Schritte durch zwei Diktaturen (2)
Gerd Skibbe
Im
Frühsommer 1945, arbeitete ich auf dem jetzigen Gelände der
Peenewerft in Wolgast als Dienstverpflichteter der Roten Armee.
Einmal schwammen wir immer wieder leichtfertigen Bengel hinüber auf
die andere Seite des Stromes, etwa zweihundert Meter weit, zur Insel
Usedom. Dort fanden wir die durch einen nur teilweise ausgeführten
Stacheldrahtzaun und eine Anzahl Verbotsschilder vor unbefugtem
Zugriff nur mangelhaft geschützten Waffen einer der letzten
Hauptkampflinien des Krieges. Unverschlossene Kisten mit Munition
aller Art standen zu Dutzenden umher. Deshalb war es unter Androhung
von Todesstrafe verboten, dieses Fleckchen Erde zu betreten. Minuten
später ballerten wir, wie nur hirnrissige Halbwüchsige handeln, mit
den in unseren Augen wunderschönen Karabinern in der Gegend herum.
Die in Massen vorhandenen Patronen erwiesen sich als
Leuchtspurmunition. Sie zeichneten in den blauen Himmel einen rasant
vorwärtsjagenden kurzen, weißen Strich, der unseren Standort
schnell verriet. Mir war zuerst zumute wie Robinson auf seiner
herrenlosen Insel, dem alles, was sich ihm darbot, gehörte. Nur,
dass Klein Zinnowitz nicht im Pazifik, sondern nahe bei der
altehrwürdigen Herzogstadt Wolgast lag und, dass da die
misstrauischen, immer noch schmerzerfüllten Sieger residierten, die
mit ihrer Allmacht niemals Spott treiben lassen würden. Plötzlich
hörten wir das typische Brummen eines langsam und tieffliegenden
Flugzeuges. Ein lichtfarbener Doppeldecker kam schwerfällig und
harmlos wie ein Maikäfer näher. Unser Verhängnis schwebte heran,
mit einem unübersehbar roten Sowjetstern unter den hellblauen
Tragflächen, kaum einhundert Meter über unseren Köpfen. Wir
konnten den Kopf des Piloten erkennen. Er sah uns gewiss nicht, denn
wir standen unter den Bäumen und zielten seelenruhig auf sein
Flugzeug. Wer uns vor der Ausführung dieser Todsünde rettete? Ich
war es nicht.
Unser
Engel hieß Büna Bergemann, ein ehemaliger Hitlerjunge wie wir.
“Seid ihr des Teufels!” schrie er uns in letzter Sekunde an. Er
war unversehens zu uns gestoßen. Auch er ein Übertreter
militärischer Weisungen.
Beschämt
ließen wir sieben Taugenichtse die Karabiner sinken.
Ein
Patrouillenboot kam in Sicht, noch weit entfernt. Es kreiste im
Brückenbereich, konnte aber jeden Augenblick auf uns zurauschen.
Wenn die uns erwischten, dann war es aus mit uns. Wir flohen
schwimmend. Wir konnten aber gar nicht entkommen. Viel zu viele Ohren
hatten es gehört, zu viele Augen die verräterischen weißen Striche
der Leuchtspurmunition gesehen. Sie schnappten uns noch, als wir
bereits glaubten, die Gefahr sei vorbei.
Niemand
kann sich die Folgen seines Handelns aussuchen, auch wenn sie nicht
mit eiserner Notwendigkeit feststehen, sondern von tausend Zufällen
variiert werden, die das Leben so unberechenbar machen. Sie
umstellten uns auf dem Festland. Eine Anzahl Maschinenpistolen, mit
ihren typisch runden Munitionsmagazinen richtete sich gegen uns. Wir
standen nun kläglich und scheinbar arglos, in schwarzen,
fadenscheinigen und nassen Badehosen da. Alles rings um uns herum
erstarrte, sogar die Zeit. Bis ein Jeep herangebraust kam. Er raste
aus einer Staubwolke auf uns zu. Ein vierschrötiger Mann in
olivefarbener, medaillenbehängter Uniform saß neben einem schmalen,
jungen Fahrer. Der Stadtkommandant - oder war es sein Stellvertreter?
- Noch ehe das Fahrzeug anhielt, sprang der Koloss behende aus der
offenen Kabine. Breitbeinig und aufstampfend lief er gesenkten
Hauptes auf uns zu, wütend wie ein gereizter Bulle, ein leibhaftiger
Racheengel für alle von der SS und der Wehrmacht ermordeten Russen.
Aller Anwesenden Blicke zog er auf sich. Grob wie ein Berserker und
Menschenfresser beherrschte er die Szene, Furcht einflößend. Ein
bestimmtes Wort, nur ein einziger eindeutiger Wink seiner Hand und
wir hätten vielleicht nur noch die Blitze aus den Mündungen der MPs
bemerkt, mehr nicht. Er brüllte wie ein wildes Tier. Aber je länger
der kolossale Mann umhertobte, umso mehr verzögerte er das erwartete
Aufblitzen. Irgendwie kam die vage Hoffnung in mir auf, wir könnten
mit dem Schrecken davonkommen. Wir ahnten ja nicht, dass es zwischen
Tod und Freiheit noch Sibirien und Karaganda gab. Es sausten und
kreisten in meinem Kopf zwar nur wenige Begriffe umher, aber selbst
diese konnte ich nicht fassen. Alle meine Sinne richteten sich auf
den einen irrsinnigen Wunsch, es möge ein Wunder geschehen. Dass
sich in diesen Sekunden unser Aufpasser, ein Mann namens Kell,
vordrängte und an den wutschäumenden Mann heranwagte, nahm ich nur
aus den Augenwinkeln wahr, während die kühlherzigen, in ihr
Soldatenschicksal ergebenen, nur wenig älteren, Burschen immer noch
das Kommando zum Feuern erwarteten.
Drei
Männer sprachen laut, in abgehackten Intervallen, wild mit ihren
langen Armen rudernd, hin und her übersetzend, bis wir allmählich
begriffen, aber nicht eigentlich verstanden, dass der Mann mit seiner
roten Armbinde, ein ruhiger alter, menschenfreundlicher Deutscher,
mit seinem Leben für uns bürgte. Ich weiß immer noch, dass der
Mann Kell ein Kommunist war, der seinen Kopf für unseren hinhielt.
Das Unglaubliche geschah, weil dieser kommandierende russische
Offizier mit seinem derben Gesicht und dieser ungeheuren Nase sich
unserer erbarmte. Vielleicht hatte die SS seine Söhne erschossen,...
wenn sie denn auch so jüdisch ausgesehen haben mochten wie ihr
Vater... Sie ließen uns laufen? Sie ließen uns laufen! Nach diesem
Aufwand? Wir stoben auseinander, in alle Himmelsrichtungen. Ich
verkroch mich in einem Maschinenraum, hockte da lange wie gelähmt
drin. Kein Wort Zuhause davon. Die schlimmsten Ereignisse hören die
eigenen Angehörigen oft ohnehin als Letzte.
Was
war wirklich geschehen? Hunderte, tausende anderer, die nicht mehr,
eher viel weniger als wir verbrochen hatten, landeten in dunklen
Todeslöchern und in Fanggruben ehemaliger Hitler-KZ. Oder sie
wurden verfrachtet, um in Irkutsker Lagern des Archipels GULAG
geworfen zu werden, die meisten, um nie wieder heimzukehren.
-
Zwei von uns sollte das große Unglück noch treffen. -
Ich
begriff langsam, oder wollte glauben, dass mir von dem mir oft noch
unendlich fernen und in seiner wirklichen Existenz noch ungewissen
Gott, Gnade geschenkt wurde. Wahrscheinlich geschah mir das im
Vertrauen darauf, dass ich nicht wieder gegen meine Überzeugung
handeln würde.
Kurze
Zeit danach fand ich beim Stöbern auf dem Hausboden meiner Eltern
zwischen alten Kartons die antimormonischen Bücher der Pastoren
Zimmer und Rößle, die mein Vater sich zwar zugelegt hatte, aber
offensichtlich von uns fernhalten wollte. Eigentlich hatte ich ein
Versteck gesucht weil ich Vaters Fotoapparat retten wollte. Durch
öffentliche Bekanntmachung waren wir von der russischen
Besatzungsmacht aufgefordert worden umgehend alle Fahrräder, Radios
und Fotogeräte im Rathaus abzuliefern. So stieß ich auf die
“verbotene” Literatur. Wahrscheinlich hätte ich sie nicht
gelesen, wenn sie, ganz normal, in seinem Bücherschrank gestanden
hätte. Das Geheimnisvolle zog mich magisch an. Die beiden “Werke”
las ich schnell hintereinander weg. Die Darlegungen der beiden
Pastoren fesselten mich mehr als Karl May. Mit jeder Seite, die ich
verschlang, wuchs mein Interesse an dieser sonderbaren Kirche der ich
zwar angehörte, weil ich 1939 als Neunjähriger, auf Wunsch meines
Vaters, getauft worden war; aber der ich mich doch noch nicht so
richtig zugehörig fühlte, zumal ich Gemeindeleben nie kennen
gelernt hatte. Ich wünschte mehr von ihr zu erfahren. Ich ahnte,
dass hier etwas ungemein Wichtiges vorlag. So ähnlich und zugleich
anders müssen es die beiden feindseligen Autoren empfunden haben,
sonst hätten sie sich nicht dermaßen wortreich eingeschaltet.
Wieder und wieder las ich die aufregenden Sätze, die eine mir noch
ziemlich fremde Welt beschrieben, die Welt des Mormonentums. Zeit und
Raum versanken hinter mir. Vor mir öffnete sich die Vergangenheit:
“Noch im Jahre 1870 gab es in Utah kein einziges christliches
Kirchengebäude” las ich in Herrn Pastor Zimmer’s Buch “Unter
den Mormonen in Utah”.
“Eine
Mission daselbst zu beginnen, würde dem mutigsten Prediger als ein
frevelhaftes Wagnis erschienen sein. Zwar hatte die Unionsregierung
schon 1858 einen christlichen Gouverneur eingesetzt, aber Brigham
Young war noch der Alleinherrscher, vor dessen Rache jedermann
zitterte. Jede auch die geringste Kritik an den Lehren der Häupter
der Sekte lieferte ihren Urheber in die bluttriefenden Hände der
allezeit auf der Lauer liegenden “Daniten” aus, dieser -
Würgeengel des Mormonismus -. Hunderte von eigenen Glaubensgenossen
wurden auf Youngs Befehl von ihnen ermordet.”
Sofort
wusste ich, dass Herr Pastor Zimmer log und ich fühlte es, er wusste
es ebenfalls. Einerseits stellte er die nach Zehntausenden zählende
Priesterschaft der Mormonen als gefährliches Machtinstrument einer
geradezu verbrecherischen Kirchenführung dar, andererseits konnte er
offensichtlich nicht umhin, sich auch, wenigstens passagenweise,
anerkennend zu äußern. Pastor Zimmer hasste Brigham Young, den
Nachfolger des ermordeten Joseph Smith, wie keinen zweiten Mormonen,
zugleich aber sagt er von ihm: “...Young war zwar ein Erzheuchler,
aber ein guter Führer und Organisator, sowie ein weitschauender
Nationalökonom. Er legte den Grund zu dem großen
Bewässerungssystem, das jetzt ganz Utah genügend mit frischem
Wasser versorgt und dessen geschickte Verwendung das Salzseetal in
einen Garten Gottes verwandelt hat ... Salt Lake City, die heilige
Stadt der Mormonen ist ein wichtiger Mittelpunkt des Handels für die
Länder westlich des Felsengebirges; seine Lage, der sich immer
vermehrende Bodenreichtum eröffnen ihr die Aussicht, eine der
größten Städte des amerikanischen Westens zu werden. Aber es ist
auch ein Sammelplatz des reisenden Publikums während der heißen
Sommertage geworden, dank dem herrlichen, milden Klima ... Was dem
Fremden in der Stadt zuerst auffällt, das sind die breit angelegten,
schattigen wie Riesenalleen sich hinziehenden Straßen. Jede
derselben ist einschließlich der Seitenwege 132 Fuß breit. Young
ließ sie, infolge einer angeblichen Inspiration so breit anlegen ...
Die ungeheure Breite der Straßen und die große Ausdehnung der
Blocks sieht schön aus ... in der ersten Woche des April und des
Oktober finden Konferenzen statt. Eine volle Woche dauert diese
Konferenz; der letzte Tag ist der herrlichste. Das Tabernakel ist
gepfropft voll. Der Prophet, Seher und Offenbarer, Joseph
Fielding-Smith hält seine Thronrede als Präsident der Kirche Jesu
Christi der Heiligen der Letzten Tage ... Den Schluss bildet die
Ermahnung zur eifrigen Befolgung der “Prinzipien des Evangeliums”
... Dann erhebt sich die vieltausendköpfige Menge. Der Prophet
erhebt seine Hände zum Himmel, betet und gibt seinem Volke den
Segen. Es ist ein großartiger, unvergesslicher Moment. So still ist
es in dem ungeheuren Raum, dass man eine Stecknadel könnte fallen
hören. Die Heiligen fühlen wie die Inspiration der Worte ihres
Propheten in ihrer Seele nachzittert, auch der anwesende Fremdling
steht unter dem Zauberbann dieses Schlussaktes. Doch kaum hat der
Prophet geendet, so ertönt hoch oben von der Riesenorgel her eine
jubelnde Fanfare, der Massenchor mit 500 Stimmen setzt ein und die 16
000 Heiligen singen in fanatischer Begeisterung die Prophetenhymne,
welche den Stifter verherrlicht: Preiset den Mann, der verkehrt mit
Jehova, der ein Prophet war, von Christus ernannt! Der, von dem
Geiste erfüllt, prophezeite nahes Gericht jedem Volke und Land! All
ihr Erwählten gedenkt des Propheten, göttlich im Himmel, auf Erden
einst Held! ...”
Vor
allem die negativen Aussagen Zimmers bauten in mir zunächst Fragen,
dann Voraussetzungen für den Glauben an den Mormonismus auf. Es
passte einfach nicht zusammen, was er, sowie sein Amtsbruder Pastor
Rößle von sich gaben: “...diese gottlose Priesterschaft, die nach
Tausenden zählt, tritt Gottes Wort mit Füßen und zieht das Heilige
in den Staub da werden den in Utah nach vielen Tausenden zählenden
betörten Deutschen die abgestandenen Treber der schmutzigen
Mormonenlehre als Seelenspeise dargeboten ...” Andernteils erklärt
zumindest Rößle, dass er den Stifter der Mormonenkirche für einen
ehrlichen Mann hält. Wörtlich: ”Der Charakter des Joseph Smith
ist viel umstritten worden. Die Mormonen bezeichnen ihn als den
größten Märtyrer des Jahrhunderts und als den bedeutendsten Mann
seiner Zeit. Viele seiner Gegner nennen ihn aber kurzweg einen
Betrüger. Man wird ihm auf diese Weise jedoch nicht gerecht. Es
dürfte heute wohl allgemein angenommen werden, dass Joseph Smith
selbst an seine phantastischen Offenbarungen glaubte und sich für
ein Werkzeug des göttlichen Geistes hielt. Mit dieser Tatsache
verband er eine auffallende Fähigkeit der Anpassung und auch der
kühlen Berechnung. Hinzu kam seine ausgesprochene Tüchtigkeit in
Geschäftssachen. Den ungebildeten Massen gefiel seine gewinnende
Freundlichkeit.”
Ich
dachte, dieses Hin und Her in diesen Schilderungen müsste eigentlich
jedem Leser ins Auge fallen. Diese geschulten Denker konnte man doch
nicht mit sprunghaften Teenagern vergleichen. Ich wusste außerdem,
was mein Vater mich gelehrt hatte, und wenn ich mich auch in den
meisten Versammlungen, die ich als Kind in Wolgast miterlebte,
schrecklich gelangweilt hatte, so war doch alles was ich hörte,
immer nur Gutes gewesen. Nämlich die Aufforderung: Tue es.
So
sah ich trotz meiner Unerfahrenheit und Jugendlichkeit die Schieflage
der beiden kirchlichen Autoren deutlich. Ich las tagelang, vergaß
für eine Woche meine Lieblingsbeschäftigung, das Angeln. So lernte
ich in wenigen Tagen mehr als je zuvor über Mormonismus.
Außerdem
sagte mir mein Gefühl etwas Wichtiges, etwas das ich erst später zu
beschreiben imstande war, nämlich, dass ich die Lehre der Mormonen
als einen sich unendlich weitenden Raum begreifen müsste, weil sie
voller menschenfreundlicher Ideen war, denen nach oben hin von Gott
keine Grenze vorgeschrieben wurde und, dass ich mit ihr mich selbst
erschließen könnte. Mir schien, diese Lehre würde mir ein
Königreich des Geistes bieten. Meine eigenen Gedanken wird sie mir
lassen, nachdem sie sie veredelt hat. Somit stellte sie etwas völlig
anders dar, als alle anderen, ja mir schien, dass der Name Kirche
hier schön klang.
Ich
konnte das eine mit dem anderen verbinden. Mir war intuitiv klar,
dass die Welt diese Kirche zu ihrem Segen brauchte.
Denn
da war am ersten Tag der neuen Zeit, an jenem mir so lebhaft
gegenwärtigen 30. April 1945, ein noch junger deutscher
Fallschirmjäger gewesen. Mit seinem ungewöhnlichen Rundhelm in der
Hand stand er neben einem sowjetischen Presseoffizier, der fließend
Deutsch sprach. Sie befanden sich beide unter der kleinen
Eingangshalle des ausgeraubten Konfektionsgeschäftes Gauger und
diskutierten, was nun nach dem Zusammenbruch des hitlerschen dritten
Reiches kommen müsste.
“Wir
brauchen eine völkerverbindende Idee”, hatte der russische
Offizier gesagt. Das drang mir tief ins Bewusstsein. Ich sah die
goldblitzenden Zähne des Sowjetjournalisten, sein aufmunterndes
Lächeln. Ich spürte etwas von der Überzeugungskraft des Russen,
der dem Deutschen in wenigen Strichen eine Vision von seiner Zukunft
entwarf. Er warb um die Mitarbeit des anderen, seines Gefangenen, der
seine Orden bereits abgelegt und nun gewissermaßen nackt dastand. Es
fiel mir eben auf, und sie erlaubten mir zuzuhören. Mir war zumute,
als sollte gerade ich es hören, wie ein deutscher Germanist
aufgefordert wurde, neue Pressearbeit unter den Gefangenen zu
leisten. Weil ich irgendwie die Berechtigung der Forderung sah,
beschäftigten mich ihre Gedanken. Ich weiß nicht, warum es mir
einleuchtete, was der Russe forderte, aber ich begriff, dass nach dem
Krieg, da ich ihn ja bis dahin ebenfalls überlebt hatte, eine
bessere Idee heraufgebracht werden müsste. Sonst werden sich sowohl
die dummen wie die klugen Menschen immer wieder aus ihrer
menschlichen Verrücktheit heraus oder aus blankem Übermut einander
an die Gurgel gehen.
-
Denn offensichtlich hatte das herkömmliche Christentum versagt! -
Als ich so, auf dem Hausboden meiner Eltern nachdenklich wurde, kam
mir vieles in den Sinn. Es bedarf einer neuen Idee. Mir leuchtete
ein, dass Mormonismus diese gesuchte Idee sein könnte, dass er die
wahre, ursprüngliche Lehre Christi, -des Friedefürsten- war.
Nur
nachdem sie vor vielen Jahrhunderten sehr verfälscht worden war
blieb sie sozusagen wirkungslos.
Wenn
die verschollene Lehre von der Präexistenz des Menschengeistes
wirklich durch Joseph Smith erneut von Gott gesandt worden war, um
uns den höheren Sinn unseres Lebens zu lehren, dann erhielt die
allgemeine Christenlehre von der Unsterblichkeit des menschlichen
Geistes eine neue Bestätigung, dann müsste die Erkenntnis davon,
soweit sie wirklich geglaubt wird, die ganze Welt aussöhnen. Anderes
kann Gott nicht wollen.
Als ich weiter darüber nachdachte, nahm ich von innen her wieder dieses angenehme Licht wahr und diesen friedvollen geistigen Einfluss.
Ob
es so hell gewesen wäre, wenn ich die gestohlenen Lebensmittel nicht
zurückgebracht oder wenn ich mir und meinen Neigungen nachgegeben
hätte?
Ton
und Inhalt der ungerecht angreifenden Geistlichen Zimmer und Rößle
brachten mich auf. Denn was sie niedergeschrieben hatten, würden
ihnen zehntausende unvoreingenommene Leute unbesehen glauben und
vielleicht sogar mit ihnen fordern, dass: ”... dem Treiben (der
Mormonen) ein Damm entgegen gesetzt werden muss.”
Ich
las in Rößle’s Buch “Aus der Welt des Mormonentums”, dass der
Staat und die Kirchen gemeinsam gegen die Mormonen vorgehen sollen.
Rößle sagte: “...Diese Forderung kann nicht laut genug erhoben
werden. Denn der Mormonismus geht auf nichts Geringeres aus als auf
die Bekehrung und schließliche Unterwerfung der ganzen Welt. Darauf
ist sein System zugeschnitten. Diesem Zweck dient sein einzigartiger
Missionsbetrieb, ... zu beachten ist dabei, dass der Mormonismus im
Gegensatz zum Islam, dem er in gewisser Hinsicht gleicht, sich allen
möglichen Volkssitten, Gebräuchen und Anschauungen anzupassen,
allerlei, selbst entgegengesetzte Glaubensrichtungen in sich
aufzusaugen vermag.”
Und
er setzte noch eins obenauf: “...diese nominell noch kleine, völlig
anders geartete Kirche, wird Weltbedeutung erlangen ... die Mormonen
sind eine gefährliche Sekte ... in unheimlicher Weise haben sich bei
der Entstehung dieser Sekte amerikanische Oberflächlichkeit,
mangelhafte Bibelkenntnis und satanische Kräfte die Hand gereicht,
um unter der Flagge des Evangeliums eigene Lehren zu verbreiten. Um
ihres satanischen Unterbaues willen wird die Sekte der Mormonen eine
bedeutende Macht und große Gefahr bleiben.” Mein Finger lag auf
der Seite einundneunzig des Rößlewerkes.
So
gingen mir die Augen auf.
Unter
der Literatur, die ich auf dem Hausboden gefunden hatte, befanden
sich auch einige Traktate. Die verteilte ich, gab sie auch meinen
Freunden und händigte sie den Flüchtlingen in unserer Umgebung aus.
Johannes
Reese, der wie schon früher oft zu uns kam, auch um mir Unterricht
zu geben, fragte die Flüchtlinge, ob sie die Versammlungen besuchen
würden, die er einrichten möchte. Einige sagten zu.
Darunter
befand sich die Dunkerfamilie, die spätere Schwester Waldmann u.a.
So
fanden sich seit Herbst 1945 in unserer Wohnung und an
Wochentagabenden ungefähr zwanzig Menschen zusammen. Sie wurden von
Herrn Reese mit einem Gemisch aus evangelischen, katholischen, sowie
anderen Ansichten mit beträchtlichen Teilen des Mormonismus vertraut
gemacht. Da die meisten unserer Gäste froh waren, einmal über etwas
anderes als über das fehlende Essen und gutes Trinken zu reden,
kamen sie immer wieder.
Das
ging so bis in den Spätsommer 1946.
Auch
zwei meiner Freunde, Hans Schult (späterer Ratgeber in der
Freiberger Tempelpräsidentschaft) sowie Ulrich Chust (späterer
Ältestenkollegiumspräsident in Köln) hörten Johannes Reese zu.
Eines Tages sprach Herr Reese über das Buch Mormon. Er sagte, dass
er es für einen echten Text israelitischen Ursprungs hält. Er sei
jetzt gewiss, dass Joseph Smith kein Lügner war.
Die
Männer und Frauen sahen ihn mit großen Augen an. “Man muss sich
die Frage stellen, warum ein Mann ein solches Buch schreiben sollte.
Wenn er die Wahrheiten, als seine eigene Weisheit ausgegeben hätte,
wäre er alt und grau geworden. Er hätte sein Leben ungestört
genießen können. Mit allen Fähigkeiten ausgestattet, wäre Joseph
Smith ein angesehener Prediger und Volksführer geworden. Er hätte
immer nur zu sagen brauchen: “Ich denke!” Oder er hätte statt
einer Kirche eine Partei gegründet. Er wäre berühmt geworden.
Immerhin war er Bürgermeister der Stadt Nauvoo, zu deren Errichtung
er selbst die Grundlage gelegt hatte. Das war seinerzeit eine der
größten Ortschaften Amerikas. Dass er glasklar und originell denken
konnte, zeigen die Strukturen, die er schuf. Allein seine Ideen im
Bereich Bildung waren einmalig. Er wollte, dass den Leuten, die in
Gefängnissen einsaßen, durch Kurse besseres Wissen vermittelt wird.
Seine Vorstellung, dass Industrieeinrichtungen stets außerhalb einer
Stadt betrieben werden und dass die Wohnhäuser immer nur
Einfamilienhäuser sein sollen und auf reichlich flächigem
Gartenland stehen müssten, war zumindest sehr modern gedacht. Gut
und gerne hätte er jeden zum Freund haben können. Stattdessen wurde
er, seit der Veröffentlichung des Buches Mormon gehetzt und gejagt
wie ein Hase von einem Dutzend Hunde und schließlich zur Strecke
gebracht. Noch zu guter Letzt hätte er sich retten können. Er hätte
nur zu widerrufen brauchen. Dann wäre er ungeschoren davon gekommen.
Aber stattdessen sagte er: “Ich bin ruhig wie ein Sommermorgen. Ich
bin unschuldig und gehe wie ein Lamm zur Schlachtbank”. Immerhin
lieferte er sich auf Anraten seiner Freunde seinen Henkern freiwillig
aus, obwohl er sich damals bereits in Sicherheit befand. Die
Lynchtruppe hätte ihm nichts anhaben können. So handelt kein
Betrüger!”
Nachdem
der Nichtmormone Herr Reese das bezeugt hatte, herrschte
Nachdenklichkeit. Dass Joseph Smith ein ehrlicher Mann war, sei aber
nicht immer seine Meinung gewesen. Ursprünglich habe er, Reeses,
sich sehr gegen die Mormonenlehre ausgesprochen, aus Unkenntnis
allerdings. Das sei sonderbarerweise oft der Fall. Je weniger jemand
von einer Sache versteht, um so mehr redet er darüber. Er lachte, er
sei eben auch nicht besser als alle anderen. “Ihr könnt Euch
selbst überzeugen, fragt irgendeinen engagierten Christen in der
Stadt und ihr werdet finden, er hat zwar überhaupt keine Ahnung, was
Mormonismus ist, aber er wird sich ganz entschieden dagegen wenden.”
Hans
Schult und ich machten die Probe aufs Exempel. Wir sprachen einen
etwa sechzigjährigen Mann auf der Straße an, von dem ich wusste,
dass er zu den “Gemeinschaftschristen” in der Badstüberstraße
ging. “Was halten Sie von den Mormonen?”
Der
Alte schaute mich verdutzt an. Mit allem Ausdruck von Redlichkeit
erwiderte er: “Mormonen sind eine furchtbare Sekte!”
“Warum
sind sie furchtbar?”
“Die
haben Vielweiberei! Und andere Schriften haben sie auch.”
“Kennen
sie die Mormonen persönlich? Kennen sie diese anderen Schriften?”
“Gott
sei Dank, nicht!”
Kurze
Zeit später kamen wieder Missionare nach Vorpommern. Im Herbst 1946,
kurz nachdem mein Vater erfolgreich aus französischer Gefangenschaft
geflüchtet war, wurde Elder Walter Krause zu uns geschickt. Er fand
ein reifes Feld vor und konnte innerhalb weniger Wochen und Monate
ungefähr 50 Menschen taufen.
So
wurde die Gemeinde Wolgast gegründet.
Unter
ihnen befand sich die bewundernswerte Schwester Weber, die im letzten
Kriegsjahr vier ihrer Liebsten und ihren Ehemann verloren hatte. Wir
konnten kaum verstehen, dass sie nicht den Verstand verlor, als sie
zusehen musste wie eine ihrer Töchter im Alter von fünfzehn Jahren
und zudem todkrank, solange von sowjetischer Soldateska missbraucht
wurde bis sie tot war.
(Bis
heute sind zwei ihrer Söhne in der Kirche, in Schwerin, aktiv)
Eröffnet
wurde diese Periode durch Max Zander. Dessen Sohn Wolfgang ebenfalls
ein bekanntes Mitglied der Kirche in Deutschland wurde.
Max
wollte etwas Gutes lesen und sein Freund Johannes Reese gab ihm ein
Buch Mormon.
Sehr
bald nachdem er es gelesen, besuchte Max Zander unsere
Zusammenkünfte. Jener bemerkenswerte Novembertag das Jahres 46 an
dem Max im offenen Wasser getauft werden sollte, begann um
Mitternacht mit minus 17 Grad Celsius. Walter Krause musste mit einer
Axt die zwölf Zentimeter dicke Eisschicht aufbrechen, wobei ich ihm
half.
Elder Walter Krause erhielt im kommenden Jahr einen Mitarbeiter besonderer Prägung. Er hieß G. und war aus Sachsen gekommen. Der neunzehnjährige Junge wollte unbedingt “auf Mission gehen” und so wurde er dazu berufen, zumal seine Angehörigen gute Leute waren und er selbst Treue und Glauben geschickt vortäuschte. G. wollte aber alles andere, als ein Mormonenmissionar sein. Wer weiß was er wirklich wollte? Sein Doppelspiel konnte nur von ganz kurzer Dauer sein, zumal Walter Krause in seiner Kompromisslosigkeit es ohnehin bald durchschaut und ihn sofort heimgeschickt hätte. Aber das Schicksal kam alledem zuvor. Zuerst bemerkten meine Mutter und ich, dass er nicht echt war.
Ich
ertappte G. beim Rauchen und zwar auf dem Holzspeicherboden meines
Vaters, wo knochentrockene Sägespäne in Massen herumlagen und
ringsherum lauter Fachwerkbauten standen, die einige Jahrhunderte
überdauert hatten. Er wischte nervös mit der Hand durch die Luft.
Es half alles nichts. Die Qualmwolke und ihr Geruch erfüllten den
Raum. Nachdem er sich entlarvt sah trieb es von da an vor mir offen.
Anstatt mir zu helfen, Holz zu zersägen und zu bearbeiten, saß er
in der Stube am warmen Ofen und studierte, wenn sein Seniorpartner
nicht da war, mit Lust und Liebe das “Decamerone” von Boccaccio.
Das Versteck für diese, den Mormonenmissionaren untersagte Lektüre,
blieb sein Geheimnis. Ein einziges Mal ließ er sich herbei, mir
behilflich zu sein. Wir fuhren in den etwa fünfzehn Kilometer
entfernten Wald. Dort luden wir schwere, zwei Meter lange Erlenstämme
auf einen holzgasgetriebenen und dementsprechend lahmen
Lastkraftwagen. Erschöpft nahmen wir anschließend oben auf der
Holzfuhre Platz und ließen es uns in der angenehmen Frühlingsluft
des warmen Nachmittages wohl sein. Unmittelbar vor dem Dorf Zemitz
zog G. plötzlich sein Oberhemd aus. Zu meinem Erstaunen kam eine
rotweiß leuchtende Hakenkreuzflagge zum Vorschein. Wir bogen gerade
in die aufgrünende alleenartige Dorfstraße hinein, während sich
auf seinem Turnhemd das die ganze Brust umfassende schwarz-weiß-rote
NAPOLA-Wappen ausdehnte. (NAPOLA=Nationalpolitische
Erziehungsanstalt)
Am
liebsten wäre ich vom rollenden, holpernden Wagen gesprungen. Fast
zwei Jahre nach Kriegsende ließ er offen die Runen des barbarischen
Hitlerfaschismus sehen. Das war, auch wenn die meisten Leute der
Sowjetzone sich dem Russenregime verweigerten, ein Affront des
gesunden Menschenverstandes. Unter diesem Zeichen hatte nicht nur
jede deutsche Familie gelitten, sondern halb Europa. Tausende Städte
waren durch das Nazisystem zerstört worden. Jetzt war mir alles
klar. Deshalb ließ er in manchen Versammlungen, wenn Elder Walter
Krause abwesend war, die Anwesenden, von denen die meisten seine
Väter und Mütter sein konnten, das Aufstehen und das Niedersitzen
üben. Denn damals wurden die Eröffnungslieder noch stehend gesungen
und das Erheben geschah auf ein Zeichen dessen, der den Gesang
leitete. “Auf! - Nieder!” kommandierte er uns wie seine
Untergebenen. Ich wagte nicht, ihn bei seinem Mitarbeiter zu
verpetzen. Hätte ich es nur getan. Kurz darauf wurde er in Stralsund
verhaftet. Er saß im ehemaligen Wartesaal erster Klasse der
Reichsbahn, der nun den Offizieren und Zivilangestellten der Roten
Armee vorbehalten war, als die Militärstreife die Ausweise
kontrollierte. G. beherrschte die russische Sprache perfekt, ebenso
das Wodkatrinken und das nicht gerade sehr feine Repertoire
sowjetischer Soldatenwitze. Denn er war an der NAPOLA Marienburg, in
Ostpreußen, zu einem Ostagenten des Nationalsozialismus ausgebildet
und somit des Evangeliums entwöhnt worden. Walter Krause wurde
sofort, nach der Verhaftung G.’s, zum Stralsunder Kommandanten
beordert.
Ich
weiß nur, dass ihm bedeutet würde, sein Kopf würde beim nächsten
“Vorkommnis” auf dem Schreibtisch des Obersten liegen. G.
wanderte fast zwanzig Jahre lang durch sibirische Gefängnisse,
Bergwerke und ihre wassertriefenden Stollen. Da wird er mehr als
einmal seine faschistischen Verzieher verflucht haben, die ihn wie
einen Hund abgerichtet hatten. Als ich ihn zwanzig Jahre später
wieder traf, (etwa 1968) in einer Mitgliederversammlung in
Ostberlin, erkannte er mich zwar, aber ich ihn nicht. Bewegt kam er
auf mich zu und stellte sich vor. Jetzt erkannte ich ihn wieder. Da
waren gewisse Gesichtszüge. Ich sollte ihn von Herzen als Freund
betrachten. Das brachte ich aber nicht fertig.
Da
wirkt einer dieser tief in uns verborgenen Mechanismen, der nicht
zulässt, dass wir unser Misstrauen wunschgemäß und nach Belieben
abschalten können. Ich sagte ein paar leere Worte. Er musste es
schmerzlich gespürt haben, dass ich ihn ablehnte. Statt ihn zu
umarmen, ließ ich ihn stehen und gehen. Bald darauf verstarb er,
wahrscheinlich an Erkrankungen, die er sich in der Verbannung und
unter Tage zugezogen hatte. Wie gern hätte ich nun mit ihm
gesprochen und ihm aufmunternd gesagt, ‘sieh nach vorne’. Ich
hätte mehr für ihn tun können. Diesen Selbstvorwurf konnte und
kann ich mir nicht ersparen. Er war schließlich zu uns
zurückgekommen. Vielleicht war er seinem Wesen nach viel besser als
ich dachte. Zu spät. In mir war die Befürchtung: steckt die Partei
hinter ihm? Er könnte umgedreht worden sein. Denn das kannten wir
zur Genüge. Noch galten wir “Mormonen” den Regierenden als
“möglicherweise” gefährliche amerikanische Sekte. Vorsicht!
Vorsicht!
Noch
war ja nicht das berühmte Weihungsgebet durch Apostel Monson
gesprochen worden, dass uns 1976 – infolge Indiskretion eines der
Anwesenden – praktisch die Anerkennung des Staates einbringen
sollte.
Es
war der Fluch einer rohen Zeit.
Während
des ganzen Jahres 1947 war ich im Auftrage Walter Krauses, der als
Distriktpräsident amtierte, mit der Verteilung von Lebensmitteln
beschäftigt, zwar nicht jeden Tag, aber nahezu jede Woche ein- oder
zweimal. Quer durch Mecklenburg-Vorpommern schickte er mich, immer
wieder, mit einer unterschiedlichen Anzahl von Paketen voller
Fleischkonserven und eingewecktem Mais, Peachesdosen und Weizen auf
die Reise. Denn unsere Kirche konnte als Auswirkung des seit 1936
amerikaweit laufenden und gut funktionierenden innerkirchlichen
Wohlfahrtsprogramms zehntausende Tonnen Weizen verteilen und somit
helfend eingreifen. Etwa seit Mitte 1946 gab es für die damalige
Sowjetische Besatzungszone ein Abkommen mit Karlshorst, mit der
sowjetischen Militäradministration, unter der Bedingung, gewisse
Anteile der Spenden dem Roten Kreuz und karitativen Einrichtungen
zuzuwenden, bevor die Mormonen und ihre Sympathisanten Hilfe
erhielten. Das war ohnehin so gedacht. Hunderte Weizensäcke sind bis
März 1949 durch meine Hände gegangen, tausende Lebensmitteldosen
und sehr viel Kleidung und Schuhe. Mir ist nie der Gedanke gekommen,
auch nur einen einzigen Spendengegenstand anders als vorgesehen zu
verwenden. Sonderbarerweise bin ich auch nie bestohlen worden,
jedenfalls habe ich es nicht bemerkt. Fast unglaublich, dass mir
fremde Leute auf den Bahnsteigen halfen, meine sechs, sieben, häufig
recht schweren, Pakete in den immer überfüllten Zügen
unterzubringen. Bis auf eine Ausnahme fand ich stets Platz, obwohl
noch immer, vor allem im Sommer, hunderte Reisende auf den
Trittbrettern (ab 1947 nur noch selten auf den Dächern) der Waggons
saßen. Zweimal wurde ich aufgrund meines einfachen Ausweises, der
meine ehrenamtliche karitative Tätigkeit bescheinigte, sogar im
Kommandantenzug zwischen Züssow und Stralsund mitgenommen.
Dieser
von der Kirche ausgestellte mit vielen Stempeln versehene
Reiseberechtigungsschein befindet sich in meinem Buch der Erinnerung.
So
sah ich viele Großstädte wie Berlin und ihre schwarzen Trümmer. Es
war depremierend Dresden und Prenzlau oder Neubrandenburg zu sehen.
Trostlose Ruinenstädte.
Erst
später lernte ich, dass uns Deutsche die Hand Gottes getroffen
hatte und ich lernte, dass Nephi all das selbstverschuldete Elend
vorausgesehen hatte. Es kam auch deshalb über uns, weil im Namen des
Deutschen Volkes nicht nur das Judentum, sondern auch ihre
Kulturträger ausgerottet werden sollten. Nephi stellt einige Fragen:
„Wie
danken sie (die Andern, die Nichtjuden) den Juden für die Bibel, die
sie von ihnen empfangen? Ja, was meinen die Andern? Gedenken sie der
Beschwernisse und der Mühsal und der Leiden der Juden und wie eifrig
sie mir gegenüber gewesen sind, um den Andern die Errettung zu
bringen? O ihr Andern, habt ihr der Juden gedacht, meines
Bundesvolkes, in alter Zeit? Nein! Sondern ihr habt sie verflucht und
gehasst und habt nicht danach getrachtet, sie zurückzugewinnen. Aber
siehe, das alles werde ich auf euer Haupt vergelten;
denn ich der Herr, habe mein Volk nicht vergessen. “ 2. Nephi 29,
4+5
Hat
sich das nicht Wort für Wort an uns Deutschen erfüllt? Wurde uns
nicht die deutschnationale Überheblichkeit und Judenfeindlichkeit
mit buchstäblich grauenvoller Zerstörung aufs Haupt vergolten?
1948
sagte mein Vater mir - er war 1946 aus französischer Gefangenschaft
krank heimgekehrt -, dass er in Norwegen und während der
Gefangenschaft englisch gelernt hätte, mit der Absicht mit uns nach
Amerika auszuwandern. Er hätte gemeint, er könnte uns Kindern damit
am meisten dienen. “Denn hier werden die Russen ihren seelenlosen
Kommunismus aufbauen, ob wir Deutschen das wollen oder nicht.” Aber
nun sehe er ein, wie wichtig es ist, hier im Lande Gemeinden
aufzubauen und mit möglichst vielen Menschen über Mormonismus zu
sprechen. Ich selbst sollte deshalb nicht danach trachten, weit weg
zu gehen. Wie schon früher ging mir, was mein Vater wünschte, zu
Herzen, obwohl mir schien, ich könnte mein Glück nur in der weiten
Welt finden.
Unglaublicherweise
brachten die Kommunisten das Kunststück fertig ihre Idee
schrittweise als akzeptabel darzustellen. Uns Mormonen konnte das
nicht gelingen. Denn die Ersteren logen rigoros. Sie selber nannten
es Propaganda. Da klebten im Frühling 1948 tausende bunte Plakaten
an Hauswänden auf denen sie uns exakt das Gegenteil von dem sagten,
was wir erlebt hatten. Da hieß es, dass die Sowjetarmee die
moralisch höchststehende Truppe aller Zeiten sei. Jahrhundertelang
hätten die Kapitalisten die Menschen ausgebeutet und in Kriege
gehetzt, doch die Sowjetarmee wäre gekommen um diesem Schrecken ein
Ende zu bereiten.
Wir
knapp achtzehnjährigen bogen uns vor Lachen. Dennoch hing an der
ungeheuren Tatsachenverdrehung ein winziges Stück Wahrheit. Nämlich,
dass alle Menschen sich nach dauerhaftem Frieden sehnten. Darauf
bauten sie nicht vergeblich. Für sie galten zwei Sätze: Frechheit
siegt! Und: Steter Tropfen höhlt den Stein!
Kurioserweise
wurde in der Zeit grausamster Familienzerstörung in der Sowjetunion,
seitens ostdeutscher Intellektueller die Frage diskutiert, ob es im
Kommunismus Stalins je eine Tragödie geben könnte.
Täglich
verhafteten sowjetische Geheimdienstleute in allen größeren Orten
Russlands unschuldige Menschen von den Straßen weg, die dann als
Billigstarbeitskräfte eingesetzt wurden um schließlich in
primitivsten Arbeitslagern Sibiriens zu krepieren.
Wie
zu Zeiten der spanischen Inquisition ging es zu. Nur umfangreicher.
Der Inhaftierte hatte seine Unschuld zu beweisen, nicht umgekehrt.
Wir hörten von nun an immer wieder, dass es eine gesetzmäßige
Aufwärtsentwicklung der Gesellschaft gibt. Indessen hatte sich die
Sowjetunion faktisch eindeutig zu einem rohen Sklavenhaltersystem
rückentwickelt.
Die
uniformierten Jungen in der Roten Armee wurden wie Tiere dressiert
und gehalten und selbst den seit Tolstois Zeiten freien Bauern
degradierten sie zum Lohnempfänger auf niedrigstem Niveau.
Niemand
in diesem Imperium durfte sich anders als im Sinne der
kommunistischen Vordenker äußern. Tat er es doch, galt er sofort
als “Klassenfeind” und daraus folgte: Feinde sind wie Feinde zu
behandeln. Ich musste daran denken, dass Joseph Smith gesagt hatte,
dass Satan ein ähnliches System befürwortete. Er wollte das Gute
mit Gewalt durchsetzen und zu diesem Zweck den freien Willen des
Menschen brechen.
Im
April 1949 ging ich von Wolgast fort, um meine Lehre in einer
Prenzlauer Baumschule zu beginnen. Die Walter-Krause-Familie die von
Cottbus ebenfalls nach Prenzlau gezogen war nahm mich auf.
Zunächst
kam ich mir, was die Arbeit betraf, wie ein Sklave vor.
Ich
wünschte diesen Status so schnell wie möglich zu beenden.
Bis
Mitte Juli dieses Jahres wohnten wir in den ehemaligen
Artilleriekasernen Prenzlaus. Die Örtlichkeiten wurden nun vom
Militär benötigt.
Dort
hatten auch unsere kirchlichen Zusammenkünfte stattgefunden.
Ein
knappes Jahr später hingen unter den Fenstern unserer
Versammlungsräume jene roten mehr als zwanzig Meter langen
Spruchbänder, die für unser Land, die DDR, längst typisch geworden
waren. Ihr Text lautete: “Herzliche Kampfesgrüße unseren
koreanischen Klassenbrüdern im Kampf gegen den US-Imperialismus!”
Sie suggerierten, dass die fermöstliche Aggression von Südkorea
ausgegangen war. Der friedliebende Norden sei das große, unschuldige
Opfer.
Wir
jungen Laute wurden kurze Zeit später von der SED-Kreisleitung
eingeladen, die angeblich von den nordkoreanischen Befreiungskräften
erbeuteten amerikanischen Dokumentarfilme anzusehen. Sie sollten uns
überzeugen, dass die südkoreanische Marionettenregierung gemeinsam
mit den räuberischen Amerikanern diesen Überfall auf Nordkorea von
langer Hand geplant hatten. Betroffen saß ich im Kinosaal und fragte
mich, wie das zusammenpasst. Der Überfallene dringt am ersten Tag
als “Erwiderung” der Kampfhandlungen sechzig Kilometer ins
Territorium des Angreifers ein? Aus vielen Gesprächen wussten wir,
dass der eroberungssüchtige Hitler uns ähnliches glauben machen
wollte. Wir kannten die Geschichte vom Sender Gleiwitz und waren uns
darüber im klaren, dass es einer gewaltigen logistischen Vorarbeit
bedarf auf breiter Front in ein anderes Land einzudringen.
Obwohl
ich damals bereits mit der FDJ sympathisierte, fragte ich mich
natürlich, wer der eigentliche Herr dieser Aktionen sein konnte. Es
gab nur eine Antwort: Stalin.
Stalin
war es, der niemanden freiließ, sobald er ihn gefangen genommen
hatte. Erstaunt las ich im Buch Mormon die ganze Charakteristika
dessen der nun wiederum hinter Typen wie diesem Stalin stand: “Ist
das der Mann, der die Erde erzittern lassen und der die Königreiche
erschüttert hat? Der das Haus seiner Gefangenen nie geöffnet hat.”
2. Ne. 24.
Diese
meine kritische Grundhaltung sollte sich jedoch bald ändern.
Weil
mich ein Agitator dazu einlud, besuchte ich gelegentlich
Alltagsabends die FDJ Versammlungen, die mir von der Art her, wie die
Siebzehn- bis Zwanzigjährigen miteinander umgingen, sofort zusagten.
Zudem
gefielen mir die dort anwesenden hübschen Mädchen.
Schließlich
übten sie damals noch Kritik und Selbstkritik. Es ähnelte dem was
meine Kirche lehrte: Du musst an Deinem Charakter arbeiten, musst
Dich ändern, kannst nie sagen, Du hast es geschafft. Menschen müssen
sich zum Guten ändern wollen, sonst bessern sie die Welt nicht.
Zunächst
wollte ich lediglich davon überzeugt sein, dass dies das Ziel der
Freien Deutschen Jugend sein könnte. Damit fing mein Umdenken an.
Stalin sah plötzlich gar nicht mehr so schwarzrot aus.
Sogar
sonntags predigte ich allmählich auch davon.
Da
erschien in unseren religiösen Zusammenkünften in Prenzlau ein
Abschnittsbevollmächtigter der Volkspolizei. Nachdem er mich zweimal
sprechen gehört hatte, bemerkte er, er würde nicht wiederkommen,
das sei in Ordnung mit den Mormonen. Dabei war, was ich in meiner
Ansprache sagte, nur meine sehr persönliche, aber bereits “rötlich”
eingefärbte Meinung gewesen.
Mein
Gemeindepräsident, Max Zander, der ebenfalls von Wolgast nach hier
gezogen war und der zugleich mein Berufsschullehrer war, tolerierte
sie. Ich war sein Ratgeber und da seitens der Kirche niemandem
vorgeschrieben wird, was er sagt, wird nur dann eingegriffen, wenn
jemand unübersehbar den Boden der Lehre des Mormonismus verlässt.
Da die Lehre aber sehr weit gespannt ist, tritt dieser Fall praktisch
nie ein, solange der Glaube an Gott und das gewissenhafte Einhalten
seiner Gebote, so wie sie in der Bibel und im Buch Mormon
niedergeschrieben stehen, gelehrt werden.
Ich
hatte also in meinen Darlegungen freie Hand, vermied es nur, offen
und laut über meine Zweifel nachzudenken, solange ich nicht zu einem
festen Punkt gekommen war. Deshalb sprach ich in jenen Wochen, so
genau wie es mir möglich war das aus, was ich dachte, nämlich dass
die Verantwortung für den Fortschritt und Frieden in der Welt
selbstverständlich jedes Menschen Pflichtteil ist. Die Menschheit
kann keinen großen, weltumfassenden Frieden haben, wenn ich selbst
in meiner kleinen Welt ungerecht und unehrlich bin. Dabei dachte ich
auch an mich und die schwangere Tochter des erwähnten Polizisten,
die mich reizte, da mein Chef und sein listiger Sohn sie und mich
während der Erntezeit zusammen auf den Getreideschober beordert
hatten. Wo wir beide allein gelassen jeweils auf die nächste Fuhre
Korngarben zu warten hatten.
Sie
wollten doch sehen, wie der “Mormonenpriester” sich bei solcher
Gelegenheit benimmt. Richtigerweise gingen sie davon aus, dass alles,
alles herauskommt.
Ich
sagte mir jedoch, dass sie einem anderen Mann angehörte, wenn beiden
auch noch das Jawort auf dem Standesamt fehlte.
Mir
war nach solchen Situationen immer noch klarer bewusst als vorher,
dass wir unter keinen Umständen das Recht haben, die große
Gerechtigkeit einzufordern, solange wir das eigene kleine Richtigtun
verweigern, nur weil unserer Leidenschaft danach zumute ist.
In
meiner Ansprache sagte ich: Immer müssten wir den Vorteil des
anderen im Auge haben und damit schließlich den Fortschritt der
Gesellschaft, die höhere Gesellschaftsordnung. Was in den Ohren des
Polizisten natürlich wie ein Bekenntnis zur DDR klang.
Das
war natürlich auch, was alle Menschen, tief in sich selbst verwahrt
wissen, mögen sie leben wo sie wollen. Das ist es, was das Buch
Mormon lehrt und die Bibel aussagt: der kleine innere und der große
äußere Friede sind die Folge einer Kette richtigen Handelns oder
wie es im Klartext bei Jesaja heißt: Der Friede ist die Frucht der
Gerechtigkeit. (32,17)
Einerseits
klangen und schwangen in mir, noch, die süßen Töne des
Evangeliums, andererseits lockte mich die Flöte des Rattenfängers
lauter und betörender als je zuvor. Heftig ging das Widersprüchliche
in mir hin und her.
Gewohnt
mit Menschen und Ideen zu arbeiten wurde ich zum
Kreisberufsschulaktivleiter gewählt, das heißt, ich wurde
politisches Haupt der beruflichen Schule Prenzlaus, obwohl ich nie
ein Hehl aus meiner religiösen Gesinnung machte.
So
begann ich auf beiden Seiten zu hinken
In
diesen Tagen traf ich unerwartet meinen Klassenkameraden Dieter
Kavelmann. Er ging in der blauen Offiziersuniform, der kasernierten
Volkspolizei, die praktisch eine Berufsarmee war. An seinem Arm hing
ein sehr gut anzusehendes Mädchen. Über uns brauste einer der
ersten sowjetischen Düsenjäger hinweg. Sie sollten das Kennzeichen
der neuen Zeit werden. Ich schaute auf Dieters geflochtene, silbernen
Litzen seiner Achselstücke. Trotz seiner erst einundzwanzig
Lebensjahre war er schon zum Polizeirat befördert worden. Dieter
durchschaute mich. Er sprach mich sofort auf meine Zwangsjacke an, in
der ich, als Baumschulistenlehrling steckte. Ich wünschte
tatsächlich immer noch nichts sehnlicher als sie mir vom Leib zu
reißen. Er war ein anerkannter Mann und ich das Schlusslicht eines
Unternehmen, das ich mehr als meine eigenen Schwächen hasste. Er
erkannte sofort, dass ich mir nur aus eingebildeter Moral nicht
zutraute, die Bindung zu meinem Lehrherrn zu zerreißen. Der kluge
Dieter K. lachte. Er sah nicht nur glücklich aus, er war es.
Er
wusste um meine religiöse Einstellung, die er allerdings
geringschätzig für eine Illusion hielt. “Komm zu uns", sagte
er, “Du hast doch, genau wie ich, vormilitärische Ausbildung. Wir
suchen neue Kader.” Es klang mir wie Musik in den Ohren: junge,
klare Köpfe für eine junge, klare Ideologie. Er malte mir sein Bild
in leuchtenden Farben. Jetzt erhielte ich dürftige fünfzig Mark,
aber wenn ich zu ihm käme, dann würde ich bald zum Offizier
befördert werden und wäre der Willkür meines Ausbeuters entronnen!
Dabei schaute er auf die schlanke Blondine herunter. “In sechs
Wochen hast Du monatlich achthundert Mark auf der Hand und bist wer.
Reden kannst Du, gute Figur machst Du auch.” Sein Mädchen
strahlte.
Ich
spürte, wie ich rot vor Scham und Verlangen wurde.
Nur
ein kleiner Handgriff zum Füllhalter und der irdische Himmel wäre
erobert. Es hielt mich jedoch eine Frage zurück: Ob ich nicht wüsste
wer dann mein neuer Herr sein würde?
-
Nein! -
“Was
ist los mit Dir, warum zögerst du?” fragte Dieter. Ich schüttelte
den Kopf. Etwas Falsches lügt niemand zurecht, auch nicht in
bestdenkbarer Absicht. Was uns aus den Irr- und Wirrnissen eines
unerträglichen Auf und Ab erretten kann, ist einzig der Wille zur
unaufhörlichen Suche nach der Wahrheit.
Ich
sah im Geist wieder deutlicher, sah bewusster die dunklen Umrisse
Stalins und den kalten Ausdruck seines von so vielen
Veröffentlichungen bekannten Gesichtes. Diejenigen die auf diesen
Massenmörder hereingefallen waren, wollten mich mit der Farbe des
Lebens ködern.
Es
waren eben nicht, wie frech behauptet wurde, die werktätigen Massen,
die solchen Menschen wie Dieter den Kampf- und Verteidigungsauftrag
erteilten. Eines einzigen Mannes Wille zur Weltherrschaft war die
Feder dieser Uhr, nach der auch ein Dieter Kavelmann ging und sich
ausrichtete, die den Rhythmus seines Alltages bestimmte. Ich wusste,
dass es falsch wäre, diese schicke Uniform anzuziehen. Ich wusste,
dass ich nicht leben durfte wie er, weil ich zu einer Erkenntnis
gelangt war, die es mir untersagte, in irgendeiner Hinsicht
leichtfertig zu sein.
“Mensch,
Gerd! Ich sage Dir, es gibt keinen Gott! Wir müssen unser Leben in
die eigenen Hände nehmen. Wovor hast Du Angst? Es ist eben eine neue
Zeit. Wirf Deine Bedenken über Bord! Lebe!” Er verzog die
Mundwinkel.
Wir
sollten uns nie wieder sehen.
Ich
blieb in meiner ungeliebten Prenzlauer Baumschule wie ein Knecht auf
Zeit, der die Resttage nur lustlos herunterdiente.
Um
zu studieren, fehlte mir das Abitur. Es nachzuholen fehlte mir die
Zeit, wie ich meinte. Zur Arbeiter-und Bauernfakultät überzusiedeln,
mangelte mir die rechte Gesinnung. Ich deutete meine Situation als
Selbsttest: Wenn du noch ein Jahr lang durchhältst, dann bestehst du
auch alle anderen Prüfungen. Das war der Punkt, auf den es mir
ankam. Mein Fernziel war, bestehen zu können. Das war mir wichtiger
als der ganze im Grunde für mich unnötige Berufsabschluss. Das war
es, was meine Kirche lehrte, das Wichtigste ist die Bildung Deines
Charakters. Du musst es lernen, mit seelischen Belastungen zu leben.
Selbst
wenn ich auf ehrenhafte Weise alles Belastende abwerfen könnte, von
meinen Aufgaben in der Kirche wünschte ich mich auf keinen Fall zu
trennen. Diese Bürde war mir wertvoll.
Als
ich das dachte, kamen mir plötzlich ganz großartige Gedanken in den
Kopf: Du weißt eben etwas, das die meisten Menschen wie Dieter nie
kennen gelernt haben. Du weißt um die Realität der Macht des
Heiligen Geistes, du weißt, dass ...
Unerwartet
überrieselte mich ein Strom aus Liebe und Intelligenz, der mich
beglückte und der mir wortlos und zugleich im Wortsinn bestätigte:
Joseph Smith ist ein Prophet Gottes! Und du, Gerd, weißt, dass da
ein Gott und seine Macht zur Freude ist ... Es erhob mich
augenblicklich aus dem Staub in den Himmel.
Das
war es, was der Opernchor so hingebungsvoll am Silvesterabend im
Schweriner Konzertsaal gesungen hatte: “Brüder, überm Sternenzelt
muss ein lieber Vater wohnen. Freude, Freude trinken alle Wesen ...
Alle Menschen werden Brüder, wo dein sanfter Flügel weilt. Alle
Menschen, alle Menschen.” Für einige Sekunden war der Flügel der
Freude über mir gewesen und hatte mich getröstet. Brüder überm
Sternenzelt muss ein lieber Vater wohnen.
Ein
Vater! Mein Vater!
Ich
war danach monatelang ohne Zweifel gewiss, Sohn und Kind eines großen
und ewigen Gottes zu sein. Das bedeutete, ich entstamme wirklich, und
nicht nur in meiner Einbildung, dem größten und vornehmsten aller
Königshäuser, die es je gegeben. Demgemäß hatte ich mich würdig
zu benehmen und meinen Blick nicht so sehr depressiv auf die
Alltagsschwierigkeiten zu richten, sondern auf meine Zukunftsaufgabe
unsere Glaubensposition nach innen und nach außen zu verteidigen.
Das stand fest.! Es war meine Pflicht, zum Wachstum meiner Kirche
beizutragen, die eine gerechte Gesellschaftsordnung in diese Welt
bringen wird.
Nichts
könnte mich von nun an noch umwerfen, meinte ich.
Aber
das war ein Irrtum. Denn die guten und erhabenen Gedanken und Gefühle
bleiben nicht bei uns. Sehr schnell fliehen sie vor dem ersten
Anzeichen von leichtfertigem Vorteilsdenken oder Zweifel. Selbst die
für richtig erkannten Grundsätze sind schließlich auch nur
Gedanken und Geist, die, wenn wir nicht wachsam sind, vom ersten
besten Lüftlein aus anderer Richtung für immer beiseite gefegt
werden können.
Nur
kurze Zeit später wollte mich der Zeitgeist energisch mit sich
reißen. Es war der Geist des Jahres der Weltfestspiele der Jugend
und Studenten, 1951. Er kam zunächst einlullend wie ein milder
Sommerwind.
Die
FDJler sangen:“Im August, im August wenn die Rosen blühen!”
Zuerst
zögernd, nahm ich schließlich die Einladung an nach Berlin zu
fahren. Ich ahnte nicht im Mindesten, dass es die bis dahin
weltgrößte Sexparty werden sollte.
Wir
reisten in Güterwagen. Sie waren mit Stroh und primitiven Holzbänken
ausgestattet worden.
In
Berlin angekommen, hatten wir einen langen Fußmarsch vor uns. Immer
wieder stoppte unsere Marschkolonne, aus der ich bald ausscherte. Da
saß mitten auf dem grauen Bürgersteig ein Dreißiger in einem
Blauhemd der FDJ. Ich kannte ihn Das war der Prenzlauer
Baptistenprediger! Ihm war, bei der drückenden Schwüle der
Witterung, wahrscheinlich vom vielen Umherrennen schlecht geworden.
Bleich hockte er auf dem grauen Straßenpflaster und stöhnte. Junge
Leute umrundeten ihn, ohne mehr als flüchtige Notiz von ihm zu
nehmen. Ich ging auf ihn zu, sprach ihn an. Wir betrachteten einander
verwundert. Was suchst du hier, dachte ich. Du passt hier doch nicht
her. Bist du übergelaufen zu den Atheisten? Wenn du wüsstest, was
du für ein Bild abgibst.
Möglicherweise
dachte er dieselben Fragen an meine Adresse. “Ein Mormone bei den
Kommunisten?”
Ich
will nur studieren und sehen, dann urteile ich! rechtfertigte ich
mich vor mir selber. Aber tatsächlich zog mich die “rote” Welt
in jenen Stunden stärker denn je zuvor an. Mir schien, dass
Mormonismus in diesem Teil der Erde niemals ähnliche Bedeutung
erlangen würde.
Die
blauen Hemden waren die Farbtupfer in dieser völlig grauen Stadt, in
der immer noch die Trümmerflächen dominierten.
Nie
zuvor erschien mir die Welt der Kommunisten so leicht und frei.
Begeistert hörte ich im Friedrichstadtpalast von Swjatoslaw Richter
gespielt, das wunderbare Klavierkonzert Nr. 1 in b-moll von Peter
Tschaikowski. Die Tonflut riss uns alle mit sich. Mit den Tausenden
in ihren Blauhemden fiel ich begeistert ins rhythmische Klatschen
ein. Mit ihnen zog ich von einem Estradenkonzert zum anderen….
In
der Nähe einer matt leuchtenden gusseisernen Straßenlaterne, die
alle Bombennächte rings um den Alexanderplatz überlebt hatte, blieb
ich gegen Mitternacht dieses Sonnabends mit einem Mädchen stehen,
das ich kennen gelernt hatte. Dahinter befanden sich die Ruinen des
Vorderhauses von Mehnerstraße 9, in dessen mehrstöckigen Seitenbau
meine Tante wohnte. Ich sah des Mädchens feines Gesicht mit ihrem
schönen goldschimmernden Haar. Kein Maler hatte je solches Bild vor
diesem Hintergrund gesehen.
Zwischen
den schweren, schwarzen Ziegelfragmenten hing noch der Brandgeruch
längst vergangener Nächte des Schreckens. Darüber wölbte sich ein
klarer Himmel. Ich sah im Geist die beiden gelähmten alten Damen,
die jahrelang bei jedem Luftangriff unter den Esszimmertisch
gekrochen waren, und die Gott jedes Mal darum gebeten hatten,
beschützt zu werden. Hatten sie es bewirkt, dass dieser Hausteil
noch immer dastand? Oder war es lediglich ein glücklicher Zufall
gewesen? Keine Szene ist vergessen, nichts, solange Mitmenschen
aneinander Interesse finden. In mir belebten sich die alten Bilder
von Menschenkindern, die ich nie gesehen, um deren Lebenskampf ich
aber wusste.
“Nimm
mich mit auf Deine Stube!” hörte ich sie flüstern und musste nun
büßen, dass ich das Abenteuer vorsätzlich gesucht hatte. Wir waren
zwei Stunden lang an zahllosen Liebespärchen vorbei gegangen. Was
lag nun ferner als mein Verzicht? Aber ich war doch ein Mormone! Ich
trug kein Blauhemd, trug mich eigentlich nicht mit den allgemein
üblich gewordenen Gedanken aller anderen…. Entweder gab ich der
Versuchung nach oder ich ging am nächsten Tag zur Kirche. Kurz und
heftig focht ich es mit mir aus.
Am
Morgen saß ich, nach einer Irrfahrt über den Potsdamer Platz, wo
mich FDJ Kontrollposten nötigten, den S-Bahnzug zu verlassen weshalb
ich einen weiten Umweg nehmen musste, in Westberlin, in Dahlem, in
der nagelneuen “Mormonen”kapelle.
Ich
hatte das FDJ-Abzeichen das ich seit Monaten auf dem Revers meines
Alltagsjacketts trug nicht abgenommen. Ich demonstrierte damit woher
ich kam.
Vorn
auf dem Podium saß auch ein freundlicher, junger Amerikaner. Er
schaute mich an. Ich war sicher, dass er mich meinte. Er lächelte.
Es war das schönste, aufmunterndste Lächeln, das ich jemals von
einem Mann erhalten sollte. Wahrscheinlich stand mir der Kummer und
die noch andauernde Qual innerer Zerrissenheit deutlich ins Gesicht
geschrieben, nachdem ich mich am Vorabend vor dem Mädchen bekannt,
mich entschuldigt und dann mit Gewalt losgerissen hatte, um allein
davon zu gehen, weil ich nicht gegen meine Erkenntnis sündigen
wollte.
Und
nun saß ich da, in der von freundlichen Menschen gefüllten Kapelle,
wie ein Kind, das lange, lange nicht zu Hause gewesen war, dem alles
so vertraut und fremd zugleich vorkam.
Während
der Klassenzeit habe ich viel gesprochen, viel Unsinn. Es ging um
eine Passage aus der Bergpredigt Christi, aber mir ging es in der Tat
nur um mich selber, ob es für mich eine Wahrheit gibt, die mich aus
meinen widrigen Umständen erlösen könnte.
Nach
dem Ende der morgendlichen Sonntagschule an diesem Augustmorgen des
Jahres 51, kamen von der Straße zwei ältliche Damen herein. Gut und
hell gekleidet gingen sie, begleitet von zwei Missionaren, die ihnen
den großen Raum zeigten. Damals hingen in der Dahlemer Kapelle noch
die schönen Gemälde Richard Burdes, eines Dresdener Mormonen, die
im klassizistischen Stil Szenen aus Jesu Leben zeigten. Sie
erinnerten mich ein wenig an den Jesus des Wolgaster Malers Stolp,
ein uns stets ausforschendes Gesicht, prüfende Augen, voller
Mitgefühl für unsere Beschwerden und Kümmernisse, die wir uns
immer wieder selbst bereiten, durch unser Verlangen, alles haben zu
wollen, auch das, was nicht gut für unsere Seele ist.
Ich
hatte eigentlich nicht zuhören wollen, wurde aber durch die Art, wie
die beiden Missionare über die erste Vision Joseph Smiths sprachen,
magisch angezogen.
Der
14jährige Joseph sei in den Wald gegangen, hätte sich unter den
mächtigen Buchenstämmen niedergebeugt um von Gott eine Antwort auf
eine wichtige Frage zu erbitten. (Ohne zu ahnen, dass er nur
vergessen hatte, was er in der Präexistenz bereits wusste, nämlich
dass er vor Grundlegung der Mutter Erde, vielleicht sogar vor dem
Urknall, unter den Händen des intelligentesten Geistwesen, Christus,
vorordiniert worden war, die letzte Evangeliumsdispensation zu
eröffnen, und zwar damals in einer anders beschaffenen Welt, deren
physische Beschaffenheit wir derzeit nicht erkennen, in einem Raum
und unter Verhältnissen, in dem Zeit anders läuft und empfunden
wird, als wir es jetzt gewohnt sind.)
Es
war nicht so sehr das was die jungen Männer sagten, sondern wie sie
es von sich gaben. Sie beeindruckten mich tief. Da war auch nicht der
leiseste Anflug von Fanatismus, keinerlei Frömmelei. Schlicht und
anschaulich stellte der erzählende Missionar die Szene dar, als der
kniende Joseph die zerstörende Macht fühlte plötzlich aber über
sich, in der Luft stehend, zwei Lichtgestalten sah.
“Dies
ist mein geliebter Sohn, höre ihn.”
War
dies das große von alten Aposteln so oft herbeigesehnte Ereignis der
Wiederkunft Christi, um das im Verlaufe der Jahrtausende pervertierte
Reich Gottes erneut aufzurichten? Oder war es nur erst das Vorspiel
dazu? Denn das hatte Jesus ja verheißen, dass er zurückkehren
würde.
Unbeschreiblich
groß muss das Erstaunen des Knaben Joseph Smith gewesen sein, denn
was er erwartet hatte war, vielleicht eine Stimme zu hören, oder
eine Wolke zu sehen, jedenfalls nicht Gestalten wie Menschen, nicht
zwei Götter. Was er sah, entsprach keineswegs den Lehren der Kirchen
und ihrer Geistlichkeit. Ihre Lehre war immer gewesen: Gott ist
Geist, ein einziger Geist, in dem drei sind. (Was man sich darunter
vorstellen kann, weiß ich nicht. Aber was will das schon besagen,
dass ich es nicht begriff, Goethe konnte es auch nicht. Er schrieb
dazu das Hexeneinmalseins.)
Auf
Joseph Smiths Frage, die er schließlich irgendwie vorbrachte,
welcher der bestehenden Gemeinschaften er sich anschließen solle,
wurde dem Knaben Joseph Smith geantwortet: Er möge warten, bis er
mehr Licht erhält. Und, sinngemäß: Die Institutionen Kirchen seien
allesamt verdorben und ihre Lehren falsch. Ein Urteil, das einem
Menschenmund natürlich nicht zusteht! Aber wenn Gott es sagt ...
Mir
kam es so vor, als hätte ich die bekannte Geschichte noch nie so
vertraut und so glaubhaft nahe empfunden. Mir schien, sie sei nur für
mich erzählt worden. Dass der große Gottvater und sein Sohn Jesus
Christus Lichtwesen waren und in einer Lichtsäule standen, konnte
ich mir bildhaft vorstellen. Dass sie buchstäblich in die Welt- und
Menschengeschichte eingriffen war nur wünschenswert. Auch wenn
dieser Eingriff wesentlich anders ablief als sich der gesamte Stand
kluger Theologen das hätte ausmalen können.
Ich
dachte: dass es dem Knaben Joseph Smith nicht anders erging, als den
verschiedenen Propheten Israels. Gott berief sie überraschend und
fast immer entgegen ihren eigenen Absichten sowie als Gegenpol zu den
geistigen Autoritäten ihrer Zeit. Sie wurden immer abgelehnt, sowohl
von der religiös engagierten Elite, wie von der Masse. Ich liebte
Joseph Smith wegen seines Mutes, den er als Gejagter sein Leben lang
unter Beweis gestellt hatte und wegen des Geistes den er erkennen
ließ.
Seitdem
ich den Bericht davon auf dem Hausboden meines Vaters gelesen,
vermochte ich es immer zu glauben, auch wenn ich in letzter Zeit
gewisse Bedenken gehegt hatte. Das machte der auf mich einstürmende
Marxismus. Ich musste mich mit ihm auseinandersetzen, denn ich musste
mit ihm leben.
Sowohl
die Atmosphäre welche die beiden jungen Elders verbreiteten als auch
diese so oft gehörte Botschaft richteten mich völlig auf. Sie
bewirkten, dass ich plötzlich froh war, am Vorabend dem wilden
Ansturm meiner Gefühle standgehalten zu haben. Ich war dankbar und
bescheiden zugleich, denn es hatte nur wenig gefehlt und mein
Leichtsinn hätte mich Seiltänzer zu Boden geworfen. Unweigerlich
wäre mir das Rückgrat angebrochen worden. Ich war nun einmal ich
und vielleicht zerbrechlicher als viele andere. Oder ich wäre in ein
Netzgeflecht neuer Gefühle und Empfinden gestürzt und hätte mich
da verwickelt, hätte mich aus Enttäuschung über mich selbst
aufgegeben, hätte nicht mehr gekämpft, sondern mich der Lust der
Leidenschaft ergeben. Wie nicht wenige vor mir hätte ich mich
verstrickt und dabei meine kostbare Freiheit verloren.
Als
die Damen davongingen, trat ich an die beiden Missionare heran. Sie
waren ebenso alt wie ich. Ob sie mich verstehen würden, wenn ich
ihnen erklärte, in welchem Zwiespalt ich mich in letzter Zeit
infolge anscheinender Nichtbewältigung marxistischer Ideen befand?
Einerseits stand ich nach wie vor auf dem Boden der Grundwahrheiten
des Mormonismus, andererseits, bekümmerte mich, dass die Kirche Jesu
Christi der Heiligen der Letzten Tage zu schwach war, um die
dringendlichsten weltweit anstehenden Probleme um Frieden und
Gerechtigkeit zu lösen. Deshalb hinkte ich…
Sie
würden gern mit mir reden, sagten sie. Wir verabredeten uns für den
späten Nachmittag zu einem Gespräch in ihrer Wohnung am
Breitenbachplatz.
Es
wurde eine wunderbare Zeit.
Drei
Monate später gehörte ich zu den vierhundert Lehrgangsteilnehmern
eines Einjahreskurses für künftige Berufsschullehrer in der
Universitätsstadt Greifswald. Vierhundert eingeschriebene Hörer
mehrerer Fachgruppen wollten schnell Lehrer werden. Die SED wünschte
ihren eigenen Lehrertyp herauszubringen. Mit einer Eins im Abschluss
meiner Berufsausbildung als Baumschulist brachte ich die
Minimalvoraussetzungen mit.
Die
wenigen Monate bis Weihnachten kamen mir wie Tage vor. Alltags war
ich Marxist, sonntags Mormone. Zunächst konnte ich damit ganz gut
leben. Endlich hatte ich Zeit, zu lernen. Statt wie in den Jahren
zuvor, die Obstbaumquartiere mit Rodehacke oder Wuchtspaten zu
lichten und mich bei dem nassen Wetter auf dem Lehmacker zu schinden,
um meinen Chef noch reicher zu machen als er ohnehin geworden war, -
wie ich damals glaubte - machte ich hier keinen Finger krumm. Mit
Vergnügen hörte ich mich in den Lehrstoff hinein. Meine Vorliebe
für politische Ökonomie, machte mich vom Kopf her noch mehr
geneigt, den Kommunisten wenigstens partiell zu glauben.
Doch
dann kam jene sonderbare Kirchenversammlung im Spätherbst. Wir
hielten damals, 1951, unsere von sechs, sieben Mitgliedern besuchten
sonntäglichen Zusammenkünfte in Greifswald im Vereinszimmer einer
Gaststätte ab. Leider war uns dieser kleine, noch einigermaßen
geeignete, wenn auch ständig von kaltem Rauch- und Alkoholdunst
geschwängerte Raum schon gekündigt worden. Wir hatten ihn, wenn
auch zu unterschiedlichen Zeiten, gemeinsam mit den kurze Zeit später
verbotenen “Zeugen Jehovas”, genutzt. Wegen der Fülle neuer
Studenten wurde seitens der Stadtverwaltung jeder auch nur
einigermaßen bewohnbare Schlafraum angemietet.
Wir
mussten deshalb vorübergehend mit der eigentlichen Kneipe, die
sonntags geschlossen war, vorlieb nehmen. Im Vereinsraum hausten
jetzt einige Teilnehmer unseres Lehrganges und konnten, wenn sie
wollten, jedes unserer Worte mithören. Es trennte uns nur eine
Schiebetür von wenigen Millimeter Stärke. So erfuhren sie, dass
ich, ihr Mitstudent, ein “Mormonenpriester” war. Nun saßen wir
noch ungemütlicher, noch unbequemer, noch viel unpassender zwischen
Theke und Stammtisch in der Abendmahlsversammlung. An jenem Tag
sprach Arnold Riemer vor mir. Außer mir war er das einzige
erwachsene, männliche, aktive Greifswalder Mitglied. Ein
Malergeselle von Beruf. Er sprach über Ammon im Buch Mormon, wie der
zu Lamoni sagte: “... ich bin von Gottes heiligem Geist berufen ...
damit dieses Volk lernt, zur Erkenntnis der Dinge zu gelangen, die
gerecht und wahr sind und ein Teil dieses Geistes wohnt in mir und
der gibt mir Kenntnis und Macht, je nach meinen Wünschen und meinem
Glauben an Gott. “ Alma 18,34.
Arno
sprach perfekt. Wie ein Künstler spielte er auf unseren inneren
Saiten eine feine Melodie. Je länger ich ihm zuhörte, um so mehr
wünschte ich selbst “gerecht und wahr” zu sein. Es war eine der
Ansprachen, in der Redner und Hörer die Zeit vergessen. Der
eigentlich ungeübte Sprecher schlug uns in den Bann. Wir hingen an
seinem Mund. Wir vergaßen Bierdunst und Kneipenhähne. Denn wir
begriffen, wie sehr aus der Umkehrung der beiden Begriffe Recht und
Wahrheit ihr eigentlicher Wert hervorging. Denn eine Welt der
Ungerechtigkeit und der Lüge wäre nichts anderes als eine höllische
Realität.
Zwei
oder drei Tage später, im Dezember 1951, kam der weithin bekannte
Schweriner Domprediger Karl Kleinschmidt zu uns ins Institut und
hielt einen widerspruchsvollen Vortrag. Auch er wollte, wie ich es
zuvor versucht hatte, Feuer und Wasser miteinander verbinden.
Energisch bemühte er sich, den Eindruck von der Machbarkeit des
Unmöglichen zu erwecken. Wir sahen, wie es in seinem mächtigen Kopf
arbeitete. Protestant Karl Kleinschmidt erzählte in seiner Rede,
dass er bei einem seiner Pastoralbesuche auf einen achtzigjährigen
Jubilar stieß, der ihm freimütig bekannte: “Ach Gott, Herr
Pastor! Da kommen sie zum falschen Mann! Schon vor mehr als zwanzig
Jahren bin ich aus der evangelischen Kirche ausgetreten! Ich bin ein
Kommunist.”
“Na,
dann bin ich zu Dir eben als Genosse gekommen! Gratulation! Du bist
nicht der falsche, Du bist der richtige Mann!” Die
Grobschlächtigkeit, mit welcher der sonderbare Pastor uns
bearbeitete, missfiel nicht nur mir. Nach seinem temperamentvollen
Werben für den Geist der neuen Zeit stellte ihm einer der etwa
dreihundert Anwesenden eine Frage. Ob er als fortschrittlicher Pastor
zulassen könne, dass Säuglinge getauft und somit
zwangschristianisiert würden. Ich befand mich auf der Galerie des
zum Institut gehörenden Gebäudes Stralsunder Straße 1 und konnte
Karl Kleinschmidt gut beobachten. Ich meinte, nun stürzt er ab. Auf
diesen Angriff sei er nicht gefasst. Aber in dem großflächigen
Gesicht war auch nicht die Spur von Verlegenheit erkennbar. Er
zögerte keine Sekunde. Obwohl die Berechtigung des Vorwurfes jedem
einleuchtete, wandte sich der etwa fünfzigjährige Geistliche
ungerührt und direkt an den Fragesteller: “Genosse! Wenn Du jetzt
heiratest, dann werden Deine Kinder selbstverständlich DDR-Bürger
sein. Oder etwa nicht? Ist das eine Vergewaltigung ihres freien
Willens? Nein? Dann ist es das Hineingeborenwerden in die Kirche auch
nicht. Gewisse Vorrechte erhält man eben durch Geburt.” Er erhielt
viel Beifall für diese kesse Ausrede. Seine Schlagfertigkeit
verblüffte uns. So einfach war die Antwort, die, wie jeder wusste,
nicht stimmte. Aber sie war gut genug, den Druck der aus dem
Augenblick heraus geboren worden war, gegen Null zu reduzieren.
Hundertundeine Nachfrage hätten folgen müssen. Karl Kleinschmidt
fuhr in diesem Stil fort. Seine fest wirkenden Züge, seine breite
Stirn, sein Anspruch erwiesen seinen Willen, unbedingt sein
Geltungsbedürfnis zu befriedigen. Er wünschte zu den ersten Männern
des Landes zu gehören. Es reichte ihm nicht aus, nur ein Domprediger
zu sein. Es ging ihm, wie mir schien, um Zuwachs an Macht und
Sicherheit. Ungewollt hielt er mir einen Spiegel vor, in den wir
beide gemeinsam hinein schauten. Mich sah er nicht. Dafür sah ich
ihn um so deutlicher. Dieser Mann war kein Pastor. Auf seinen Glauben
an Gott fand sich in seiner Rede kein Hinweis. Als Präsidiumsmitglied
des Deutschen Kulturbundes war er zu uns gekommen und trat vor uns
als Gesinnungsgenosse Walter Ulbrichts und als Freund von Johannes R.
Becher auf. Sein einziges Ziel war, uns auf DDR-Linie zu trimmen.
Nachdem
Herr Kleinschmidt mir den gottlosen Sozialismus gepredigt hatte,
wusste ich, was ich tun würde.
Bei
der nächsten Vorlesung, in der Unwahres gesagt und Unzumutbares
gefordert wurde, verweigerte ich meinen Beifall. Dozent Kirchberg
hatte über Gorkis berühmten Roman “Die Mutter” gesprochen und
als Schlussfolgerung seiner Vorlesung gefordert, dass es unsere
Pflicht sei, aus Verantwortungsbewusstsein und Liebe zur DDR, die
Leute anzuzeigen, die sich auffällig gegen “unseren” Staat
stemmten. Ich saß vorn in der ersten Reihe. Als er seinen rhetorisch
brillanten Vortrag beendet hatte, gab ich weder mit den Knöcheln
meiner Hand, noch mit den abgewetzten Sohlen meiner billigen
Halbschuhe Beifall. Der dreißigjährige, gutaussehende Kirchberg sah
mich reglos dasitzen. Er sprach mich sofort an, stellte mich mit
mehreren Fragen zur Rede. Ich sagte ihm ohne Umschweife, und ohne in
diesem Augenblick Rücksicht auf meine berufliche Entwicklung zu
nehmen, was ich dachte. Mit seinen einsfünfundachtzig überragte er
mich bei weitem, nicht nur körperlich. Vor allem die Mädchen
hielten ihn für einen Mann von ungewöhnlicher Intelligenz. Er
fühlte sich mir haushoch überlegen. Eigentlich war er nicht der Typ
des grimmigen Einpeitschers. Er wirkte eher gewinnend, sah aus wie
ein Lord und wusste das. Der eitle Mann wollte wissen, was der wahre
Grund meiner Beifallsverweigerung sei.
“Weil
ich Ihre Auffassung nicht teile. Meiner Überzeugung nach ist es
gleich, ob ihn ein Brauner oder ein Roter verübt, Verrat bleibt
Verrat.”
Da
ich kein Aufsehen erregen wollte, gab ich die Antwort leise. Er aber
fuhr hoch: “Das ist eine Grundsatzfrage! Wir sind für unsere
Republik selbst verantwortlich. Feinde haben wir mehr als genug.
Wollen Sie sich etwa auf die andere Seite schlagen? “
Er
hämmerte drauf zu, wahrscheinlich fühlte er sich beobachtet und
fürchtete durch mich, möglichen Zuhörern unseres Gespräches
eventuell in einem falschen Licht erscheinen zu können: “Das
Proletariat stellt jetzt die Frage, wer wen. Zeigen Sie durch Ihr
Verhalten, wo Sie hingehören. In unserem Staat muss schließlich
jeder Farbe bekennen. Wer gegen Rot ist, kriegt die Faust der
Arbeiterklasse zu spüren.” Solche derbgezimmerte Rede passte nicht
zu ihm. Sein feines Gesicht war nicht mit den rauen Zügen des
Parteisekretärs Stanke zu vergleichen, dem er den Ton abgelauscht
haben mochte. Kirchbergs harte Entschiedenheit war offensichtlich von
künstlicher Art. Zu gern hätte ich gewusst, was er sechs Jahre
zuvor geredet und getan, und wie er die Kurve von den Nazis weg zu
den Roten genommen hatte. Ich kannte sie. Einige hatten uns noch drei
Tage vor dem Einmarsch der Roten Armee, als sie noch HJ Führer
waren, eingebläut, wir müssten Hitler total vertrauen und jeden,
jeden Befehl bedingungslos ausführen, selbst wenn es unser Leben
kosten sollte. Für Hitler lohne es sich zu sterben. Zum Gerassel
beschwörenden Trommelwirbels ließen sie uns, noch im März 45,
unter dem Abbrennen riesiger Holzstöße, bei den Göttern Walhallas
geloben, unser Leben einzusetzen für den Endsieg Deutschlands. Aber
nur wenige Wochen später liebäugelten dieselben leichtfertigen
Bengel ebenso entschieden mit den neuen, total entgegengesetzten
Möglichkeiten, um Karriere zu machen.
Ich
fragte mich, ob auch Dozent Kirchberg schon daran gedacht hatte, sich
irgendwann, falls er sich einmal über seine Mitgenossen geärgert
haben mochte, klammheimlich in den Westen abzusetzen. Man bestieg
einfach den Zug, schlief kurz vor Berlin ein und ging dann vom
Ostbahnhof aus ein paar Schritte zu Fuß. So einfach war das, vor
1961, von der einen Welt in die völlig andere, reichere zu gelangen.
Er
erwiderte, wenn auch nicht laut: “Sie sind ja gemeingefährlich!”
Ich war gefährlich. Ich wusste, dass sie alle, genauso wie ich, ihre
Zweifel hegten. Er sagte: “Sie sind doch klug genug, um zu wissen,
dass es kein Zurück mehr gibt.”
Das
war der Punkt. Die Logik ließ, in der Tat, keinen anderen Schluss
zu. Nachdem die Russen mit ihrer Militärmaschinerie auf unserem
Territorium standen, hieß es gehorsam zu sein oder zu leiden.
Durchdringend schaute er mich an: “Übrigens, wer meint, sich
kirchlich engagieren zu müssen, hat an unserem Institut
selbstverständlich keine Bleibe.” Hatte er nur auf den Busch
geklopft? “Ich bin Mormone!” bekannte ich. Er schaute mich
durchdringend an. Er hatte es gewusst. Meine Gedanken fanden keinen
Ruhepunkt mehr. Wenn das so war, dass sie von mir verlangten, Farbe
zu bekennen, dann musste ich es schnell klären. Definitiv? Vor
dieser Konsequenz schrak ich zurück. Ich wollte mir doch nicht
meinen Lebensweg verbauen.
Vielleicht
sah er mir in etwa an, was ich über Leute wie ihn dachte.
Ich
erinnerte mich wieder der roten Spruchbänder, die im Herbst 1950
wochenlang unter den Prenzlauer Kasernenfenstern, in der Alsenstraße,
hingen: “Herzliche Kampfesgrüße unseren koreanischen
Klassenbrüdern im Kampf gegen den US-Imperialismus!”
Am
Tage darauf fasste ich den Entschluss, vom Institut wegzugehen. Das
war meine Pflicht.
Als
ich Herrn Kirchberg das mitteilte, war er ehrlich erschrocken. Seinem
Mienenspiel sah ich an, dass er das nicht gewollt hatte. Meine Wahl
schien ihm dermaßen widernatürlich zu sein, dass er mich
augenblicklich aufforderte, die vielen für ihn offenen Fragen
auszudiskutieren. Solange nehme er meine Reaktion und meine Kündigung
nicht zur Kenntnis. Offensichtlich hatte er erwartet, dass ich seine
Bemerkungen an jenem Vorlesungstag lediglich als freundschaftliche
Ermutigung verstehen würde, den Sprung in die neue Zeit hinein zu
wagen, nämlich mich über “religiösen Jux” hinwegzusetzen.
Auf
sein Gesprächsangebot ging ich selbstverständlich ein. Auch das
überraschte ihn.
Vier
oder fünf Abende redeten wir im Stalinzimmer des Instituts
miteinander, er, Roderich Schmidt, der Direktor, und ich. Manchmal
war auch Stanke, der Parteisekretär, dabei. Sie wollten nicht, dass
ich das Institut aus meinen Gründen verließ. Sie versuchten, meinen
Glauben an Gott zu erschüttern und argumentierten scharf; doch was
mich selbst betraf, waren sie im wesentlichen gutwillig. Sie wollten
mich gewinnen. Als stark erwiesen sie sich in der Argumentation gegen
die verhängnisvollen Rollenspiele der Großkirchen. Aber ihre
Beweisversuche gegen die Existenz Gottes waren mehr als naiv. Sie
konnten auch nicht begreifen, dass sie meinen Standpunkt durch ihre
Auflistung der kirchlichen Verbrechen nicht im Geringsten erschüttern
konnten. Das war natürlich ihr Ziel. Soviel Hintergrundwissen
besaßen sie nicht, um verstehen zu können, dass jemand ja gerade
deshalb bewusst Mormone war, weil er die gesamte Geschichte und
Entwicklung des Christentums - nach dem Beginn des vierten
Jahrhundert - für entschieden verfehlt erkannt hatte. Auf dieser
Basis stand Mormonismus und aus eben diesem Grund hassten und hassen
die meisten Christen die nicht in ihrer Traditionsreihe stehenden
Mormonen. Es war und ist die Andersartigkeit, die sie ablehnten,
nicht so sehr das Substantielle des Mormonismus, das sie nicht
erkannten.
Am
vorletzten Abend unserer fast einwöchigen Auseinandersetzung
erschien der Parteisekretär Stanke als Pope verkleidet zum Gespräch.
Das war dem geistreicheren Kirchberg peinlich. Stanke wünschte, ich
solle unbedingt begreifen, dass die Allianz von Thron und Altar
Ursache fast aller Kriege im Europa der letzten eintausendfünfhundert
Jahre war. Doch noch einmal, wiederum zu ihrem Erstaunen, pflichtete
ich dem Mann Stanke bei. Hatte ich ihnen das nicht schon dreimal
erklärt? Das Pfaffentum, diese Konzentration von Geist zum Zweck der
Machtausübung, war seit eh und je Gottes wirkungsvollster Feind
gewesen. Die Bibel ist voll von diesen Geschichten. Nicht erst seit
Pashur, dem berufsfrommen Gegenspieler des gottgesandten Propheten
Jeremia, standen die “Priester” und “Hirten” (die Pastoren)
eher für ihre persönlichen Interessen ein. Das blieb auch so. In
den Tagen Jesu von Nazareth betrieb der Hohepriester Kaiphas, dessen
Verurteilung. Gottes Feinde kamen aus den eigenen Reihen. Sie haben
keine Rücksichten gekannt. Auf Konzilien und Synoden haben sie die
alten schlichten Sitten und Wahrheiten verbogen und verdreht und in
ihr Gegenteil verkehrt. An die Stelle der Fischer und Teppichweber
traten harte Senatoren mit blutbefleckten Roben. Mir war auch ohne
Stankes Hinweise längst klar gewesen, dass das vor rund eintausend
Jahren nach Russland transportierte Christliche auf allen
strukturellen Ebenen nichts anderes darstellte als das erstarrte
byzantinische Hofzeremoniell des zehnten Jahrhunderts nach Christus.
Das war offensichtlich. Diese Ornate und Prachtgewänder, diese
heidnischen, pomphaften Mitren als Kopfbedeckungen. Sie zeigten nicht
mehr und nicht weniger, als den absoluten Machtanspruch der “Kirche”
über die zwangsweise zu Christen gemachten Menschen ihres
Herrschaftsbereiches.
Kirchberg,
R.Schmidt und Stanke verachteten das Pfaffentum zwar anders als ich
es ablehnte, doch da gab es keinen grundsätzlichen Unterschied in
der Beurteilung. Mir war sogar klarer als ihnen, dass sie und ihre
kommunistischen Vordenker den Glauben an Gott vor allem wegen der
traurigen Christengeschichte ablehnten. “Kirche” hieß für den
Parteisekretär Stanke schlichtweg Hexenbrennerei, Kreuzzüge,
Mönchskungelei, Inquisition, Judenverfolgung und Heuchelei. Sie
kannten die deutsche und entsprechende Auszüge aus der russischen
Geschichte. Aber ich kannte sie ebenfalls und zwar partiell recht
gründlich. Beide erwiesen sich als mit Blut und Tränen geschriebene
Jahrtausendbücher. Da konnte man Seite für Seite aufblättern und
sah, dass sowohl der “Glaube” als auch “die Kirche”, solange
ihre Möglichkeiten zur Machtausübung ungebrochen waren, den
Menschen nur wenig Gutes gebracht hatten. Sowohl von Wladimir von
Kiew bis Nikolaus II. als auch von Karl dem Großen, der dreitausend
Frankenmännern den Kopf abschneiden ließ, weil sie nicht gewillt
waren, sich christlich taufen zu lassen, bis zum hitlertreuen
Reichsbischof Müller, führten jeweils gerade Linien. Die zu allen
Zeiten von frommen Männern geweihten Waffen passten dazu. Wer je,
wie er, Stanke, als Kriegsgefangener und Mitglied eines
Antifa-Komitees in Leningrad in der Isaakkathedrale die historisch
echten Bilder der von unzähligen Priestern geleiteten
Prozessionszüge anlässlich großer russisch-orthodoxer Feiertage
gesehen, der wusste, dass solche unheilige und buchstäblich
unchristliche Allmacht eines Tages niedergeschmettert werden musste.
Ich widersprach ihm durchaus nicht, sondern ergänzte seine scharfen
Ausführungen, indem ich sagte: Das von Gott gegebene Gesetz der
Entwicklung verlangt eben, dass alles was nicht von ihm ist, früher
oder später zu Bruch gehen wird. Sogar ihnen als Nichtchristen sei
aufgefallen, dass der Zimmermannssohn Jesus von Nazareth das nicht
gewollt hatte, nicht diese Demonstration von Macht, die nichts
duldete, was sich ihr nicht unterwarf. Ich konnte diesen Teil ihrer
Bemerkungen immer nur unterstützen und sagte wörtlich: “Zweitausend
Jahre Christentum waren zweitausend Jahre Gängelei gegen den
ausdrücklichen Willen Christi.” Stanke sah mich böse an, kniff
die Lippen zusammen, unterstellte mir glatt Opportunismus. Dagegen
verwahrte ich mich und konterte scharf. Was er wüsste, hätte ich
längst erkannt. Ich erzählte, dass in meiner Heimatstadt Wolgast
vor dem Rathaus ein gusseiserner Brunnen steht. In einigen Reliefs
zeige er die großen Ereignisse der örtlichen Vergangenheit. Da
befinde sich auch die Darstellung von der Zwangschristianisierung der
alten Herzogsstadt im Jahre 1128, in der man zuvor an Herovit
glaubte. Groß zur Linken stünde der Soldat mit einem riesigen
Schwert, neben ihm ein Priestermönch, der die Heiden in einem Zelt
tauft. Nackt stehen sie da drinnen in einem großen Holzbottich, bis
zu den Knien im Wasser. Diese Menschen haben, genau wie er, Stanke,
das sieht, keine Wahl gehabt. Otto von Bamberg, der “bekehrende”
Christenbischof segnete sie zwar, hinterher, wie man auf dem Bild
sieht, doch das gäbe den so Christianisierten die Mündigkeit nicht
zurück. Auch meiner Überzeugung nach sei das eine Vergewaltigung
gegen das ausdrückliche Gebot Christi und eine Beleidigung Gottes.
Das sei einer der Gründe, warum ich Mormone bin. Außerdem brachte
ich zum Ausdruck, dass es trotz aller Entgleisungen aber auch
bewundernswert gute und selbstlose Priester und erst recht tadellose
Christen in allen Kirchen und zu allen Zeiten gegeben hätte. Da
rastete Stanke aus, schlug die Tür hinter sich zu. Meine
Gesprächspartner hielten sich nur für konsequent. Sie lehnten alles
ab, was im Entferntesten den Glauben an einen ewigen Schöpfer
aufkommen lassen könnte, und schnitten beides zugleich ab, die
Disteln und das grüne Korn. Nun drängten sie in der Hoffnung, mich
doch noch umzustimmen, auf eine letzte Aussprache. Auch sie brauchten
zur Wiederherstellung ihrer normalen Seelenlage den Erfolg. Denn
mittlerweile hatte sich im Institut mein Fall herumgesprochen.
In
den letzten Tagen meines Greifswalder Intermezzos sprach ich eines
der freundlichen Mädchen unseres Lehrganges an und fragte sie, ob
sie mit mir ins Kino gehen würde. Ich vermutete, dass sie einer
christlichen Gemeinde anhing. Sie hatte offensichtlich Probleme
damit, dass sie sich an diesem Institut als Hörerin eingeschrieben
hatte. Vielleicht litt sie noch mehr als ich unter einem inneren
Zwiespalt. Ich wünschte, mich mit ihr auszutauschen. Sie schien
verlegen zu sein, war es aber nicht, denn sie fragte mich sofort:
“Bist du noch frei? Bitte kein Missverständnis”, sagte sie, aber
mit einem Jungen ginge sie nur dann ins Kino, wenn sie das wüsste.
Sie ging nicht wirklich auf meine Gedanken ein, schwieg sich im
wesentlichen aus. Da musste ich also allein durch. So rückte der Tag
für das letzte, das entscheidende Gespräch heran. Dass Kirchberg
und der Leiter des berufspädagogischen Institutes Greifswald
tatsächlich nicht genügend nachgedacht, sondern ihre Karten,
entsprechend dem allgemeinen Trend, einfach auf die atheistische
Grundlehre gesetzt hatten, zeigte sich in allen Gesprächen. Das
sollte sich auch im letzten erweisen. Sie sagten: Ihr Gott sei die
Natur. Etwas anderes gäbe es nicht. Punktum. Die Umgebung, das Sein
forme den Menschen, die Umgebung Natur habe uns hervorgebracht,
schließlich die Gesetze per Zufall. “Es gibt kein höheres Wesen
im Weltall als den Menschen.”
“Und
woher wisst ihr das ?”
Sie
murmelten etwas Unbestimmtes, fanden es unerhört, wie ich
diskutierte. Ich dagegen fand, dass ihr Atheismus unbearbeitetes
Rohmaterial war, und damit protzten sie auch noch.
Dabei
war die Entscheidung, ob ich oder auch sie selbst sich nach links
oder rechts wenden sollten, von kaum zu übersehender Bedeutung. Ohne
es lange zu bedenken, hatten sie, - nicht ich, wie sie behaupteten, -
wie Wasser den Weg des geringsten Widerstandes gesucht. Einfach so
hatten sie gesetzt: es gibt keinen Gott.
Sie
waren in eine Falle getappt: Indem der Kommunismus die Menschen in
der Überzeugung bestärkte, dass sie ausschließlich dem Tierreich
entstammten, gewann er an Macht. Seine Philosophie verleitete die
Mehrheit zu dem Trugschluss: wenn es keinen Gott gibt, dann ist alles
erlaubt.
Das
war der wahre Grund.
Ich
sagte es ihnen und fügte hinzu: “Wenn es denn Halbgötter wie uns
Menschen im Weltall gibt, dann gibt es auch ganze Götter.” Sie
horchten tatsächlich auf, als ich bekräftigte, dass Jesus schon den
Pharisäern seiner Zeit gesagt hatte, dass der Mensch nur wenig
niedriger sei als Gott. (Joh. 10.33-36) Was schließlich nichts
anderes aussagte, als dass der Mensch ein Halbgott ist. Noch sei er
sterblich und noch moralisch winzig, aber er werde Fortschritte
machen.
R.
Schmidt hätte wahrscheinlich liebend gern erwidert, ihm sei meine
Diskussion zu dumm. Er schüttelte sich und seinen schmalen, langen
Kopf. Meine beiden Gesprächspartner waren offensichtlich erstaunt.
Bisher hatten sie geglaubt, dass nur sie allein, als Repräsentanten
des Kommunismus, die Überzeugung an den ewigen Fortschritt der
Menschheit vertreten.
Es
verwirrte sie. “Ich denke, ihr wisst genauso gut wie ich, dass
niemand das Ende absehen kann, wohin die Menschheit sich im Verlaufe
der Zeit entwickeln wird, wenn wir nicht den falschen Kurs
einschlagen, wenn wir uns nicht vorher untereinander ausrotten. Ich
meine, dass Menschengeist viel mehr kann, als wir heute glauben.
Warum, wenn wir die Gebote Gottes als verbindlich anerkennen, sollen
wir nicht irgendwann am Ende der Entwicklung wie die Götter werden?”
Es
war ihnen sehr leid geworden, mit mir zu reden, weil ich ihre
Argumente benutzte.
Während
ich mich erhob, um dem möglichen Hinauswurf zuvor zu kommen, packte
ich meine Überraschung aus:
“Habt
ihr nicht gelesen, dass Goethe deutlich zwischen Geist und Körper
des Menschen unterscheidet? In seinen Gesprächen mit Eckermann sagt
er es sonnenklar, und in einer Szene seines Faust lässt er es den
Titelhelden feststellen. Ich zitierte Wort für Wort: ‘Zwei Seelen
wohnen, ach, in meiner Brust, die eine hält mit derber Liebeslust
sich an die Welt mit klammernden Organen, die andere hebt gewaltsam
mich vom Erdendust zu den Gefilden hoher Ahnen.’
Das
mache doch den wesentlichen Unterschied zum Tierreich aus, dem wir
biologisch sicherlich entstammen, dass der Mensch seinen animalischen
Trieben nicht ausgeliefert ist, sondern sein Handeln und Wollen
ständig selbstkritisch begleiten kann, eben weil sein Geist aus
“Elysium”, vom Himmel, herabgekommen ist, aus den "Gefilden
hoher Ahnen”. Meine Hand lag schon auf der Türklinke
Sie
zeigten sich erleichtert, dass ich auf eine Weiterführung des
Gespräches verzichtete.
Sie
waren so ehrlich mir zu bescheinigen, dass ich das Institut auf
eigenen Wunsch verlassen hatte.
Sie
hatten sich sehr um mich bemüht.
Sie
hätten die Macht gehabt, mich einfach hinauszuwerfen. Das haben sie
nicht getan. Sie hielten mich für verrückt, aber ich war glücklich.
Wenn auch auf geheimnisvolle Weise, wusste ich, dass ich mich richtig
entschieden hatte.
In
der Institutsleitung gab es allerdings Leute, die schon Tage vorher
durchblicken ließen, mit mir sollte man kurzen Prozess machen und an
mir die Diktatur des Proletariates ausüben.
Als
ich im Dorf K. ankam, eröffnete sich mir eine neue, wenn auch
kleine, wie mir schien ungeordnete Welt, in der ich mich erst zurecht
finden musste.
Ich
half dem Neubauern M., bei dem ich in der winzigen Mansarde des
ausgebauten Dachgeschoßes wohnen durfte. Während der Februarwochen
ernteten wir das Rohr auf den von ihm gepachteten und nun
zugefrorenen Seen. Morgens wenn der Raureif noch schwer und glitzernd
weiß auf den braunen Wispen der langen Halme lag, zogen wir los.
Zumeist sah der Himmel blau aus, und es surrte, wenn wir die breiten
Schnitteisen über die rohrbestandenen Eisflächen schoben. Raschelnd
fielen uns die weißköpfigen Spitzen des langen Rohres ins Gesicht,
puderten uns eisig ein.
Als
Gegenleistung plante des Neubauern Ehefrau mich als ständigen
Tischgast ein.
Ende
Februar begann es eines Tages überraschend stark zu tauen. Auf dem
T.see lagen noch vierhundert Bund Rohr. M. musste einen
Zahnarzttermin wahrnehmen und stellte mir anheim, die Rohrbunde zu
retten.
Beim
Bergen des Schilfes brach ich immer wieder ein, was allerdings nicht
lebensgefährlich, sondern nur unangenehm war, denn wo das lose, noch
nicht zusammengebundene Rohr lag, war es flach. Nur bis zu den Waden
reichte das Wasser, und die waren einigermaßen durch die Stiefel
geschützt. Doch auf diese Weise kam ich nur sehr langsam voran.
Gegen fünf Uhr am Abend fing es zu dunkeln an. Noch lagen einige
Bunde auf dem immer brüchiger werdenden Eis. Es kam Finsternis auf,
ehe ich fertig wurde. Anschließend wagte ich nicht, den See zu
überqueren, obwohl in seiner Mitte sicheres Eis lag und dies eine
beträchtliche Abkürzung des langen Fußmarsches bedeutet hätte.
Gut gelaunt trat ich den kilometerlangen Umweg an. Die Sterne
leuchteten hell und machten mir wieder bewusst, woher ich eigentlich
kam, und wohin ich in Wahrheit ging. Mich störte nicht, dass ich
sehr durchnässt war. Mich beglückte der Gedanke, frei zu sein. Die
Neubäuerin sah mich erschrocken an, als ich über die Schwelle trat.
Sie erstarrte mitten in einer Bewegung. Sie wurde blas. Sie konnte
ein Aufschlucken nicht unterdrücken: “Und ich dachte, Sie wären
ertrunken!” Mir gefiel es, zu sehen, dass ich ihr etwas bedeutete.
Aber was sollte das? Sie war für mich tabu. So sehr sollte sie sich
eigentlich nicht aufgeregt haben. Ich sollte ihr eigentlich
gleichgültig sein, wie sie mir.
Der
Nachtfrost zog in jener Woche noch einmal stark an und wir konnten
auch den Rest der Rohrbestände abernten.
Ich
dachte einige Male an die abendliche Szene in der Küche der
Neubäuerin zurück, schob aber alles beiseite was mich in die
falsche Richtung drängen wollte. Meine Gedanken richteten sich auf
den Vorsatz, meine Baumschule aufzubauen, wofür mir M. ausreichend
Land zur Verfügung gestellt hatte.
Es
war noch im März, als ich eines Tages beabsichtigte, mit dem Zug in
den Nachbarort zu fahren, um Material einzukaufen, das ich für meine
gärtnerischen Zwecke benötigte. So kam ich an jenem Spätnachmittag
zwangsläufig in die Nähe des winzigen Wartesaales des ebenso
kleinen Bahnhofes. Lärm drang heraus. Diese Kneipe war die einzige
Gaststätte des Ortes und erfreute sich eines beachtlichen und
regelmäßigen Zuspruches der Männer. Vielleicht mochte ich aus
Neugierde einen Blick in den überfüllten Raum geworfen haben. Ich
kann mich daran jedoch nicht genau erinnern.
Zwei
Tage später hörte ich, dass sie den Bürgermeister verhaftet
hatten. Eine Woche später, der Bürgermeister war nicht
wiedergekommen, raunte mir die Neubäuerin zu: “Gerd, die Bauern
verdächtigen Sie.”
“Wessen?”
fragte ich. Ich konnte mir bei bestem Willen nicht erklären, was sie
meinte. “Dessen!” erwiderte sie und hob die Stirn in Falten.
“Einer muss ihn ja angezeigt haben.”
“Ach
so!” Ich hatte mich schon gewundert, dass sie so ernst und
bekümmert aussah, und ich lachte. Dachte sie etwa allen Ernstes,
dass ich in die gefährliche Angelegenheit verwickelt sei?
Mir
war längst noch nicht klar, dass es stets darum ging, vor allem den
Anschein von Sauberkeit zu wahren, und wandte mich deshalb weiterhin
unbekümmert meinen täglichen Arbeiten zu.
In
derselben Woche, ich kam aus dem Dorfkino, stießen aus der
Finsternis des Parks hinter dem Schloss ein paar dunkle Gestalten auf
mich zu. Zuerst war ich verunsichert und ängstlich. Als ich jedoch
ihre Stimmen hörte und die Gesichter erkannte, weil meine Augen sich
ans Dunkel gewöhnt hatten, wurde ich trotz der Beschimpfungen wieder
ruhig. Sie würden nur reden. Aber wie sie dann auf mich einredeten:
“Du bist es gewesen!”
Ein
anderer bellte: “Du Lump!”
“Mit
anderer Leute Frauen poussieren.”
“Wir
schlagen Dich tot!”
“Unseren
Bürgermeister zahlen wir dir heim!”
Ich
setzte mein Vertrauen in das Gerechtigkeitsempfinden der empörten
Männer. Denn an der Verhaftung und was das Poussieren betraf war ich
wirklich unschuldig. All das würde sich ja bald herausstellen.
Sie
schnürten den Ring enger, machten sich gegenseitig scharf, hetzten
noch einmal, aber lauter:
“Wegen
ein Lied!”
“Hast
Geld gebraucht, nich?”
“Dat
bringt sechzig Mark, nich? Judaslohn, nich?”
Gespenstisch
wogten ihre Schatten um mich herum. Wie zum Schwur vereint, hielten
sie mir ein paar Sekunden lang die Fäuste unter die Nase.
Plötzlich
ließen sie ab von mir , zogen los.
Dass
ich arm wie eine Kirchenmaus war stimmte. Sicher, woher sollte ich
Geld haben? Wahrscheinlich hielten sie mich für besonders suspekt,
weil ich nie in ihre Wartesaalkneipe ging. Neumann, das hatte mir die
Neubäuerin gesagt, war schon längere Zeit hinter ihr her und immer
hätte sie ihn abblitzen lassen. Er hasste mich.
Wenn
er abends an den See kam, mit einer schlittenähnlichen Schleppe auf
der ein großes Fass stand, um Wasser für sein Vieh zu schöpfen,
ließ er mich jedes Mal spüren, wie sehr er sich mir gegenüber als
überlegen betrachtete. Blicke und Gesten waren es, selten Worte.
Aber warum eigentlich?
Er
hatte mir am lautesten gedroht: “Das Loch im Eis für Dich ist
schon gehackt.”
Die
drei Löcher, die man vom Land aus sah, hatte ich selbst als
Angellöcher geschlagen.
“Hau
ab von hier!”
Ziemlich
erregt, obwohl fürs erste die Gefahr gebannt war, rannte ich heim.
Als ich um unseren Zaun herumbog, sah ich die Neubäuerin, jedenfalls
ihren Schatten, in der Türfüllung. Sie stand vor dem dunklen
Eingang der Veranda. Sie zitterte: “Und ich hatte Dich so sehr
gebeten, heute nicht ins Kino zu gehen.”
“Du
hast es gewusst?”
Sie
nickte: “Ich habe es befürchtet.”
Vier
lange Wochen dauerte es, bis ich alles aus dem Mund des aus der
Untersuchungshaft entlassenen Bürgermeisters H.Schindler erfuhr. Er
gab sich konziliant, bot mir Platz an in seinem kleinen Büro und
steckte sich mit unruhigen Händen eine Zigarette an. Er redete frei
vor mir, wusste alles. Etwas gekünstelt, als hätten sie ihn bei der
Entlassung darauf verpflichtet, dass er es auch in seinem Dorf
selbstkritisch offen bekennen sollte, sagte er, er als erster Mann
des Ortes hätte sich solche Torheit nicht herausnehmen dürfen im
Wartesaal das Soldatenlied der Deutschen Kriegsmarine zu singen:
“Denn wir fahren gegen Engelland ...”
Bomben
auf Engelland, das sei mehr als eine Dummheit gewesen, das war ein
böses Vergehen. Verherrlichung des Faschismus und des Krieges. Dafür
konnte jeder Bürger mit Gefängnis bis zu fünf Jahren bestraft
werden, so das Gesetz zum Schutze des Friedens.
Da
ich an jenem Nachmittag zufällig aufgekreuzt war, konnte ich es also
durchaus gehört haben. Ob ich das, was er sang bemerkt hätte oder
nicht, ich sei in meiner arroganten Art, ohne sie zu grüßen, an den
Bauern im Wartesaal vorbei gegangen. Das sei der Punkt gewesen.
H.Schindler umschrieb es nicht. Er sagte es mir ins Gesicht.
Männliche Dörfler - das “männliche” betonte er - würden mich
ohnehin nicht leiden können, hielten mich für eine verkrachte
Existenz, jedenfalls war alles, was sie von mir gehört hatten,
nichts Gutes.
Außerdem
wussten alle, dass ich kein Geld besaß. Sie hielten das für höchst
verdächtig. Am selben Abend, knapp zwei Stunden später, wäre er
verhaftet worden. Für die Neubauern lag nun der Schluss nahe: ich
hätte mir einen gewissen Betrag verdienen wollen und sei deshalb in
der Stadt, als erstes zur Stasi gerannt, dienstbeflissen und scharf
auf die Prämie. “Und was wäre gewesen, wenn Du so schnell nicht
wiedergekommen wärst und wenn Du ihnen nicht den Mann hättest
nennen können, der Dich anzeigte?” H.Schindler zuckte die Achseln,
lächelte auf seine immer verbindliche Weise. Er kenne seine
Pappenheimer. Das hätten sie nicht gewagt, meinte er.
“Bist
Du sicher?”
“Na
ja, unter uns gesagt, ein Vielweibereimormone ist nicht gerade nach
ihrem Geschmack. Sei vorsichtig.”
Im
Sommer dieses Jahres 1952 erfuhren wir, dass der Präsident der
Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage, David O. McKay,
nach Berlin kommen würde. Ich fuhr natürlich hin, sah einen
hochgewachsenen Mann mit gewelltem weißem Haar, ein Achtziger mit
einem sympathischen Gesicht. Ich empfand seine Ausstrahlung als sehr
angenehm. Es war reine Herzlichkeit. Ich stand gerade auf dem Hof des
Titaniapalastes, als er aus dem Auto stieg. Seine Gesichtszüge
verrieten mir, dass da ein Mann ohne Dünkel, und ohne überzogenes
Sendungsbewusstsein auftrat. Minutenlang stand ich betroffen über
meine eigene frühere Torheit, die ich vor gerade einem Jahr, wenn
auch nur für kurze Zeit gehegt hatte, (als ich in der Gärtnerklasse
das Stalinbild aufhängte) und fragte mich, wie ich jemals denken
konnte, dass Männer wie Molotow, Kaganowitsch, Berija, Stalin
wahrscheinlich doch große und tadellose Persönlichkeiten seien.
Das
Gebäude in Westberlin, wo die Konferenz mit Präsident McKay
stattfinden sollte, wurde von einer kleinen Heerschar Zeugen Jehovas
belagert. Sie bemühten sich, nahe an ihn heranzukommen. Doch sie
wurden durch einen Kordon von Mormonen die dem Präsidenten die Hand
reichen wollten daran gehindert. Die “Zeugen Jehovas” begehrten
dem ruhigen freundlichen Gentleman zu sagen, was sie mir ziemlich
wütend ins Gesicht schmetterten: er sei der Gesandte Satans. Mit
ihren Wachtturmtraktaten fuchtelnd, bezeugten sie ihre Eifersucht.
Das
war etwas, was mich stets verwunderte, diese Selbstsicherheit im
Vorurteil nahezu aller frommen Christen. Sie glauben, es sei der
Weisheit letzter Schluss: Wenn jemand anders dastand als sie, müsste
er schief liegen.
Präsident
David O. Mc Kay sprach in der großen Versammlung über die Pflichten
der Mitglieder, sich ihrer eigenen Erkenntnis gemäß zu verhalten:
“Leistet eine gute Arbeit. Seid vorbildliche Nachbarn und gute
Bürger Eurer Städte und Dörfer. Tut Eure Pflicht gegenüber Gott,
indem Ihr seine Gebote haltet, dann wird die Indoktrination durch den
so genannten wissenschaftlichen Atheismus Eure Familien nicht in
feindliche Lager spalten und somit nicht Euer Lebensglück zerstören.
Vorausgesetzt, dass Ihr, liebe Mütter und Väter, Euren Kindern mit
gutem Beispiel vorangeht. Und handelt nie anders als zum Vorteil der
Beständigkeit Eurer Ehe und Familie. Wer noch nicht verheiratet ist,
trachte ebenfalls danach ... Seid rein ...Bleibt wo ihr wohnt, helft,
wo Ihr lebt die Kirche – das Reich Gottes - aufzubauen.” Im
Klartext hieß das, bleibt in der DDR.
Das
betraf mich natürlich persönlich.
Präsident
Mc Kay ging ebenso bescheiden davon, wie er gekommen war.
Er
öffnete seiner Frau die Wagentür und ließ sie Platz nehmen, dann
wandte er sich uns zu, winkte, ehe er selber ins Auto einstieg.
Eine
Weile konnte ich es noch aushalten, mich tadellos zu verhalten. Dann
kam der Herbst, die letzten guten Vorsätze flogen mit den
Wandervögeln auf und davon. Wieder einmal sah alles anders aus, als
ich es geplant hatte.
Es
ist wahr, lebendig Ding will wachsen. Wachsen oder sterben, das ist
das Gesetz des Lebens. Wenn wir uns nicht in die eine Richtung
bewegen, dann in die andere.
Mein
Verhältnis zu meiner Wirtin hatte eine Entwicklung durchgemacht. M.
hielt mich für einen guten Arbeiter, aber irrtümlicherweise nicht
für einen potentiellen Nebenbuhler. Richtig wird er es nie erwogen
haben. Sonst hätte er mich mit seiner noch jungen Frau nicht so oft,
tagelang, nächtelang, allein gelassen. Aber er tat es wieder und
wieder.
Äußerlich
war meine Welt einigermaßen in Ordnung gekommen, aber tief in mir
waren die rebellischen Gedanken gewachsen. Sie drängten ans
Tageslicht und zur Tat. Sie wollten nicht mehr nur Gedanken und nur
Träume bleiben. Ich kam zu dem erregenden Entschluss, die Frau des
Neubauern zu erobern. Sie war um einige Jahre älter als ich. Das
sollte mir nichts ausmachen. Wie ich glaubte, war sie mit dem Mann
ihrer Wahl nie glücklich gewesen. Sie litt viel. Nach der Totgeburt
ihres zweiten Sohnes, Jahre vor meiner Ankunft, kämpfte sie immer
wieder gegen ihre Depressionen an, die ihr Ehemann nicht einmal
bemerkte. In der Dunkelheit zog sie dann stets der nahe, finstere
Wald an.
Eines
Tages sprach mich einer der Männer an, die mich damals im dunklen
Park umstellt hatten, ob ich mir ein paar Mark verdienen möchte,
indem ich seinen Acker eggte. Das hatte ich noch nie versucht. Mich
reizte es, eine Arbeit zu tun, die neu war. Ich traute mir zu, sie
auszuführen. Er dachte vielleicht, dass er etwas an mir gut zu
machen hätte. Deshalb war er heruntergekommen an den See, wo ich
zwischen den weit gesteckten Pfählen die ausgefischten Stellnetze
zum Trocknen aufhängte. Jedenfalls nahm ich an, dass es eine
Ersatzhandlung für die überfällige Entschuldigung sein sollte. Er
wies mich noch darauf hin, welches seiner vier Pferde ich anspannen
sollte, denn er selbst hätte Wichtiges zu erledigen. Was wusste ich,
wodurch sich Rappen und Braune unterschieden? Im Dorf war jedermann
bekannt, dass er sich von den Sinti einen Schlägerhengst hatte
andrehen lassen. Es war ein schönes stolzes Pferd, aber sehr
gefährlich.
Den
Hengst sollte ich ja gar nicht nehmen. Das war mein Fehler. Bis gegen
vier Uhr nachmittags ging alles gut. Es war vielleicht eine Fläche
von einem halben Morgen übrig geblieben, die wollte ich noch
schaffen. Mich freute, zu beweisen, dass ich auch das konnte.
Da
die Frau, an die ich seit Tagen viel mehr dachte als an irgend etwas
anderes in der Welt, am nächsten Tag ihren Geburtstag feiern würde,
erwog ich einen Plan. Während des Eggens überlegte ich, wie ich
das, was ich wünschte, bekommen könnte. Ich malte es mir aus.
Dass
es gewiss ein langes, sehr langes, reuevolles “Danach” geben
könnte, kam als Warnung zwar noch einmal zu mir, doch ich leugnete
alles. Zum ersten Mal in meinem Leben wollte ich vorsätzlich böse
sein.
Mit
solchen Gedanken lief ich hinter dem kraftstrotzenden stattlichen
Hengst her, der mit Leichtigkeit die aus drei Ein-Meter-Teilen
bestehende Egge über die raue Scholle zog. In dem Augenblick in dem
ich ein Ausrufungszeichen hinter meinen Beschluss setzte, rutschte
mir die viel zu lange, von mir falsch gewählte Leine, die ich recht
knapp und damit sehr unhandlich zusammengefasst in der Rechten hielt,
aus den Händen. Spontan bückte ich mich. Das Pferd erschrak und
keilte aus. Sein Huf traf mich am Jochbein. Ich wurde durch die Luft
geschleudert.
Trotz
der Gewalt des Hufschlages verlor ich die Besinnung nicht, sondern
fand mich auf Knie und Hände gestützt auf dem weichen braunen Acker
liegend wieder, sah wie mir das Blut aus der Nase und aus dem Mund
lief.
Das
ist dafür, wusste ich.
Dafür.
Du
hast es als Siebzehnjähriger erbeten, von Gott: Bitte verhüte es,
wenn ich jemals Böses plane.
Schädelbasisbruch,
Bruch der Brille, Zertrümmerung des rechten Jochbeines. Noch wusste
ich um dieses Ausmaß nicht. Noch spürte ich nur einen dumpfen
Druck, der, wie es schien, weitab von mir vorhanden war. Ich konnte
glasklar denken. Noch peinigte mich der wahnsinnige Schmerz nicht,
der jedoch unmittelbar auf dem Sprung zu mir stand..
Am
meisten wunderte mich, dass der große Gott eines so kleinen Menschen
Wunsch nicht in Vergessenheit geraten ließ, dass er ihn erfüllte.
Die empfindungsleitenden Nerven blieben zum Glück für fast zwei
Stunden betäubt.
In
der Nähe hielt sich ein gänsehütender Junge auf. Er hatte alles
beobachtet und stand da, mit offenem Mund. Ich erhob mich ohne Mühe,
worüber ich mich ebenfalls wunderte, winkte ihn heran, bat ihn, er
möge das Pferd am Kopf nehmen und zu Schulz heimbringen, ich hätte
mit mir zu tun. Er erkannte auch ohne meine Ratschläge, was zu tun
war. Ich ging los, tapfer zunächst. Nach ein zweihundert Metern
Weg, noch fast einen Kilometer von daheim entfernt, kam mir ein
altgedienter, und wie ich glaubte, recht hartgesottener Traktorist
entgegen, ich sprach ihn bei seinem Vornamen an, zog das zufällig
saubere Taschentuch von meinem rechten Auge weg, um ihn richtig
ansehen zu können, wollte ihn fragen, ob das schlimm aussieht. Ich
kam nicht dazu. Der Mann stürzte wie von einer Axt getroffen zu
Boden. Daraus schloss ich, dass er meine klaffende Wunde gesehen
hatte, was ihm die Besinnung raubte.
Als
sie mich sah, schrie die Neubäuerin auf, allerdings nicht laut,
nicht hysterisch. “Schnell, schnell hinlegen” drängte sie. Und
schon wieder gefasst, sagte sie: “ich rufe Erika an.” Damit
meinte sie, sie würde mit dem Krankenhaus telefonieren, um ihre
Freundin zu benachrichtigen, die dort als Stationsschwester tätig
war. Sie lief los zum Büro des Bürgermeisters, denn nur er verfügte
über ein Fernsprechgerät. Als sie zurückkam, völlig außer Atem,
sagte sie mir viel Gutes, um mich zu trösten. Aber ich bedurfte
ihres Trostes nicht. Sie wusch mich, strich mir über den Kopf und
sagte dann leise: “Ich hab's geträumt, ich hab' es abgeträumt.”
Das hielt ich für Unsinn, sagte aber nichts, da es mir ohnehin immer
schwerer fiel, irgendein Wort zu sagen.
Innerhalb
einer Stunde langte Erika mit dem Krankenwagenfahrer in G. an, einem
kleinen Dorf in unserer Nähe. Von da aus telefonierte sie mit dem
Bürgermeister, der Weg sei unpassierbar, der Fahrer weigere sich,
das Risiko auf sich zu nehmen, im Morast stecken zu bleiben. Sie
müssten mich mit einem Pferdefuhrwerk hinbringen. Bald darauf lag
ich im Stroh eines kleinen rumpelnden Ackerwagens. Über mir wogten
die im Herbstwind rauschenden Baumkronen riesiger Lindenbäume. Ich
nahm alles wahr, vielleicht noch mehr als vorher. Ich sehnte mich
nach ärztlicher Hilfe und Schutz, ahnte, dass jeden Augenblick in
mir die Hölle ausbrechen würde. Zu meinem Glück traf nach einigen
Minuten der Krankentransporter ein. Schwester Erika hatte den Mann am
Steuer so lange und so eindringlich beschworen, es doch zu wagen, bis
er schließlich nachgab. Erika saß weiß und still neben mir, hielt
meine Hand, fühlte besorgt den Puls, gab mir eine Spritze.
Ich
kannte sie seit vielen Jahren, die große, sehr hoch gewachsene
schöne Mormonin, die ich immer gemocht hatte, die mich aber leider
um zehn Zentimeter Länge überragte.
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