Schritte durch zwei Diktaturen (4)
Zu
den herausragenden Besucherpersönlichkeiten gehörte Theodore
Burton, ein Mitglied des ersten Rates der Siebziger. Ein brillanter
Kopf, ein Hochschullehrer.
Er
trug dazu bei, dass wir stärker denn je begriffen, dass die
Systematik des Mormonismus wesentlich genauer als die der Bibel ist.
Die innere Uneinheitlichkeit der Glaubensaussagen der Bibel, die
selbst nach dem Selbstzeugnis zumindest der evangelischen Theologen,
nahezu jede Deutungsvariante zulässt, gewinnt durch mormonischen
Einfluss an Prägnanz.
Theodore
Burton hielt uns im November 1962 einen bemerkenswerten Vortrag über
das Gesetz der Adoption in der Kirche, nämlich wie wir gemäß
Johannes 1, 12 und nach Mosia 5, 7 Kinder Christi werden können…
Der Bezug den er zu KP Mose 6, zwischen den Versen 59 und 63
herstellte empfanden wir allesamt als sehr einleuchtend und
bedeutend.
Es
fiel mir wie Schuppen von den Augen. Ähnliches lehrte keine andere
Kirche.
“
Und
da ihr durch Wasser (nämlich jenes Wasser in dem der Embryo im
Mutterleib heranwächst, völlig von diesem Medium umgeben) und Blut
(nämlich das Opfer der Mütter im Gebärvorgang) und Geist (nämlich
jenem Geist der aus der Präexistenz kommt) , den ich geschaffen
habe, in die Welt geboren und aus Staub zu einer lebenden Seele
geworden seid, so müsst ihr in das Himmelreich von neuem geboren
werden, nämlich aus Wasser (dem Wasser der Taufe durch
Untertauchung) und aus dem Geist ( der Gabe des Heiligen Geistes),
und müsst durch Blut gesäubert werden, nämlich das Blut meines
Einziggezeugten…..”
diese
Harmonie der Lehre über mehrere kanonische Bücher hinweg ist sehr
bemerkenswert.
Damals
lernte ich Jochen Appel kennen, Mitarbeiter der
Bezirksmordkommission. Er fuhr später so oft wie ihm möglich war
mit mir als Hobbyfischer auf den See zum Fischfang hinaus. Für ihn
wäre es besser gewesen er hätte mich niemals kennen gelernt.
Denn
unsere Beziehung endete mit seinem Selbstmord meinetwegen. Nachdem
wir zueinander Vertrauen gefasst hatten, erzählte Jochen mir mehr
über seine Arbeit und ich gab meinerseits zu erkennen, warum ich
schließlich als Fischer arbeitete. Ganz gegen meine Gewohnheit
erzählte ich ihm eines Tages einen der in Frageform gepackten
politischen Witze, die damals schnell jedermann Allgemeingut wurden.
Unglücklicherweise plauderte er ihn einige Wochen später an denkbar
unpassendster Stelle aus. Als Offiziersanwärter auf der
Polizeischule zu Gera hätte er besser den Mund gehalten. Die
gefährliche Spottfrage lautete “Was ist der Unterschied zwischen
Walter Ulbricht und einer Rakete? Antwort: Da ist keiner! Beide
werden von Moskau aus ferngesteuert!”
Vierzig
angehende Polizeioffiziere hörten es, während sie auf einem
LPG-Acker den Bauern halfen die Zuckerrübensaat auszudünnen.
Gelacht hätten sie allesamt und mehrheitlich der Sache keine
Bedeutung beigemessen. Schließlich gab es schlimmere Anspielungen.
Diese zum Beispiel: Auf die Frage welche Lieblingskomponisten er
habe, hätte Chrustschow geantwortet: "Liszt, Händel und
G(K)rieg!"
Einer
seiner Mitschüler zeigte ihn an. Augenblicklich wurde Jochen zum
diensthabenden Offizier beordert. Der Mann wies ihn scharf zurecht:
“Genosse Appel, von einem künftigen Offizier der Volkspolizei
erwarten wir ein klares Bekenntnis zur Arbeiter- und Bauernregierung!
Wer hat ihnen diesen Schwachsinn erzählt?”
Meines
Freundes Versuch, sich auf eine ihm unbekannte Person herauszureden
misslang. Sie sahen seinen Augen an, dass er log. Meinen Namen hätte
er nennen müssen, um die Inquisitoren zufrieden zu stellen.
Jochen
sah natürlich die Folgen voraus, falls er reden würde.
Er
hätte für einige Minuten ernstlich geschwankt. Denn es ging um
nichts Geringeres als um seine berufliche Zukunft. Allerdings stand
auch meine Zukunft und die meiner Familie auf dem Spiel. Bis zu fünf
Jahre Zuchthaus hätten mich erwartet. Ob Erika das überstanden
hätte?
Er
dagegen wäre für den Freundesverrat sofort belohnt worden und zwar
mit jener Beförderung die der Petzer tatsächlich erhielt.
Ich
saß in trügerischer Sicherheit. Als Jochen mir nur wenige Tage
später völlig rückhaltlos mitteilte was sich ereignet hatte,
stockte mein Herzschlag. In breitem mecklenburgischem Plattdeutsch
beruhigte er mich jedoch: “Jung, ick künn die nich veroden!” Er
hätte mich immer wieder vor sich gesehen, wie ich während der Fahrt
auf dem See in meinem Boot sitze und in der Bibel lese. (Dabei las
ich auf dem See viel häufiger Feuchtwanger.) Er hätte es einfach
nicht übers Herz gebracht.
Sie
verhörten ihn gnadenlos. Sie drohten und schickten ihn weg von der
Schule. Nun war er gebranntmarkt. Mit welchen Gedanken und Gefühlen
wird mein Freund, der sich entschieden hatte mich nicht zu verraten,
heimgefahren sein? Den Aufstieg so nahe vor sich, auch den
finanziellen Vorteil, zerrann seine Hoffnung wie Eis in der Sonne.
Mit wie viel Bitterkeit wird er die Ahnung empfunden haben, dass
diese dumme Geschichte für ihn noch längst nicht zu Ende war?
Ich
aber empfand große Dankbarkeit.
Auch
für andere Mitglieder in unserm Lande wäre ein Prozess gegen mich
nicht gut gewesen. Denn diejenigen die mich überwachten wussten
natürlich wie sehr wir durch diese “amerikanische” Kirche
miteinander verbunden waren. Einmal verplauderte sich ein
MfS-Offizier, der gelegentlich mit uns auf den See hinausfuhr. Er
sagte etwas, das er nur aus meinen Briefen wissen konnte. Das
veranlasste mich noch vorsichtiger zu sein.
Die
Furcht der führenden Parteipolitiker vor grundsätzlich
Andersdenkenden war erheblich größer, als ihre stets zur Schau
gestellte Zuversicht. Deshalb bauten sie ihren nach innen gerichteten
Überwachungsapparat ständig weiter aus.
Andererseits
wussten die Psychologen unter den führenden SED Politikern, dass man
allerdings Ventile gegen den Überdruck schaffen muss.
Deshalb
gab es sogar im Fernsehen der DDR politische Satire. Nur, die war
wohldosiert und wohlkontrolliert.
Jeden
Satz, den ich in den nächsten Monaten und Jahren sagte oder schrieb,
wog ich vorher sorgfältig ab.
Alle
Bürger des Landes, besonders aber die in ihren Kirchen aktiven
Leute, lebten unentwegt auf offener Schaubühne. Aber gerade diese
scharfe Beobachtung unserer Lebensweise sollte sich mehr als ein
Jahrzehnt später für unsere Kirche in der DDR als vorteilhaft
erweisen.
Erst
Jahre nach der Wende erfuhr ich die ganze Wahrheit.
Sie
verhörten Jochen noch monatelang. Nachts holten sie ihn aus dem
Schlaf. Ich in meiner Naivität ahnte nichts von alledem. Seine
unerbittlichen Gegenspieler quälten ihn bis er zusammenbrach und den
Freitod wählte. Er ertränkte sich.
Er
hätte nur einmal meinen Namen preisgeben müssen….
Immer
wieder stehe ich betroffen vor seinem Grab über dessen Gedenkstein
ein weiße Birke Schatten spendet.
Jochen,
Gott wird es Dir vergelten!
Nachdem
ich einige Weiterbildungslehrgänge gut abgeschlossen hatte, zog mich
H. Göck, freundschaftlich beiseite. Er nahm sein Mitspracherecht als
Ehrenmitglied unserer Genossenschaft manchmal sehr intensiv wahr. Er
bot mir im Beisein seiner Frau an, ich könne Vorsitzender des
Fischereiunternehmens werden. Wir saßen an jenem sehr frühen Morgen
gemeinsam an einem Tisch des Fahrgastschiffes “Fritz Reuter”, das
uns nach einem langen, schönen Betriebsfest von Prillwitz abholte
und nun heimbrachte. Die Sonne ging gerade auf, der Wasserspiegel
rötete sich. Der Motor des Bootes schnurrte beruhigend.
H.G.
legte mir seinen Arm freundschaftlich um die Schulter: “Du kannst
doch mehr, als bloß Fische zu fangen. Warum sperrst Du Dich? Hör'
doch auf, Dich und uns zu quälen. Setze Dich über Deine Bedenken
hinweg. Komm zu uns in die Partei!” Es war mir nicht unangenehm, so
umworben zu sein. Es schmeichelte mir. Doch im Grunde hatte ich diese
Szene hundertmal im Geiste vorweggenommen und mir eingebläut, unter
allen Umständen Nein zu sagen. Ich möchte nie in die Verlegenheit
kommen und vor der Partei lobhudeln müssen.
Da
mein Entschluss längst gefallen war, konnte ich ebenso ungezwungen
freundlich wie er erwidern, dass ich sein Angebot nicht annehmen
werde. “Ich bin ein durch und durch überzeugter Mormone und das
heißt, ich glaube an Gott und lehne den Grundsatz der Diktatur ab,
wer sie auch ausübt! Aus dieser Ablehnung habe ich nie ein Hehl
gemacht! Wie kann ich mit solcher Einstellung der SED beitreten?”
Aufstöhnend
lehnte er sich zurück und entzog mir seinen Arm. Ein paar Sekunden
lang schaute er mich groß an: “Überlege Dir gründlich, was Du
tun willst. Noch bist Du jung.”
Erika
war von Herzen froh, dass ich mich nicht darauf einließ. Wie so oft
tröstete sie mich und ihr Trost tat mir gut. Wir fuhren anderntags
mit unseren beiden Söhnen Hartmut und Matthias nach Berlin in den
Tierpark und genossen die ganze Schönheit der Natur, die uns mit
leuchtenden Farben umgab. Wir besaßen eine AK 8 und ich filmte die
schönsten Szenen, denn wir gingen und saßen zwischen vielen
lachenden Kindern. Ein riesiger Pfau schlug sein Gefieder zum
blaugrünen Rad. Wir fanden, dass wir auch ohne gesellschaftlichen
Aufstieg glücklich waren. Gerade die Kontraste machten mir deutlich,
was ich besaß.
Während
die Kinder auf dem Spielplatz umhertollten, tauschten wir unsere
Gedanken aus. Unsere Absicht war, in der Kirche Gottes fest zu
bleiben.
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etwa 1964, Hartmut jetzt Bischof in Berwick-Ward, Packenham-stake, Melbourne, an Mutters Hand.
Matthias jetzt Distriktpräsident in Mecklenburg |
Im
Januar 1965 wurde ich zum Distriktpräsidenten Mecklenburgs berufen,
nachdem ich zuvor in vielen Organisationen der Kirche gedient hatte.
Wir zählten damals nur dreihundert eingetragene Mitglieder, die über
das sehr große Land im Norden der DDR verstreut, in sechs kleinen
Zweigen wohnten.
Mein
Vater, zu dieser Zeit Zweigpräsident in Wolgast. Er nahm sich im
November dieses Jahres in einer Phase tiefer Depression das Leben.
Wahrscheinlich waren das die Spätfolgen seines Kindheitstraumas und
die Folge seiner für ihn unerträglichen Monate der Gefangenschaft
Psychiater
hätten ihm helfen können, möglicherweise schon ein Medikament. Das
lehnte er rigoros ab. Danach gab es nur noch mich. Ich wäre der
einzige Mensch gewesen, der es hätte verhindern können. Keiner
wusste so deutlich wie ich, dass es nur ein scheinbarer Widerspruch
war, - eine fixe Idee - die ihn zu zerbrechen drohte.
Aber
das wurde mir erst klar, nachdem das Unglück passiert war.
Ich
haderte mit Gott und mit mir. Soweit hätte es nicht kommen dürfen.
Wäre ich doch häufiger nach Wolgast gefahren um ihn zu besuchen.
Hätte ich doch länger Urlaub genommen. Hätte ich doch mehr mit ihm
gesprochen. Denn ich verstand den Ansatz seiner niederdrückenden
Gedanken. Mein Verständnis für ihn riss ihn zeitweise heraus aus
dem Kreis seiner eher unbegründeten Selbstanklagen und Ängste. Es
tat ihm sichtlich gut, statt in der Stube sitzend und liegend zu
grübeln, mit mir spazieren zu gehen und über ihn zu reden.
Meine
Fehleinschätzung, er benötige mich nicht länger, hatte dieses
vermeidbare Ende mitverschuldet.
Beladen
mit dieser Last besuchte ich damals die Abendschule, um mich auf ein
Fachschulstudium vorzubereiten.
Es
war anstrengend, die Gedanken nicht immer wieder abschweifen zu
lassen.
Vor
mir saß ein junger Feldwebel. Er kam aus methodistischem Elternhaus.
“Das muss aber keiner wissen!” sagte er. Mich wunderte seine
Schamhaftigkeit. Mich ärgerte, dass der große, kluge und
gutaussehende junge Mann den Kopf einzog, wenn das Gespräch sich
diesem Punkt auch nur näherte. Da beschloss ich eines Tages, vor
allen Anwesenden unserer Vorbereitungsklasse, bei nächst passender
(oder nicht passender) Gelegenheit eine Diskussion zur Berechtigung
des Glaubens an Gott auszulösen.
Schneller
als ich dachte, wurde aus dem Funken ein Feuer. Unser Physiklehrer
sprang sofort auf meine provokatorisch gestellte Frage an, ob es
heute etwa ein Verbrechen sei, seine Kinder religiös zu erziehen.
“Selbstverständlich
ist das ein Verbrechen!”
Damit
hatte er sich schon verstrickt.
Die
Altgedienten der NVA, die in ihren Offiziersuniformen dasaßen,
wandten sich zunächst in scharfer Form gegen meine Ansichten. Aber
als ich sie daran erinnerte, dass Walter Ulbricht zum Meinungsstreit
aufgefordert habe, und da sie vermutlich nicht traurig darüber
waren, dass der Unterricht und damit die fällige Klassenarbeit
verzögert wurde, ging es gleich zwei Stunden lang hoch und heiß
her. Mein Anliegen war, herauszufinden, ob ich meiner eigenen Logik
trauen durfte. Und nebenher wünschte ich dem Methodisten
zuzusichern, dass sein Glaube, zumindest sein Glaubensansatz, doch in
Ordnung war. In Hauptmann Honolka fand ich meinen schärfsten
Kontrahenten. Er zielte genauer als die meisten meiner früheren
Gegenspieler. Ich verteidigte zunächst nur die Richtigkeit der
Morallehre Christi. Dann kamen wir zum Thema Schöpfergott.
Der
martialisch aussehende Honolka sagte, dass die Evolutionslehre schon
längst keinen Spielraum für Glauben an Gott mehr zulässt. Jede
Verteidigung von Glaubenspositionen sei chancenlos.
Unmittelbar
vorher hatte ich aber das Buch des katholischen Evolutionsforscher
Freiherr von Hüne “Phylogenie der niederen Tetrapoden” gelesen.
Mein sonst in der Kirche inaktiver Bruder Helmut hatte mich
dankenswerterweise darauf hingewiesen. Das Wissen um diese
Zusammenhänge half mir sehr, des Physiklehrers und Honolkas
Hauptargumente abzuschmettern.
Der
Hauptmann drehte sich zu mir um. Tiefe Falten kerbten sein Gesicht.
Er war sehr beeindruckt.
Mir
bot sich die Möglichkeit ihn freundschaftlich zu attackieren. Ich
warb mit aller Kraft um Akzeptanz und sprach eindringlich von der
allgemein vorherrschenden Leichtfertigkeit mit der gerade die
„fortschrittlichsten“ Leute über bewährte Prinzipien wie
Wahrhaftigkeit, Selbstbeherrschung und Güte, wie über ein Nichts
hinwegschritten.
Nach
und nach kamen wir zu mehr Ruhe. Dann stellte ich die Frage:
“Wer
sagt uns denn, dass wir im Weltall die einzigen Intelligenzen sind?
Meine Kirche lehrt, dass viele Planeten bis in die entferntesten
Galaxien bewohnt sind.”
Das
sei meine persönliche Interpretation, fuhr Honolka erneut auf.
“Nein!”-
Ich
konnte beweisen, dass es Teil unserer festgeschriebenen Religion war.
(K.P. Mose 1)
“Wir
glauben einfach, dass allem Sein ein Plan zugrunde liegt, und dessen
Ziel ist der ewige Fortschritt.”
Zufälligerweise
wurde damals in der Presse die Möglichkeit erwogen, ob einige der
Signale die Astrophysiker aus dem Weltraum empfangen hatten,
intelligenten Ursprungs sein könnten. Das half mir weiter.
Auf
diesem Umweg gelang es mir, ihren Blick darauf lenken, dass der
Atheismus nur eine erst etwa einhundertjährige Modeerscheinung war.
Das zeige sich in der Selbstverständlichkeit, mit der er vertreten
werde. Das zeige sich in der Leichtigkeit mit der er geglaubt wird.
Es kostet keinerlei Mühe, mit der Einstellung zu leben, dass es
keinen Gott gibt. Aber jeder weiß, dass die Entwicklung nach vorn
und nach oben Anstrengung und Kraft erfordert.
Mit
dem letzten Satz stimmten sie überein.
Wir
kamen einander immer näher, als sie sahen, dass wir gemeinsam
glaubten, es sei richtig sich zum Guten anzustrengen und zu erwarten,
dass solches Bemühen uns auf eine höhere Stufe auch der Freiheit
führen wird. Ich konnte weitere Argumente ins Feld führen die sie
nachdenklich stimmten.
Dieser
rasche Wechsel aus Widerspruch und Übereinstimmungen bewirkte , dass
uns die zwei Stunden wie Minuten vorkamen.
Physiklehrer
Lasse fasste zusammen: “Genossen, ich habe nicht geglaubt, dass es
eine so überzeugende Religion geben könnte. Ich kann nichts dagegen
sagen. Oder seid Ihr anderer Meinung?”
Immer
wieder in den folgenden Jahren und Jahrzehnten sprachen mich
ehemalige Klassenschüler an. Sie hätten nichts vergessen.
Ja,
es war vor allem der Geist, die Atmosphäre gewesen, die sie so tief
beeindruckt hatte.
Ausgerechnet
der Exkatholik Honolka, der nebenbei gesagt, mit seiner straff am
Leib sitzenden Kleidung eine gute Figur abgab, setzte sich nach dem
Gespräch neben mich. Er schlug mir mit der flachen Hand aufs Knie
und lachte. “Was Du gesagt hast, war eigentlich verrückt. Einfach
zu behaupten, dass Gott der Vater der Evolution ist! Das hat mir noch
keiner gesagt. Damit könnte ich leben – und wie Du Das gesagt
hast…” Sein noch junges, wen auch stark gefurchtes Gesicht blieb
mir für immer in Erinnerung.
Ich
ging an diesem späten Novemberabend nachdenklich nach Hause. Hatte
ich zuviel behauptet?
Beruhigend
kamen mir plötzlich die Worte aus dem Prolog des Johannesevangeliums
in den Sinn: “Im Anfang war das Wort (Jesus, der Gesetzgeber per
Wort), und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort. Dasselbe war
im Anfang bei Gott. Alle Dinge sind durch ihn gemacht und ohne
dasselbe ist nichts gemacht, was gemacht ist.” 1,1-3. Die Sterne
glitzerten. Ich hob den Kopf und hatte ein Gefühl großer
Dankbarkeit, obwohl ich im Grunde tief traurig war. Denn ich dachte
an meinen verstorbenen Vater. Dennoch spürte ich etwas Erhabenes und
hatte das sichere und tröstliche Gefühl, ich würde ihn wieder
sehen. Ich war ihm immer verbunden gewesen, ich liebte die Lehren die
er mir übermittelt hatte, denn sie machten mich frei und reich.
Nur
wenige Wochen später eröffnete mir Fritz Biederstaedt, einer meiner
Fischerkollegen, fünfundzwanzig Jahre älter als ich und ein
Erzfeind der Kommunisten, völlig unerwartet, er würde jetzt in die
SED eintreten. Er habe sich für die letzten zwanzig Jahre seines
Lebens noch viel vorgenommen. Strahlend optimistisch behauptete er,
noch könne er sein Leben genießen. Er verband das eine mit dem
anderen. Es sprudelte nur so heraus aus ihm. Rückhaltlos versicherte
er mir, seine innere Einstellung habe sich allerdings nicht geändert.
Nach wie vordem hasse er den Kommunismus, er verachte den ganzen
politischen Quatsch. Aber noch an diesem Abend werde er sich von der
Parteisekretärin Helene Göck umarmen lassen. Sein unbedingter Wille
war, das Falsche zu tun. Er schimpfte an diesem Morgen unentwegt auf
Ulbricht und dessen Politik der Kälte.
Ich
hielt ihm vor: “Fritz, wenn Du so denkst, dann kannst Du doch nicht
in seine Partei eintreten!”
“Doch,”
widersprach er und zwar auf Plattdeutsch: “Wenn Du wat warn wisst,
denn mößt Du dat!” Unglaublich verworfen war diese geknickte
Kurve, die er mir als Kreis beschrieb. Ich fragte mich und ihn, was
er, der Sechzigjährige denn noch werden möchte. Was konnte er mehr
sein als ein Mann, der bei seiner Ehre und bei der Wahrheit blieb?
Fritz fasste seine Sichel fester, mit der er die zähen Rohrhalme,
die auf den Neubrandenburger Torfwiesen in Massen herangewachsen
waren, fast einzeln abschnitt. Seine hochschäftigen Lederstiefel
patschten im schwarzen Sumpf. Er kam nahe zu mir heran. Seine braunen
Augen funkelten. Es war ein Ausdruck, als wollte er niedermähen, was
seinen Aufstieg behindern könnte. Ich werde nie vergessen, wie wir
uns inmitten dieser von uns selbst geschaffenen Wände aus
zehntausenden Rohrhalmen gegenüberstanden und die unmöglichsten
Gedanken gegeneinander stellten. Nur der blaue Himmel war unser
Zeuge. Dann sagte er plötzlich mit dem charmantesten Lächeln der
Welt: “So dumm bist Du doch nicht, mich nicht zu verstehen!"
Mich schauten diese großen Augen wieder friedlich an. Sie
vermittelten diese sonderbare Mischung von Wissen aus bitterer
Lebenserfahrung, Spott und immer noch jungenhafter Unbekümmertheit,
die ihm stets zu eigen gewesen war. Wir sahen es beide nicht, dieses
Gespenst, den Todesengel, der schon lauernd hinter ihm stand. Wir
ahnten gar nichts. 146 Lebenstage lagen noch vor ihm. Doch der kühne
Mann, der übermütig seine eigene Einsicht niedergerungen hatte,
hoffte noch etwas erlangen zu können, das seiner neuen Meinung nach,
ohne Parteimitgliedschaft scheinbar in unerreichbarer Ferne liegen
bleiben würde.
Ich
wusste, was er meinte, aber es war mir fremd.
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links im Arbeibeitsboot, etwa 1978. Kleine Maräne geräuchert gelten als besondere Delikatesse manchmal fingen wir sie tonnenweise, die wenigsten steckten in den Maschen |
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unsere kleine ´"Armada" vielleicht 200 unterschiedlichste Zuschauer fuhren in den vielen Jahren mit mir aufs herrliche Wasser des Tollensesees, darunter nicht wenige "Mormonen" |
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Stets befand ich mich in der beneidenswerten Situation meinen Sport berufsmäßig ausüben zu dürfen, ich betrachtete es immer als eine Segnung, mein Kopf war frei. |
Auch
an der Fischereiingenieurschule in Hubertushöhe, die ich dann einige
Jahre lang besuchte, bestätigten mir später einige Mitstudenten,
zumeist schon ältere Jahrgänge, sie wären der Partei beigetreten,
weil man nichts erreichen kann wenn man sich quer stellt.
Alle
Herzen, auch die der Genossen, fühlten mit den Tschechen als während
unserer Studienzeit der Prager Frühling kam. Alle freuten sich
darüber, dass Alexander Dubcek die Grenzen nach Österreich
durchlässiger machte.
Begeistert
verfolgten wir den Demokratisierungsprozess in der Tschechoslowakei.
Die bedeutenden Literaten des Landes und Bürgerrechtler hatten mit
Duldung der Regierung Dubcek ein Manifest zur Konstituierung eines
Gremiums verbreitet, das für die Respektierung der Menschenrechte in
der CSSR eintrat. Diese Charta 77 rückte immer mehr in unser
Blickfeld. Mit ungeteilter Zustimmung und Staunen verfolgten wir die
Entwicklung zur Verwirklichung von mehr Bürgerrechten, sozusagen vor
unserer Haustür. Unerwartet für nicht wenige wurde der Wunsch nach
mehr Freiheiten, plötzlich auch in der DDR immer lauter. War das ein
akzeptables Sozialismus-Modell, da sich da vor unseren Augen und
Ohren entpuppte? Kam nach dem endlos grauen Morgen endlich ein neuer
Tag herauf? Würden auch wir wieder reisen dürfen wohin wir wollten?
Dürften auch wir wieder frei und ohne Furcht vor unberechenbarer
Schikane sagen, was wir dachten?
Wer
die Hoffnung schon aufgegeben hatte, erhob wieder den Kopf.
Demgegenüber
stellte sich den empörten Machthabern des Kreml die Frage: Was tun?
Die aus ihrer Sicht einzig denkbare Antwort. lautete:
Mit
Gewalt einschreiten! Natürlich schraken nicht wenige linientreue
Mitdenker vor den daraus resultierenden Fragen zurück. Kann man es
nach Ungarn noch einmal wagen? Darf man, mitten in Europa, vor den
scharfen Augen der Weltöffentlichkeit, die Panzer gegen ein
friedliebendes Volk auffahren lassen? Was würden die eigenen
Genossen dazu sagen?
Bis
auf den heutigen Tag wissen wir nicht, wie viele Kommunisten eine
militärische Intervention wünschten. Sehr wenige, vermute ich. Ich
glaube, dass nur die “Arbeiterführer” in den Hauptstädten
Moskau, Berlin und Sofia Extremisten waren. Ihr Problem bestand
darin, einen Ansatzpunkt für ihren gewaltigen Hebel finden zu
müssen.
Ihr
Militär wird ihnen gehorchen, so wie die Jesuiten ihrem General,
auch wenn ihr Weiß unleugbares Schwarz ist.
Das
hatten sie ihren Offizieren und Mannschaften in unendlich vielen
Schulungen beigebracht nicht zu fragen wenn die Partei ruft.
Da
kam den Strategen die rettende Idee. Ein Hilferuf aus Prag musste
her!
Gedacht,
getan. Mit ihren eigenen Leuten initiierten sie diesen Schrei nach
internationaler "Unterstützung" gegen die
Konterrevolution. Knapp einhundert Arbeiter und Angestellte von
Fünftausend, - weniger als zwei Prozent der Beschäftigten der
SKODA-Werke, -ließen sich herbei, den vorbereiteten Aufruf zu
unterzeichnen. Es war nicht möglich, irgendwo im Lande mehr
Zustimmung zu erhalten. Doch das reichte ihnen aus. Zwei Prozent zu
gemeinsamem Tun Entschlossene holen allemal, wenn sie wollen, den
Teufel aus der Hölle und setzen ihn auf den Thron.
Mehr
Personen unterschrieben jenen Aufruf, den "Neues Deutschland"
anderntags veröffentlichte, nicht. Diese Menge reichte aus. Obwohl
das tschechoslowakische Parlament in Permanenz tagte, um Moskau und
der Welt zu signalisieren, dass die Regierung allezeit handlungsfähig
war, wurden die sowjetischen Luftlandedivisionen einschließlich
ihrer schweren Technik in die bereitgestellten Maschinen beordert.
Während die Prager Reformer weiterhin ihre Friedfertigkeit
beteuerten und ihre Gutwilligkeit unter Beweis stellten, setzten die
Aggressoren ihre Kampfeinheiten in Marsch und flogen zehntausende,
auf blinden Gehorsam dressierte Elitesoldaten ins Operationsgebiet
Prag. Vorneweg zwei fliegende Radarstationen die sich den Einlass
durch die Lüge verschafft hatten, sie hätten einen Motorschaden und
bitten auf dem Prager Flugplatz um Landeerlaubnis. Nun waren die
Aggressoren im Stande, den anfliegenden Tross ohne Hilfe des Towers
einweisen zu lassen. Ihr Ziel war die sofortige Entmachtung der
einzigen (reform)-kommunistischen Regierung der Welt, die wirklich
vom Willen des Volkes getragen wurde. Der tschechoslowakische
Rundfunk berichtete unter unserer aller banger Anteilnahme bis
zuletzt. Der Nachrichtensprecherin letzten Worte, die wir live
miterlebten, lauteten zu unserem Entsetzen: “Wir hören sie
kommen!”
Das
haben wir, die sich um die Erfüllung des Wunsches nach mehr Freiheit
sehnenden, den Kommunisten nie verziehen, dass sie so mit uns
umsprangen.
Mir
war immer unverständlich geblieben, dass es nach diesen Ereignissen
noch weitere Eintritte, von Leuten meiner Generation, in die SED gab.
Wahrscheinlich ist der Grund dafür ganz simpel. Wir neigen eher
dazu, das Bewusstsein von der Existenz des Bösen zu verdrängen, als
es überwinden zu wollen.
Manchmal
leben wir, als wenn wir Eintagsfliegen wären
1971,
nachdem wir einen in mehrfacher Hinsicht missglückten
5-Tage-Betriebsausflug nach Moskau unternommen hatten, sollte H.
Göcks ganzer über die Jahre angestauter Ärger und Zorn über mich
hereinbrechen. Die Unglückskette negativer Ereignisse begann mit der
Landung und der sich anschließenden Fahrt. Von Scheremetjewo 1
fuhren wir in einem Bus quer durch Moskau nach Ostankino in unser
Hotel. Wie in einem Spezialfilm erhielten wir Einblicke in eine
Unzahl Wohnungen und sahen so die Winzigkeit der unverhüllten, von
sehr schlichten Lampen erleuchten Stuben, die durchweg kleiner als
unsere waren. Ein Tisch, ein Wohnzimmerschrank, vier Stühle, ein
Fernsehgerät. Das war es: vierzehn, sechzehn Quadratmeter Fläche.
Diese
elenden Massenquartiere sollen der Gipfel der kommunistischen
Errungenschaften sein?
Selbstverständlich
verglich ich alles mit Nauvoo, der Stadt Josephs.
Der
ganze riesige Unterschied zwischen Kommunismus und Mormonismus lag
für mich auf der Hand.
Am
nächsten Tag sahen wir außerdem diese Behausungen in den
tempelartigen Hausriesen an der graubraunen Moskwa, in denen jeder
Einzelne in der Menschenmasse unweigerlich versinken musste. War dies
der ganze Ertrag von zwei Generationen Kampf und Blut und Tränen?
Bereits
am zweiten Tag unserer Anwesenheit erhielten wir die Information,
dass wir am nächsten Tag abreisen müssten. Moskau richte gerade
einen internationalen Ärztekongress aus und wir müssten doch
einsehen ... es fehlten Hotelbetten und Verpflegungskapazitäten.
Unglücklicherweise saß ich am Tag der erheblich vorverlegten
Rückreise während des Frühstücks neben einem Holländer, den ich
am Vortag kennen gelernt hatte. “Dann müssen sie eben streiken!”
sagte er in dem Augenblick, als einer meiner jüngeren Kollegen, mein
Neufeind, den ich gerade wegen unkluger Äußerungen erworben hatte,
an unserem Tisch vorüberging. Ich bemerkte, dass er es gehört
hatte. Denn er warf mir einen jener scharfen Blicke zu, die er
verteilte, wenn ihm eine Laus über die Leber gelaufen war. Er ging
sofort zu unserem selbsternannten Reiseleiter H. Göck und teilte ihm
mit, dass ich mit einem Westmenschen über einen Streik in der DDR
gesprochen hätte. Ich sah, dass sie nebeneinander standen und
miteinander tuschelten, während sie zu mir herüberschielten. H.
Göck ließ sich jedoch zunächst noch nichts anmerken, obwohl es
wahrscheinlich augenblicklich in ihm hochkochte. Dabei hatte er sich
so viel Positives von dieser Reise versprochen. Er hoffte, dass wir
und ich von seinem Moskau begeistert sein würden. Er fraß den Ärger
vorläufig in sich hinein. Ich musste ihm ja bald über den Weg
laufen, wenn wir erst wieder daheim angelangt waren,... Statt sich
also gleich über meine Verwegenheit aufzuregen, gab er bekannt, dass
wir noch im interessanten, in großer Höhe befindlichen Restaurant
des Fernsehens Ostankino die im Reiseprogramm vorgesehene Mahlzeit
einnehmen dürften. Im sausenden Fahrstuhl erreichten wir es und
saßen wirklich anerkennend staunend da, weil wir uns in dieser Zeit
mindestens einmal um die Achse des 500 m hohen Sendeturmes drehten.
Ein großes Kompliment an die Ingenieure! Anschließend ging es noch
schnell zum Roten Platz. Vorbei an einer kilometerlangen
Menschenschlange wurden wir bevorzugt zum Leninmausoleum geleitet und
eingelassen. Ich glaubte schon einigermaßen glimpflich davon
gekommen zu sein und bedauerte nur, dass sie Stalins balsamierten
Leichnam von hier weggeschafft und an der Kremlmauer beigesetzt
hatten. Den Generalissimus hätte ich gern gesehen. Aber dieser
Lenin, der dort lag, reichte mir dann. Wider besseres Wissen empfand
ich immer noch gewisse Bewunderung für die Leistung dieses genialen
Staatsmannes, dem es tatsächlich gelungen war, die Welt auf den Kopf
zu stellen. Aber als ich die zurechtgemachte Mumie in ihrem gläsernen
Sarkophag daliegen sah, war es aus mit meiner Restsympathie für
Wladimir Iljitsch Uljanow. Denn ich sah einen unbeugsamen asiatischen
Despoten. (Den die Deutschen, 1917, in einem verplombten Sonderwaggon
aus der Schweiz nach Russland schaffen ließen, weil sie sich von ihm
eine Vergrößerung des russischen Chaos zu Gunsten der entkräfteten
deutschen Ostfront versprachen.)
Mir
lag es völlig fern, einen Mann zu verunglimpfen, den Millionen wie
einen Gott verehrten, und hielt meine Zunge im Zaum. Doch ich wusste
etwas für mich. Soll er ruhen und mögen sie ihn lieben. Ich möchte
damit nie etwas zu tun haben. Für mich stand fest: Die Ideen aus
harten Köpfen der Diktatoren werden eine liebebedürftige Welt
niemals befriedigen können.
Um
dem Unheil zu begegnen, das sie in die Welt bringen würden, war
Joseph Smith von Gott berufen worden. Ich zitierte für mich und
Erika die Verse in Lehre und Bündnisse Abschnitt 1, Verse 16 und 17.
Kaum
wieder in Neubrandenburg angelangt, ließ der mehr denn je erzürnte
Mann Hermann Göck alle Genossenschaftler antreten. Wir gehorchten
und versammelten uns zum angesetzten Termin im “Kulturraum”. Im
langen Gesicht Göcks sah man die weißroten Flecke der Erregung.
Zunächst grummelte es nur verhalten aus seiner erregten Seelentiefe
hervor, indem er zum “Einschießen” zunächst einen anderen
beschimpfte, Hermann Witte, das Woldegker Original. Ein Mensch, der
selten ein Blatt vor den Mund nahm, der das Fischereihandwerk
übrigens in einem Mormonenhaushalt erlernt hatte und der mancherlei
Insiderwissen hatte, genug um mich gelegentlich zu verspotten. Ich
bemerkte natürlich, dass H. Göck eigentlich mich meinte, indem er
auf meinen Kollegen einschlug. Deshalb forderte ich ihn schließlich
auf, doch unverblümt zu sagen, was ihn wirklich bedrückt. Ich hatte
ein gutes Gewissen. Diese Ermutigung muss ihn noch mehr gereizt
haben. Es brach mit elementarer Gewalt aus ihm heraus. Der
Vulkankegel flog krachend weg. Hemmungslos schrie er mich an. Drei,
vier Minuten lang spuckte er glühende Lava: “Beleidigung der
Sowjetmenschen und Du willst streiken, Provokation, Arroganz ... Wenn
Du ... dann rausschmeißen aus der Genossenschaft, Diffamierung,
Boykotthetze ... Reiseverbot ... für ewige Zeiten ... nie wieder SU
... Verbrechen! Millionen haben ihr Leben verloren! Einsperren! ...
endlose Opfer ... verbrannte Erde und Du, Du ...” es machte wenig
Sinn, es sei denn, ich hätte in der Rüstkammer des Kreml zwischen
den Vitrinen, in denen wir den Zarenschatz bewundern konnten, eine
Bombe verstecken wollen, und wäre dabei ertappt worden. Mir war
nicht gerade wohl zumute, denn er fühlte sich verletzt. Jede
Kränkung, die ich ihm jemals zugefügt hatte, musste ihm auf recht
schmerzhafte Weise wieder ins Bewusstsein gedrungen sein.
Da
schrie ich zurück, ebenso laut wie er, als wären wir beide
schwerhörig und meine Kollegen dreihundert Meter weit weg. “Ich
kenne Deine unzuverlässigen Informanten!” Ich nannte meinen
Neufeind beim Namen, der aus Krankheitsgründen an diesem
Schicksalstag, zu meinem Glück, nicht anwesend war. Bebend vor
Erregung stieß ich aus, dass ich mir verbitte, mit mir in diesem Ton
zu reden. Ich nannte ihm auch den zweiten Namen, den eines bekannten
Neubrandenburger Mannes, des einzigen, demgegenüber ich mich nach
der Rückkehr wegen der mitleiderregenden Armut kritisch geäußert
hatte. In der wüsten Schimpfrede H. Göcks waren mir nämlich genau
die Wortelemente aufgefallen, die ich nur einmal und zwar diesem
Zweiten gegenüber zum Ausdruck gebracht hatte. Die Erwähnung der
Namen beider Männer, vor allem des Zweiten, verfehlte seine Wirkung
nicht, und sofort fasste ich nach und stellte richtig, was richtig zu
stellen war. “Ich habe nicht über einen Streik in der DDR
gesprochen, weil ... aber ich bin maßlos enttäuscht, wenn das, was
wir gesehen haben, das ganze Ergebnis von sechzig Jahren Kommunismus
ist. Mir tun all diese zahllosen durch willkürliche Eingriffe
zerstörten Familien leid, es tut mir weh, zu sehen, dass in Kriegs-
und Friedenszeiten Abermillionen für ein Nichts an Verbesserung ihr
Leben hingeben mussten. Eben weil ich dies in Bildern vor mir sehe,
vielleicht deutlicher als Du, - ob Du das glaubst oder nicht. Bei
allem, was wir heute wissen, frage ich mich und Dich : Wofür?
Dafür?”
Unsere
Männer hatten längst die Köpfe eingezogen.
“Ja,
der verfluchte Krieg!” hob er wieder an, irgendwie beruhigt
zunächst, doch ich drosch ihm dazwischen: “Der dreimal verfluchte
Krieg ist doch nicht schuld daran, dass in der Weltmetropole Moskau
die Menschen überwiegend beengt wohnen. Das ist geplant!” Es ging
hastig hin und her. Mal schlug er mich, mal ich ihn. Jedoch, als er
ebenso mattgekämpft wie ich aufgab, und nachdem er davon gegangen
war, schlugen mir die Männer auf die Schulter: dem hätte ich es
aber gegeben.
Äußerlich
erschien ich wahrscheinlich ruhig. Doch meine Knie zitterten, mein
Gemüt bebte nach. Ich hatte Angst. Denn die Macht und der größere
Zorn waren auf seiner Seite. Mir wäre ein Burgfriede viel lieber
gewesen, doch das konnte ich auf mir nicht sitzen lassen. Zu solchen
maßlosen Beleidigungen und Drohungen, ich wäre ein Feind der
einfachen Menschen, hätte er sich nicht hinreißen lassen dürfen.
Über diese Provokation hatte ich mich vergessen.
Die
Angst der Ungewissheit blieb aber eine Weile bei mir. Die Frage
stand, was er gegen mich unternehmen würde.
Wenige
Wochen später sah ich H. Göck zufällig wieder. Er ging gebeugt.
Ich sah schon von weitem, das etwas passiert sein musste. Er kam aus
Richtung des Krankenhauses in der Külzstraße. Ich wich ihm nicht
aus, ging auf ihn zu, sprach ihn an. Unter den Blättern und
hängenden Zweigen einer schon herbstlich gefärbten Birke blieben
wir stehen. Seine Frau läge im Koma. Die innere Erschütterung
zeichnete sein Gesicht. Er war gebrochen. Unerwartet muss ihn die
Erkenntnis getroffen haben, dass seiner Macht unübersehbare Grenzen
gesetzt sind. Er tat mir aufrichtig leid. Es war auch ihm, denke ich,
angenehm, dass wir es einander nicht länger nachtrugen.
Fünf
Männer im arbeitsfähigen Alter waren wir, Henry Burkhardt der
Missionspräsident, Gottlieb Richter, sein 2. Ratgeber und drei
Distriktpräsidenten, Lothar Ebisch, Walter Schiele und ich, - mehr
Nichtrentner durften nicht nach München fahren um an der 3.
Gebietsgeneralkonferenz der Kirche im Sommer 1973 teilzunehmen.
Wir
hörten Präsident H.B.Lee und den Tabernakelchor!
Es
war großartig. Es erinnerte mich an jene große Konferenz in Berlin
1938 mit Heber J. Grant. Da erklang damals eine jubelnde Fanfare von
der Nachbarloge unserer Tribüne. Unten saßen die Missionarinnen auf
dem Podium. An sie kann ich mich erinnern, weil einige von ihnen
schluchzend weinten. Als achtjähriger konnte ich damals noch nicht
verstehen warum man bei einem freudigen Ereignis Tränen vergießen
muss.
Um
Haaresbreite wäre ich in München nicht dabei gewesen.
Zehn
Stunden vor der Abfahrt mit dem letztmöglichen Zug wusste ich noch
nicht, ob die Regierung grünes Licht geben würde. Kurz vor
Mitternacht ruderte ich vom schwarzen See zum nächsten Telefon in
einer Gaststätte. So erfuhr ich gerade noch rechtzeitig, dass ich
reisen darf.
Bei
der Rückreise wurden wir kontrolliert. Die ostdeutsche Zöllnerin
fand mein kleines Liederheft, schlug es auf und las den Titel “Mehr
Heiligkeit gib mir”. Ihre Augen rollten. Sie blinzelte mich leicht
spöttisch fragend an. Ich zuckte mit den Achseln und dachte in ihr
angenehmes Gesicht hinein: nun ja, wir bemühen uns!
Sie
fragte wortlos zurück: und worüber haben sie Sechs sich noch eben,
kurz bevor ich eintrat, so köstlich amüsiert?
“Wir
hatten Spaß miteinander!”
Lothar
hatte einen politischen Witz erzählt…Das musste sie nicht wissen.
Hätten wir erwidern sollen, wir freuen uns wieder in den Käfig zu
kommen?Besonders
in den Tagen des Sommers 1974 als wir unseren Betriebsausflug ins
Land der Magyaren unternahmen, erinnerte ich mich erneut der
traurigen Vergangenheit dieses Landes. Das tragische Schicksal des
damaligen Ministerpräsidenten Imre Nagy und die Bilder von seiner
von russischen Panzern überrollten Hauptstadt Budapest bewegten uns
immer noch. Diese fernen Ereignisse gehörten nicht nur für mich
zum Schlimmsten was die Kommunisten jemals verbrochen hatten.
Achtzehn
Jahre lagen die Ereignisse zurück und sie waren, wie es schien,
bereits in Vergessenheit geraten.
Irgendwann,
an diesem heißen Spätsommertag 1974, langten wir Touristen am
Budapester Platz der Nationen an. Dort hielt uns unsere
Dolmetscherin, - eine temperamentvolle, charmante und auffallend gut
gekleidete Fünfzigerin, - in recht geschwindem Deutsch einen
Kurzvortrag zu den zwölf deutsch-österreichisch-ungarischen Kaisern
und Herrschern, deren Statuen dort aufgestellt worden waren. Ehrlich
gesagt, sie hatte den Vortrag heruntergeleiert. Ich stellte eine
Nachfrage, weil mich der Kaiser Matthias interessierte, hätte er
doch die politische Weichenstellung, die dann bedauerlicherweise zum
30-jährigen Krieg führte, auch anders vornehmen können. Der ganze
Jammer wäre vermeidbar gewesen.
Wütend
fuhr mich die Dame an, die sich selber als Dolly vorgestellt hatte:
“Passen Sie nächstes mal gefälligst auf! Ich habe ihnen die Frage
längst beantwortet!” Sich auf den Hochhacken ihrer schicken Schuhe
abdrehend, stürzte sie auf unseren himmelblauen Bus zu. Ich war
schneller. Ihre Mimik warnte mich, sie anzureden. Ihr war ja
anzusehen, was sie dachte. Es war unter ihrer Würde, einfachen
Fischern, statt Hochschullehrern oder Künstlern zur Verfügung
stehen zu müssen. Nicht der nichtvorhandene Geruch, der unserem
Berufsstand anhaften sollte, sondern eher ihre Vorstellung davon war
es, was sie möglicherweise als so unangenehm empfand. Glaubte sie im
Ernst, dass sie mich durch ihre rigorose Unhöflichkeit abschrecken
könnte?
“Da
fehlt aber der dreizehnten Nationalheld!” sagte ich. Sie stutzte.
Ihr Atem stockte. Sie zog die Lider hoch. “Und der wäre?”
“Imre
Nagy!” erwiderte ich.
“Um
Gottes willen!” Ihr Gesichtsausdruck änderte sich. Sie griff
haltsuchend nach meinem Ärmel, schaute sich um und sah mir
angsterfüllt und zugleich mit einem schönen Aufleuchten ihrer
grauen Augen erstaunt an. Zum Glück befand sich niemand in der Nähe,
der das gehört haben konnte.
“Die
Redaktion!” flüsterte sie. Die Redaktion, das war ihre
Umschreibung für Leute des ungarischen Staatssicherheitsdienstes
oder solcher die ihm zuarbeiteten. Wenn das einer der Redakteure
gehört hätte! Kaum war ich in den Bus eingestiegen und hatte neben
Erika Platz genommen, kam sie zu uns. “Darf ich mich nach dem
Befinden Ihrer Gattin erkundigen? Sitzen Sie bequem? Kann ich etwas
für Sie tun?” In mir lachte es vergnügt. Im Traum wäre ihr nicht
eingefallen, einen einfachen Fischer und seine Fischerin so
zuvorkommend zu behandeln. Aber so unverhofft einem deutschen
Gesinnungsgenossen zu begegnen, nun da doch alles längst Geschichte
war, zu einer Zeit, da kaum noch die nachgeborenen Ungarn daran
zurückdachten, das hatte sie überwältigt.
Ich
verzog, hoffe ich, keine Miene. “Vielen Dank, alles OK.”
erwiderte ich und tat viel bescheidener, als ich in Wahrheit war, und
nickte ihr zu. Innerlich jubelte ich: Na also, hatten wir doch
dieselbe Wellenlänge.
Am
Programm des Abschiedsabends nahm ich allein und nur für eine Stunde
teil, weil es Erika bei der unglaublichen Hitze schlecht ging. Als
unsere Dolmetscherin Frau Dolly bemerkte, dass ich aufbrach, winkte
sie ein Blumenmädchen heran, kaufte schneller als ich begreifen
konnte einen Rosenstrauß und gab ihn mir mit besten
Genesungswünschen für meine liebe Ehefrau mit auf den Weg.
Nein,
wir hatten Imre Nagy nicht vergessen, auch nicht Alexander Dubcek,
weder die Niederschlagung des Budapester noch des Prager Aufstandes,
nichts von alledem, was die Machthaber so gern vergessen machen
möchten.
Für
mich war es der kleine Mann, der die “Königreiche erzittern machte
und der das Haus seiner Gefangenen nie öffnete”. Er stand hinter
diesem Modell und Schicksal, dass er allen Nationen zugedacht hatte.
Jedenfalls
gab es sie, diese schwarze Allmacht, die uns bis in die Nachtträume
hinein begleitete und verfolgte. Es gab diese furchtbaren Pläne in
den Schubladen der Moskauer Militärs, den Gegner auf seinem eigenen
Territorium zu schlagen.
(Wie
sich nach der Wende zeigen sollte, setzten die Russen auf den durch
Westeuropa führenden Transit-LKW-Routen häufig Panzerfahrer ein,
damit die sich schon, en passant, ein Bild vom künftigen
Operationsgebiet verschaffen konnten.)
Im
Sommer 78 wurde ich von meinem Zweigpräsidenten aufgefordert, Gustav
Briel zu besuchen. Er hatte sich als alter Mann der Kirche
angeschlossen und wohnte nun wieder, nach fünfzigjähriger
Abwesenheit, in Penzlin. Er war aus Westdeutschland in seine
Heimatstadt zurückgekehrt, hatte hier noch einmal geheiratet.
Wir
sahen, dass Bruder Briel seiner siebzigjährigen Frau und erst recht
seiner steinalten Schwiegermutter nicht gewachsen war. Die Uralte saß
im Ohrensessel und jedes Mal, wenn ich den Mund aufmachte erwiderte
sie: “Wissen Sie nicht, dass es ungehörig ist, das Wort zu nehmen
bevor die Dame des Hauses es Ihnen erteilt?”
Wir
wurden extrem scharf abgewiesen.
Die
wortgewandte Uralte starb.
Danach
unternahm ich zwei oder drei weitere Versuche um mit Briels ins
Gespräch zu kommen. Doch wie zuvor, wies mich Frau Briel stets brüsk
zurück. “Da ist die Tür!”
Die
Mormonen seien eine furchtbare Sekte. Sie wünsche keine Diskussion.
Bruder
Briel neigte sich bekümmert, geleitete mich die Treppe hinunter und
bat: “Bitte, kommen Sie nie wieder!"
Aber
selten zuvor hatte mich eine Aufgabe mehr gereizt. Eines Tages kam
ich von einer Fischereitagung aus Waren, musste also auf dem Weg nach
Neubrandenburg durch Penzlin fahren. Ungefähr zehn Kilometer vor dem
Ortsschild habe ich - ich denke die Art war ziemlich ungebührlich -
im Auto laut gerufen: “Lieber Vater im Himmel. Ich bitte dich und
bestehe darauf, mir zu helfen, eine Tür in Penzlin zu öffnen.”
Jedes Detail erwähnte ich, Namen und Vornamen meiner Seelenfeindin,
die Straße, die Hausnummer, die Umstände und konzentrierte meine
ganze Gedankenkraft auf dieses Ziel. Vor dem Wohnhaus, in der
Bahnhofstraße 19, angekommen, stieg ich aus meinem Trabant und nahm
die Stufen, zwar hoffnungsvoll, doch nicht ganz so hastig wie sonst.
Ich klopfte. Sie öffnete. Ihr Gesicht sprach Bände. Durch den
kleinen Spalt sah ich ein Bild in ihrem Zimmer. Sie folgte meiner
Blickrichtung. Sie schaute mich an. Sie hätte ja fragen können:
“Warum stecken Sie Ihre dämliche Nase immer in fremde
Angelegenheiten?” Aber zu meiner Verwunderung hörte ich: “Das
ist mein erster Mann. Kommen Sie herein!”
In
den nächsten zwei Stunden erfuhr ich alles, was in dieser Sache für
mich zu wissen wichtig war. Der Mann mit der Pickelhaube, den sie als
junges Mädchen geliebt hatte, war eine Woche nach der Eheschließung
im letzten Jahr des Ersten Weltkrieges an der Westfront gefallen. Auf
den zweiten Jugendfreund, Gustav Briel, hatte sie fünfzig Jahre
gewartet. Kaum erneut verheiratet, bemerkte sie, dass sie ihn mit
einer furchtbaren Organisation teilen sollte, deren Anliegen war, ihn
eines Tages ganz von ihrer Seite zu reißen. Lehre und Struktur der
Sekte seien dementsprechend beschaffen. Alle die sich den Mormonen
anvertrauten, würden total vereinnahmt.
Ich
konnte nicht anders, als manchmal verstehend und einmal sogar
zustimmend zu nicken, was sie wiederum verwunderte.
Das
sei zwar so. Dieses Ganz-oder-gar-nicht Prinzip wirkte. Nur, es
bedeutete nicht, dass sie in seinem Leben dadurch einen geringeren
Platz einnehmen würde. Denn die wichtigste Aufgabe jedes Mitglieds
meiner Kirche war und ist treu zu seinem Ehepartner zu stehen,
gleichgültig ob der die Glaubensansichten teilt oder nicht.
Im
Wesentlichen irrte sie sich natürlich. Aber wer weiß, wessen mehr
oder weniger tendenziöse Bücher sie über Mormonen gelesen hatte?
Aus ihrer Perspektive gesehen, stellte sich die meines Wissens beste
Philosophie der Weltgeschichte als Ungeheuerlichkeit dar.
Warum
weigerte ihr Mann sich ihr alles über die Zeremonien im
Mormonentempel zu erzählen? Warum trug er Unterkleidung mit Zeichen?
Was verschwieg er ihr?
Um
mich korrekt zu verhalten musste ich weit ausholen…
Als
ich heimfuhr, war mir klar, dass ich nicht nur ihr Ohr sondern ein
bisschen die Zuneigung einer nicht unbedeutenden Frau gefunden hatte.
Sie war zu Beginn der dreißiger Jahre Lyzeumsdirektorin gewesen und
verfügte über eine wunderbare Beredsamkeit. Ich hatte ihr
versprechen müssen, wiederzukommen.
Von
da an besuchte ich sie und ihren Mann monatlich mindestens einmal.
Immer wurden es Vier-, Fünfstundenrunden. (Meine Söhne als meine
Heimlehrerpartner erledigten in dieser Zeit jeweils ihre Hausaufgaben
oder Korrespondenz mit ihren Freundinnen.)
Jahrelang
ging es gut, immer besser.
Eines
Tages erklärte sich mich für ihren Freund.
Ich
war, ehrlich gesagt, stolz solche Freundin zu haben.
Denn
die eine Szene stand mir so lebhaft vor Augen, wie sie im Sommer
1945, damals noch als Frau und Parteigenossin Pfaffenberg vor der
Warener Entnazifizierungskommission und als Nummer
einhundertundsechsundvierzig auftrat.
“Na,
Frau Pfaffenberg, Sie haben also auch der Nazipartei beitreten
müssen!”
“Ich
bitte mir aus, nicht in diesem Ton mit mir zu reden. Ich war eine
überzeugte Nationalsozialistin! Ich, Martha Pfaffenberg habe
gewusst, was ich tat. Der Führer war mein Ideal. War, meine Herren
habe ich gesagt! Das merken sie sich bitte!” Das muss sie recht
laut und mit dem ganzen Nachdruck ihrer starken Persönlichkeit
gesagt haben.
Alle
schläfrig vor sich hin dösenden Mitglieder der Kommission seien
plötzlich hochgeschreckt und hätten sie mit geweiteten Augen
angestarrt.
“Jawohl,
ich war Hitlers treue Parteigängerin solange, bis er gegen die Juden
vorging. Ich war sehr wohl für die Verweisung bestimmter Juden in
ihre Grenzen, aber niemals für ihre Verfolgung. Als ich das sah,
habe ich dem Führer mein Parteibuch vor die Füße geschmissen.”
Die
sich vor den untersuchenden Herren aufreckende Frau muss ihnen
Hochachtung abgenötigt haben, um so mehr, da sie so häufig auf
Waschlappen stießen, die jammervoll beklagten, sie hätten keine
andere Wahl gehabt und seien wider Willen der Hitlerpartei
beigetreten. Der Vorsitzende allerdings ließ sich wenig
beeindrucken.
“Ja,
und? Man weiß, dass Sie bis zuletzt Mitglied der NSDAP waren.”
“Meine
Herren, ich schulde ihnen gar nichts. Aber wenn sie wie ich einen
gefährdeten Vater gehabt hätten...”
Der
Gauleiter Pommerns Swede-Coburg, hatte ihren 1938 erfolgten
Parteiaustritt nicht anerkannt und gedroht, man könne sich dann an
ihren Vater halten. Eine Lyzeumsdirektorin durfte die Partei nicht
verlassen. Diese Androhung von Sippenhaftung brach ihren Mut. Aber
sie habe sich seit 1938 als Nichtmitglied betrachtet, daran lasse sie
nicht rütteln, gleichgültig ob die Fakten für oder gegen sie
sprächen.
Mir
erzählte sie, wie sie ihren Glauben an Gott in den Hitlerjahren
verlor. Was sie bewegte, war nicht so sehr das Unheil an sich, das
Gott zuließ und das schließlich nur feige Menschen einander zufügt
hatten, sondern es war die Zänkerei unter den beiden
Ortsgeistlichen. Wann immer sie selbst als dritte Partei im selben
Wohnhaus Zeuge der gehässigen Auseinandersetzungen unter Theologen
wurde, verlor sie Glaubenssubstanz. Bis nur noch ein Rest von
Religion in ihr übrig geblieben sei. Wörtlich fügte sie hinzu:
“Heute glaube ich nur noch zehn Prozent von dem, was mit
traditionellem christlichem Denken zu tun hat.”
Für
mich schrieb und sang sie. Sie hatte an den Mormonen fast nichts mehr
auszusetzen.
Bis
ihr Ehemann, - nicht ich - einen Schritt weiter ging, als sie
nachzugeben bereit gewesen war. (Sie vergaß niemals irgend etwas,
das für sie von Belang war.)
In
seiner Naivität hatte er seiner Frau begeistert erzählt wie gut es
ihm getan hatte wieder eine Versammlung unserer Kirche besucht zu
haben. Er beichtete ihr, dass er an jedem Tag in der Vergangenheit
innerlich auf der Seite seiner Kirche gestanden hätte, auch damals
als sie es ihm untersagte.
Das
verkraftete sie nicht. Sie fühlte sich überfahren. Die Erregung
über die Entdeckung, von mir überlistet worden zu sein, raubte ihr
den Schlaf. Sie beorderte mich nach Penzlin.
Unser mühevoll gemeinsam errichtetes
Haus der Übereinstimmung riss sie mutwillig ein, indem sie ihrem
Mann und mir verbot noch irgendeinen Satz zu wechseln. Sie verbot mir
endgültig ihr Haus zu betreten.
Zum
ersten und letzten Mal seit Beginn der Jahre unserer Freundschaft
erwies sie sich wieder vom Scheitel bis zur Sohle als die unflexible
alte Oberlehrerin die sie stets gewesen war.
Dabei
hatte meine Seelenfreundin Martha Briel immer gezählt wie viele
Menschen zu ihrer Beerdigung kommen würden. Sie war damit nie weit
gekommen, wie sie mir schon früher anvertraut hatte. Ihr harter,
schnurgerader Charakter hatte sämtliche Menschen mit ihren scheinbar
windschiefen Ansichten längst für immer beiseite gestoßen. Sogar
ihr Bruder mied ihren Umgang.
Zu
erneutem Betteln fehlte mir die Lust.
Zu
den schönsten Entdeckungen, die ich je machte, gehört die
Sixtinische Madonna. Ausgerechnet Alpatow, ein sowjetischer
Kunsthistoriker, bestätigte was ich jedes Mal fühlte wenn ich in
Dresden vor diesem Gemälde stand und das war nicht selten der Fall
denn mindesten vierzehn Jahre lang fuhr ich wenigstens sechsmal im
Jahr nach Dresden zu Beratungen mit der Missionspräsidentschaft oder
zu Konferenzen. In seinem Buch: “Die Dresdener Galerie” schrieb
Alpatow wörtlich : “Einige Bilder der Dresdener Galerie, von
reiner Inspiration geprägte und vollendet ausgeführte Werke, dürfen
in vollem Umfang zum Höchsten der Kunst, zum Erhabenen, gerechnet
werden. Dazu gehört vor allem die “Sixtinische Madonna.”
|
Bild Wikipedia "Schaut euch die Köpfe im Hintergrund an, das seid Ihr!" |
Man
müsse sie mit eigenen Augen gesehen haben, sagte schon Gogol. Im
vorigen Jahrhundert hielt man das Gemälde für das sehenswerteste
Bild der Dresdener Galerie, und manche Besucher kamen nur
seinetwegen. Alpatow fährt fort: “Seitdem hat sich der allgemeine
Geschmack stark verändert, man neigt eher zu einer Geringschätzung
des Werkes. Es erfordert eine gewisse Anstrengung vom modernen
Menschen, um seinen eigentlichen Wert erfahren zu können.”
Das
war mir klar, der allgemeine Geschmack, oder anders gesagt, die
grundsätzliche Denkweise hat sich seither wirklich sehr verändert.
Nicht mehr die Kraft hinter den Dingen, sondern die Oberflächen sind
wichtig geworden. Dennoch ist auch das tiefer Liegende immer noch da
und auffindbar.
Mir
nahm es den Atem, den Ausdruck des Kindergesichtes zu sehen. Wie ist
das möglich, fragte ich mich, dass einige Gramm Farben, von einem
Künstler auf ein Stück Leinwand übertragen, solch tiefen Eindruck
in mir hinterließen?
Wie
konnte es sein, dass es mich mit Glück erfüllte? Immerhin sind es
insgesamt nur ein paar Quadratdezimeter Ölfarbe und diese Augen nur
ein bisschen Umbra.
Zugleich
aber wusste ich, dass Raffaels Gemälde allen Inhalt des uralten,
ursprünglichen Evangeliums Jesu Christi wiedergibt. Es sind nicht
nur die zornigernsten Augen eines besonderen Kindes, wie
bewundernswert auch die Kunst solcher Darstellung an sich schon sein
mag, sondern die Dramatik dieses Augenblickes, den derjenige wieder
erkennt, in dem unerwartet etwas Vergessenes heraufsteigt.
Milliarden, die bereits über die Erde gegangen sind, und weitere
Milliarden, die erst noch aufgerufen werden, um ihren Platz in einem
der für sie bereiteten Körper einzunehmen, erleben diesen im
Raffaelbild dargestellten entscheidenden Augenblick und Kreuzpunkt in
der Weltgeschichte aus ihrer Sphäre heraus. Raffael zeigt dieses
uferlose Meer von Geistwesen, die zuschauen. Kopf an Kopf. Dicht
aneinander gedrängt erleben sie - wir sind es!- den Beginn des
wichtigsten Lebenslaufes. Raffael zeigt Jesus, und er zeigt uns. Wir
schauen zu. Wir sind es, die wissen, dass er uns aus dem Loch
herausholen wird in das wir stürzen werden. Er kann uns von der
Krankheit heilen, die wir uns wünschen. Mit brennender Neugierde
konnten wir kaum den interessantesten Teil unseres ewigen Seins
erwarten: die Selbständigkeit. Wie Kindern erging es uns, die alt
genug geworden sind, um eine eigene Familie zu gründen, wie die
Fasterwachsenen, die den allzu zähen Zeitfluss kaum mehr ruhig und
mit Geduld ertragen konnten. Wir drängten fort aus einem
unerträglich schönen Zuhause, hinaus in die Welt der unendlichen
Möglichkeiten, in der wir uns selbst verwirklichen wollten. Wir
“hatten es satt uns nur der Gottesschau” hinzugeben.
Nun
da wir, aus weisem Grund, im großen Vergessen leben, vermag uns die
Botschaft Raffaels sehr viel weiter zu helfen. Sie besagt: Ihr seid
nicht nur von dieser Welt!
Diese
Botschaft ist der andere Teil der Software, ohne den der Mensch als
fehlprogrammiert erscheint.
Aus
der Präexistenz trägt die schöne Maria Jesus durch den Vorhang von
der unsichtbaren in die sichtbare Welt.
Von
daher rührt die Tiefe des Eindruckes. Bereits das Kind Jesus scheint
um das Vertrauen und den Glauben - und den Unglauben - vieler
Milliarden zu wissen. Von daher wahrscheinlich auch sein unkindlicher
Zorn darüber, dass wir es ihm oft so schwer machen. Wir werden eben
nicht tun, was er uns zu tun rät, und ihm schließlich die Schuld an
unserem Elend zuweisen.
Die
beglückende Inspiration all das wahrzunehmen bedeutete mir viel,
ohne sie wäre jedes Mosaiksteinchen meiner Erkenntnis farblos
geblieben.
Mir
wurde klar, dass Menschen gewisse Gründe dafür haben, nicht denken
zu wollen, dass wir Doppelwesen sind. Aber was änderte das an der
Tatsache, dass wir ein Dasein hatten, bevor wir geboren wurden?
Schmälerte der Zweifel daran die Größe der visionären Erkenntnis
Raffaels?
Auch
Jesaja spricht davon: “Denn uns ist ein Kind geboren, ein Sohn ist
uns gegeben, und die Herrschaft ist auf seiner Schulter und er heißt
Wunder, Rat, Kraft, Held, Ewig-Vater, Friedefürst”
Nephi,
der bekannteste Chronist des Buches Mormon muss ca. 600 v.Chr.
dasselbe Bild, deutlich wie Raffael, ebenfalls in einer Vision
gesehen haben: “... ich redete mit ihm, wie eben ein Mensch redet;
denn ich sah, dass er menschliche Gestalt hatte. Und doch wusste ich,
dass es der Geist des Herrn war, und er sprach mit mir wie ein Mensch
mit einem anderen ... und er sprach zu mir: Schau! Und ich schaute,
um ihn zu betrachten, aber ich sah ihn nicht; denn er hatte sich aus
meiner Gegenwart entfernt ... und ich sah die große Stadt Jerusalem
... ich erblickte die Stadt Nazareth und in der Stadt Nazareth
erblickte ich eine Jungfrau, die war überaus schön und weiß ...
ich sah den Himmel offen und ein Engel kam herab und trat vor mich
hin und fragte, Nephi was siehst du? Und ich sprach zu ihm: eine
Jungfrau, überaus schön und anmutig, mehr als andere Jungfrauen.
Und er sprach zu mir: Kennst du die Herablassung Gottes? Und ich
sprach zu ihm: ich weiß, dass er seine Kinder liebt; aber die
Bedeutung von alledem weiß ich nicht. Und er sprach zu mir: Siehe
die Jungfrau, die du siehst, ist die Mutter des Sohnes Gottes nach
der Weise des Fleisches ... und ich schaute und sah wieder die
Jungfrau, und sie trug auf den Armen ein Kind." (1. Nephi 11,
11-20)
Alpatow
hat Recht, es erfordert eine gewisse Anstrengung vom modernen
Menschen, das Bild verstehen zu können. Denn das
Nichtverstehenkönnen solcher Visionen führt zur Geringschätzung.
Ich
wusste, dass ich nur fleißig suchen musste, um noch mehr zu finden.
Denn ich hatte den berühmten Ariadnefaden. Den hatte mir Joseph
Smith gegeben und er hatte ihn durch Offenbarung empfangen.
Nie
hat Joseph Smith gesagt, er hätte das Mittel, das aus dem Labyrinth
führt, selbst gemacht. Wenn er das behauptet hätte, wäre er ein
angesehener Mann geworden. Zu sagen, es sei ihm von Gott geoffenbart
worden, sollte ihm das Genick brechen.
So
sind wir nun einmal, das leichter Verständliche ziehen wir allemal
vor.
1982
erlaubte mir die DDR-Regierung, die Einladung meiner Kirche
anzunehmen um an der 152.Generalkonferenz in Utah teilzunehmen und
drei Wochen dort bleiben zu dürfen. Ich trug nun schon seit fast
achtzehn Jahren für die wenigen hundert Mormonen in Mecklenburg
gewisse Verantwortung.
Der
wiederum für mich zuständige Abschnittsbevollmächtigte der
Volkspolizei kam in meinen Betrieb und stellte, wie ich später
erfuhr, noch Nachfragen an den Vorsitzenden der
Fischereigenossenschaft Reinhardt Lüdtke, dessen Stellvertreter ich
seit langem war. Das konnte ich selbst nicht glauben, dass sie mich
und meine Frau nach Amerika reisen lassen würden. Es stellte sich
denn auch zum Schluss heraus, dass Erika leider nicht mitfliegen
durfte. Ihr Flugticket war bereits bezahlt, die Hotelplätze für die
Konferenztage bestellt. Nichts da. Die Ehefrau blieb zurück, als
Faustpfand. Dabei wären wir zur Not zu Fuß über die Behringstraße
zu unseren Kindern zurückgekommen.
Noch
als ich bereits in der auf dem Schönefelder Flugplatz stehenden KML
Maschine saß, dachte ich, es könnte immer noch ein Aufruf kommen:
'Herr Skibbe, bitte nochmals zur Passkontrolle. Bedauerlicherweise
ist uns ein Versehen unterlaufen. Sie müssen noch etwas klären.'
Aber dieser Aufruf kam nicht, unglaublicherweise rollte das Flugzeug
mit mir zum Startplatz.
Wir
flogen fast über Neubrandenburg hinweg. Da bei KML Maschinen die Tür
zum Cockpit offen steht, versuchte ich einen Blick auf die Armaturen
zu werfen. Der Kopilot lud mich ein, näher zu kommen und erklärte
mir geduldig, was ich zu wissen wünschte. In Amsterdam hatten wir
Zwischenaufenthalt. Schon das war überwältigend für mich. (Ebenso
die Summe von zweihundert Mark für ein Bett im Hiltonhotel des
Amsterdamer Flughafens.)
Zum
Glück musste ich die nicht zahlen. Ich bekam allerdings vor der
Weiterreise von meinem Missionspräsidenten Henry Burkhardt
einhundert Dollar ausgehändigt. Mein Taschengeld! Von wegen. Ich
schwor mir, es unangetastet in die DDR zurück zu bringen.
Mineralwasser für vier Westmark? Lieber trank ich klares
Leitungswasser.
Nachdem
ich meine Füße bewusst auf amerikanischen Boden setzte, lief ich
zwei Stunden lang neugierig auf die Gerüche der neuen Welt im
Flughafenbereich Chicagos umher. Schrieb dann - ein echt naiver DDR
Bürger- in mein Reisetagebuch: “Amerika ist faszinierend!
Vielleicht aber nur, weil alles neu ist. Doch schon allein dieser
Umgang miteinander! Das Verhältnis des Verkäufers zum Kunden. Er
wird angelächelt, der kleine Mann, obwohl er nur kritisch prüft,
statt zu kaufen. Da wird in den noch nicht gekauften Magazinen ganz
ungeniert geblättert, alles wird angefasst, Bonbons werden auf
Eignung und Konsistenz hin befummelt und zum Schluss bleibt der ganze
Kram liegen, aber die Damen und Herren Ladenbetreiber verlieren weder
Hoffnung noch die Geduld...”
Als
wir am späten Nachmittag der Sonne hinterher fliegen, etwas
langsamer als die Erde sich dreht und es ganz allmählich zu dunkeln
anfängt, sehe ich aus elf Kilometern Höhe die unendlichen Weiten
Nebraskas unter mir dahingleiten. Ob das da unten der Platte-River
ist, an dem die Mormonenpioniere vor fast anderthalb Jahrhunderten
mit ihren Planwagen ihrem unbekannten Ziel, das irgendwo in den
Felsengebirgen liegen sollte, entgegen gezogen sind? Über
sechzigtausend Mormonen haben bis zur Fertigstellung der Eisenbahn
die Prärien zu Fuß überquert. Die ersten 1846, nachdem rabiate
Andersdenkende die ersten vierzehntausend zwangen, ihre eigenhändig
errichtete Stadt Nauvoo in Illinois zu verlassen. Mitten im Winter.
Was
für ein Stoff für kommende Generationen von Dokumentaristen und
Filmemachern.
Zumeist
zogen sie in Gruppen bis zu zweihundert oder dreihundert nach Westen.
Ich denke an die Martin- und die Williegruppe, die 1856 mit
selbstgebauten Handkarren die Strecke von Iowa nach Salt Lake City zu
überwinden hatten. Mein Flugzeug wird dafür zweieinhalb Stunden
benötigen, und während ich eine Mahlzeit zu mir nehme, überqueren
wir ebenso leicht wie ahnungslos ein Gebiet, in dem sich, vor
einhundertundsechsundzwanzig Jahren die erschütterndsten Tragödien
abgespielt haben. Denn zweihundertzweiundzwanzig Mitglieder der
Kirche, die in jenem Jahr auf dem letzten Teil der Strecke von
Schneestürmen und Wagenzusammenbrüchen heimgesucht wurden, sollten
nie ankommen.
Einige
meiner Freunde, die im Verlaufe der Zeit ausgewandert waren, holten
mich vom Flugplatz in Salt Lake City ab, darunter waren Edith und
Walter Rohloff sowie Siegfried, ebenfalls ein Exneubrandenburger, der
nun erfolgreich ein Delikatesswarengeschäft betrieb.
“Von
den drei Wochen hast Du fast vierzehn Tage für Dich. Was wünschst
Du zu sehen? Wollen wir nach Kalifornien fliegen zum Meeresangeln?”
Ich wünschte natürlich vor allem zur kircheneigenen Brigham -Young
- Universität nach Provo zu gehen, um mit Professor Hugh Nibley zu
reden, einem deutschsprechenden Altsprachler, von dem ich eine
Anzahl, allerdings nur kurze Aufsätze, gelesen hatte. Mich
interessierten seine Ansichten zu einer Reihe spezieller Fragen. Über
den Norddeutschen Rundfunk war wieder einmal eine negative
Information über uns verbreitet worden. Drei Mormonenstudenten
hätten in ihren Studien herausgefunden, dass die in "Köstliche
Perle" veröffentlichten Faksimiles aus dem ägyptischen
Totenbuch von Joseph Smith aus dessen genereller Unfähigkeit heraus
falsch interpretiert worden seien. Der siebzigjährige Nibley, ein
nicht sehr großer, fast dürrer Mann, sprang behende auf, als ich
ihm die Angelegenheit vorstellte. In einem dreihundertseitigen Buch
hätte er zu dieser Thematik grundsätzlich Stellung genommen.
Sämtliche verfügbaren Belege hätte er darin der Öffentlichkeit
unterbreitet. Es sei nicht wahr. Nicht irgendwelche drei Studenten
hätten gegen die offizielle Version angeschrieben, sondern ein
Hochschullehrer für Anglistik, der wegen Ehebruch in einem
Ausschlussverfahren der Kirche steckte und sich so abzureagieren
versuchte. Nibley erläuterte mir, dass die Ägyptologen ohnehin
herausgefunden hätten, dass es zum Faksimile Nummer eins in
"Köstliche Perle", eine Unzahl unterschiedlicher
Interpretationen gäbe. Das sei die Art der alten Ägypter gewesen,
gewisse Dinge im religiösen Bereich mehrdeutig darzustellen. “Sehen
Sie mal,” sagte er “für uns ist doch wichtig zu wissen, dass
Gott ein Gott der Offenbarung ist. Immer wieder hat er zu bestimmten
Menschen gesprochen, Konfuzius, Buddha, Lehi. Und genau das behaupten
die alten Ägypter und die Hebräer, auch Joseph Smith und wir mit
ihm. Deshalb besteht in den ältesten Überlieferungen ein
Grundkonsens.”
Nibley,
der den mit mir vereinbarten Termin zunächst buchstäblich
verschlafen hatte, wurde immer munterer. Sein schmaler, langer Kopf
ruckte hin und her. Er wies mich auf den ältesten, enträtselten,
den Shabakostein hin, der bereits von der Notwendigkeit des
Erlösungsplanes Gottes spricht. “Sehen sie mal”, erklärte er,
ging an die Tafel und nahm Kreide in die Hand. “Die Kernlehren
verschiedener Religionen Asiens, Afrikas und Amerikas bestätigen
einander tatsächlich. Ganz besonders weist die Religion der alten
Ägypter auf den gemeinsamen Ursprung aller Religionen hin. Sie reden
alle vom Schöpfergott und alle verlangen, dass wir Gott verehren
sollen, indem wir seine Gebote halten. Den Weihrauch braucht er
nicht, nicht die Liturgien, sondern unser Herz und Verstand soll sich
ihm zuwenden. Das vierte Gebot von den berühmten zehn wird bereits
im ägyptischen Papyrus Eber erwähnt, einem der ältesten
Schriftdokumente überhaupt: 'Schön ist es, wenn ein Sohn seines
Vaters Rede wohlaufnimmt, Gott wird ihm dafür ein langes Leben
gewähren.' Das sei ein deutlicher Beweis, dass das Evangelium viel
älter ist, als bisher angenommen wird.
“Im
Buch Abraham, das Joseph Smith nicht unumstritten übersetzte, heißt
es in 1, 26”
Dr.
Nibley zitierte aus dem Gedächtnis : “(der erste) Pharao, der ein
rechtschaffener Mann war, begründete sein Königreich und richtete
sein Volk weise und gerecht, alle seine Tage, und er trachtete
ernsthaft danach, die Ordnung nachzuahmen, die von den Vätern in den
ersten Generationen aufgestellt worden war, in den Tagen der ersten
patriarchalischen Regierung...”
Nibley
fuhr fort: “Diese Aussage, von Joseph Smith formuliert, kann in
ihrer Bedeutung nicht überschätzt werden! Dieser Text hat nicht nur
für den Insider große praktische Bedeutung, weil er zeigt, dass
viele Religionen und ihre Tempelkulte, sowie das Freimaurertum (wie
schon Schikaneder und Mozart in der “Zauberflöte” zeigten) im
Altägyptischen wurzeln. Damit sei zugleich klar, dass es falsch ist
zu behaupten, die mormonischen Tempelrituale seien dem Freimaurertum
entlehnt. Denn die erheblichen Unterschiede legten, den Schluss
nahe, dass das verloren gegangene Original einen vorägyptischen
Ursprung hat. Das sei von größter Bedeutung, etwas, das leider
mitunter sogar vorsätzlich übersehen werde.”
Nibley
sagte mir, die Allgemeinattacken auf den Mormonentempel werden von
der Mehrzahl der großkirchlichen und der jüdischen Tempelforscher
nicht geteilt.
Zwei
volle Stunden hatte sich der Vielbeschäftigte für mich Zeit
genommen.
Mit
dankbarem Gefühl verließ ich sein Büro.
Ich
sah mich in Salt Lake City gründlich um. Wir fuhren auch zum
Immigrationscanyon. In der Nähe stand ein Denkmal, mit dem die
hiesigen Mormonen aller Siedler und Pioniere gedachten, die auf dem
Oregontrail zunächst bis hierher kamen oder wie ihre
Glaubensgenossen im unwirtlichen Land blieben, um es urbar zu machen.
Mein
Blick glitt über viele tausend Einfamilienhäuser der Millionenstadt
und es fiel mir schwer, mir vorzustellen, wie es damals war, bevor
die ersten Siedler das Wasser aus den Bergen herableiteten, um den
harten, dürren Boden aufzuweichen, damit sie ihn bestellen konnten.
Am
meisten zog mich der Tempelplatz in Salt Lake City an. Mir sagte die
Atmosphäre dort sehr zu. Ich dachte nur, hoffentlich gibt es das und
diese freundlichen Menschen noch in tausend Jahren!
In
der Vorfreude auf die Teilnahme am Organ Recitals, das um die
Mittagsstunde herum täglich im Tabernakel stattfindet, hegte ich
meine Gedanken. Ja, ich rief meine Moskauer Eindrücke wieder herauf.
Während des Konzertes verglich ich wieder einmal alles. Keine Frage
wer das Original hatte.
Wenn
es doch möglich wäre, gute Musik in überzeugende Worte zu
übersetzen.
“Schade,
Erika,” schrieb ich in mein Tagebuch: “dass Du es nicht
miterleben konntest. Plötzlich umströmte uns Zuhörer eine
wunderbare Tonflut. Schöne Akkorde rauschten auf uns zu. Es folgte
ihnen ein behutsames Streicheln und Zufriedenstellen der Seele nur
durch Töne. Präludium und Fuge in G-Dur von Johann Sebastian Bach.
Ihr folgte Henri Mulets Toccata in F-Moll, dann noch einmal Bach:
“Christus lag in den Banden des Todes”. Dreißig Minuten lang
hörst Du inmitten der Felsengebirge des wilden amerikanischen
Westens himmlische Musik. Du fragst Dich, wie es möglich ist, dass
Du Mensch, der du unausgesetzt und oft mit gewaltigem Aufwand nach
mehr Glück trachtet, das Schöne und Gute so billig bekommen
kannst….Wir strömten ins Grüne, der Himmel strahlte im schönsten
Blau, die Sonne schien. Es ist unvorstellbar, dass es Menschen gibt,
die andere Menschen hassen.”
Am
nächsten Morgen stand mein Exneubrandenburger Siegfried mit seinem
Landrover vor Walters Tür im Schnee, der in der Nacht auf die
gelbleuchtenden Forsythiensträucher gefallen ist. Er will mit mir
nach Brighton gehen, auf die Skifahrerpiste für Anfänger. Als Kind
hatte ich schon einmal, in Wolgast, auf primitiven Brettern gestanden
und natürlich war ich Wintertags noch nie im Gebirge gewesen. “Das
macht nichts”, ermutigte Siegfried mich. “Wir borgen uns die
richtige Ausrüstung und Du wirst schon sehen, wenn uns der Lift
hinaufgefahren hat, dann rutscht Du wie von selbst ins Tal runter."
Recht hatte er. Meine glatten Untersätze fuhren, als es soweit war,
von allein los und nahmen mich mit. Ich brauchte bloß aufpassen,
nicht umzukippen. Vorher allerdings hätte er mir erklären müssen,
wie man, wenn das Tempo zunimmt, wieder anhält. Plötzlich sah ich
nämlich eine Gruppe Kinder und Jugendlicher vor mir. Als ich dann
wieder auf meinen Beinen stand, übte ich für den Ernstfall. Denn
beim nächsten Mal bot sich wahrscheinlich nicht wieder eine
Schneewehe als Gelegenheit an, da kopfüber reinzusegeln.
Ich
sah mich auch in den Gemeinden um. Mich störten die auffallend
vielen kleineren Kinder und die von ihnen verbreitete Unruhe nicht.
Das wird zu Christi Zeiten kaum anders gewesen sein. Wenn er sprach,
wird er die Mütter nicht angefahren haben, dass sie ihre Kleinen
gefälligst stumm zu stellen hätten. Im Gegenteil! Wie Matthäus so
anschaulich mitteilt, winkte er die Kinder zu sich heran.
Drei
Tage vor Beginn der Konferenz zog ich ins Hotel Utah um, das lag
näher an den Tagungsstätten. In einer vom Präsidenten des Rates
der Zwölf, Ezra Taft Benson, geleiteten Schulung für
Regionalrepräsentanten der Kirche, an der Henry Burkhardt, mein
Missionspräsident und ich als Gäste teilnahmen erfuhren wir, dass
Erhebungen ergeben hätten, dass die Belastungen für aktive
Mormonenfamilien bis fünfzig Prozent ihres Budgets betragen würden.
Das sei nicht in Ordnung. Das Gesetz der Kirche laute: zehn Prozent,
nicht mehr. Einmal im Monat sollten die Mitglieder der Kirche fasten
und den Gegenwert des Ersparten zum Zweck der Linderung von Not über
den Zehnten hinaus opfern. Außerdem würden sie ihre Kinder
weiterhin auf eigene Kosten “auf Mission” schicken. Das sei mehr
als genug, sie dürften fortan nicht mehr aufgefordert werden, sich
an der Bildung anderer Fonds zu beteiligen. Ab sofort übernehme die
Kirche die volle Finanzierung für den Neubau von Kapellen und der
Sporteinrichtungen, sowie deren Unterhaltung. Links neben mir saß
Dieter Berndt, er ist an der TU in Berlin Lehrer, ein Fachmann für
Verpackungstechnik, rechts der Bürgermeister von Las Vegas.
Wir
gingen vom Kirchenverwaltungsgebäude zu Tisch ins Löwenhaus, in dem
einst Brigham Young mit seiner Großfamilie gewohnt hatte. Deshalb
die ungewöhnliche Anzahl Fenster und die vielen Zimmer. Mit einem
Philippini, der in Köln Wirtschaft studiert hatte, kam ich ins
Gespräch. Es sei weltweit dasselbe, wer zu dieser Kirche gehöre,
der engagiere sich voll und ganz - oder gar nicht. Es gäbe etwa
fünfzig Prozent heiße und fünfzig Prozent kalte Mormonen.
Halbherzigkeit sei fast nie anzutreffen. Wer komme mache richtig mit.
Die andere Hälfte Mormonen stehe leider nur in den Büchern.
Anderntags
befanden wir uns im bescheidenen Büro Präsident Monsons. Als er uns
hereinkommen sah, erhob er sich zur fast Zweimeterturmhöhe, kam
hinter seinem Schreibtisch hervor, reichte uns die Hand. Schon nach
wenigen Worten fragte er, welchen Wunsch ich hätte. Ich war
überrascht. Ich war doch nicht als Bittsteller hergekommen, sondern
freute mich, dass er sich für Henry Burkhardt und für mich eine
halbe Stunde Zeit genommen hatte.
Mein
Blick fiel auf die Totenmaske des Propheten Joseph Smith. Wie
elektrisiert sah ich das erstarrte, junge und bartlos glatte Gesicht
eines der bedeutendsten Männer der letzten zweihundert Jahre zu
meiner Rechten. Unwillkürlich fragte ich mich, warum halten dich so
viele für einen Lügner?
Es
gibt keine dritte Möglichkeit! Entweder hatte er und weitere elf die
golden aussehenden Platten in Händen gehalten oder nicht. Entweder
logen die zwölf Männer oder sie hatten die Wahrheit gesagt
Mir
fiel ein, ich könnte Thomas S. Monson bitten, der Einladung
nachzukommen, die Hermann Kant, der Präsident des
Schriftstellerverbandes der DDR, erst vor kurzem an ihn ausgesprochen
hatte, nachdem er in Salt Lake City als willkommener Gast an einer
Tagung der Generalkonferenz teilgenommen hatte. Unser Gastgeber,
dessen Herz für die in Altenheimen lebenden Witwen schlägt, nickte
zustimmend. Er rief seine Sekretärin herein. Einen Augenblick lang
erschien mir alles unwirklich zu sein. Henry Burkhardt und ich
gehörten hier nicht her.
Wir
sind ein Stück Unnormalität. Immerhin erhebt der östliche Moloch
auf uns Besitzeransprüche. Wir gehören denen, die immer sagten
“Unsere Menschen”. Sie haben uns erlaubt, hierher zu reisen. Sie
hätten die Macht gehabt, es uns zu untersagen. Irgendwie äußerte
ich das, denn ich dachte an Erika.
Thomas
S. Monson schüttelte abwehrend den Kopf. So verbissen sollte ich es
nicht sehen. Die Kirche arbeite daran, dass unsere Bedingungen sich
bessern sollen. Ich konnte es nicht glauben, und ahnte nicht im
Mindesten, wie weit diese Arbeit schon gediehen war.
Während
des Rückfluges erfuhr ich von Henry Burkhardt, dass in Freiberg in
der DDR ein Tempel gebaut werden soll. Das sagte er mir, mitten über
dem Atlantik. Es sei eine noch vertrauliche Information. Er hatte
mich geweckt, um mir den unglaublich gefärbten Himmel zu zeigen. Es
war ein paar Minuten vor Sonnenaufgang. Aus einem tiefviolett
schimmernden Himmel kam makellos von links vorn die schnell wachsende
Helligkeit wie ein Bühnenlicht hervor, denn wir flogen der Sonne mit
zehnfacher Autogeschwindigkeit entgegen. Seine Mitteilung war in der
Tat eine große, wunderbare Überraschung. Das widersprach all meinen
Erfahrungen. Danach war an Schlaf nicht mehr zu denken. Das hieß,
die Vorgespräche zwischen amerikanischen Kirchenautoritäten und der
kommunistischen Honneckerregierung konnten nur positiv verlaufen
sein. Mein erster Gedanke war: Honecker und Günter Mittag brauchen
Geld. Mein zweiter: wegen fünf oder acht Millionen Dollar setzen die
sich doch keine Laus in den Pelz!
Meine
Logik geriet ins Wanken.
Bald
darauf, während einer Konferenz in Leipzig, vernahmen wir es als
offizielle Ankündigung. Meine Verwunderung blieb groß. Ich hätte
eher gewettet, dass die Kommunisten versuchen würden, den Einfluss
meiner “amerikanischen” Kirche zurückzudrängen.
Warum
sie es zuließen, sollte ich noch erfahren.
In
Utah hatte ich ein Stück vom neuen, besseren Land gesehen, das noch
längst nicht perfekt war, jedoch die Potenzen zur besten Entwicklung
in sich trug. (Allerdings, und das hörte ich verschiedentlich, Utah
ist nicht Amerika. Die Slums der Industriestädte, das dazu gehörige
Elend gibt es hier nicht - hoffentlich wird es sie wenigstens im
Einflussbereich meiner Kirche nie geben! Anderes wäre mir undenkbar.
Natürlich müssen wir aufpassen. Wo immer ein hohes Niveau durch
Fleiß und Wertschätzung erreicht wurde, muss es durch dieselben
Tugenden pausenlos verteidigt werden. Es ist keine Zeit sich auf alte
Verdienste zurückzuziehen. Nichts bleibt, wie es ist, selbst die
Liebe nicht, es sei denn wir schaffen sie immer wieder.
(Nicht
einmal bergab läuft jede Karre von allein.)
Einmal
hatte ich mich mit dem Auto verfahren und war ins Mormonenstädtchen
Orem abgebogen. Da wusste ich noch nicht, dass dieser Ort ein oder
zweimal offiziell als wohnenswerteste Stadt ausgezeichnet worden war.
Allerdings,
wer in dieses Blumenstraßenparadies hineingeboren wird und niemals
etwas wie das Leipzig der ausgehenden achtziger Jahre hautnah erlebt
hatte, der konnte es wahrscheinlich nicht schätzen. Das wird wohl
das ewige Problem bleiben, dass niemand von uns weiß, was er besaß,
bevor er es verlor.
Das
meinte wahrscheinlich Hartmut, unser ältester Sohn, als er mir eines
Tages sagte: nach seinem Abitur hätte er sich sieben lange Jahre,
außerhalb der elterlichen Obhut, fremde Ideen um die Ohren pfeifen
lassen. Jetzt erst wüsste er, wie wertvoll sein Zuhause gewesen war
und wie viel es ihm bedeutete zu wissen, dass sein Hinterland - seine
Familie – fest zu ihm steht. Erst diente er drei Jahre um seinen
Studienplatz in der Armee, dann studierte er im damaligen
Karl-Marx-Stadt Maschinenbau und Schweißtechnik. Fast gegen Ende der
“elternlosen” Zeit (ich werde es nie vergessen, es war auf dem
Weg zwischen Freienhufen und Dresden) fragte ich ihn: “Na Hartmut,
was hältst du nun von unserer gemeinsamen Kirche?”
“Es
ist das Beste, das wir haben können.” sagte er. Eine Antwort, die
mich tief bewegte und befriedigte. Sofort nach Abschluss der
Fachprüfungen hätte er den Ordner mit der Überschrift
“Wissenschaftlicher Kommunismus”, weil absolut unbrauchbar, in
den Müllcontainer geworfen. Ich hatte bis dahin meine Sorgen und
Bedenken gehabt, da ich davon überzeugt war, dass er den Druck der
verschiedenen Versuchungen ähnlich wie ich gespürt haben musste.
Auch er hatte, wie ich, sein eigenes Zeugnis von der Echtheit und
Lebendigkeit des Mormonismus empfangen und wie ich hatte er den
Wunsch, einer so wunderbaren Sache zu dienen, die alle
Voraussetzungen dazu mitbringt, die unterschiedlichsten Menschen zu
einer großen harmonischen Familie zusammenzubringen. Eine Aufgabe,
die zu lösen sich die Kommunisten vorgenommen, aber nie würden zu
Ende ausführen können, weil ihre Losung “Proletarier aller Länder
vereinigt euch” zumindest einen bedeutenden Teil Mitmenschen zu
Todfeinden erklärte. Wir aber hörten in unseren Zusammenkünften
immer wieder, dass alle Menschen Kinder Gottes sind. Deshalb war und
ist jedes Engagement, auch das politische, heilig oder unheilig, je
nachdem ob wir in erster Linie nur uns selbst dienen oder auch den
Mitmenschen, die uns nicht mögen.
Im
Herbst 1983, ein Jahr nach meiner Entlassung als Distriktpräsident
wurden Klaus Nikol und ich als Pfahlmissionare berufen. Nachdem ich
ihn angesprochen hatte, lud Pastor Fritz Rabe uns ein, vor seiner
Jugendgruppe der Gemeinde St. Michael, in Neubrandenburg einen
Lichtbildervortrag über meine Amerikareise nach Utah zu halten.
Der
Abend begann damit, dass Herr Rabe - wie ich später erfuhr - ein
Zirkular seiner Synode zur Hand nahm, das er anscheinend soeben
erhalten hatte, wodurch sich die offizielle Eröffnung um einige
Minuten verschob. In dem Schreiben wurde ihm mitgeteilt, dass
Kontakte zu Mormonen nicht gepflegt werden sollten. Ich saß nahe bei
ihm und fand eine gewisse Bewegung in seinen Zügen, konnte aber
nicht ahnen, dass es Klaus Nikol und mich betraf.
Eigentlich
hätte er uns, gemäß der empfangenen Weisung, sofort des Saales
verweisen müssen. Aber wir durften reden. Das war sein Wagnis.
Immerhin standen wir namentlich für eine gefährliche Sekte. Er nahm
es mutig auf sich. Er ließ sich mehr von seinem eigenen Gefühl
leiten, als von einer Direktive. Wir zeigten als erstes Bild den
Mormonentabernakelchor. Er sang für uns Luthers berühmtes Lied “Ein
feste Burg ist unser Gott”.
Herr
Pastor Rabe sah bald ein, dass wir keine Sektierer waren.
Auf
die Frage, wodurch wir uns von anderen Christen unterscheiden,
zitierte Klaus Nikol Joseph Smith im Wortlaut: “In den religiösen
Ansichten sind wir von anderen Kirchen nicht so sehr verschieden,
dass wir nicht ein und dieselbe Liebe in uns aufsaugen könnten.
Einer der großen Leitsätze des Mormonismus ist der, dass wir die
Wahrheit annehmen, mag sie kommen, woher sie will. Die Christen
sollen aufhören, miteinander zu zanken und zu streiten, sie sollten
vielmehr untereinander Einigkeit und Freundschaft pflegen.”
“Ist
das Originalton Joseph Smith?” wollte Pastor Rabe wissen. “Ja!
Wort für Wort.” Das konnte ich bestätigen. Anschließend kam es
zu einer heftigen Diskussion. Zwei angehende Diakone schimpften
lautstark auf das Buch Mormon. “Es ist Unrecht irgendein Buch neben
die Bibel zu stellen.” Als angeblich letzter Autor des Buches der
Bücher hätte Johannes der Offenbarer verboten, diesem gewaltigen
Werk noch ein Wort hinzuzufügen.
Welch
ein Missverständnis!
Ich
nahm meine Bibel und zeigte sie den jungen Leuten. “Wie viel davon
akzeptieren gläubige Juden?” Sie schauten verdutzt herüber.
Einer
der beide Diakone antwortete richtig: “Sie anerkennen nur das Alte
Testament als Heilige Schrift.”
“Also
ist das Neue Testament in jüdischen Augen eine unzulässige
Erweiterung der Sammlung! Bedeutet dieser jüdisch bestimmte
Standpunkt, dass er richtig ist?”
Pastor
Rabe ließ uns gewähren, obwohl er sich nicht sehr wohl fühlte,
denn er ahnte, dass wir noch mehr strittige Tatsachen in den Raum
stellen würden. Auch ihm war klar, dass das Neue Testament nicht
chronologisch angeordnet ist. Deshalb nickte er nachdenklich, als wir
die entsprechende Frage stellten. Den beiden Diakonen war es
unbequem, zu denken wie wir. Mit heftigen Äußerungen zeigten sie,
dass sie davon ausgingen, dass Joseph Smith ein Betrüger war.
Wir
entgegneten: “Selbstverständlich muss die Frage nach der
Möglichkeit, dass das Buch Mormon ein Fantasieprodukt Joseph Smiths
ist, offen gehalten werden.” Nur, wenn man sich schon vor der
Prüfung eines Problems negativ entscheidet, dann schließt das die
Vernunft aus. Kaum hatten wir diese Erwiderung formuliert, tosten sie
wieder los.
Erst
als sich der Pastor erneut einschaltete, dämpften die beiden
angriffslustigen jungen Männer ihren Ton. Er verabschiedete uns
freundlich. Es war ihm peinlich, dass die beiden Hitzköpfe so grob
argumentiert hatten.
Überraschend
besuchten die beiden Angreifer mich anderntags. Im folgenden Gespräch
bekannten sie von sich aus, dass es ihnen zu anstrengend wäre, wie
die Mormonen zu leben. Deshalb hätten sie dagegen gesprochen. Ihre
Befürchtung war die, dass wir ihnen ihre Lebensfreude stehlen
wollten, nämlich das Vergnügen mit den leichtfertigen Mädchen…
Diese
Offenheit verblüffte mich. Ich erwiderte, niemand darf sie nötigen,
jemals etwas annehmen zu sollen, das sie nicht haben wollten.
Bedauerlicherweise kannte ich damals noch nicht den Wortlaut der
Aussagen des berühmten amerikanischen Baptistenpredigers Martin
Luther King, die unbeabsichtigt mit dem Tenor des Buches Mormon
übereinstimmten. Wahrscheinlich hätte es ihnen geholfen zu
begreifen, dass es nicht um irgendeinen Grad von Religionseifer geht,
sondern um Grundwahrheiten. Martin Luther King hatte es auf seine
Weise gesagt: “Gott hat absolute moralische Gesetze in sein Weltall
eingebaut. Wir können sie nicht ändern. Wenn wir sie übertreten,
werden sie uns zerbrechen.”
Diese
auf drei Sätze komprimierte Philosophie entsprach der kompletten
Morallehre des Mormonismus.
Wenig
später traf ich Pastor Rabe auf der Straße wieder. Wir gingen ein
paar Schritte gemeinsam. Er sagte ungefähr: “Wenn ich Sie beide
nicht persönlich näher kennen gelernt hätte und ebenso Ihre
Glaubenssätze, wäre ich wie alle anderen (Pastoren) derselben
Überzeugung geblieben, dass Mormonen nicht ungefährliche Fanatiker
sind.”
Da
ahnten wir beide noch nicht, dass ihm sein Wohlverhalten mir
gegenüber noch viel Ärger einbringen sollte….
Jetzt,
Ende 2003, treten wir beide regelmäßig im Selbermacherradio
Neubrandeburg 88.0 gemeinsam auf als Gesprächspartner zum Thema :
Werteverfall oder Wertewandel? Genannt: das Monatsgespräch.
Im
Sommer 1985 war es soweit. Der erste Mormonentempel auf deutschem
Boden wurde der Öffentlichkeit präsentiert. Vierzehn Tage offenes
Haus. Viele Mitglieder stellten sich zu Verfügung, um die Tausende,
die kommen würden, in Empfang zu nehmen und ihre Fragen zu
beantworten. Auch ich hatte für diesen Zweck eine Woche Urlaub
eingeplant. Eine Stunde vor Öffnung des Geländes sagte Holger
Bellmann, der für diesen Teil der Startphase verantwortliche
Kirchenmann (ein Uhrmacher), zu mir: “Gerd, sei so gut, schließe
das große Tor auf.” Ich nahm den Schlüssel, ging aus dem
Gemeindehaus am weißleuchtenden Tempel vorbei und sah erstaunt, dass
sich im Verlaufe der zwei Stunden unserer internen Vorbereitung die
Menschenmenge von zwanzig bis auf mehrere Hundert vergrößert hatte.
Zwei junge Frauen mit dunklen Augen, vornan standen, schauten mich
offen ausforschend an. Ich verstand ihre Blicke als berechtigte
Neugierde: Wer seid ihr? Was ist das hier? Was werdet ihr uns zeigen
und sagen? Glaubt ihr wirklich daran? Seid ihr echt? Was ist das für
ein Ding, das mit Erlaubnis der Partei hier hingestellt wurde? Seid
ihr sozialistische Christen? Will die SED etwa umschwenken? Will
Honnecker damit die anderen Christen ärgern? Wie viel hat es euch
gekostet? Dass dieses schöne Haus hier, wie ein Blickfang, auf einem
Hügel steht, ist total unverständlich.
Vierzehn
Tage lang ging das so, täglich länger als zehn Stunden. Immer
wieder stellten die Besucher diese Fragen, zuckten mit den Achseln,
bewunderten das ebenso schlichte wie schöne Gesamtbild. Fast
einhunderttausend Menschen sollten zu uns kommen, jeder noch mit
seinen persönlichen Anmerkungen, auf die wir eingingen soweit uns
das möglich war. Wir versuchten uns im Geist führen zu lassen. Es
ging uns selbstverständlich darum, jedem präzise und kurz zu
antworten. Wir fassten sie in Gruppen zu fünfzig zusammen. Manchmal
befand ich mich aber auch mit einhundert oder mehr Gästen in der
Kapelle. Jeder unserer Sprecher spürte, wie die Blicke der Besucher
in sie drangen. Es war diese eine Grundanfrage an uns: Könnte es
sein, dass ihr nicht lügt?
Es
hatte schon so viele bunt schillernde Seifenblasen gegeben.
Die
meisten Menschen, die sich positiv äußerten, befanden, dass sie
modernere, religiös motivierte Ansichten als unsere noch nie gehört
hatten. Allerdings war, was sie vorfanden, eigentlich nicht modern.
Alles, was wir lehrten, war uralt. Schon vor mehr als zweitausend
Jahren hatte Benjamin im Buch Mormon gesagt: dass kein Mensch denken
soll, er sei mehr als ein anderer, Mosia 23,7 - dass niemand bleiben
kann, wie er ist, sondern sich zum Guten entwickeln muss, - oder es
war die alte Weisheit, dass niemand in Unwissenheit selig werden
kann.
Oft
ließ ich sie aus bereitliegenden Bücher Mormon vorlesen.
Nach
sechs Stunden pausenlosen Sprechens fühlte ich mich ausgelaugt. Mein
Freund Wolfgang Zwirner aus Dresden, ein Unibliothekar, war in der
Lage, zehn Stunden zu reden. Die häufigst gestellte Frage lautete:
Was unterscheidet Ihre Kirche von den anderen?
Wie
kann man darauf in drei Sätzen antworten?
Ich
sagte es immer wieder: “Wir sind einhundertprozentig eine
Laienkirche! Und: Wenn wir denn überhaupt ein Symbol haben, ist es
nicht das Kreuz, sondern der Bienenkorb!”
Dass
das Kreuz in den ersten dreihundert Jahren des Christentums in den
Gemeinden der Gläubigen nicht vorkam, ist bekannt, aber dass dieses
Kreuz das Zeichen für Zwangschristianisierung, Inquisition und
Ausrottung von Millionen Indianern ist, darf niemand vergessen.
In
diesen drei Punkten erwiesen sich tatsächlich die folgenreichsten
Differenzen.
Noch
ein Satz zum Thema Ehrenamtlichkeit. Bei aller Toleranz, wenn eines
Menschen Einkommen oder sogar seine Existenz in irgendeiner Weise von
seiner Religion abhängt, dann führt das unweigerlich zu
Verwerfungen.
Weitere
Unterschiede sind, dass wir Tempel haben und dass wir auch an das
Buch Mormon als Heilige Schrift glauben. Aber gemessen an den
Konsequenzen, waren es in der Tat die drei erstgenannten Punkte.
Dass
wir nicht in der Tradition des Kreuzes stehen provozierte fast immer
die sofortige Rückfrage: Ja, sind Sie dann überhaupt Christen? Da
es als unhöflich gilt, eine Frage mit einer Gegenfrage zu
beantworten, durfte ich leider nicht erwidern: Sind das Christen
gewesen, die unter dem Kreuz, in den sieben Kreuzzügen, zuerst die
Juden in Europa angriffen, dann Jerusalem und schließlich das
christliche Konstantinopel zerstört haben? So verkürzt hätte es
ohnehin Verwirrung angerichtet und zu dem Trugschluss verleitet, wir
stünden anderen christlichen Gruppen und Bekenntnissen feindselig
gegenüber. Also beschränkte ich mich darauf zu sagen: Wie andere
Christen bemühen wir uns, die Gebote Christi zu halten.
Am
Abend meines dritten Tages sagte mir ein kleiner Mann mit
intelligentem Gesichtsausdruck: “Klipp und klar gesprochen, wenn
ich eine Bombe hätte, würde ich sie unter ihren hübschen, weißen
Tempel legen!” Er wandte sich ziemlich hochmütig ab und sprach mit
anderen Leuten. Mein Freund Lothar Ebisch trat an mich heran und
flüsterte mir zu. “Egal, was er sagt, ärgere dich nicht. Ich
kenne ihn. Er ist ein MfS-Spitzel.”
“Aber
mir hat er gesagt, er sei ein Pastor ...”
Lothar
erwiderte achselzuckend: “Ich weiß, ich kenne ihn! Es gibt solche
und andere.”
Kurz
darauf kam ein rötlichblonder Student, der ebenfalls Gäste mit sich
gebracht hatte. Heftig mit den Armen rudernd und laut redete auf
seine Gruppe ein. “Mormonen sind die Pest! Sie haben den
Uteindianern das Land Utah geraubt. In Kriegen haben sie gemordet und
alles verbrämt mit ihrer Heuchelei.”
Ich
sah das zornige Funkeln in den grünen Augen dieses weit über die
geschichtlichen Tatsachen hinausschießenden Gerechtigkeitsfanatikers
und sprach den Mann an. Er fuhr mir über den Mund. Ob das etwa nicht
stimme. Ich erwiderte: “Es hat vielleicht brunnenvergiftende Juden
gegeben, aber man kann doch nicht sagen, die Juden waren
Brunnenvergifter. So nicht. Es hat Mormonen gegeben, die zur Flinte
gegriffen und aus welchen Gründen auch immer, Indianer erschossen
und sogar schweres Unrecht begangen haben. Sie sind von der Kirche
ausgeschlossen worden.”
Er
starrte mich an und wies mich zurecht. Er wüsste davon mehr als ich.
Er zog seine Leute mit sich. Sie beachteten mich nicht. Sie
verschwanden in der Menge Menschen, die uns umgaben und von denen wir
uns lediglich durch das Namensschild am Revers unterschieden.
Wir
erlebten es immer wieder, dass sich uns unbekannte Besucher in
größerem Rahmen als Erklärer versuchten. Ein Busfahrer, der zum
dritten oder vierten Mal da war, “erklärte” seinen Fahrgästen
Haarsträubendes über uns.
Ich
weiß nicht, inwiefern wir selber für gewisse Gerüchte
mitverantwortlich sind. Am Tag darauf, spät am Abend, als der
Besucherstrom erheblich nachgelassen hatte, kam Dietmar Hirsch, ein
etwa dreißigjähriger Zwickauer, auf mich zu und erzählte mir, dass
er Zeuge einer Diskussion zwischen einem Geistlichen und einem uns
freundlich gesonnenen SED-Mann geworden war. Vor dem Taufbecken habe
sich ein Streitgespräch entwickelt. Der Theologe meinte, das sei
antiquiert, so hätten die Christen in den ersten Jahrhunderten
getauft. Nur die ältesten italienischen Basiliken und Baptisterien
wie San Giovanni in Fonte in Neapel oder das Baptisterium in Ravenna
wiesen noch solche Becken auf. Dort seien tatsächlich die Taufen
durch Untertauchen des Täuflings vorgenommen worden, aber mit dem
Aufhören der Erwachsenentaufe hätte man später auf den Bau von
Baptisterien verzichtet. Dietmar Hirsch konnte und wollte nicht
verstehen, wie eine durch Christus bestätigte oder von ihm
eingesetzte Verordnung je unmodern werden könnte. Der Theologe
entrüstete sich. Da schaltete sich unerwartet der Mann mit dem
SED-Abzeichen ein: “Herr Pastor, ich bin kein Mormone und will auch
keiner werden, und sie mögen glauben und denken, was sie wollen,
aber wenn etwas überaltert ist, dann ist es ihre evangelische
Kirche. Sie hatten mehr als vierhundert Jahre lang die Gelegenheit,
die Welt zu verändern. Die katholische Kirche hatte dazu fast
zweitausend Jahre Zeit gehabt. Was haben sie nach vorne bewegt? Sehen
sie sich dagegen Geschichte und Organisation der Kirche Jesu Christi
der Heiligen der Letzten Tage an. Sachlich gesehen, ist den
Großkirchen allein aufgrund der vergleichsweise schwach
ausgebildeten und zudem erstarrten Strukturen nicht zuzutrauen, dass
sie den kommenden Herausforderungen, die der Fortschritt eben mit
sich bringt, gewachsen sein werden. Sie werden es erleben. Was zu
Martin Luthers Zeiten angemessen und ausreichend war, ist heute
unpassend. Die Mormonenkirche dagegen ist perfekt gegliedert und auf
Mitarbeit sozusagen sämtlicher ihr angehörenden Menschen
zugeschnitten, und was noch wichtiger ist, sie hat die dazu passende
Lehre, - eine Soziallehre von Rang.” Ihm sei klar, vorausgesetzt es
gibt einen Gott, dass Mormonismus die Religion der Zukunft sein wird.
Daraufhin
habe sein nun völlig verärgerter Gesprächspartner spitz
zurückgefragt, woher er das wisse. “Das will ich Ihnen gern sagen,
mein Herr. Als die Entscheidung darüber anstand, ob das
Zentralkomitee der SED der Errichtung eines solchen Gemeindezentrums
zustimmen sollte oder nicht, habe ich im Auftrage der Regierung der
DDR meine Diplomarbeit über Lehre und Organisation dieser Kirche
geschrieben.”
Damit
endete das Gespräch. Der Unterschied zwischen beiden Männern
bestand darin, dass einer urteilsfähig war.
Vielen
Leuten, die mehr wissen wollten erklärte ich an Hand eines
Tafelbildes, dass die urchristliche Theologie und Kirche zwischen
dem dritten und dem sechsten Jahrhundert völlig umgestaltet wurde.
Liturgien, sowie Messgewänder und andere Neuerungen kamen auf.
Jeder Christ sollte wissen, dass Kaiser
Konstantin “der Große”, der Mörder seines Schwagers Licinius,
seines Sohnes Krispus und seiner Ehefrau Fausta, die Kirche in seinem
Sinn veränderte. Konstantin degradierte die Kirche zu einem
Instrument seiner Weltbeherrschungspläne… Damit schaffte er die
Alte Kirche ab!
Es
ist einfach nicht wahr, dass Konstantin sich im Jahre 312 bekehrte,
wie die Christen heute noch behaupten, … Was
das bedeutet muss man bedenken. Er,
der Mörder seiner Ehefrau Fausta, der Mörder seines Sohnes Krispus
hat sich zum Eckstein gemacht.
Auch wenn es zahllose Christen gab und
gibt, die auf diesen falschen Eckstein den Namen Jesus Christus
geschrieben haben. Jesus war es nicht.
In
seiner Habilitationsschrift 1954
„Konstantins
religiöse Entwicklung” Heidelberg - Uni Greifswald, führt der
evangelische Theologe Heinz Kraft zu diesem Thema folgendes aus:
Seite
65: Am 21. 7. 315 hielt K. seinen feierlichen Einzug nach Rom zur
Feier der Dezennalien. „Das Fest wurde mit der üblichen Pracht
begangen, das Volk beschenkt und große Spiele abgehalten. Zu dieser
Feier war der die Schlacht am Ponte molle verherrlichende
Triumphbogen vom Senat errichtet worden. Sein Bilderschmuck nimmt vom
Christentum Konstantins keine Notiz (!), sondern feiert
den Sonnengott als
Beschützer des Kaisers... Dass es der Sonnengott ist der hier als
Gott des Kaisers gezeigt wird hat L‘Orange erwiesen....“
S.
76: „Wahrscheinlich hielt Konstantin alle (Gottesnamen) für
richtig - oder alle falsch. Im unmittelbaren Zusammenhang mit
Konstantins Erwählungsglauben steht die Behauptung der Macht
Gottes.... Konstantin baut seine
persönliche Erfahrung in eine allgemeine und natürliche Theologie
ein, die er
für lehrbar und einsehbar hält.
Sein
politische Handeln wird dadurch Heilsgeschichte. Es ist kaum zu
entscheiden, ob K. diese Gedanken selbst entwickelt hat. Sie tauchen
ungefähr gleichzeitig auf (ca. 314) bei ihm, in Eusebs
Kirchengeschichte und bei Laktanz auf. Man wird die Erklärung am
besten in der allgemeinen Dankbarkeit der Christen für das Ende der
Verfolgung und das Christentum des Kaisers suchen.
S. 79: „...
hinzu tritt jetzt noch dies: die Kirche verkörpert das künftige,
immanent messianische Reich, das Gott aufrichten will. Auch diese
Gedanken Konstantins basieren wieder auf seinem Grunddogma, dem
Glauben an seine (Konstantins) Erwählung und Berufung. Er
(Konstantin) ist das Werkzeug, mittels dessen diese Pläne
verwirklicht werden, dazu ausgesandt, die zerstörerische Ordnung
wieder aufzurichten und der Kirche den Weg zu bereiten; darum wird
seine Berufung durch Erfolge beglaubigt...“
S.
81: „In den Spekulationen K. , nach denen Gottes natürliche
Offenbarung vollkommene Erkenntnis vermittelt, besteht eigentlich
kein Bedürfnis nach der übernatürlichen Offenbarung. So wenig K.
in den früheren Briefen Christi Namen genannt hat, so wenig tut er
es hier ...“
S.
86: „Im übrigen haben sich die früher erkannten Merkmale von
Konstantins Kirchenbegriff nicht geändert. Ebenso
wenig, wie Konstantin Christus erwähnt, ist die Kirche auf Christus
bezogen.
Sie ist bei Beginn der Schöpfung von Gott gefordert; der Sohn
erneuert nur...
S.
87 „Konstantins beide Aufgaben, der Sieg des Christentums und die
Ordnung des Staatswesens, gehören für ihn eng zusammen... nicht
anders als Konstantin waren Aurelian, Diokletian und Maximin bestrebt
gewesen, ‚die auf Gott gerichtete Gesinnung aller Völker zu einer
Gemeinschaft aller Völker zu einer Gemeinschaft zu vereinigen.‘
Das Ziel, das sich Konstantin hier gesetzt hatte,
ist nicht eigentümlich christlich;
es ist vielmehr in einem Zusammenhang mit der Reichsidee und des
spätantiken Monotheismus zu sehen...“
S.
89: „Der Staat den
Konstantin entstehen sieht, ist ein Kirchenstaat,
geführt von Priestern, mit dem von Gott berufenen und damit
priesterlichen Herrschern an der Spitze. Nach dem ihm
vorschwebenden Bild dieses Staatswesens formt
er sich sein Reich, seine Kirche.
S.
99: „Der eigentliche Zweck des Konzils (zu Nicea) lag aber
anderswo.
Konstantin hatte eine neue Idee von der Kirche, die er verwirklichen
wollte:
Die Diener Gottes , die Kleriker unterstützen den Kaiser, den Knecht
Gottes dabei, das gottgewollte Friedensreich herbeizuführen. Das
Konzil ist ein repräsentativer Staatsakt, aber der Staat, der sich
ihm darstellt,
ist die von Konstantin geführte Kirche, das Reich der Zukunft...
Konstantins Erfolge sind unmittelbar die Erfolge der Kirche...
Auf
diese Weise hat er sich im Jahre des Konzils zu Nicäa 325 (327) an
die Stelle von Jesus gesetzt.
Nichts anderes taten
Lenin, Stalin, Mao, Pol Pot, Hitler…, Konstantins
Gesinnungsgenossen.
Weil
es diesen Abfall von Christus gab musste die Kirche Jesu Christi der
Heiligen der Letzten Tage wiederhergestellt werden. Denn es lohnte
sich nicht, einen “neuen Flicken auf ein altes Kleid zu setzen”…
oder “neuen Most in alte Schläuche zu füllen.”
Jeder
Christ möge wissen, dass Konstantins Briefe teilweise “christlich”
zurechtgemacht, zurechtgelogen, d.h. gefälscht wurden
Kein
Wunder, dass es zur totalen Entartung des Christentums im Mittelalter
kam.
An
einem Sonnentag, Monate nach der Zeit des “Offenen Hauses”, sah
ich einen gut angezogenen, nachdenklich vor sich hinsinnenden Mann
auf dem Freiberger Tempelplatz. Er saß auf einer der verstreut
aufgestellten Bänke im Grünen. Ich ging auf ihn zu, grüßte ihn.
Er mochte um die Fünfzig gewesen sein. Er schaute mich sonderbar an.
Ich spürte die Ablehnung, hatte aber das Gefühl, dass ich ihn
ansprechen sollte, ob er eine Frage hätte.
Kühl
und entschieden erwiderte er: “Nein!” Er schaute mich nochmals
an: “Alles, was ich zu Ihrem Thema zu fragen hatte, ist schon
beantwortet worden.” Ich wusste, dass etwas nicht stimmt.
Was sollte ich machen? Er wünschte,
nicht behelligt zu werden. Es störte mich nur, dass da ein Mensch
war, der unbefriedigt und mit den von mir vermuteten Vorurteilen
weggehen würde. Doch ich hatte kein Mittel. Nach einer halben
Stunde, als ich zurückkam, saß er immer noch da. Ich nahm allen Mut
zusammen, entschuldigte mich und bat ihn, mir nicht übel zu nehmen,
dass ich ihn nochmals anzusprechen wage.
“Ich
habe ihnen doch gesagt, dass ich bestens informiert bin.”
Ich
fühlte, dass er nicht aus der Quelle getrunken haben konnte. Was er
denn erfahren habe. Er ließ sich auf meine zugegebenermaßen
unverschämt nachdrängende Rückfrage tatsächlich ein und begann zu
erzählen.
Ich
wusste nicht, ob ich lachen oder weinen sollte. Nahezu alles was
dieser kluge Mann über unsere Kirche sagte, war falsch. Es war noch
unzutreffender als das von den europaweit bekannten und beliebten
Brüdern Schreiber in ihrem Buch “Mysten, Maurer und Mormonen”
zusammengestotterte Nichts auf ganzen zwei von vierhundert Seiten.
Nahezu jeder Satz strotzte vor Lügen. War beides das Ergebnis
bewusster Fehlinformation?
Als
mein allmählich auftauender Gesprächspartner sagte, er sei ein
Universitätslehrer aus Köln, ein Naturwissenschaftler, bat ich ihn
mir zu erlauben, ihm drei Sätze aus dem Offenbarungsbuch des
Propheten Joseph Smith vorzulesen.
Etwas
gequält erwiderte er: “Aber bitte nur drei Sätze.”
Ich
schlug Lehre und Bündnisse auf, Abschnitt 88, Vers 67: “Wenn euer
Auge nur auf die Herrlichkeit Gottes ausgerichtet ist, so wird euer
ganzer Körper mit Licht erfüllt werden und es wird in euch keine
Finsternis sein; und wer ganz mit Licht erfüllt ist, begreift alle
Dinge. Darum heiligt euch, damit euer Sinn nur auf Gott gerichtet
ist, dann werden die Tage kommen da ihr ihn sehen werdet ...”
“Noch
einmal bitte!” sagte der Mann. Er schaute weit an mir vorbei.
Ich
las es noch einmal vor.
“Noch
einen anderen Vers, bitte.”
“Lasst
niemanden euer Lehrer oder geistlicher Diener sein, außer es sei ein
Mann Gottes, der auf seinen Pfaden wandelt und seine Gebote hält.”
“Aus
welchem Buch haben Sie nun vorgelesen?”
“Aus
dem Buch Mormon Mosia, 23,14.”
Er
erhob sich, schaute mir eine Weile ins Gesicht. Er forschte mich
ungeniert aus, aber es war mir nicht unangenehm. Wahrscheinlich
fragte er sich, wer ich sein mochte. Ich bemerkte, dass sein Blick
sich wieder meinem schwarzen Ledereinband zuwandte. “Lesen sie
selbst!” forderte ich ihn auf. “Hier sind zwei Sätze aus den
Briefen, die der Gefangene Joseph Smith aus dem Libertygefängnis
geschrieben hat.” Er las es tatsächlich. Es handelte sich um die
Worte: “Die Rechte des Priestertums sind untrennbar mit den
Himmelskräften verbunden und können nur nach den Grundsätzen der
Rechtschaffenheit beherrscht und gebraucht werden….doch wenn wir
versuchen unsere Sünden zu verdecken oder unseren Stolz und eitlen
Ehrgeiz zu befriedigen, oder wenn wir auch nur im geringsten Maß von
Unrecht irgendwelche Gewalt, Herrschaft oder Nötigung auf die Seele
der Menschenkinder ausüben – siehe dann ziehen sich die Himmel
zurück, der Geist des Herrn ist betrübt, und wenn er weggenommen
wird, dann ist es mit dem Priestertum oder der Vollmacht des
Betreffenden zu Ende.”
Sein
Kopf kam wieder hoch.
Er
dachte eine Weile nach. Tief durchatmend schloss er mit der
Bemerkung: “Ich werde mich von meiner Informationsquelle abwenden!”
Es klang wie das Zerreißen von festem Papier.
“Tun
Sie das, mein Herr. Ich danke ihnen, dass Sie mir zugehört haben.”
“Ich
danke Ihnen!” Leider habe ich nie wieder von ihm gehört. Aber
vielleicht kommt dieser Tag noch…und sei es in der Ewigkeit.
Kurz
vor Weihnachten 1986 erlitt ich einen leichten Schlaganfall. Meiner
Meinung nach hatte er verschiedene Ursachen. Jürgen, einer unserer
jungen Meister stand wieder einmal mit aller Schärfe gegen mich.
Während ich eine Tagung unserer 18köpfigen Fischerei-Genossenschaft
leitete kam es zu einem bedrohlich ausufernden Streitgespräch
zwischen ihm und einem anderen Mitglied der Genossenschaft. Beide
hielten ihre lauten Unverschämtheiten wahrscheinlich für den
Ausdruck schönster Aufrichtigkeit. Mir dröhnten die Ohren, aber
nicht nur mir. Die beiden germanischen Recken gingen aufeinander los.
(Was ebenfalls seine uralten Ursachen hatte) Ich erhob mich sofort
und begab mich unvorsichtigerweise zwischen die Streithähne.
Augenblicklich fuhr mir eine unsichtbare Hand an die Gurgel. Nie
zuvor hatte ich gewusst, dass Hass auch materiell fühlbar ist. Ich
hatte das Gefühl, dass sich rings um meinen Körper nasse, kalte
Watte legte. Ich spürte die Spannung zwischen den beiden Erzfeinden
als lähmende Kälte. Wie schwarzer Schnee lag der Hass auf meiner
nackten Haut. Erschrocken zog ich mich zurück. Minuten später brach
ich zusammen. Als sie mich am Boden liegen sahen, hörten sie auf,
gegeneinander zu wüten.
Ein
Krankenwagen musste kommen und mit ihm eine Ärztin. Sie verluden
mich, denn ich war außerstande, die Bewegung meiner Beine zu
koordinieren. Ich war auch nicht imstande, meine Augenlider zu
öffnen.
Die
Diagnose, die ich zwei Stunden später unter dem anerkennenden
Auflachen eines der untersuchenden Ärzte selbst stellte, lautete:
Blockade des Stammhirnes.
Tagelang
drehte sich, nach dem ersten Umfallen, das Karussell um mich herum,
und zwar jedes Mal, wenn ich versuchte, meinen Kopf zu drehen. Herr
von Suchodolitz, mein behandelnder Arzt, meinte, mein Gefäßsystem
sei infolge jahrzehntelanger falscher Ernährungsweise und auch
altersbedingt nicht mehr das Beste und schon ziemlich starr. Deshalb
erzielten die Medikamente, die er anwenden ließ, die erwünschte
Wirkung nur allmählich. Am fünften Tag war ich, entgegen der ersten
Voraussage immer noch nicht fähig, die Augen zu öffnen. Den Weg zur
Toilette bahnte ich mir nur mühsam, indem ich mit den Händen an den
Wänden des Krankenhausflures unsicher entlang rutschte. Allmählich
bekam ich es mit der Angst zu tun. Da dachte ich daran, dass ich
“gesegnet” werden könnte.
Erika
bat umgehend meine beiden Söhne Hartmut und Matthias ins
Neubrandenburger Krankenhaus. Matthias sagte später, er hätte
geahnt, dass ich um diese heilige Handlung bitten würde. Ihm sei
Bange gewesen. Was sollte und durfte er mir verheißen?
“Aber
sofort als ich meine Hände auf Deinen Kopf legte, erhielt ich
Gewissheit. Du sollst wieder vollständig gesund werden.”
So
war es. Obwohl die Fachärzte mir gesagt hatten, ich würde nie
wieder Auto fahren können habe ich seither - unfallfrei- mehr als
eine halbe Million Kilometer zurückgelegt, davon mindestens zehn
Prozent im dichtesten Stadtverkehr.
Ich
war fasziniert, als ich in jenem Jahr in einer Veröffentlichung die
Auffassung eines marxistischen Philosophen und Natur-Wissenschaftlers
in Bezug auf die Weltwerdung las. Er sagte: “Es muss außer dieser
unendlich großen Energie auf unendlich kleinem Raum, unmittelbar vor
dem Urknall, noch etwas gegeben haben, nämlich, das Gesetzespaket.”
Da
fügte sich alles vor mir zu einem Anlass unendlicher Bewunderung.
Gott gab eine Reihe Gesetze und das Resultat ist die Schönheit der
Natur.
Im
darauf folgenden Sommer zelteten die Kampfschwimmer auf einer
Halbinsel des Sees. Sie übten das spurlose Tauchen mit speziellen
Atemgeräten, denn ihr eventueller Kampfauftrag könnte eines Tages
lauten: In Kiel sind zwei Kreuzer der Bundeswehr zu versenken! So
bemerkten wir sie mitunter auch an windstillen Tagen nicht, bis sie
unmittelbar neben uns auftauchten. Einmal kamen vier, fünf Männer
in ihren schwarzen Neoprenanzügen hoch und umringten mich plötzlich,
weil sie sich fast lautlos auf den Kutter, der neben mir verankert
worden war, hinaufgehievt hatten, um das Garneinholen in der letzten,
der interessantesten Phase der Zugnetzfischerei mitzuerleben. Meine
Partner im gegenüberliegenden Boot hatten sie eher als ich bemerkt.
Einer von ihnen, Hermann Witte, das Woldegker Original, sah sofort
seine Gelegenheit gekommen, einen seiner unangebrachten Witze zu
reißen. Durch nichts anderes als durch ihre Gegenwart dazu
motiviert, forderte er mich auf, das Beten zum lieben Gott nicht zu
vergessen, wenn ich am nächsten Tag auf die nächste große Reise
ginge. Augenblicklich stand ich dadurch im Brennpunkt der
Aufmerksamkeit. Der Chef der Tauchertruppe, fiel aus allen Wolken und
bis sofort an. “Sag bloß, dass du glaubst und betest?” Ich
wandte mich um und fragte ihn augenzwinkernd, ob er etwa nicht
glaube. Natürlich nicht.
“Natürlich
doch! Du glaubst an Karl Marx, an Wladimir Iljitsch Lenin.” Seine
Genossen lachten. Er stimmte mit einem konzilianten Lächeln und
einem durch die Zähne gezischten “teils, teils” zu. Aber er
würde seine “Götter” wenigstens nicht anbeten.
“Weißt,
Du,” erwiderte ich, “ich habe Männer erlebt, die auf Knien vor
einer Schönheit lagen und unentwegt bettelten erhört zu werden.”
Wieder
lachten sie.
Das
übliche Hin und Her kam auf. Da hoben sie aber alle die Köpfe, als
sie hörten ich sei Mormone. Nach der Errichtung des Freiberger
Tempels gab es in der DDR kaum noch Menschen, die mit diesem exotisch
anmutenden Begriff gar nichts anzufangen wussten. Zwar war keiner von
ihnen auf dem Gelände des der Öffentlichkeit zugänglichen
Gebäudekomplexes gewesen, doch sie waren einigermaßen im Bilde. Nun
sollte ich nur noch schnell antworten, was die Basis und was der Kern
meines Glaubens ist. Die Begegnung mit mir wäre, wenn ich schnell
geantwortet hätte, für sie nur eine kleine Episode unter vielen
gewesen. Sie hätten es abgehakt wie einen Rechenvorgang, nachdem man
den Fehler gefunden hatte. Ich wollte nicht zulassen, abgehakt zu
werden. Ich dachte, wenn ihr wüsstet, wie ungeheuer breit der Strom
Mormonismus ist, wie tief er geht. Ihr ahnt es nicht. Aber ihr sollt
ihn noch zu spüren bekommen, angenehm wie Wärme und kraftvoll wie
Wasser, das in einen trockenen Holzkeil eindringt, dessen osmotische
Kräfte imstande sind, Felsen zu zerreißen. Mit ihm ist es wie mit
dem Golfstrom, der weltverändernd durch den Atlantik fließt.
Ich
fragte den Chef der Truppe, ob er der Meinung sei, ich könne ihm in
fünf Minuten eine ganze Weltanschauung unterbreiten. “Gut, morgen
nehme ich mir zehn Minuten Zeit, mehr brauchen wir wirklich nicht.”
Der
nächste Morgen kam. Ich sah sie schon von weitem, mit ihren
schwarzen Schutzanzügen, auf dem “Rhäser Eck” stehen. Wir
halfen ihnen, die Geräte auf den Kutter zu laden und binnen Sekunden
fand ich mich wieder von lauter fröhlichen Gesichtern umringt, acht
an der Zahl. Wir standen auf den federnden Schweffbrettern, die als
Abdeckung über den großen Wasserkammern lagen. Wir sollten sie bis
zur gut zwei Kilometer entfernten Fischerinsel mitnehmen. Sie würden
zurückschwimmen. Das waren knapp fünfzehn Minuten, die sie mir
gaben. Sie waren gespannt, wie ich auf die Argumente eingehen würde,
die mir ihr Chef blitzschnell um die Ohren schlagen würde. “Otschen
karascho!” hob Manfred an. “Wir haben schon die ersten Schritte
erlernt, den Menschen in vitro hervorzubringen, bald können wir noch
mehr. Wo ist da noch Platz für Gott ?”
Mir
fiel ein, ihn zu fragen, was der Mensch denn dann sei, falls er noch
ein paar Schritte weiter kommt und in der Retorte aus anorganischer
Materie Leben zu schaffen vermag. Er schaute mich verdutzt an. Seine
Freunde lachten schon, bloß er begriff es nicht. Ein kleinerer,
untersetzter Mann dolmetschte: “Manfred! die Frage des Fischers
lautet: Gibt es keinen Schöpfergott, weil es Schöpfergötter gibt?”
Manfred
blieb an Bord, bei mir, während seine Männer ins Wasser sprangen
und unter der Wasseroberfläche, von ihrem kleinen Kompass geleitet,
in Richtung Zeltlager zurückschwammen.
Meine
Kollegen hoben und entleerten in der Zwischenzeit die Reusen auf der
Lieps, während wir uns unterhielten. Ich steuerte dabei zeitweise
das Motorboot und machte mich nützlich. Manfred hatte sich längst
des schwarzen Taucheranzuges entledigt und saß in seiner Badehose,
mit einem Hemd bekleidet in der Sonne. “Nun erzähl mir mal, wie’s
kam, dass Du so quer zu uns stehst.” Für ihn sei interessant zu
hören, wann und warum ausgerechnet ich unter so vielen Normalen
ausgeschert bin.
Als
ich ihm die Joseph- Smith-Geschichte erzählte, wog er den Kopf. Er
lachte aber nicht. Da war auch nichts zu lachen. Auch wenn er nicht
alles verstünde, was ich als glaubwürdig angenommen hätte, er
sagte, es sei ihm sonderbarerweise nicht unangenehm. Nur, ich käme
ihm vor wie ein Lindenbaum der mitten in einer Pappelallee dasteht.
Dann
erzählte er von sich selber. Es gab in seinem Leben nie einen Anlass
außer der Reihe zu tanzen. Sein Kurs sei klar, sein Lebensweg war
bisher geradlinig verlaufen. Abitur, Studium der Medizin, Mitglied
der SED. Militärakademie. Ein Arbeiterkind.
Natürlich,
es hat alles mit unserer Herkunft zu tun, gab ich zu: “Aber mir war
es nicht vorausbestimmt, den Ansichten meines Vaters folgen zu
müssen. Wer hätte mich hindern wollen, für immer den Kurs zu
wechseln?”
Es
sei eine lebenslängliche Auseinandersetzung, ein nicht einfacher
Prozess der Wahrheitsaneignung gewesen, versuchte ich zu erklären.
“Nachdem ich mich in meinem fünfzehnten Lebensjahr mit zwei Fragen
konfrontiert sah, bahnten mir die möglichen Antworten ihren Weg wie
von allein. Die erste Anfrage war an meine nationalsozialistischen
Vorgesetzten gerichtet und spätere an einige SED-Genossen. Sie
lautete: ‘warum habt Ihr versucht, zuerst Euch selbst und dann mich
zu täuschen?’ Meine zweite Frage stellte sich mir aus der ersten:
warum gerade die Menschen, die mir bewiesen hatten, wie leicht sie
sich täuschen ließen, so energisch vertraten, dass Joseph Smith ein
Lügner war.”
Seine
mausgrauen Augen musterten mich, während ich bemüht war
herauszustellen, dass ich nie ein Sonderling sein wollte: “Ich habe
nichts anderes gesehen und gewünscht als Du, Manfred. Mit der
Einschränkung, dass ich Ursache hatte, anders als du nach Gott zu
suchen und ich habe nicht nur gesucht, sondern gefunden.”
Er
brachte, wie das bei solchen Gesprächen fast immer üblich war die
Evolutionslehre ins Spiel.
Ich
hatte gerade “Das Ur-Gen” von Nobelpreisträger M. Eigen gelesen.
“Eigen
spricht von der gezielten, der ‘gerichteten’ Evolution. Das muss
man sich auf der Zunge zergehen lassen, dass gerichtete Evolution
etwas anderes ist als die Evolution schlechthin. Wer hat sie denn
ausgerichtet? Das ist doch die große Frage!”
“Ja,
glaubst du denn an die Evolutionslehre und an Gott?”
“Wir
sind Kinder Gottes und Kinder der Erde. Nur wenn wir diese beiden
einfachen Tatsachen zugleich im Auge haben, dann minimieren sich die
Widersprüche, die zwischen den unterschiedlichen Grundaussagen
bestehen. Die materiellen Körper von Pflanzen, Tieren und Menschen
entstanden schrittweise, im Rahmen der gottgewollten Evolution. (Und
vielleicht, vielleicht entstanden sie sogar mit unserer persönlichen
Mithilfe, unter der Anleitung des ewigen Gottes.) Sobald die
menschlichen Körper dem Vorbild entsprachen, begann die Kette der
Inkarnation unseres Seele, - unseres Geistes, - dieser Geist ist aber
auf keinen Fall das Ergebnis von Evolution!”
“Aber
wer kann das wirklich glauben?” rief er aus.
Ich
räumte ein, trotz bester Anleitung und Belehrung auch erst
verhältnismäßig spät erkannt zu haben, dass Gott ausschließlich
per Naturgesetz arbeitet und dass sein Gesetz mit dem Naturgesetz
identisch ist.
“Dann
wäre Deiner Meinung nach Evolution lediglich eine Arbeitsmethode
Gottes!” folgerte er.
“Ja!
- Aber vergiss bitte nicht, dass für einen Mormonen gilt, dass der
Mensch Geist ist! Und in der Präexistenz gab es keinen Kampf ums
Dasein. Es gibt unterschiedliche Definitionen für den Begriff
Mensch. Das hat schon eine Menge Verwirrung gestiftet. Für Dich,
Manfred, gilt, dass der Körper der Mensch ist, für uns Mormonen ist
dieser Körper nur das Haus, ein Zelt, eine Hütte, höchstens noch
ein Tempel. Für uns ist 'der Mensch' das Unsterbliche in ihm. Wir
haben also eine Bezeichnung für den Inhalt, die ihr Materialisten
nur dem Gefäß gebt.”
Er
war tolerant genug, mich gewähren zu lassen und so fuhr ich fort.
Ihn und mich fragte ich, ob wir denn alle miteinander blind sind,
solche technische Genauigkeit und Muster an Schönheit und perfekten
Handlungsweisen in jedem einzelnen der vielen hunderttausenden
Geschöpfe unterschiedlichster Art eher dem Zufall und nur den
Prinzipien der Auslese zuzuschreiben, als sie voller Ehrfurcht und
Dankbarkeit einer planenden Gottheit anzurechnen. “So viele Zufälle
zusammengenommen gibt es nicht!”
Mit
absoluter Präzision errichtet die Biene aus dem Wachs, das ihr
Körper nur bei fünfunddreißig Grad Celsius ausschwitzen kann,
ganze Zimmerfluchten. Jeder Bau- und Maschineningenieur würde
erblassen, wenn er ohne Hilfsmittel, dazu noch in der Nacht, vor
einem ähnlichen Unterfangen stünde. Mit der Mikrometerschraube kann
man die Räume, die eine x-beliebige Arbeiterin baut, prüfen und
wird feststellen, dass nicht nur die Sechsecke haargenau stimmen,
sondern dass die Dicke jeder Zellwand der Normalbiene dreiundsiebzig
Tausendstelmillimeter beträgt, während die Wand einer Drohnenzelle
vierundneunzig Tausendstelmillimeter zu messen hat. Beide mit einer
Abweichung von maximal zwei Tausendstelmillimeter.
“Das
wurde so festgelegt. Aber was für eine Glanzleistung ist es, solche
Instinkthandlung als höchst komplizierte Software im Hirn einer
Biene zu installieren, geschweige denn sie erst niederzuschreiben.”
Die
großartige Häuserbauerin wird, nach dem zwanzigsten Lebenstag
Sammlerin. Vorher aber musste das Programm 'Bauen' ebenso wie zuvor
das Programm 'Pflegen' definitiv gelöscht und das neue aufgerufen
werden. Keine andere Biene hätte sie lehren können, was sie tun
muss, wenn sie eine reiche Nektarquelle findet, dass sie nach der
Heimkehr im Stock genau so und nicht anders zu tanzen hat und wie sie
den Rund- und Schwänzeltanz einer anderen lesen und verstehen kann,
um die Information: Ein Rapsfeld in fünfhundert Meter Entfernung in
fünfundvierzig Grad Abweichung von der Sonnenrichtung horizontal
rechts umzusetzen.
“Natürlich
kann man den 'Programmierer' Gott hinwegdeuten und auf millionenlange
Entwicklungsjahre verweisen. Nur, meinen Kopf hat das ganze schlaue
Gerede nie überzeugen können. Selbstverständlich gab es vor
Jahrmillionen schon Foraminiferen und andere Wurzelfüßer als
Vorstufen für höhere Lebewesen, aber es gibt sie auch heute noch,
auf den Punkt dieselben Foraminiferen. Gott baut eben jedes Neue auf
der Basis des Alten. So ist es auch in seiner Philosophie:
Alles
Neue, wenn es siegreich sein will, kann nur auf dem Grund der
bewährten alten Wahrheit stehen. So hängt die ganze Welt zusammen.
Alles Leben ist untereinander verwandt. Es hat einen gemeinsamen
Vater.
Meiner
Meinung nach wäre es dennoch eine Katastrophe, wenn wir auf
wissenschaftlichem Weg Beweise für die Existenz eines allmächtigen
Schöpfers fänden!”
Er
schüttelte sich plötzlich. Das Letzte hätte ich nicht sagen
dürfen. Jetzt bräche ich die Logik übers Knie. “Keineswegs! Du
kennst sie doch auch, unsere persönliche Schwäche und Vorliebe, mit
dem Strom zu schwimmen und fein säuberlich aufzupassen, ob sie alle
mit uns sind. Es gibt genügend Leute, die Tag und Nacht nicht zur
Ruhe kommen können, bevor der letzte Widerständler nicht zu Kreuz
gekrochen ist.” Dafür standen mir deutlich ein paar passende
Beispiele vor Augen.
Einmal,
an einem Elternabend, hatte ich während Hartmuts Schulzeit fast mit
Schulterschluss neben einem Offizier der NVA gesessen. Es ging um
Fragen der Berufsausbildung, darum, dass Erich Honnecker und die SED
darauf bestanden, dass wir mehr Klempner und Heizungsmonteure
benötigten. Zufällig wollte niemand aus der "9R" eine der
erwähnten Ausbildungslaufbahnen einschlagen. Ich sah wie der
linientreue Mann zu zittern anfing. Er bebte vor Empörung.
Das war es, was ich meinte.
Gnade
dem, der es wagen würde, sich dem Gebot des Höchsten zu
widersetzen, wenn unverrückbar feststünde, dass es sein Gebot ist.
Wir hätten in den meisten unserer Nachbarn scharfäugige
Inquisitoren, die jeden kleinen Fehler, den wir dann begehen würden,
mit ungeheurer Konsequenz verfolgen würden. Wir wären, wenn wir
endgültig von Gott wüssten, außer unserem dadurch um ein
vielfaches verschärften eigenen Gewissens der erbarmungslosen Kritik
derer ausgesetzt, die sich gar nicht tief genug unter den Pantoffel
eines Diktators bücken können. Dann aber lohnte es sich nicht mehr
zu leben.
Zum
Glück sei Gott kein diktatorischer Regent. “Er lässt uns
Spielraum.”
Woher
ich das wüsste.
“Wäre
Gott ein Diktator, hätte er uns längst unterworfen.”
Alle
Akteure, ob sie sichtbar oder noch unsichtbar sind, ziehen ihre
Spuren hinter sich her. Ich habe immer nur gefunden, dass wir völlig
frei entscheiden können und genau das ist für mich seine Absicht.
Er will uns auf ein höheres Niveau heben, aber nicht dahin prügeln.
Wir
legten eine längere Pause ein. Ich dachte schon, Manfred wünsche
das Thema nicht noch einmal aufzugreifen. Wir glitten über das sich
leicht aufrauende Wasser der Lieps. Von Süden wehte ein angenehmer
Wind.
“So
weit so gut.” befand Manfred unvermutet, nur passe meine Theorie
überhaupt nicht zur christlichen Praxis.
Die
Spuren im Sand der Geschichte die er gesehen hätte, zeigten ihm nur
das Elend und die Millionen Leichen der im Namen des Kreuzes Christi
ermordeten Menschen.
“Wo
hat das Christentum jemals Gutes ausgerichtet? Nur Blut und Tränen!”
Damit
kam er genau auf mein Hauptthema zu sprechen…
Der
Rest des Tages verging uns im Nu.
Ich
hielt nach meinen rudernden Kollegen Ausschau. Sie hoben die letzte
Reuse. Ich sah die Menge zappelnder Fische, die sie ins Schweff
schütteten, und meine Gedanken schweiften zurück.
Wir
fuhren gemächlich zurück, redeten noch, drehten mit unserem
wellenaufwerfenden Stahlkutter noch eine zusätzliche Runde auf dem
Tollensesee. Die Sonne stand bereits im Südwesten. Meine beiden
Kollegen schliefen, erschöpft nach der anstrengenden Tagesarbeit.
Sie lagen lang ausgestreckt auf den Brettern der großen
Schweffdeckel. Manfred machte sich fertig für den Landgang,
schüttelte zum Abschied meine Hand. Er schaute mich sehr freundlich
an: “Ich hätte nicht geglaubt, dass es solche Sichtweise gibt!
Aber es hat mir großen Spaß gemacht. Es war schön gewesen mit
Dir.” Er schüttelte den Kopf und lachte: “Ja, so positiv!”
So
gingen wir als Freunde auseinander. Im darauf folgenden Sommer 1988
war er zu meinem Bedauern nicht mehr dabei. Die Kampfschwimmer kamen
zu uns heran, sprachen mit uns, fragten mich auch, was ich mit ihrem
Manfred geredet hätte. In Berlin sei er von einer Bibliothek in die
andere gerannt und hätte wie ein Besessener gelesen.
Schade,
dass ich nie wieder von ihm hörte.
Wenig
später wurden Bruder Bernd Schröder, Berlin, Gemeinde
Friedrichshain und ich eingeladen in Märkisch Buchholz vor
angehenden Baptistenpredigern einen Vortrag zum Thema “Mormonen”
zu halten. Der Griechischprofessor gewährte uns viel Spielraum und
stellte die üblichen Fragen. Zum freundlichen Abschied übergab er
uns die Theologische Literaturzeitung Nr.2, Februar 1984 .
Darin
stand vornan der Aufsatz “Joseph Smith und die Bibel”. Autor
Räisänen führt aus, dass Joseph Smith den Wortlaut der Bibel zwar
partiell verändert habe, aber nicht aus dem Grund, die Texte für
seine Zwecke zurechtbiegen zu wollen, was ihm häufig unterstellt
werde.
Räisänen
sagt z.B. “... Bei der Umgestaltung des Passus Römer 7,25 bringt
Joseph Smith ein erstaunliches Maß an Scharfsinn auf; mehrfach
entsprechen seine Beobachtungen im großen denen moderner Exegeten
... der Versschluss, der vom Dienst am Gesetz der Sünde mit dem
Fleisch redet - ein Stein des Anstoßes auch für die moderne Exegese
- fällt bei J. Smith aus! ... als ein weiteres kleines Beispiel
dafür, wie Joseph Smith nicht ohne einen gewissen Erfolg versucht
hat, einen dunklen Gedankengang zurechtzurücken, sei seine
Behandlung von Römer 3,1-8 erwähnt. C.H.DODD bezeichnet die
Paulusargumentation als “dunkel und schwach”. Die logische
Antwort - vor der Paulus zurückschrickt - auf die Frage nach dem
Vorzug der Juden (Römer 3,1) wäre gewesen: 'Gar nichts!' Dass
Paulus hier seine eigene Logik durchkreuzt, scheint J. Smith
ebenfalls empfunden zu haben. Er
bringt die Antwort zur Übereinstimmung mit 2,29: 'But he who is a
Jew from the heart, I say hath much every way ...'
“Zusammenfassend
lässt sich feststellen”, so Räisänen:" dass Joseph Smith
durchgehend echte Probleme erkannt und sich darüber Gedanken gemacht
hat ... wie durch ein Vergrößerungsglas lassen sich hier auch die
Mechanismen studieren, die in aller apologetischen Schriftauslegung
am Werke sind; die zahlreiche Parallelen zum heutigen
Fundamentalismus aber auch zur raffinierten Apologetik etwa der
Kirchenväter sind hochinteressant ...” Räisänen sagt, dass
moderne großkirchliche Exegese durchaus die Frage zuläßt ob der
Urtext richtig überliefert worden sei. Er schließt nach weiteren
Darlegungen mit folgenden, beachtenswerten Worten:
“Mit
diesen Beispielen aus den Werken Joseph Smiths, sowie aus der neueren
Literatur über den Mormonismus hoffe ich hinreichend angedeutet zu
haben, dass eine ernsthafte Beschäftigung mit diesen Werken eine
lohnende Aufgabe, nicht nur für den Symboliker und den
Religionswissenschaftler, sondern auch für den Exegeten und den
Systematiker darstellt ...”
Dass Außenseiter so positiv über
Joseph Smith redeten war sehr selten Es bewegte uns sehr. Später
übergab ich Douglas Tobler von der BYU eine Kopie dieses Aufsatzes.
Bernd Schröder und ich wurden in
der Wendezeit abermals eingeladen zu den Studenten zu sprechen.
Wir wurden nicht mehr
beaufsichtigt, sondern durften frei sprechen was immer wir wollten.
So wählten wir das uns besonders am Herzen liegende Thema “Abfall
und Wiederherstellung.”
Bernd sagte hinterher, nachdem
wir jedem angehenden Baptistenprediger, männlich und weiblich, ein
Buch Mormon geschenkt hatten: “Soviel Neues und soviel
Lebendigkeit haben die hier lange nicht gehört und erlebt.”
Die
SED-Führung erlaubte ab März 1989, dass die zwanzigjährigen DDR-
Mormonen von der Kirche als Missionare berufen und sogar ins
“kapitalistische” Ausland auf Mission geschickt werden durften.
Einige der Berufenen kannte ich. Sie erhielten einen grünen Pass,
wie ihn die DDR-Diplomaten bekamen.
Und
ab sofort gestatteten sie die Arbeit US-amerikanischer
Mormonenmissionare in der DDR. Der Preis dafür war, zu bekennen,
dass wir Mormonen mit dem Sozialismus leben konnten.
Uns
blieb ja ohnehin nichts weiter übrig, wir mussten mit dem
Sozialismus leben.
Natürlich
mischten wir uns nicht in die DDR-Politik ein, weil der Bereich, in
dem wir uns bemühten, Menschen zusammenzubringen, “nicht von
dieser Welt” war und ist. - wie Jesus schon in einer
Grundsatzbemerkung gegenüber Pilatus äußerte - Joh.18,36
Der
Verdacht unserer Kritiker, es sei ein Staatsvertrag geschlossen
worden, griff viel zu hoch. Praktisch konnte die Kirche unter allen
Bedingungen existieren, außer in der Illegalität.
Diese
im Herbst 1988 gefassten Politbürobeschlüsse passten überhaupt
nicht in mein Bilderbuch.
Fühlten
sich die Sozialisten so stark oder schon zu schwach, um dem Begehren
unserer Führungsspitze noch länger zu widerstehen? War es die
Altersschwäche der Greise im Hause des Zentralkomitees der Partei,
die sie so milde und unerwartet nachsichtig machte? Oder wünschte
Erich Honnecker, über den Umweg der Mormonenkirche eine Einladung in
die USA zu erhalten?
Richtig
ist, dass ihnen von uns keine politische Gefahr drohte, jedenfalls
keine unmittelbare.
War
dies für sie eine Möglichkeit, einer stets wachen
Weltöffentlichkeit zu beweisen: Seht, wir sind nicht die Buhmänner,
für die ihr uns haltet? Niemals, auch das stand fest, würde sich
das Mormonentum zu einer Massenbewegung auswachsen. Dafür verlangt
diese Kirche von ihren Mitgliedern einfach zuviel Selbstverleugnung,
zumindest aber einen hohen Grad an Selbstdiziplinierung.
Die
DDR-Politiker hatten die Resultate gesehen. Das jedenfalls führte
der stellvertretende Staatssekretär für Kirchenfragen Herr Kalb
anlässlich der Einweihungsfeierlichkeiten des Freibergtempels
deutlich aus: “Wir haben gesehen, dass Mormonen nicht in
Eigentumsdelikte verwickelt waren, es gab fast nie Ehescheidungen bei
Ihnen. Ihre jungen Männer tranken während ihrer Armeezeit nie
Alkohol, das allein war für uns sehr erstaunlich. Das sind Menschen,
die wir hervorzubringen wünschten. Die Früchte waren gut.”
Waren
es diese Ergebnisse, die uns in den letzten DDR-Jahren und Monaten
praktisch einen Sonderstatus einbrachten?
Sie
vermuteten richtig. Unsere Aufgabe bestand in der Hauptsache darin,
an uns selbst zu unserer persönlichen Selbstvervollkommnung zu
arbeiten, gleichgültig wie weit wir damit kamen.
Das
ist ja das Geheimnis des Buches Mormon, wenn Du es gründlich liest
ermutigt es Dich ununterbrochen das Richtige zu wählen und zu allen
Menschen gut und ehrlich zu sein.
Unmittelbar
vor den Maiwahlen 89 hatten nicht wenige DDR-Bürger das Gefühl,
dass die Mächtigen in der Honeckerregierung sich zum letzten Mal
eines glatten “Sieges” erfreuen würden.
Das
geistige Leben in der DDR war seit Bekanntwerden der Gorbatschowideen
höchst widersprüchlich geworden.
Wir
lasen zwischen den Pressezeilen täglich die Wahrheit: Das
kommunistische System krankte sehr.
Andererseits
war allein der vage Gedanke, dass Moskau und die Altpolitikerriege in
Wandlitz jemals ihre militärisch bestens fundierte Macht freiwillig
aufgeben würden unvorstellbar.
Dennoch
lag etwas in der Frühlingsluft. Viel mehr Menschen als je zuvor
hatten Westverwandte besuchen dürfen und alle kamen mit den
Eindrücken zurück, die ein bunt schillerndes Schlaraffenland einem
Bewohner eines kränkelnden Grau-in-grau-Staates vermitteln musste.
So geht es nicht weiter, sagten die erschütterten Heimkehrer
mehrheitlich. Es gab kaum noch Schokoladen, kaum gute Bonbons, es
mangelte mehr denn je an Effizienz der Wirtschaft. Das
Lebensmittelnormalangebot fanden wir nur noch in den so genannten
Delikatläden, während sich die Lücken in den HO-Kaufhallen, auf
jedem Regal breiter machten, - mit Ausnahme der Alkoholpalette.
Peinlich wirkte die westliche Perfektion, die allabendlich ebenso wie
Chinas Studentenrevolte in die kleinste Stube hineinflimmerten. Egon
Krenz hätte damals nie nach Peking reisen dürfen, und wenn schon,
dann hätte er danach etwas Kluges sagen und tun müssen - oder
schweigen. Aber er war auch nur einer jener Leute, die meinten, ihr
bloßes Wort könnte die Gesetze der Welt außer Kraft setzen.
Ich
hatte fast bis zum Schluss der Entwicklung gedacht, nur eine die
ganze Menschheit vernichtende Feuersbrunst könnte diesem Eispalast
jemals irgend etwas anhaben. Während sein atemberaubend schnelles
und lautloses Zerbröseln bewies, wie schnell die Masse unter der
Einwirkung des Tauwetters morsch geworden war. Wobei der Dauerfrost
der Stalindiktatur erst die Erschaffung dieses sehr künstlichen
Apparates und Staatsgebildes ermöglicht hatte.
Nun
schlug das Wetter um. Die Sonne der Vernunft wollte sich durchsetzen,
ausgelöst durch ein paar Männer um Gorbatschow.
Vielleicht hatte Gorbatschow dieses
Ausmaß der Folgen von Erwärmung des Ostwindes nicht vorhergesehen.
Wahrscheinlich dachte er, es geht auch ohne Schärfe. Zwei lichthelle
Sätze, die er auf der neunzehnten Unionsparteikonferenz der KPdSU,
schon im Juni 1988 formulierte, hätte er nie und nimmer sagen
dürfen, wenn sein Wunsch gewesen wäre, an der Macht zu bleiben.
Möglicherweise hatte er diese Schlüsselworte lange zuvor bedacht
und war sich des Risikos der automatisch wirkenden Konsequenzen
stärker bewusst, als wir denken. Danach musste der erstarrte Block
aufweichen.
Der
erste dieser seiner beiden Sätze der Vernunft - die ich mit großem
Respekt und Staunen las - begann mit den Worten: “Bei der Rückkehr
zu Wahrheit und Gerechtigkeit...” und der zweite lautete schlicht
und einfach: “Eine Schlüsselposition innerhalb des neuen Denkens
nimmt die Konzeption der Entscheidungsfreiheit ein ...” (ND
vom 29. Juni 88, S.5)
Mögen
ihn andere deshalb verdammen, ich bin überzeugt, Gorbatschow wusste,
was er tat, als er auf diese Weise Hand ans Allerheiligste der
Diktatur legte, indem er Unwahrheit und Willkür entmachtete.
Nachdem
er in seinem Riesenland immer wieder unerwartet in den
Staatsbetrieben auftauchte, wusste er allerdings, wie laut die
Alarmglocken schrillten. Überall logen die Statistiken und die
Menschen, die sie machten.
Sie
hatten weder das Korn geerntet, noch die Baumwolle auf den Feldern
der südlichen Unionsrepubliken, wie gemeldet wurde und die
Bekenntnisse zum Kommunismus kamen sehr selten aus ehrlichen Herzen.
Der
Rest war nur die Folge davon.
An
dem Tage, als die Ost-CDU in Presseerklärungen bekannt gab, dass sie
sich aus der SED-Vormundschaft lösen wolle, an jenem 30. Oktober
1989, bin ich ihr demonstrativ beigetreten. Nicht weil ich es den
“Genossen Kommunisten” nun aber geben wollte, sondern mein Wunsch
war beizutragen, dass wir durch beste Mittel und Schritt für Schritt
behutsam, zu einer freiheitlich demokratischen Grundordnung gelangen.
Mir waren diese lauten Aufmärsche in Leipzig und andernorts, die von
Leuten getragen wurden, die meiner Meinung nach allzu viel zu schnell
einforderten, unheimlich. Ich gehörte zu den Pessimisten. Ich gebe
zu, mir schien, dass wir bereits viel erreicht hatten. Wir älteren
Mormonen genossen die neue Religionsfreiheit seit 1985 zunehmend.
Auch
deshalb marschierte ich zunächst nicht mit. Ich dachte ohnehin das
Schlimmste. Unserer Hauptbuchhalterin, die zu den ersten Umstürzlern
in Neubrandenburg gehörte sagte ich: “Ihr reißt den ganzen Bau
ein, hoffentlich stürzen Euch die Balken nicht auf den Kopf.” Ich
wurde jedoch eines Besseren belehrt. Die Führer der Kommunisten
ließen die Kanonen in den Arsenalen.
Das
hätte auch anders kommen können.
Wie
nahe wir an einer Katastrophe vorbeigeschrammt sind, werden wir wohl
erst später wissen.
Ich
sah diese Scharen von Parteigruppenorganisatoren und Parteisekretäre
der Betriebe durch den Neubrandenburger Kulturpark zur Stadthalle
eilen. Alle waren an jenem 30. Oktober auf höchste erregt. Die
Parole der kommenden zehn Tage bis zum neunten November hieß für
sie: Schadensbegrenzung.
Doch
da war nichts mehr zu retten.
Von
der evangelischen Neubrandenburger St. Johanniskirche aus zogen
tausende Oppositionelle, nach Feierabend, durch die Straßen der
Innenstadt zum Karl-Marx-Platz. Sie gingen mutig unter rotbunten
Plakaten mit regimefeindlichen Sprüchen
Mitten
durch das Gewühl dieser rebellierenden Menschenmassen sah ich zwei
unserer zwanzigjährigen Missionare schreiten, Elder Craig und Elder
Scofield. Beide gingen in hellen Mänteln, beide wie es mir vorkam
ziemlich unbeeindruckt von dem für uns gewaltigen Umschwung.
Die
bewundernswerten, evangelischen Frauen der Leipziger Nikolai-Kirche
hatten diesen Aufruhr in Gang gesetzt. Das müssen wir alle, die
Demokratie lieben, dankbar anerkennen. Ihr verwegener Mut, als erste
offen demonstrierend auf die Straße zu gehen, war der Beginn.
Steinharte
Männer die mir gegenüber wiederholt wörtlich beteuert hatten
linientreue Kommunisten zu sein und die noch vor Tagen gewillt waren
für die rote Fahne zu sterben, erwachten am 31. Oktober
als Demokraten. Wunder
über Wunder passierten.
Aber
reichte das schon aus, um von einer Wende zum Guten reden zu können?
Noch
Anfang Oktober hatte mir der Abteilungsleiter für Land- und
Forstwirtschaft vom Rat des Bezirkes eine Auszeichnungsreise
zugesprochen, einen Flug nach Sotschi am Schwarzen Meer mit
einwöchigem Hotelaufenthalt. (Für Aktivitäten zur Planerfüllung
im Fischfang). Ich nahm dankbar an.
Erikas
Anteil allerdings mussten wir selbst bezahlen. Wir flogen am 5.
Dezember von Dresden ab. In unserem sehr modernen, wunderschön am
Fuße der kaukasischen Berge gelegenen Hotel in Dagomir, in dem
riesige, auf Westbesucher eingestellte, Restaurantanteile völlig
leer standen, waren wir von den sich überstürzenden Ereignissen in
der Heimat abgeschnitten. Die Informationen flossen spärlich. Auf
einer großen Wandtafel vor dem Speisesaal fanden wir mitunter die
Kernsätze der letzten Nachrichten aus der DDR (noch lange nicht aus
Deutschland). Wir waren eine Gruppe von fünfzig Leuten, allesamt
lange Jahre in der Landwirtschaft tätig gewesene Leiter von
Kollektiven. Ich wunderte mich über die einhelligen und stürmischen
Freudensäußerungen, wenn sie es einander vorlasen: “Der erst am
18. Oktober als Generalsekretär der SED bestätigte Egon Krenz von
Hans Modrow gestürzt!” Sie jubelten, als hätten wir miteinander
einen Lottofünfer gewonnen. Dabei waren die meisten von ihnen doch
immer noch des Mannes Egon Krenz Genossen. Mich freute es auch, nur
ich fragte mich besorgt, wer und was am Ende der Überraschungskette
stehen wird.
Denn
im blitzsauberen Botanischen Garten des sich riesig ausdehnenden
Kurortes, hatte ich tags zuvor eine der beiden Dolmetscherinnen
angesprochen. Sie ging bereitwillig auf meine teilweise indiskret
gestellten Fragen ein: “Ja. Gorbatschow hat den Offizieren erlaubt,
ihren Dienst zu quittieren. Aber, es nahmen nicht, wie die
Parteiführung erhoffte, die älteren Herrschaften ihren Hut, sondern
die jungen, eher pazifistisch eingestellten Männer verließen die
Rote Armee.” Ihr Bruder war ebenfalls davon gegangen. Von ihm
wusste sie, dass es sich so verhielt. Die jungen Tauben flogen weg,
die alten Falken blieben. Diese wichtige, einleuchtende Aussage einer
klugen und ehrlichen Russin sollte mich noch bestimmen, wenig später
eine wichtige Entscheidung von gewisser politischer Tragweite zu
fällen.
Nachdem
wir wohlbehalten heimgekehrt waren, fand eine Mitgliederversammlung
der CDU Neubrandenburg statt. In dieser Zusammenkunft traf ich zum
ersten Mal die jungen Katholiken Rainer Prachtl, Paul Krüger, Ralf
Kohl, Günter Jeschke und andere, die wichtige Aufgabenträger in der
neuen Demokratie werden sollten.
Ich
begann meine durch die Vorjahre geprägten Ansichten in
Zeitungsartikeln und in Ansprachen auszudrücken, sagte es immer
wieder, dass Glaube ohne Vernunft Fanatiker und Vernunft ohne Glaube
Automaten hervorbringen wird. Meine Hoffnung dagegen lautete immer
noch, dass Glaube und Vernunft Künstler macht, nicht nur
Lebenskünstler, wenn sie ihren Idealen und ihrer Liebe treu bleiben.
Als
ich mir 1954 eine neue Bibel gekauft hatte, suchte ich mir aus den
Texten ein Motto aus und schrieb es, weil ich es als schöne
Aufforderung verstand, in die Einbandseite: “Tue deinen Mund auf
für die Stummen und führe die Sache derer, die verlassen sind.”
(Sprüche 31,8)
So
versuchte ich, meinen Glauben auch in die Politik einzubringen. Für
mich waren Politik und Religion seit eh und je eine Einheit. Für
mich war Wahrheit das, was sich wie Gold nie änderte. Sätze wie
Shakespeare Polonius im Hamlet sagen lässt: “Sei ehrlich zu dir
selbst und daraus folgt wie Tag der Nacht, du kannst nicht falsch
sein gegen irgendwen.”
Eines
Tages, Ende Januar 1990, traf ich auf der Straße, vor dem
Krankenhaus in der Pfaffenstraße, zufällig auch Pastor F. Rabe von
St. Michael wieder und teilte ihm mit, dass ich mich entschlossen
hätte, soviel ich kann, beizutragen die Demokratie fest zu machen.
Er kannte meine Ansichten, die ich in der Zeitung "Demokrat"
in einem Artikel über Glaube und Vernunft beschrieben hatte. Er
teilte sie und lud mich deshalb ein, anlässlich des Friedensgebetes
am 12 Februar 1990, in der Neubrandenburger Johanniskirche zu
sprechen. Er stellte mir ein Thema aus dem 97. Psalm. Ich schaute ihn
natürlich fragend an. “Was werden deine Amtsbrüder dazu sagen?
Ein Mormone spricht in einer evangelischen Kirche?” Er zuckte mit
den Achseln: “Das haben wir doch gerade abgeschafft, dass Menschen
ausgegrenzt werden.”
Der
Chefpastor von St. Johannis, Herr Martins, soll sehr geschluckt
haben, als er hörte: ein Mormone wird in seiner Kirche reden.
Auch
er kannte mich seit vielen Jahren. Wir hatten einmal in den frühen
achtziger Jahren, in seinem Amtszimmer, in der Großen
Wollweberstraße, eine längere Unterhaltung zum Thema evangelische
Rechfertigungslehre gehabt. Wie nahezu alle anderen Gespräche, die
ich mit Geistlichen der Großkirchen gesucht hatte, war auch dieses
freundschaftlich verlaufen. Deshalb war ich so überrascht gewesen,
als Herr Pastor mir damals abschließend mitteilte, er stünde mir
für ein weiteres Gespräch nicht wieder zur Verfügung. Wovor
fürchtet er sich, fragte ich mich.
Meine
Absicht war, vom Mut und der Glaubenstreue eines polnischen
Katholiken zu reden. Solange ich seine Geschichte kannte, bewunderte
ich den Franziskanerpater Maximilian Kolbe.
Bevor
ich ans Mikrofon in der Johanniskirche trat, sagte F. Rabe zu mir:
“Achte auf den Nachhall!”
Ich
sprach denn auch in Intervallen, was mir ganz ungewohnt war: “Einer
der Männer, die uns auf wunderbare Weise vorgelebt haben, wie stark
Glaube sein kann, ist der Franziskanerabt Maximilian Kolbe. Am Abend
des 12. Mai 1941 schlossen sich die eisernen Tore des
Konzentrationslagers Auschwitz hinter ihm. Er nahm nichts als seine
große, von seiner Religion bestimmte Menschlichkeit mit sich. Er
sollte dieses Tor nie wieder als freier Mann verlassen. Wenige Woche
nach seiner Inhaftierung gelang einem Polen die Flucht. Die Führer
der SS-Verwaltung schäumten vor Wut. Sie erklärten, sie würden
jeden zehnten Polen des Blocks, in dem Pater Kolbe lag, erschießen.
Als der Lagerkommandant mit dem tödlichen Auszählen bis Frantisek
Wlodarski kam, einem Familienvater, der entsetzt aufschrie, trat
Maximilian Kolbe vor, nahm die Häftlingsmütze vom Kopf und sagte:
Ich werde für ihn sterben. Der schockierte SS-Offizier akzeptierte.
Er nahm sich vor, diesen Mann auf ausgesucht grausame Weise sterben
zu lassen. Sie quälten ihn mehrere Tage lang allmählich zu Tode. Wo
Maximilian Kolbe hätte verzweifelt und zerschmettert am Boden liegen
müssen, da richtete er sich auf. Aus seinem Mund kam keine der
Klagen, die wir sooft hören und die ausdrücken: Wenn es einen
gerechten Gott gäbe, dann würde er das Elend nicht zulassen. Er
wusste mehr. Er hatte erfahren, dass Gott sichtbares Leid mit
unsichtbarer Freude zudecken will. Die rohen SS-Männer konnten das
nicht fassen. Und manchmal können auch wir es nicht verstehen, denn
wir sind Menschen, die fast immer nur bis auf die Oberfläche blicken
können, tiefer nur selten.
Wir
dürfen leben! Machen wir das Beste für uns und unsere Nächsten
daraus.”
Pastor
R. nickte mir zu, als ich mich wieder hinsetzte. Damit war unsere
Freundschaft beschlossen. Ich gab ihm später ein Buch Mormon und er
erwiderte, als wir irgendwann danach darauf zu sprechen kamen: “Mir
sind die Texte des Buches Mormon nicht unsympathisch.”
In
vier Wochen sollte ich, an derselben Stelle, die nächste Ansprache
halten.
Das
tat ich gerne und es brachte mir die Herzen einiger Neubrandenburger
näher.
Meine
teilweise sebstgewählten Pflichten nahmen, zumal ich noch jeden Tag
zum Fischen hinausfuhr, meine ganze Kraft in Anspruch.
Kurz
nachdem mich die Parteitagsteilnehmer zum stellvertretenden CDU
Kreissekretär gewählt hatten, musste ich eine wichtige Entscheidung
treffen. Da meine Vorgesetzte, Frau Benz, in Friedland wohnte, fiel
mir nämlich zeitweise die Aufgabe zu, unsere politische Arbeit in
Neubrandenburg zu leiten.
Einen
oder zwei Tage vor Gründonnerstag 1990 erhielt ich die Information,
dass Dr. Alfred Dregger, der Vorsitzende der CDU/CSU
Bundestagsfraktion, am 20. April öffentlich auf dem Neubrandenburger
Marktplatz zu reden wünschte. Am selben Tag machte mich während
einer Tagung des örtlichen “Runden Tisches” in einem
Korridorgespräch ein führendes SED/PDS-Mitglied auf die Möglichkeit
eines Aufmarsches der fanatischen Linken der Stadt aufmerksam. Er
hielt es für eine Dummheit, die sie durchaus begehen könnten, wenn
sich dazu denn nur ein entsprechender Anlass fände. Freilich, je
mehr Zeit ins Land ginge, umso geringer würde die Neigung, sich
gegen das Unvermeidliche zu sträuben. Aber noch waren gewiss nicht
alle Messen gesungen. Heftig drängte sich mir deshalb die Frage auf,
ob der ungeschützte Auftritt des als “Rechtsaußen” der
deutschen Bundespolitik geltende Herr Dr. Dregger diesen “Anlass”
darstellen könnte?
Dass
er selber solche Frage nie in Betracht ziehen würde, war mir klar.
Allerdings stand sein Einverständnis in diesem Fall meiner
Überzeugung nach nicht zur Debatte. Ich stellte mir nur vor, da
würden zweihundert oder mehr SED-treue Genossen unter vielleicht
fünfzig entrollten roten Fahnen aufmarschieren, um ein Signal zu
geben.
Was
dann?
Was
könnte sich daraus entwickeln? Diese Vision von flatternden roten
Fahnen beschäftigte mich erheblich. Im Gegensatz zu meinen
Gesprächspartnern aus dem Konrad-Adenauer-Haus, war ich nicht der
Meinung, dass ein letztes Aufbäumen der immer noch im Lande unter
Waffen stehenden NVA auszuschließen sei. Es gab immer noch genügend
Oberste, die ihre Machtinsignien selbst gegen alle Vernunft, gemäß
ihrem noch in Kraft stehenden Fahneneid, verteidigen könnten, wenn
sie ein rotes Signal dazu auffordern würde.
Ich
schloss eben von mir auf andere. Ein Trugschluss? Ich weiß es bis
heute nicht.
Mir
schien damals, es sei leichtsinnig, solche Erhebung der Linken
auszuschließen, zumal der zwanzigste April Adolf Hitlers Geburtstag
war. Ein Umstand, an den niemand im Büro des Herrn Dr. Dregger auch
nur im Traum gedacht hatte, den aber ein gewiefter Propagandist hätte
durchaus auf die Tagesordnung setzen können.
Schließlich
teilte ich Frau Zamzow, der Leiterin der Neubrandenburger
CDU-Geschäftsstelle mit, sie möge das Büro des Herrn Dr. Dregger
informieren, dass sein öffentlicher Auftritt in unserer Stadt, aus
Sicherheitsgründen nicht erwünscht ist.
Da
sie meine Argumente nicht verstand, wurde ich grob, worüber sie sich
wunderte, und wahrscheinlich aus Ärger über mich im Stillen
beschloss, meine Ansicht Herrn Dr. Dregger nicht mitzuteilen. Die
sofort einberufene Kreisvorstandssitzung der CDU ergab, dass der
spätere Oberbürgermeister Peter Bolick und weitere Mitglieder der
Beratungsrunde meine Beurteilung der Situation mehrheitlich teilten.
Warum sollten wir ein Risiko eingehen? Nur weil wir Dr. Dreggers
Unmut fürchteten? Unser Beschlusstext ging seinem Büro am 18. April
zu. Anderntags kam sein Stab mit den Plakaten ins damalige CDU-Haus
in der Schwedenstraße. Ich bestand auf Änderung einiger Details.
Natürlich waren Dr. Dreggers Mitarbeiter entsetzt. Einer, den ich
immer noch deutlich vor mir sehe, ein großer, junger Mann schaute
mich an, als wäre ich ein arroganter Idiot.
Er
erhob sich abrupt und verließ mit allen Anzeichen von Empörung das
Geschäftszimmer. Morgens am 20. April bat mich Dr. Dregger zu einem
Vieraugengespräch. Ich sagte, was ich dachte und befürchtete. Wir
gingen, im Beisein seiner Sekretärin, in Richtung des Sportplatzes
am Badeweg und umrundeten debattierend die Tribünen. Er war sehr
beherrscht, aber sehr wütend auf mich. Ich konnte nicht anders
denken als zuvor und ließ mich auf nichts weiter ein. Wahrscheinlich
hielt er mich für einen verkappten Roten. Es hat Leute gegeben, die
ihn darauf hinwiesen, dass ich, wenn nicht das eine, auf jeden Fall
das andere war, nämlich ein sektiererischer Mensch, ein Mormone.
Da
muss es ihm eiskalt über den Rücken gelaufen sein.
Vielleicht
hasste er mich deshalb doppelt. Aber das war unverdient. Obwohl ich
mit einigen seiner politischen Auffassungen nicht übereinging, stand
ich nicht gegen ihn. Es gab keinen anderen Beweggrund, ihn nicht auf
dem Marktplatz sprechen zu lassen, als den genannten. Es lag mir und
uns völlig fern, ihn demütigen zu wollen. Leider musste ich ihm
außerdem noch den Beschluss des Rates der Neubrandenburger
Geistlichkeit mitteilen, der kurioserweise in meiner Gegenwart, in
einem Saal im Kindergarten der Katholischen Kirche, erneuert
formuliert wurde. Herr Dr.Dregger möge in der Gedenkstätte für die
Opfer der Nazibarbarei und der kommunistischer Gewaltherrschaft,
Fünfeichen, kein Kreuz errichten, dies sei ihre Sache und bereits
mit Termin für die Ausrichtung eines Gebetsgottesdienstes geplant.
Ich
an seiner Stelle hätte mich ebenfalls beleidigt gefühlt. So gut wie
mir möglich, unterbreitete ich ihm die Stellungnahmen. Bei der
CDU-Presse muss es ein Foto geben, das uns gemeinsam im Bereich des
Vorgartens des damaligen Neubrandenburger CDU-Hauses zeigt. Er
lächelte in die Kamera hinein, aber ich wusste, wie bitter seine
Gefühle waren. Schließlich sprach er in der Stadthalle vor einem
für ihn enttäuschend kleinen Publikum.
Einige
Monate später, wurde ich eingeladen, mit Vertretern anderer Parteien
bei der Umvereidigung der Mannschaften und Offiziere des
Fliegerhorstes Trollenhagen auf der Bühne vor einer Freifläche des
Flugplatzes zu stehen. Ungefähr siebenhundert Uniformierte standen
vor uns angetreten. Da dachte ich es wieder, du würdest dich erneut
so entscheiden, gegen Dr. Dreggers Wunsch, auch wenn du heute weißt,
sie wären mit ihren roten Fahnen nicht gekommen und diese
NVA-Soldaten hätten nicht losgeschlagen. Damals hat dir deine Logik
geboten, so zu handeln. Schließlich bin ich der CDU beigetreten
unter der Voraussetzung, dass es allezeit Gültigkeit hat, was in
ihrem Grundsatzprogramm niedergeschrieben steht: “Der Mensch steht
in der Verantwortung vor seinem Gewissen und damit nach christlichem
Verständnis vor Gott.”
In
öffentlichen und privaten Diskussionen vertrat ich damals immer
noch, natürlich wirkungslos, dass ich von einer blitzschnellen
Vereinigung mit der Bundesrepublik nichts halte. Meiner Überzeugung
nach war es falsch, uns etwas organisch anders Gewachsenes
überstülpen zu lassen.
Aber
außer dem verständlichen Trachten großer Bevölkerungsteile nach
der harten Mark gab es einige Unerbittlichkeiten der Politik, die ein
geradezu überstürztes Handeln verlangten. Wie es sich nun im
Nachhinein darstellt, war es sehr wahrscheinlich nur für eine
winzige Zeitspanne lang möglich gewesen, uns, die hoffnungslos
Dahintreibenden, hineinzuhieven in den riesigen Dampfer.
Schiffbrüchige haben kein Recht, Forderungen zu stellen, wie sie
geborgen zu werden wünschen. Das Wie und Wann bestimmen die Retter.
Das musste ich akzeptieren.
Natürlich
war auch ich froh, dass ich mit dem neuen Geld viel anfangen konnte.
Doch das Beste, das nun auf uns kam, war die gewonnene
Geistesfreiheit, und so ist meine Dankbarkeit heute noch groß.
Anfang
Juli 1990, wurde ich zum Vorsitzenden der Fischereigenossenschaft
gewählt. Für mich war selbstverständlich, dass wir die
Genossenschaft erhalten und niemanden in die Arbeitslosigkeit
schicken wollten. Meine erste Amtshandlung bestand folglich darin,
bestätigen zu lassen, dass wir lediglich fünfzehn Prozent der
aufgesparten Geldmittel, die uns nun frei zur Verfügung standen,
verteilen und den Rest darauf verwenden sollten, einen Neubau in der
Schillerstraße zu errichten. Es war erforderlich, ein Haus zur Be-
und Verarbeitung, für die Installierung einer Räucherei und einer
modernen Verkaufseinrichtung innerhalb eines Komplexes bauen zu
lassen. Dies würde bedeuten, dass wir uns nun etwa in Höhe von 600
TDM verschulden würden. Alle stimmten zu, auch Jürgen, mein Feind.
Diese
scheinbare Kleinigkeit sollte die letzte Etappe unseres fast
zwanzigjährigen Zwistes einleiten. Ich musste davon ausgehen, dass
er wusste, was eine Zustimmung zur Verschuldung bedeutete. Die
namentliche Abstimmung band ihn ans Unternehmen, zumindest durfte er
keine Schritte gegen uns planen.
Doch
bereits wenige Tage später erfuhr ich, dass eine namentlich noch
unbekannte Person im Begriff war, uns um wichtige Gewässer durch
Privatanpachtung zu bringen. Das Jürgen diese Person war, konnte und
wollte ich nicht glauben. Er hatte kein Sterbenswörtchen von dieser
Absicht verlauten lassen. Er war nicht gekommen, um uns zu fragen, ob
wir damit einverstanden wären, dass er uns zu seinem Vorteil
Wirtschaftsflächen entzieht. Also beschloss ich, es zu ignorieren.
Das war falsch, es war ein großer Fehler, mein Fehler. Es war ein
Irrtum, der verhängnisvolle Folgen haben sollte. Vier Wochen
vergingen. Ich ging trotz der Warnungen unbeirrt weiterhin vom
ungebrochenen Willen aller meiner Kollegen aus, die
Fischereigenossenschaft erhalten zu wollen. Wer wollte die dreißig
Quadratkilometer Wasserfläche auch in Einzelregie übernehmen,
nachdem wir solange erfolgreich und gleichberechtigt
zusammengearbeitet hatten? Mir war sozusagen automatisch der Auftrag
zugefallen, die Umbildung der Produktionsgenossenschaft in eine
eingetragene Genossenschaft voranzutreiben, in eine für alle
Beteiligten rechtlich akzeptable Struktur, in der alle meine Kollegen
zugleich Unternehmer und Bewirtschafter sein würden. Außerdem hatte
unser Architekt, Herr Robert Brenndörfer, ja nur auf das Ergebnis
der Abstimmung gewartet und war sofort gestartet. Die Diskussionen,
die der Planung vorausgehen mussten, lagen seit Juni im wesentlichen
hinter uns. Es kam noch ein Faktor hinzu. Da wir unser neues Haus
über sechs Meter tiefen Torfschichten bauen wollten, bedurfte es
einer Pfahlgründung. Der Platz für den Neubau war schon vor
Jahresfrist beplant worden, zu einem anderen Zweck, doch es waren vor
Ort schon eine ganze Anzahl dementsprechend langer und teurer
Stahlbetonpfähle eingeschlagen worden. Für den neuen Grundriss
stand die Rammtruppe bereits auf Abruf bereit. Nie wieder würden wir
so günstige Konditionen bekommen. Es gab in der Tat kein Zurück
mehr. Da flatterte eine zweites und eine drittes Kündigungsschreiben
auf meinen Tisch. Erst waren es die Gewässer um den Kastorfer See,
dann die Möllner Seen und nun untersagten uns die damals teilweise
noch sehr unerfahrenen und selbstherrlich agierenden Bürgermeister
das Fischen auf den Plather Seen.
Wer
war dieser Konkurrent?
Sofortige
telefonische Nachfragen rüttelten mich endgültig. Ich fuhr nach
Rosenow fand das Amt besetzt und stand wenig später vor Herrn K.,
dem Leiter des Gemeindeverbandes. Ein energischer, bärtiger
Fünfziger saß hinter seinem Schreibtisch. Seine Brillengläser
funkelten, mein Ärger nicht weniger. Ich trug ihm mein Anliegen vor
und wurde scharf abgewiesen. Die Entscheidung der Gemeindevertreter
zugunsten unseres Kollegen Jürgen sei definitiv gefallen. Und er
müsse mir mal klar ins Gesicht sagen, die Zeit für meine
stalinistische Genossenschaft sei abgelaufen.
Ich
schnappte wie ein Fisch in schlechtem Wasser nach Luft.
“Ich
bin wie Sie Neupolitiker, ich verbitte mir diese aggressiven
Bemerkungen.” Ein Wort gab das andere. Die Fronten verhärteten
sich. Es half alles nichts. Ich kam mir vor wie ein geprügelter
Hund. und fand mich schnell draußen vor der Tür. Mit gewiss
überhöhtem Tempo raste ich nach Hause und stieß auf dem Flur
unseres Wirtschaftsgebäudes auf einen Kollegen: “Da drinnen”,
sagte er und wies mit dem Daumen über die Schulter. Ich ahnte, wer
da drinnen saß und stieß die Tür zum Lagerraum mit einem Ruck auf.
Feind
Jürgen und mein Vorgänger im Amt, Reinhard Lüdtke, berieten
miteinander. Reinhard, zumeist gutmütig und hilfsbereit, war gerade
dabei, Jürgen zu erklären, dass er wahrscheinlich nicht damit
rechnen könne, von mir einen Vorschuß für die fälligen Pachten
für die neuerworbenen, uns entwendeten, Gewässer zu erhalten.
Mir
platzte der Kragen.
Umgehend
berief ich eine Mitgliedervollversammlung ein. Alle folgten meiner
Aufforderung, ohne zu murren. Sie ahnten, was auf dem Spiele stand.
Ich musste Jürgen zur Rede stellen, ihn anklagen und ihm drohen.
Falls er sich nicht augenblicklich einverstanden erklärte, die gegen
uns gerichteten Gewässerpachtungen rückgängig zu machen hätte das
seinen sofortigen Ausschluss aus der Genossenschaft zur Folge.
Er
konnte und wollte nicht einsehen. Jetzt nahm das Verhängnis seinen
Lauf. Erregt gab ich ihm nur ein paar Stunden Bedenkzeit.
Er
lenkte nicht ein. Und so schlossen wir ihn ohne Gegenstimme, bei
Stimmenthaltung nur seiner beiden engsten Mitarbeiter, aus. Wütend
erhob er sich zur Manneshöhe, wollte etwas sagen, sackte aber
lautlos zusammen, weil ihm offensichtlich schlagartig bewusst wurde,
dass ein schwerwiegender Unrechtsakt weder durch Aufbäumen noch
durch anderes Imponiergehabe aus der Welt geschafft werden kann.
Draußen
erst, als ich ihn eine Stunde später wieder sah, sagte er: “Wir
sehen uns vor Gericht wieder.”
Vom
Gericht bekam er in erster Instanz sogar Recht. Das war mir
unverständlich. Wir wurden mit schlechter Begründung von der
Bewirtschaftung überlebenswichtiger Seenflächen bis auf Weiteres
ausgeschlossen. Unser Verweisen auf den Artikel 9 im Einheitsvertrag
wurde mit Gegenargumenten des Richters in Altentreptow
abgeschmettert. Selbstverständlich gingen wir in Berufung. Die
nächste Instanz war das Bezirksgericht Neubrandenburg.
Viel
Zeit verging. Nervosität kam auf. Ging es in der neuen Demokratie
darum, dass die Gerichte uns ihre Unabhängigkeit vom Staat beweisen
wollten? Woher sollten wir die Pachtverträge nehmen, zu deren
Abschluss die rechtlichen Voraussetzungen auf beiden Seiten fehlten?
Wiederholt
wurde mir mitgeteilt, das sei nicht das Problem der Juristen, sondern
unser.
Jürgen
hatte sich einen teuren Anwalt genommen, wir notwendigerweise
ebenfalls. Frostig begegneten wir uns am Verhandlungstag auf dem Flur
des Gerichtsgebäudes. Es kostete mich Überwindung, doch ich reichte
ihm die Hand zum Gruß.
Wir
saßen eine Weile mit unseren Anwälten wartend da. Jürgen sagte
nicht die Wahrheit, als der Vorsitzende des Gerichtes fragte, ob er
in seinem Bemühen auszusteigen, mit unserem Einverständnis
gehandelt habe.
“Ja!”
erwiderte er.
Spontan
protestierend sprang ich auf. “Herr Jürgen H. hat mich nie danach
gefragt!”
Nicht
nur das, Jürgen hatte sich in namentlicher Abstimmung für den
Erhalt der Genossenschaft ausgesprochen, also darf er sie nicht
zerstören. Herr Kurschuß, mein Anwalt, zog mich am Ärmel und
flüsterte mir zu, dass mein Gegenspieler, falls er log, einen
schwerwiegenden Fehler begangen hat. Er gab mir zu verstehen, dass
ich in keinem Fall aus der Haut fahren sollte. Denn wenn Jürgen uns,
wie er behauptete, um Erlaubnis gefragt hätte und wir sein Begehren
abgelehnt hätten, sei er ohnehin im Unrecht. Das tröstete mich
wenig, denn ich dachte an den unglücklichen Verlauf der Verhandlung
in Altentreptow zurück. Andererseits war er mein Feind so sehr nun
auch wieder nicht, dass ich mir nicht eine beide Seiten befriedigende
Lösung des Problems gewünscht hätte. Doch was er hier trieb, das
musste uns und ihm selber Schaden zufügen.
Meine
Hoffnung, noch am Verhandlungstag herauszufinden, was das Gericht
dachte, erfüllte sich nicht.
Etwa
sechs Wochen lang spannten sie uns damit auf die Folter. Mittlerweile
stand unser Refinanzierungsprogramm in Frage, die Pläne des
Architekten waren fertig, in Schwerin stand die letzte Runde im
Genehmigungsverfahren zur Erlangung von EG-Mitteln aus. Alles war in
Abhängigkeit von einem für uns positiven Urteil. Denn die Bank
bedurfte ihrer Sicherheiten, die wir wiederum nur bieten konnten,
wenn das Wasser und ihre kostbaren Fische uns gehörten. Während
diejenigen Beamten die über die Rechtmäßigkeit der Vergabe von
internationalen (EG) Mitteln zu befinden hatten, sich am Verhalten
der Banken orientierten. Wir brauchten einen vollen Erfolg.
Endlich
kam der Brief. Es war das endgültige Urteil, das eine Berufung auf
eine höhere Instanz ausschloss. Nicht Jürgen H., sondern wir seien
im Recht.
Jürgen
hatte nicht nur diesen Prozess verloren. Wie ich wusste, hatte auch
er EG Gelder beantragt und erhalten und ausgegeben.
Zwei
Tage später klopfte es abends an meiner Wohnungstür. Jürgen stand
hoch aufragend vor mir. Ich blickte ihn entgeistert an. Diesmal
streckte er mir zuerst seine Hand entgegen. Er sei gekommen, um mir
zu meinem Sieg zu gratulieren.
Was
für ein Riesenunsinn!
Er
kam, um mir zu seiner persönlichen, schmerzlichen Niederlage Glück
zu wünschen? Allein die Idee fand ich absurd, geschweige denn die
Verwirklichung. “Komm herein!”
Tief
atmend nahm er im Sessel Platz. Ich starrte auf seinen Mund. Wie oft
mochte er diese Szene in den letzten sechzig Stunden durchlitten
haben? Ein Mann wie Jürgen, der nichts tat, ohne es gründlich
erwogen zu haben, musste damit rechnen, dass ich ihm die Tür vor der
Nase zuschlagen würde.
Was
sollte ich sagen?
“Musste
das sein?” fragte ich ihn. Nur einmal, vor Jahren, in einer
ähnlichen Situation, ebenfalls als Verlierer vor allen
Fischerkollegen stehend, hatte ich seine Augen so bescheiden, so
bittend gesehen. Wie damals rührte es mich auch jetzt, wieder
unerwartet, an. Ja, erwiderte er, es musste sein. So unfrei, wie er
sich zuletzt gefühlt hätte, wäre es nicht weiter gegangen. Er habe
seinen Anteil an den Gewässern einfordern müssen. Dass ich es als
persönliche Fehde aufgefasst hätte, würde er bedauern.
Und,
ehe ich etwas Sinnvolles entgegnen konnte, stieß er hervor, ob ich
ihn wieder aufnehmen würde.
Das
war er, wie er leibte und lebte. Wenn er erst einmal begriffen hatte,
dass es geradewegs nicht weiterging, dann brach er an der Seite
durch. Ich wusste und fand es auch in seinen großen Augen
widergespiegelt, wie sehr er darauf brannte, dass wir ihm nochmals
vergaben, wie sehr er an seinem Beruf und an der Schönheit der
Seenlandschaften hing und wie tief er bereute, mit dem Schädel gegen
die Wand gerannt zu sein. Ich sah diesen Hoffnungsblink. Jürgen war
unbequem und halsstarrig, er gehörte zu denen, die ein anderer nicht
beugen kann. Nun aber beugte er sich selbst.
Weich
kamen die Formulierungen aus dem Kindermund, der mir nicht selten
hart und kalt wie Kieselstein erschienen war. Lange Jahre hatte er
vor mir und nicht nur vor mir eine Mauer errichtet, Klotz um Klotz.
Die stand sehr fest. Sie war hoch und breit. Deshalb war sie
unüberbrückbar geworden. Er hatte viele Jahre vorgeben wollen, dass
auch das Schild und die Rüstung, die er sich zugelegt hatte, sein
angewachsener natürlicher Panzer ist. Dieses selbstgefertigte
Ungetüm hing nun als Ballast an ihm.
Ja,
ich habe ihn manchmal gehasst. Es war mir nicht leicht gefallen,
diese Gefühle niederzuringen. Aber auch die anderen Männer hegten
starke Abneigung. Er gehörte zu den guten und zugleich
unerträglichen Fachleuten. Unsagbar schwer würde es werden die
Fischer davon zu überzeugen, dass er von nun an friedlicher und
freundlicher mit ihnen umgehen würde. Nicht wenige der siebzehn
Personen, zumeist Männer, kannten ihn nicht anders als im eisernen
Rock. Das sei ihm bewusst, sagte er. Aber er sei doch überhaupt
nicht der, den er uns vorgespielt habe. Das hätte er nur vorgegeben,
um seine Verletzlichkeit zuzudecken. Mann für Mann würde er
aufsuchen, zum zweiten Mal, ja auch das sei richtig, aber diesmal
wirklich geläutert, bekehrt, durch großen Schmerz.
Ich
kannte ihn. Er würde genau so verbohrt, genau so verbissen, wie er
als Gegenspieler gekämpft und gegen uns gewütet hatte, diesen
unerhörten Anlauf solange wiederholen, bis er die Wand der Ablehnung
und sei es erst beim hundertsten Versuch überwindet. Er konnte gegen
alle Logik der Welt anleben. Er musste an das Unmögliche glauben,
anders war für ihn kein Leben möglich.
Entschlossen
jeden Hohn und jeden Spott auf sich zu nehmen, war er zu mir
gekommen, allen Zweifel überwindend, trat er den schweren Rückweg
an. Seiner Frau wegen, wegen der Zukunft seiner Kinder musste er es
tun. Nicht eine Minute lang, nachdem seine Niederlage besiegelt
worden war, hätte er eine andere Möglichkeit erwogen. Da musste er
durch. Er bitte um Verzeihung.
Selbst
wenn ich es nicht von Herzen gewollt hätte, nach diesen Worten
musste ich ihm die Hand zur Versöhnung reichen.
Er
wagte ein kleines Lächeln.
Am
drittnächsten Tag wollten wir beraten, was ich für ihn bei unseren
Männern, seinen Widersachern, tun und wen ich für ihn gewinnen
könnte. Denn um das durchzusetzen, was er wünschte, benötigten wir
mindestens die Hälfte aller Stimmen.
Es
gab diesen dritten Tag nicht, nicht für ihn. Nachdem er mit seiner
Frau viele Stunden lang gesprochenen, und nachdem er ihr jede
Einzelheit unseres langen Gespräches berichtet hatte, legte er sich
am frühen Morgen zum letzten Mal zu Bett. Anderntags verunglückte
er im Verkehr der Landstraße tödlich.
Ich
hätte es mir nie verziehen, wenn ich seine dargebotene Hand
ausgeschlagen hätte.
Noch
nie habe ich auf einer Beerdigung einen Schlager, gespielt vom
Organisten, gehört aber auch noch nie so beeindruckend eine
schlichte Melodie empfunden wie dieses “Wenn bei Capri die rote
Sonne im Meer versinkt”. Ich sah, dass manches Elend nicht allein
die Folge von Schuld ist, sondern auch von Zufall.
“Aus
dem bedauerlichen Umstand der allgemeinen Konfusion darf keine
Partei, die auf ihre Ehre hält, politisches Kapital herausschlagen
wollen. Andererseits stehen wir hier alle in der Pflicht sowohl vor
den Verwirrten als auch vor unserer eigenen Erkenntnis. Wir müssen
den zumeist jungen Menschen vorleben, dass wir den demokratischen
Pluralismus, den wir gewollt hatten, lieben. Deshalb dürfen wir ihn
nicht durch Verfemung Andersdenkender diffamieren. Sondern wir müssen
zeigen, dass wir froh sind, wenn jeder seinen eigenen Kopf zum
Nachdenken und Andersdenken gebraucht, sofern es auch nur ein
bisschen mit Güte und Vernunft verbunden ist.” Das in etwa hatte
ich auf einer unserer Parteiversammlungen gesagt.
Da
ich damals Kreisvorsitzender der CDU war, fiel mir die Aufgabe zu,
den Herrn Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl, der am 05.Oktober 1990 in
Neubrandenburg auf dem Markplatz sprechen wollte, zu begrüßen. So
stand ich an jenem Nachmittag mit einem wunderbaren Blumenstrauß im
Foyer des “Vier-Tore-Hotels” und las während des Wartens auf den
schwergewichtigen Mann zufällig in der Zeitung mein Tageshoroskop
für Krebsgeborene.
“Gib
deinem Partner eine Chance” stand da geschrieben. Ich biss mir auf
die Zunge.
Als
der Mann mit dem sprichwörtlichen Elefantengedächtnis von seinem
Hubschrauber auf die wartende Menge herunterblickte, wird er sich
vielleicht daran erinnert haben, dass sein berühmter Parteifreund
Dr. Dregger sich über den überaus unfreundlichen Empfang vor ein
paar Monaten in derselben Stadt sehr, sehr geärgert hatte. Irgendein
winziger Erdenwurm hatte sich etwas erlaubt ... Eine knappe Stunde
später stand ich neben ihm auf dem Podium. Zuerst sprach Dr.
Gomolka, dann redete Helmut Kohl zu den im Regen stehenden
Neubrandenburgern.
Ein
Jahr später sollte ich dem Bundeskanzler wieder begegnen, diesmal in
Frankfurt/ Oder. Er war dorthin anlässlich der Eröffnung der
Europauniversität gekommen. Künstler, Kulturschaffende und
Kulturpolitiker waren eingeladen worden, an einer Tagung im
Kongresshotel der Oderstadt teilzunehmen. Ich stand wartend vor dem
Eingang, denn ich war besorgt. Es lag eine große Spannung in der
Luft. Es knisterte unüberhörbar. Als Dr. Kohl endlich mit dem Wagen
vorfuhr, musste er durch ein Spalier aufgebracht schimpfender
Menschen schreiten. Ihre Transparente wogten. Eine erhebliche Anzahl
betroffener Frankfurter, die vergeblich um den Erhalt ihrer
Arbeitsplätze gekämpft hatten, bereiteten ihm einen demütigenden
Empfang. Jedes Wort auf den Plakaten schrie den Kanzler an. In ihrer
Wut kam den Arbeitslosen der Mann, den sie für zumindest mitschuldig
an ihrem persönlichen Dilemma hielten, gerade recht. Sie wünschten
ihm direkt ins Gesicht zu schmettern, was sie von ihm hielten. Ich
sah sein großes festes Gesicht plötzlich nahe vor mir auftauchen
und dachte ebenfalls daran, dass er in zu vielen Reden blühende
Ostlandschaften versprochen hatte. “Keinem wird es schlechter gehen
als vorher”. Das hatte er leichtfertigerweise geäußert, als er
noch nicht wusste, dass die DDR im Wesentlichen aus ruinierten
Unternehmen bestand.
Seine
eigenen Äußerungen schleuderten sie ihm jetzt wie Wurfgeschosse
zurück.
Kaum
jemand ließ gelten, dass alle Staatsmänner des Westens von den
Politbüromitgliedern der DDR durch Manipulation der Statistiken und
durch Vorführen von ein, zwei Musterbetriebe jahrzehntelang bewusst
getäuscht worden waren.
Unverhältnismäßig
viele klagten Helmut Kohl des Wortbruches an und wollten auch von mir
nicht wissen, dass irren menschlich ist. Sie hielten es für ein
Verbrechen, das er begangen hatte. Sie ahnten nicht, dass trotz all
seiner großen Mängel, die dieser Staat Bundesrepublik aufwies,
besseres nicht zu gestalten war. Mit unvollkommenen Menschen auf
allen Ebenen lässt sich kein Paradies errichten. Das funktioniert
schon gar nicht auf der Basis der Hinterlassenschaft von
wettbewerbsunfähigen Industriekomplexen.
Möglicherweise
haben die hauptverantwortlichen DDR-Politiker immer gedacht, der
“E-Fall” (der unausweichliche Krieg) würde ohnehin alles
egalisieren und somit auch die Resultate jahrzehntelanger
Misswirtschaft verschwinden lassen. Ich musste dies bei vielen
Anlässen denken, immer wenn sich mir die Frage aufdrängte, warum
sich in unserem Lande die Schludrigkeit als allgegenwärtig erwies.
Natürlich hat ein durch den Umbruch schmerzhaft zu Fall gekommener
Mensch auf die Ereignisse einen anderen Blick als ich. Doch auch mir
muss es freistehen, eine eigene Meinung zu haben. Ich hasste diesen
Mann Helmut Kohl trotz seiner persönlichen Fehlerchen und trotz
seiner schwerwiegenden Irrtümer nicht. Für kein Geld der Welt hätte
ich auch nur einen Teil seiner häufig nur mit Undank bedachten
Arbeit leisten wollen. Ich sehe auch niemanden, der mehr aus der
miesen Lage hätte machen können. Weder ein Helmut Schmidt, noch ein
Herbert Wehner, hätte er noch gelebt, wären erfolgreichere
Zaubermeister gewesen. Denn nicht nur die Trickkiste, erst recht die
Ökonomie hat ihre eigenen Gesetze.
Nachdem
Helmut Kohl der latenten Gefahr, körperlich angegriffen zu werden,
entronnen war, nahm er kurze Zeit später auf dem Podium des
Vortragssaales im Kongresshotel Platz. (Eine Stunde später sollte er
die Nachricht erhalten, dass sein Sohn im Straßenverkehr schwer
verunglückt war. Ich sah, wie er die Brille abnahm und sich nach
vorne neigte, während die Welt um ihn herum weiterbrodelte) Neben
ihm saß der Chef des Österreichischen Fernsehens, Herr Bachler der
die Moderation übernommen hatte und zu ihren Seiten der russische
Satiriker Popow und die derzeitig bekannteste deutsche Lyrikerin Ulla
Hahn sowie der polnische Sejmabgeordnete Andrzej Szczypiorski.
Ich
kannte und bewunderte das Gedicht der westdeutschen Exkommunistin
Ulla Hahn “Treue” und war gespannt auf ihre Rede.
“Wir
bedürfen der Grenzen!” hob sie an. Ein Gedanke, der mich so oft
beschäftigte. Sie sprach frei und dachte laut darüber nach, was
unter Menschen geschieht, wenn die Grenzen des Anstandes und der
politischen Moral verletzt werden. Sie riss uns mit sich, und meine
Zuneigung begann gerade über die Grenze des Erlaubten zu steigen,
weil sie nicht nur klug war, sondern auch sehr angenehm auf mich
wirkte. Da erhob sich Andrzej Szczypiorski, schaute in die Runde der
dreihundert Zuhörer und sagte wörtlich, indem er den Kopf zur Seite
wandte und somit auch seine bedeutenden Podiumsgenossen ansprach, als
wollte er nicht nur uns, sondern auch ihnen seine bislang größte
und richtigste Einsicht mitteilen: “Meine Damen und Herren, die
Banditen sind nicht unter uns, - “ er legte eine Kunstpause ein
“sondern sie sind in uns!” Alle schauten auf, auch Helmut Kohl.
Niemand protestierte. Bei mir jedenfalls hatte er voll ins Schwarze
getroffen. Ich schämte mich augenblicklich und anerkannte sofort die
Berechtigung seiner Behauptung. Es war genau das, was ich auf der
Herfahrt nach Frankfurt gedacht hatte. Denn dieser Spätherbsttag war
der 31.Oktober, der vierhundertundvierundsiebzigste Reformations-tag.
Es war dieser erste Satz der fünfundneunzig Thesen Martin Luthers,
der mir am Vormittag durch den Kopf gegangen war “So unser Herr und
Meister Jesus Christus spricht: Tut Buße, so will er, dass das Leben
der Gläubigen eine stete und unaufhörliche Buße sei.”
In
ihm lag der eigentliche Schlüssel zum Erfolg: du musst ständig an
dir arbeiten. Das ist deine Aufgabe für jetzt und für die Ewigkeit,
deine eigene Selbstvervollkommnung.
Liebe
deine Feinde, aber schiele nicht nach anderen Frauen!
Sei
ehrlich und gerecht dir selbst gegenüber, aber nicht gnadenlos gegen
andere. Es war dieser Begriff Buße gewesen, der mich während der
morgendlichen Autofahrt so intensiv beschäftigt hatte. Denn mir war
klar, dass wir gescheiten Erdenbürger mit der Zeit zwar jedes
technische Problem lösen können, aber dass diese von uns selbst ins
Leben gerufene Technik uns eines Tages totschlagen wird, wenn wir
nicht mehr gelernt haben, als nur neue Techniken zu erfinden.
Ich
kannte sogar die Namen und die charakteristischen Merkmale meiner
leibeigenen Banditen, die mich daran hindern wollten, besser zu
werden.
Die
Eitelkeit mit ihrem schiefen, verführerischen Lächeln, den
schnellfüßigen Bruder Leichtsinn, die gnatzige alte Dame
Undankbarkeit und ihr ganzes niederträchtiges Gefolge.
Erschrocken
übte ich in der Tat Buße, indem ich meinen Grenzübertritt
rückgängig machte. Und noch während der geschätzte polnische
Schriftsteller und Publizist Szczypiorski weitersprach, dachte ich an
meine anderen Gedanken zurück. Während der Herreise bei Musik, die
an diesem Tage live aus einer thüringischen Kirche übertragen
wurde, hatte ich mich mit vielen Bildern dankbar an Martin Luther
erinnert. Als Mormone war ich vorteilsweise damit aufgewachsen, zu
hören und zu wissen, dass Luthers Verständnis von Buße sich auf
das metanoia des Urtextes bezog. Im originalnahen Text bedeutete es:
innere Umkehr halten. Ich sah Luther fast so deutlich wie in einem
Film vor mir, wie er, damals noch als Augustinermönch in einer
Wittenberger Fronleichnamsprozession zitternd und schlotternd hinter
der Monstranz herging. Denn in ihr befand sich, der in der geweihten
Hostie buchstäblich anwesende Leib des Herrn. Vor diesem
geheimnisvoll existenten, aber rachsüchtigen Christus fürchtete
Luther sich. Wenn er schon auf Erden so grimmige Strafen verhängte,
wie erst im Jenseits. Denn Buße bedeutete damals für ihn immer noch
Strafe.
Das
ungenau ins lateinische übertragene Bibelwort metanoia war
poenitentia; von Hieronymus so bestimmt. Und das bewirkte für mehr
als ein Jahrtausend lang die typisch katholische Betrachtungsweise
mit all den schrecklichen Folgen dieses Missverständnisses. Ein
neues Wort, nur ein Wort, aber von ungeheurer Brisanz, schließlich
ähnlich verhängnisvoll in seiner Auswirkung wie der Begriff
Klassenfeind an Stelle von Besitzer.
Als
vierzehnjähriger Knabe sah Luther in Magdeburg den zu einer solchen
Buß-(Straf-)übung verurteilten Fürsten von Anhalt ( Bruder des
Dompropstes) “der ging in der Barfüßerkappe auf der Breiten
Straße nach Brot und trug den Sack wie ein Esel, dass er sich zur
Erde krümmen musste, aber sein (grauer Bruder Geselle, sein Esel)
ging ledig neben ihm, ... sie hatten ihn so übertäubt, dass er alle
andern Werke im Kloster gleich wie ein anderer Bruder täte und hatte
sich zerfastet, zerwacht, zerkasteiet, dass er (aus-)sah wie ein
Totenbild, eitel Haut und Knochen, starb auch bald. Denn er vermochte
solch strenges Leben nicht zu ertragen ...”
Hungern,
Frieren, Beten, Bußgehen wurde als Ausdruck frömmster
Leistungsbereitschaft verstanden. Das waren die angeblich “Gott
wohlgefälligen Werke”, gegen die Luther zurecht aufbegehrte und
von denen er sagte, der Christ bedürfe sie zu seiner Rechtfertigung
vor Gott nicht. “Wahr ist es,” bezeugt Luther “ein frommer
Mönch bin ich gewest und habe so streng meinen Orden gehalten, dass
ich sagen darf: Ist je ein Mönch in den Himmel (ge)kommen durch
Möncherei, so wollte auch ich hineingekommen sein. Das werden mir
alle bezeugen ... die mich gekannt haben, denn ich hätte mich, wo es
noch länger gewährt hätte, zu Tode gemartert mit Beten, Fasten,
Frieren, Lesen und anderer Arbeit.” So sagt und singt er später
“... meine guten Werke, die gelten nicht ...” Natürlich nicht.
Davon haben weder irgendwelche Mitmenschen Nutzen, noch Gott. E. KANT
wusste es besser als so viele Theologen: ”Niemand kann Gott mehr
ehren als durch Achtung für sein Gebot.” So war ich mit guten
Gedanken nach Frankfurt gefahren und hatte mich, nachdem ich die
Predigt über Rundfunk gehört hatte, gefragt, warum wir Menschen
immer von einem Extrem ins andere fallen müssen. Was Luther
ursprünglich gesagt hatte, war jedermann klar gewesen, bis er wenig
später seine eigene Logik überspitzte
Sinngemäß
meinte er dann, vom (sichtbaren) Gut tun des Menschen hängt die
Erweisung der Gnade Gottes nicht ab. Was wiederum daraus wurde, zeigt
uns der Lutheraner Matthias Flacius, der unter Zustimmung der anderen
Magdeburger "Gotteskanzlisten" formulierte: “Die guten
Werke sind zur Seligkeit schädlich.”
Was
habt ihr euch dabei gedacht, fragte ich mich?
Sind
wir nicht vom besseren Teil in uns verpflichtet gründlicher nach
einleuchtenden Worten zu suchen um jeden verdunkelnden Begriff zu
ersetzen? Was helfen Formeln wenn sie uns nicht zu glücklicheren
Menschen machen? Wenn Seligkeit nicht Glück ist, verdient sie diesen
Namen nicht.
Aber,
es gibt kein Glück ohne Gutsein! Sagen wir das doch deutlich. Denn
das Wissen davon erlangen wir durch meist traurige Erfahrung leider
erst wenn es schon reichlich spät geworden ist.
Während
ich immer noch Andrzej Szczypiorski reden hörte, wurde mir plötzlich
stärker denn je klar, dass es die erste Menschenpflicht ist, ständig
sich selbst zu motivieren, besser zu werden.
Mehr
Licht und mehr Liebe kommen nicht zufällig in die Welt. Erst wenn
wir fähig sind, nicht nur über uns selbst zu erschrecken, sondern
die Folgerung anerkennen, so wie du bist darfst du nicht bleiben,
betreten wir freundlicheres Neuland. Gesellschaften mögen sich
nennen wie sie wollen, ihr Name allein macht sie nicht groß und
wertvoll. Wenn sie nicht die Kraft entwickeln in uns das Bedürfnis
nach Selbstbesserung hervorzurufen, werden sie schließlich in
Auswirkung von uns nicht beeinflussbaren Gesetzmäßigkeiten vom
Erdball hinweggefegt werden. In leichter Abänderung eines Satzes,
den Pastor Ernst Ferdinand Klein in meinem Geburtsjahr geschrieben
hat, heißt das: ”Religionen (oder Philosophien), die keine
sittlichen Kräfte zur Selbstüberwindung verleihen können, haben
keine innere Berechtigung.” Wie sehr bestätigte er damit
Mormonismus!
In
der Pause ging ich zu Andrzej Szczypiorski. Der Mann mit dem großen
Kopf saß in einem der gemütlichen, weichen Sessel des Foyers. Er
sah die Hand, die ich ihm dankbar für seine mich ermahnenden Worte
reichte. Er schaute mich an und nickte mir freundlich zu, als ich ihm
bekannte, dass ich nun sicher weiß, dass uns weder Alter, noch
Wissen vor Torheit schützen.
1990
wurde ich in den Hohen Rat Berlin berufen. d.h. übernommen aus dem
Hohen Rat des Pfahles Leipzig. Zu ständig nun für die Gemeinde
Tiergarten.
Dean lud mich im darauf folgenden
Sommer ein nach Dahlem zu kommen. Diesmal als Gastsprecher. Dean war
der für die zahlenmäßig große amerikanische Soldatengemeinde
Dahlem zuständige Priestertumsführer.
Dean
war übrigens Flugkapitän eines Airbusses und studierter Historiker.
Als ich an dem vereinbarten Sommersonntag-nachmittag geradeso
pünktlich ankam, drückte mir ein an der Eingangstür stehender
junger Mann ein Programmheft in die Hand. Ich schlug es auf und sah,
was gar nicht üblich war, dass es nur einen einzigen Sprecher gab, -
mich. Da erinnerte ich mich wieder meines Kummers, den ich 40 Jahre
vorher in diesem Haus empfunden hatte, der vor einer wunderbaren
Gewissheit gewichen war, wie der Winter vor der zunehmenden Kraft der
Frählingssonne.
Ende.
1992
berief mich die Pfahlpräsidentschaft zum Gruppenleiter Prenzlau.
Später wurde ich dort Zweigpräsident.
1996
erhielt ich einen Anruf vom Missionspräsidenten Elder Wunderlich und
wurde aus meinen Berufungen in Prenzlau und Schwedt entlassen. Ihm
und zwei weiteren Missionspräsidenten diente ich dann bis zum Sommer
2003 als Ratgeber.
Nun bin ich ein leicht humpelnder Renter, - der aber noch fast wöchtlich mit Hartmut und Enkelsohn Daniel auf den kleinen Golfplatz geht, lebe in Melbourne mit Ingrid, meiner 2. Frau, die ich ein Jahr nach Erikas Tod kennen lernte und 2 Jahre später heiratete, die auf mich aufpasst, mich liebevoll umsorgt, dreimal in der Woche mit mir zum Tempel fährt. Wir beide wissen immer noch, dass Mormonismus
das wahre, wiederhergestellte Evangelium Jesu Christi ist. Es gibt nichts Besseres.
Laßt Euch nichts von denen erzählen, die kaum eine Ahnung haben, wovon sie eigentlich reden! Der Tag wird kommen an dem auch sie wissen werden, dass dieses Leben erst eins zum ausprobieren ist.