine Mitarbeiterpflicht war, ihm zu sagen, dass er vielleicht ein guter Ehemann und bestimmt ein hervorragender Hundeliebhaber sei, aber vom Stegebau keine Ahnung hat. Danach muss er versucht haben, ebenfalls ohne Schnur, die ungleichen Bretter auf die Verbinder zu nageln. Während ich nun versuchte, meine Bemerkungen zu relativieren (wie man heute zu sagen pflegt, wenn man aus Gründen der Höflichkeit die Wahrheit zu verbiegen beabsichtigt) kam ein sonderbarer Lehrgangsteilnehmer anspaziert, ein großer, steckendürrer Mann. Von Gesicht und Gestik wirkte er wie ein Sektenprediger des vergangenen Jahrhunderts. Er kam uns vor wie einer, der gerade in einen sauren Apfel gebissen hatte. Für einen Meisterlandwirt hätte ihn wohl niemand gehalten. Der Mann setzte die großen Schritte ganz bedächtig. Als er die Bescherung sah, wurde sein langes Gesicht noch länger. Er schlug buchstäblich die Hände über dem Kopf zusammen und blieb nachdenklich stehen. Soviel Mist auf einem Haufen hätte er noch nie gesehen. „Abreißen!” Dieser Mann war ein Brigadier! Kommandieren konnte er schon. „Abreißen?”, fragte Paul, gleich wutentbrannt. „Rüchtig!”, erwiderte der große Dünne und machte eine weitere abfällige Bemerkung. Paul zog mich beiseite, zu den Pfählen hin, die ungeordnet im Gras herumlagen: „Den Kierl schmiet ick int Woter!”("Den Kerl schmeiße ich ins Wasser!", flüsterte er. Wahrscheinlich sah Paul selber ein, dass er keine Glanzleistung vollbracht hatte. Nur er wusste nicht, wohin mit dem Ärger. Ich kannte ihn. Dieses Zucken seiner Augenlider verriet das Ausmaß seines mit Erregung gepaarten Leichtsinns. Hinterhältig fragte er den Bauernbrigadier, ob der für ihn noch einen guten Rat parat habe. Arglos, die hohe Stirn gefurcht, erwiderte der etwas schrullige Fremde zustimmend: Am seeseitigen Ende des Anlegesteges müsste ja sowieso noch der Kopf des Laufsteges gerammt werden. Er, an Pauls Stelle, würde restlos alles ‚abräumen’ und dann da, in dreißig Meter Entfernung einen starken Pfahl hinstellen und von ihm ein kräftiges Seil zum Land spannen und dann... Lebhaft machte der uns so großmäulig erscheinende Mensch die dazugehörigen Arm- und Handbewegungen. Sogar mich reizte sein Befehlston. Paul nickte mir vielsagend zu und fragte den Mann, ob er sich denn auch zutraue, mit ihm und uns aufs Wasser zu fahren, um ihn vor Ort zu beraten. Schließlich käme es ja auf den Eckpfosten an und den könnte man gleich hinstellen. Kurioserweise akzeptierte der Fremde. Warum nicht? Echt treuherzig schaute Paul jetzt drein. Das Mienenspiel unseres künftigen Opfers drückte dagegen eindeutig seine Hilfsbereitschaft aus. Und so machte der Ahnungslose mit seinen Halbschuhen einen eleganten, akkuraten Satz vom Land ins Boot, das sich immerhin in fast anderthalb Meter Entfernung von ihm befand. Er wankte nur kurz, setzte sich dann bedächtig auf die kleine Heckbank, zupfte seine Hosennaht zurecht, zog eine Shagpfeife aus der Hosentasche, stopfte sie aufreizend langsam mit Tabak, entzündete sie seelenruhig, sog den Qualm in sich, blies ihn selbstzufrieden in die blaue Frühlingsluft und schaute sich um. Offensichtlich genoss der ein wenig snobistische Ackerbauer die Aussicht auf die Schönheit der Landschaft, während er paffte und geduldig der Dinge harrte, die kommen sollten. Paul hatte indessen den kräftigsten unter den herumliegenden Pfählen ausgesucht. Er richtete ihn auf. Das war fast ein Mast, dazu knochentrocken und deshalb nicht zu schwer. Scheinbar fachsimpelnd weihte Paul mich in Details seines schändlichen Planes ein. Als hielte er seinen ärgsten Kritiker schon am Genick, schüttelte Stegebauer Paul den Pfahl, wie man im Herbst einen Pflaumenbaum rüttelt. „De is rüchtig!”, ("Der ist richtig!") ahmte er den anderen nach. Jawohl, diesen sollten wir einladen ins Boot, meinte der von uns heuchlerisch um sein Urteil befragte Brigadier. Der setzte hinzu: „Naja, ein lütt bisken zu lang ist er noch”, aber sonst sei der Pfosten ganz prima, wenn es da oben denn weichen Seegrund gäbe. Wir nickten. „Na klar, da oben ist es bannig weich.” Zufrieden kopfnickend äußerte der Landwirt, kürzer schneiden könne man das Holz ja immer noch. Wir meinten bei uns, über dem zwei Meter tiefen Wasser, wenn wir da denn angelangt wären, würden wir den Starkpfahl mit Schwung über einen Meter tief in den weichen Grund hineindrücken. Paul zog sein flächiges Gesicht schief und kniff sein linkes Auge zu. „Ick pett denn up de Siet, un du uk.” ("Ich trete auf den Bord und du auch.") Ich war längst einverstanden und lachte vergnügt, denn ich sah ja voraus, was sich ereignen musste. Dieses Bild! „Naja”, dachte ich, „ein Bad im Freien hat noch niemandem geschadet!” Uns beiden war natürlich klar, dass das Oberflächenwasser des Tollensesees Anfang April sich trotz tagelanger Sonneneinstrahlung kaum erwärmt haben konnte. Dafür war der See zu tief und die Zone des nur nullgradkalten Wassers zu mächtig. Sobald man bloß die Hand in seinen Rachen steckte, biss das Wasser noch kräftig zu. Mit unseren Gummistiefeln durch Wasser und Morast patschend, trugen wir das Langholz zum kleinen Ruderboot, schoben es so behutsam, wie es uns nur möglich war, zwischen die Schuhe und Beine unseres gemütlich rauchenden Gastes. Sobald wir uns von Land abgestoßen hatten, schaukelte der Kahn in den Wellen, die durch das Gelege hindurch wogten. Aber das war ungefährlich, obwohl der Nordostwind auffrischte. Wir freuten uns. Das Schaukeln des Kahns kam uns wie gerufen. Wir überaus erfahrenen und eitlen Bootsmänner grinsten einander an. Vor Ort angekommen nahmen wir den Pfosten, steckten mit ziemlicher Anstrengung seine spitze Nase ins bewegte Wasser und richteten ihn einigermaßen aus. Wir hatten noch soviel Zeit uns an unseren Berater zu wenden. „Rüchtig so!”, bestätigte der kühne Bauer. Das untere Ende unseres Pfahles war vom Eigengewicht bereits drei, vier Dezimeter tief in den weichen, tonigen Grund eingedrungen. Entschlossen spannten wir unsere Muskeln. Paul griff weit nach oben, allzu weit allerdings. Er wollte die Schwere seiner gut neunzig Kilogramm zur vollen Geltung bringen. Gleichzeitig sprangen wir auf den schmalen Bord, des grünrot getünchten Ruderbootes. Jetzt gab es keine Rettung mehr. Jetzt sauste der lange, aufreizende Kerl samt seiner Shagpfeife über Bord. Jedenfalls war dies die bunte, auch von mir verinnerlichte Illusion. Aber, wieso denn ich? Es machte nur Patsch! „Äh und Bäh!”, schrie ich. Mehr nicht, und ruderte schon gewaltig und peitschte das Eiswasser atemringend, das mich in den Hintern biss und in den Hals, den ich schwanengleich so hoch wie möglich reckte. Dabei genoss ich eben noch das Plinkern dieser himmelblauen Hausmeisteraugen und die Vorstellung, wie der andere das erfrischende Bad nimmt. Urplötzlich hatten meine flatternden Hände äußerst heftig und dennoch sehr vergeblich in die kühlen Frühlingslüfte hineingegriffen. Gewaltig trieben mich die Urinstinkte an. Schnell, schnell! An Land, an Land! Ins Trockene! Mit einem einzigen Blick, während ich noch eisern kraulte, sah ich Paul. Der klebte noch am Pfahl. Entschieden zu weit entfernt vom rettenden Boot waren wir, das mit seinem trockenen, immer noch qualmenden Feldbaubrigadier sachte in Richtung Land trieb, weil wir es ungewollt zwar, aber kräftig von uns abgestoßen hatten. Vom Brustkorb abwärts kam ich mir vor wie ein Eisklotz. Dicht unter meinem Bewusstsein dagegen klapperten die Zähne bereits wie spanische Kastagnetten. Land unter Füßen, wandte ich mich sogleich wieder um. Da! Immer noch, wie ein verstörtes Affenbaby mit enorm verkürzten Armen und Beinen klammerte Exelitesoldat Paul sich verzweifelt an den kräftigen und doch unverlässlichen Pfahl. Die Wellenspritzer nässten schon seinen Hosenboden, denn sein Halt neigte und neigte sich, wenn auch ganz langsam. Ich war fasziniert. Noch zwei Sekunden vielleicht. Länger hielt ihn das Holz nicht über Wasser. Da tat er einen urigen Schrei. Heftig, wie ein startender Schwan, mit seinen Schwingen auf das Wasser einschlagend, krächzte er markerschütternd: „Himmelarsch und Wolkenbruch!” Weiter kam er nicht. Es verschlug ihm die Luft. Ein paar hastige Bewegungen noch, dann hatte auch er den Schilfstreifen erreicht. Mit wilder Kraft richtete sich der bibbernde Gardesoldat auf. Statt dankbar zu sein, dass sein Herz noch schlug, schrie er, je weiter er in Sicherheit kam, Unanständiges. Der unschuldige Brigadier, dem das galt, nahm erst jetzt die Pfeife aus dem Mund. Er machte eine salbungsvoll anmutende Geste, ehe er uns unterwies. Man müsse auf dem Wasser immer danach trachten, sicher zu stehen, oder sich im Boot gut festhalten. So wie er. Er klemmte den Pfeifenstiel zwischen die roten Lippen, dann griff er nach beiden Bordseiten und demonstrierte, wie er sich verhalten hätte. Da erst bemerkten wir, wie groß und kräftig des Brigadiers Hände waren, Pranken die zufassen konnten. Er hob die Mundwinkel und lächelte nachsichtig...“

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