Dienstag, 20. März 2012



Schritte durch zwei Diktaturen (1)



Gerd Skibbe



nach meinem 1995 im Neustrelitzer Lenover-Verlag veröffentlichten Buch "Konfession: Mormone" (hier in geänderter Fassung)


1932 zogen meine Eltern mit mir zweijährigem Knirps nach Wolgast in Vorpommern. Nach langer Zeit des Prüfens ließ mein Vater Wilhelm Skibbe sich noch im selben Jahr taufen. Er hatte ernsthaft nach mehr Wahrheit getrachtet und bei den “Mormonen” gefunden was er suchte, auch wenn ihn die ersten Vorträge, die er in der Gemeinde Wobesde, Hinterpommern hörte, langweilten.

Rechts auf Vaters Schoß

 

Das Bild, das sich ihm in den ausgehenden 20ern bot, hatte ihn zu der Erkenntnis geführt, dass die Parteien niemals halten konnten was sie versprachen und dass das herkömmliche Christentum nichts weiter war, als höchstens ein Zerrbild der ursprünglichen Kirche. – Und das Schlimmste, ihre Repräsentanten waren außerstande das zu ändern!


Ihn störte sehr, dass die feindlichen Armeen des 1. Weltkrieges sich nahezu hundertprozentig aus Christen rekrutiert hatten. Das hielt er für den Ausdruck von unheilbarer Entartung zumindest der großkirchlichen Systeme. Christen mussten die anstehenden Probleme besser lösen können, statt mordend aufeinander einzuschlagen.
Der protestantische Verfasser des Jugendlexikons Religion, rororo, Rowohlt 1988, Pastor Hartwig Weber beschreibt Jahrzehnte später die Situation wie sie damals wirklich war: „Jubelnd begrüßten protestantische und katholische Theologen den Ausbruch des Ersten Weltkrieges: ‘Hei wie es saust aus der Scheide! Wie es funkelt im Maienmorgensonnenschein! Das gute deutsche Schwert, nie entweiht, siegbewährt, segensmächtig. Gott hat dich uns in die Hand gedrückt, wir halten dich umfangen wie eine Braut….komm Schwert, du bist mir Offenbarung des Geistes... im Namen des Herrn darfst du sie zerhauen.’ Die Soldaten sollten an der Front ‘im Vertrauen auf den heiligen, gerechten Gott’ bis zum Letzten kämpfen. ‘Wir kämpfen mit Gott und für seine Sache.’ Denn ‘es ist von oben wie heiliger Geist über das deutsche Land gekommen ... nie hat unser alter deutscher Gott seine Deutschen so gut und groß gesehen... Nationalismus, Militarismus und Religion verbanden sich miteinander. Die Kriegsbegeisterung überwältigte vor allem die Protestanten... Ist Gott für uns, wer mag wider uns sein?“
Dieses arroganten Geistes wegen mochte mein Vater es nicht, wenn Pastoren von der Kanzel herab zum Volk da unten sprachen. Außerdem verbreiteten sie Gefühlskälte und ihre Grundaussagen bissen sich. Allzu oft ließen sie die braun und schwarz uniformierten Männer mit ihren wehenden Fahnen hinein in die Gotteshäuser, während wenige andere sich solchen Zauber verbaten.


Mit den Reden und Zielen der Kommunisten hatte Vater sich schon gar nicht anfreunden können. Sie agierten in ähnlich rauem Geist. Sie schrieen zuviel und zu laut.


Mutter gehörte noch der römisch-katholischen Kirche an. Deshalb tauchte auch bald ein Pfarrer der örtlichen Gemeinde bei uns daheim auf.


Der Geistliche äußerte gegenüber meiner damals sehr kranken Mutter, es mache ihn nicht gerade glücklich zu sehen, dass sie in Mischehe lebte, zudem mit einem Mormonen. Wenn der Schäferhund, den der Herr Pfarrer vor der Haustür angebunden zurückgelassen hatte, sich nicht laut eingemischt hätte, wäre es vielleicht nicht zur Verschärfung der Situation gekommen. Das unschuldige Tier bellte und knurrte, was Vater nicht leiden konnte. Da sei die Tür, hatte er dem Mann im seinem schwarzen Gewand recht barsch geantwortet, obwohl er kein Mann für das Grobe war.


Der Pfarrer lief polternd die Treppen hinunter. Das muss sich 1934 ereignet haben, ein Jahr nach der Machtergreifung durch Adolf Hitler.


Diese Szene gehört zu meinen ältesten Erinnerungen.


Damals gab es im 100-Kilometerumkreis lediglich die Gemeinden Stettin, Demmin und Neubrandenburg. Sie zu erreichen war schwierig.


Spätestens 1936 kamen die ersten Mormonenmissionare in meiner Heimatstadt an.


Johannes Reese, ein Freund meines Vaters, mochte die jungen Männer. Dennoch protestierte er zunächst: “Wenn Sie missionieren wollen, dann begeben Sie sich doch bitte nach Afrika! Europa ist seit rund tausend Jahren bekehrt!”


Elder Beatty, oder Holt, stellten ihm die Frage, ob er glaube, dass alle Christen Christen sind. Das ließ ihn aufhorchen.



Ich erinnere mich daran, wie ich in diesem Jahr als sechsjähriger mit einem Hakenkreuzpapierfähnchen zu meinem Vater gelaufen kam. Auf der Wilhelmstraße war ich hinter den schneidigen, schwarzen SSlern mit ihrem klingenden Spielmannszug her gerannt. Gejauchzt hatte ich, weil der Tambourmajor seinen silberbeschlagenen, kordelbesetzten Stab zum Überschlag so wunderbar hoch in die Luft geworfen hatte. Mir kam es vor, als wäre die ganze Stadt darüber ebenso entzückt wie ich gewesen Als ich heimkam, noch erfüllt von dem rauschenden Erlebnis, sah ich Vater ungerührt wie ein Denkmal in der Ecke des Sofas sitzen, vertieft in seine große Bibel. Er schaute mich eine Weile an, schüttelte dann über mich und meine schöne bunte Fahne den großen, kahlen Kopf. Er winkte mich heran und nahm mir das gute Stück einfach weg. Das stimmte mich sehr traurig.


Wenig später schlug er mich zum ersten und zum einzigen Mal; weil ich die Ladentür unseres Hauswirtes, des Juden Eckdisch, aufgerissen und ihn als “Saujuden” beschimpft hatte. Der dicke, sonst so joviale Mann und Vater zweier erwachsener Kinder muss augenblicklich zu meinem Vater gerannt sein: “Ihr Bengel hat mich beleidigt.” Vater legte mich über sein Knie. Er zog seinen Filzpantoffel aus und schlug zu. Es klatschte, tat aber nicht weh. Ein für allemal skandierte er die wenigen Worte in mein Bewusstsein: “Alle Menschen sind Kinder Gottes!”


Später erfuhr ich durch meine Mutter, dass in jenen Wochen zwischen beiden Männern ein sonderbares Gespräch stattgefunden hatte. Mein Vater hätte ihn gewarnt: “Herr Eckdisch, verkaufen Sie ihre Häuser, nehmen Sie ihr Geld und versuchen Sie nach Palästina zu gehen. Kaufen Sie sich ein! Gehen Sie ins Land ihrer Väter. Sie müssen ja doch dorthin auswandern. Lesen Sie, was der Prophet Hesekiel vor zweieinhalbtausend Jahren vorausgesagt hat.” Er hielt seinem Hauswirt die Bibel vor die Nase. “Da steht es geschrieben! ... Siehe, ich will die Kinder Israel holen aus den Heiden, dahin sie gezogen sind, und will sie allenthalben sammeln und will sie wieder in ihr Land bringen...” (Hes.37,21). Er zeigte ihm andere Schriftstellen, alle mit demselben Tenor. Doch all das beeindruckte den gutmütig dreinschauenden, ältlichen Kaufmann wenig. Er winkte ab.


Als mein Vater sagte, der Mormonenprophet Joseph Smith hätte schon vor einhundert Jahren gelehrt, der Zeitpunkt der Sammlung Israels stünde unmittelbar bevor und er habe einen bedeutenden Juden, der Mormone geworden war, Orson Hyde, 1838 nach Palästina geschickt, um das Land zum Zwecke der Heimkehr der Juden zu segnen, da lächelte der rundliche Mann nachsichtig: “Wissen Sie”, sagte er, “wir Juden haben es doch gut hier in Deutschland!" Da verwies Vater ihn auf Hitler und sein Programm. " Nein!" sträubte sich der Jude, "wir haben bisher sämtliche Pogrome überstanden, wir überleben auch Herrn Hitler.” Außerdem genieße er als deutschsprechender Jude polnischer Nationalität Schutzstatus. Die Welt sei so zivilisiert heutzutage.


Wahre Prophetie und falsche Prognose standen scharf gegeneinander.


Einige Monate später drang die schwarze SS ins Haus Wilhelmstraße 53 ein. Binnen Sekunden brach der Damm. Es gab keinen Schutzstatus mehr, sondern nur eine Anzahl Leute, die sich viel darauf zugute hielten gehorsame Gefolgsleute ihres Führers zu sein. An ein Gesicht kann ich mich erinnern und wie ich meine, sogar an seinen Namen. Der Mann mit seiner schwarzen Schirmmütze und dem silbern blinkenden Totenkopfsymbol schaute mich nur kurz und kalt an.


Die Wolgaster SSler schoben die vier verängstigten Mitglieder der Familie Eckdisch vor sich her. Der Lastkraftwagen stand wartend da.


Herr Eckdisch sah noch einmal auf sein schönes, großes Haus.


Irgendwann im Verlaufe der nächsten drei Jahre müssen die polnischen Juden in einem Stadtteil Warschaus angekommen sein.


Denn aus diesem Ghetto gelangte im Kriegswinter 1944/45 eine Postkarte vom Sohn unseres ehemaligen Hauswirtes zu uns. Der Text lautete: “Vater tot, Mutter tot, Lotte tot. Jakob.” Wie oft werden sie an die gut gemeinten Worte des Mormonen Wilhelm Skibbe zurückgedacht haben.


Als Mutter neunundzwanzig wurde, 1937, wurde sie von der Universitäts-Frauenklinik Greifwald in eine Lungenheilstätte eingewiesen.


Sie litt an einer offenen Lungentuberkulose und die Röntgenaufnahmen zeigten sieben bohnengroße Löcher im linken Lungenflügel. Als einzig machbare Sofortlösung bot sich die Stilllegung der erkrankten Organhälfte an.


Mein Vater fürchtete das Schlimmste und so schickte er eine Karte nach Demmin wo sich die nächsten Missionare befanden: Gebt meiner Frau bitte einen Krankensegen.


Bruder Latschkowski betrat das Zimmer in dem meine Mutter lag. Sie winkte ihm zu. Er zuckte die Achseln. “Ich weiß nicht wer sie sind.”


Mutter klärte ihn auf. “Ich habe sie im Traum gesehen.”


Als Vater hinzukam bedankte er sich bei dem Elder. Aber der erwiderte, von einer Postkarte wüsste er nichts. Er sei hergekommen, weil er das dringende Gefühl gehabt hätte in dieses Haus gehen zu sollen und nach Julianne Skibbe zu fragen.


Da war allen Beteiligten klar, dass Gott ein Wunder geschehen lassen würde. Nach der Segnung wurde Mutter abermals durchleuchtet. Als dann die Fachärzte beieinander saßen um sie und sich auf den Eingriff vorzubereiten, sah Mutter wie die klugen Männer ihre Köpfe schüttelten. Sie verglichen die beiden Röntgenaufnahmen miteinander.


Ein medizinisches Wunder! Wo sind die Entzündungsherde, wo die Löcher?”


Sie und wir Kinder wurden noch jahrelang danach regelmäßig untersucht. Mutter hatte in den folgenden 50 Lebensjahren nie wieder Probleme mit ihrer Gesundheit.


Was aus uns Kindern geworden wäre, wenn sie uns so früh verlassen hätte, wage ich nicht auszudenken



Wenige Jahre nach der Verhaftung der Familie Eckdisch erwogen meine Eltern umzuziehen. Vater wählte wegen der besseren Geschäftslage die Langestraße. Als er die Räume besichtigte, lernte er die Mitbegründerin des Spartakusbundes Frau Martha Stolp kennen, die dann für einige Jahre unsere Flurnachbarin wurde.


Schon bald geriet er mit der Kommunistin in Streit.


Sie warf ihm Unverantwortlichkeit vor, da Mutter, trotz ihrer gerade überwundenen Tuberkuloseerkrankung, zum fünften Mal schwanger geworden war. Frau Stolp, die Witwe eines Kunstmalers, ehemalige Lyzeumslehrerin und präzise denkende Politikerin lebte mit ihrem dreißigjährigen Sohn Fritz in äußerster Armut. Ihre Gesinnung war stadtbekannt. Wahrscheinlich ließen die Nazis sie nur in Ruhe, weil sie zu alt geworden war. An ihrem Sohn allerdings wollten und sollten sie sich noch rächen. Beide waren furchtlose Leute, die jeden Andersdenkenden, wenn sich dazu eine Gelegenheit bot, augenblicklich attackierten. Sie sahen in Vater einen Opportunisten, sonst stünde er längst auf ihrer Seite. Ein Kleinhandwerker wie er müsste mit den Ausgebeuteten der Welt fühlen und müsste eigentlich wissen, wo er hingehört. Sie lachten ihn aus, als er den Spieß umkehrte und sagte, sie würden wie er Mormonen, wenn sie wüssten, was er weiß. Da er niemals auch nur eine Stunde Griechischunterricht genossen hatte und den Homer nicht kannte, weder Plato gelesen, noch jemals andere Klassiker wie Marx und Hegel, hielten sie ihn für nicht berechtigt, sich philosophisch zu äußern.


Erst als Vater sagte, dass der Mensch ein Doppelwesen ist, Körper und unsterblicher Geist, nahm Frau Stolp ihn ernst. Denn die Lehrerin glaubte mit den alten Griechen an die Unsterblichkeit. Ihr Sohn wies dies weit von sich. Er war überzeugt, weiter als seine Mutter entwickelt zu sein. Er vertrat einen strikten Atheismus.


Die Wortgefechte fanden häufig auf dem nahezu finsteren Flur des uralten Wohnhauses statt.


Rosa Luxemburg war die Frau, die Mutter und Sohn Stolp liebten. Mitunter bekamen wir mit, wie sie mitten in der Nacht stritten. Sie zankten sich ohne Rücksicht darauf, ob jemand sie hören konnte oder nicht. Es ging meines Wissens um marxistische Glaubensfragen. Zumeist waren beide Stolpes in der Argumentation sehr spitz. Mich konnten sie meiner Frechheit wegen nicht leiden, ich sie auch nicht. Noch war ich zu jung, um ein Nazi zu sein, aber ich befand mich auf dem Weg dahin. In den Lesebüchern zeigte man mir, dass ein guter deutscher Junge die Hakenkreuzfahne liebte. Das war für mich sowieso selbstverständlich. Meine Eltern bemerkten zu spät, dass mich der Zeitgeist langsam aber sicher für sich einnahm.


Häufig kamen die Mormonenmissionare zu uns. Ich mochte sie, aber ihre Reden interessierten mich nicht. Nicht selten schüttelten sie die Köpfe über mich, vor allem wenn sie mich während der Versammlung, die sie bei uns daheim abhielten, beobachteten. Ich wackelte nämlich mit den Stühlen oder zappelte zumindest mit meinen unruhigen Beinen. Obwohl die nobel gekleideten Amerikaner so gesittet dasitzen konnten, wusste ich, dass sie selbst auch nicht “ohne” waren. Sie hatten meinen Bruder Helmut, ein Würmchen von vielleicht fünfzehn Kilogramm Nettogewicht, bei Abwesenheit meiner Mutter quer durch die gute Stube geworfen. Geborene Basketballspieler fangen sicher. Aber wer konnte das schon wissen?


Ich höre immer noch Mutters Entsetzen: “Was macht Ihr da?” Was so ähnlich klang, als würde sie gerufen haben: Seid ihr denn total verrückt geworden?


So etwas sagt man nicht zu Missionaren, selbst dann nicht wenn sie erst zwanzigeinhalb und trotz gewisser zeitweiser Ernsthaftigkeit noch wie die Kinder waren. (1)


In ihrer kleinen Mietwohnung bei der Eisenwarenhändlerin Frau Spalding in der Wolgaster Langenstraße, fotografierten sie sich gegenseitig. Einer lag mit dem Rücken auf dem Federbett, mit verzerrtem Gesicht, bewaffnet mit einem großen, spitzen Küchenmesser, weil sich über ihm, in einem überdimensionalen Spinnennetz ein Pfannkuchen befand, dem sie mit geknickten Hölzchen eine Anzahl Beine verpasst hatten. “Deutsche Spinnen” schrieben sie auf die Rückseite des Bildes, das ich selbst gesehen habe, und schickten es in die ferne Heimat in den Felsengebirgen.



Es gibt ein Foto auf dem die Missionare Rudolf Wächtler und Arno Dzierzon zu sehen sind, die letzten die Hitler damals, 1941, seinem Heer noch nicht einverleibt hatte. Es zeigt auch meinen Vater und mich. Bis zum Hals hatten sie mich eingegraben und während sie den sonnenerwärmten Strandsand über mich häuften, hörte ich ihnen unwillkürlich zu. Mir prägten sich die Worte ein: “Wir hatten es in unserem Vorherdasein satt, die Herrlichkeit Gottes zu sehen. Wir konnten uns darüber nicht freuen.”


Einer der beiden Elders musste es geäußert haben.


Ich ahnte mehr als ich verarbeiten konnte. Die großartige Mormonenlehre vom intelligenten Vorherdasein des Menschen vor Erschaffung des Planeten Erde sollte mich später noch sehr beschäftigen.



Jahrzehnte später –etwa 1985 – saß ich im Lesesaal der Berliner Bücherei, gebeugt über einen Band des Handwörterbuches für Theologie und Religionswissenschaft.


Ich war ungemein überrascht, als ich unter dem Stichwort Origenes las: “Im Urzustand waren alle Logika - alle Engel, Menschen, Dämonen - körperlose Geister und als solche Götter, die dem Logos (- dem Wort - dem Christus -) anhingen. Sie waren mit ihm durch den Heiligen Geist verbunden und gaben sich mit ihm der unmittelbaren Schau des Vaters hin. Erlahmung der geistigen Schwungkraft und Überdruss an der Gottesschau führten zum Sündenfall… deshalb schuf Gott das Weltall….”


Ich saß überrascht und erfreut da und fand weitere 28 Punkte die nur von Origenes und von den Mormonen geglaubt werden... Welche Bestätigung meines Zeugnisses, welche Bekräftigung der Worte des Herrn an Joseph Smith : "Suchet Weisheit aus den besten Büchern..." Vor 1800 Jahren war das, was ich dort in einem evangelischen Lenrbuch entdeckte, allgemeine Christenlehre gewesen!


Exakt das waren des Missionars Worte! Ich fühlte mich wie elektrisiert.


Der Satz: “An dem Tag, da Du Adam, davon isst, wirst Du sicherlich sterben” bekam Sinn. Das Aus-der-Gegenwart-Gottes-getrieben- werden, bedeutete “zu sterben”. Jakobs Lehren verdeutlichten mir das: “Und weil der Mensch in den gefallenen Zustand geraten ist, ist er aus der Gegenwart des Herrn ausgetilgt worden.” 2. Ne 9. 6


Das war ja die Lösung für alle meine Probleme mit der Evolutionslehre! Ich schlug mir die Hand vor den Kopf und las LuB 93, Vers 33. Da stand es Schwarz auf Weiß: Der Mensch ist Geist! Deshalb wird im Buch Mormon zweimal der Hinweis gegeben, dass das Gericht und die Erlösung sich nur auf die Nachkommen der Familie Adams ( nicht der Steinheimmenschen oder den Neandertaler) erstreckt…2. Ne. 9,21 + Mormon 3,20


Aber um diese Zusammenhänge zu sehen mussten erst einige Jahrzehnte der Wahrheitssuche vergehen. Stets wenn ich dann darüber nachdachte, nahm ich von innen her ein angenehmes Licht wahr und ich war vernünftig genug, mich immer wieder daran zu erinnern.


Soweit war ich aber 1941, als elfjähriger, längst noch nicht


Zunächst entwickelte ich, durch den Drill in der sogenannten Deutschen Jugend (DJ) ein nationalsozialistisches Bewusstsein. In Abwesenheit meines Vaters, der es hasste in der Deutschen Wehrmacht dienen zu müssen, wuchs ich zu einem dummgläubig überzeugten Hitlerjungen heran, der sich über jede Sondermeldung freute. Mit den Nachrichtensprechern jubelte ich häufig: Schon wieder hatte Großdeutschland eine Schlacht gewonnen, schon wieder waren soundsoviele Bruttoregistertonnen Schiffsmaterial versenkt worden! Von allen Seiten leuchtete mir das blanke Heldentum entgegen. Aber, dass da in jeder Sekunde hoffnungsvolle Menschen zu Krüppeln geschossen wurden, dass Kinder wie ich verbrannten, Familienväter zu Tausenden ertranken und junge, unschuldige Russen zu Zehntausenden verhungerten, weil sie aus Gründen der Menschenverachtung nicht verpflegt wurden, während ich mich begeisterte, kam mir damals nicht in den Sinn. Deutschland, Deutschland über alles in der Welt!



Hartwig WEBER sagt in seinem soeben erwähnten Lexikon unverblümt, wie sehr seine Kirche in dieser Zeit, in der die Menschen dringender denn je der Führung durch Gott bedurften, geirrt und gefehlt hat: "Der Vertrauensrat der Deutschen Evangelischen Kirche gab gegenüber Hitler der Hoffnung Ausdruck, „dass in ganz Europa unter Ihrer Führung eine neue Ordnung erstehe und aller inneren Zersetzung, aller Beschmutzung des Heiligsten, aller Schändung der Gewissensfreiheit ein Ende gemacht werde ... Verschwörer gegen Hitler wie Dietrich Bonhoefer und Jesuitenpater Alfred Delp blieben Außenseiter, die man bewusst isolierte.“, S. 330



Mit dreizehn verliebte ich mich zum ersten Mal. Sie stammte aus Hamburg und hieß Evchen.


Meine Gemütsverfassung musste meinem Vater, der gerade aus Russland auf Urlaub heimgekommen war, irgendwie aufgefallen sein. Er sah auch, dass ich im Begriff war, einen Entwicklungssprung zu machen. Jedenfalls nahm er mich beiseite und ging mit mir eine Stunde lang in den Wolgaster “Anlagen” spazieren. Er sprach sehr viel und Einiges war mir, der Herzlichkeit wegen, die er mir so ungezwungen entgegenbrachte, angenehm. Dann wechselten Ton und Inhalt seiner Sätze. Er drang in mich: “Rühre nie eine Frau an, es sei denn, sie ist Deine eigene. Merke es Dir gut! Entweder lebt man seine Leidenschaften aus oder man wird glücklich.” Ich verstand kein Wort. Er legte den Arm um meine Schulter und suchte meinen verwirrten Blick. “Lasse die anderen Leute reden, was sie wollen. Was Dir nicht gehört, darfst Du nicht anrühren. Es entzieht Dir die Kraft zu sittlichem Handeln. Unrecht Gut gedeiht nicht! Es ist eines Mormonen erste Pflicht, ehrlich zu sein. Sei vor allem zu Dir selbst ehrlich. Vom Heucheln wird die Seele krank. Bitte Gott um Verstand und Weisheit, um die Kraft zum Gutsein. Tue es. Vor allem tu es, nachdem Du weißt, dass es richtig ist und kümmere Dich nicht darum, was andere dazu sagen.”


Mit seiner Aufforderung im Buch Mormon zu lesen, hatte ich am meisten Probleme. Meine früheren Versuche, mehr als ein paar Zeilen zu lesen, scheiterten. Ein langweiligeres Buch konnte ich mir bei bestem Willen nicht vorstellen. Meine Welt lag zwar ebenfalls in Amerika, doch die Helden meiner Wahl hießen Winnetou und Old Shatterhand und nicht Nephi oder Ammon.


Zudem hielt ich nichts von seiner Verinnerlichung, die mir insbesondere dann lästig erschien, wenn ich von ihm genötigt wurde, an jedem Morgen solange er auf Urlaub weilte, niederzuknien und seine nach meinem Geschmack trockenen und zudem langen Gebete anzuhören. Er bat Gott jedes Mal um Führung und Schutz durch seinen guten Geist in diesen schweren Zeiten. Was sollten das für schwere Zeiten sein? Uns, - jedenfalls uns von Bomben verschonten Wolgastern, - ging es doch gut. Außer, dass es keine Schokolade gab. Die Deutschen hatten, wie es für mich aussah, Russland zerschmettert und standen in Frankreich auf sicherem Posten. Ein kurzer Ruck noch und dann lag uns die ganze Welt, wie ein geprügelter Hund, zu Füßen. Vor uns, der deutschen Jugend, breitete sich ein Paradies mit bunten Fahnen und Hakenkreuzen aus. Mich ärgerte, dass er den Krieg ablehnte und mich sogar belehrte, dass Deutschland den Krieg verlieren wird, weil es böse Ziele verfolgte. Nach solchen Worten kam stiller Zorn in mir hoch, der sich gegen ihn und meine unschuldige Mutter richtete. Dennoch band mich, nachdem er wieder an die ihm verhasste Front abgereist war, eine geheimnisvolle Macht an ihn. Als er wieder weit fort von mir war, konnte ich es gelassener betrachten, dass er gesagt hatte, er würde immer bewusst daneben schießen. Vielleicht wäre ich sonst zu meinem Fähnleinführer gelaufen und hätte ihn als Wehrkraftzersetzer verpetzt.



Während eines großen Bombenangriffes der Alliierten kam Evchen, wenige Tage nach den Ferien, ums Leben. Das hörte ich mit Entsetzen. Da lernte ich durch traurige Erfahrung wie ernst die Zeiten waren.


Ebenso bitter empfand ich die Schreckensnacht vom 17. zum 18. August 1943. Die Sirenen heulten uns aus dem Schlaf. Das Signal bedeutete: “Sucht den Luftschutzkeller auf!”


Ich drehte mich zur Seite und schlief schnell wieder ein. Wie oft schon hatte uns der Alarm beunruhigt und danach war gar nichts passiert. Wie immer flogen die feindlichen Bomber nur über unsere Köpfe hinweg… Plötzlich dröhnten die Detonationen … Anschläge auf mein Leben! Wir hasteten, Hemd und Hose fassend in den Keller.


Am Morgen hörten wir, dass nicht Wolgast sondern Peenemünde von mehreren hundert Flugzeugen der Typen Lancaster und Halifax bombardiert worden war. Die Engländer hatten, wie wir viel später erfuhren, entdeckt, dass Hitler hier Langstreckenraketen bauen ließ.


Mir schien ich könnte über die Entfernung von sechs, sieben Kilometer Luftlinie das Schreien der Kriegsgefangenen hören die von Phosphor übergossen als lodernde Fackeln in den Maschen der Sperrzäune hingen…


Beide Ereignisse prägten mich. Sie machten mich ernsthaft und somit über die Jahre reif.



Versammlungen fanden in Wolgast in den Jahren zwischen 1943 und 1945 nur an einem Wochentagabend statt. Unsere Missionare hatten niemanden gefunden, der sich taufen lassen wollte. Es schien, als wäre ihre Arbeit erfolglos gewesen. Anwesend waren in dieser FHV- Zusammenkunft die spätere Schwester Schult, meine Mutter und ich, wobei ich eher als Unruhestifter auffiel. Mitten in einer solchen Versammlung ertrotzte ich ihre Unterschrift, damit ich Segelflieger werden dürfte.



In den ersten Wochen des Jahres 1945, als wir nur noch schlechte Nachrichten hörten, wünschte ich mich durch nichts und niemanden mehr aufhalten zu lassen, auch nicht durch die Lehren meiner Eltern. Denn Vater befand sich in der Ferne, nun in Narvik, Norwegen. Ich träumte davon, von allen Geboten frei zu sein, um bald mein junges Leben genießen zu können. Während er, wie er immer wieder schrieb, für uns betete.


Allerdings sahen meine Vorstellungen von Übertretung noch ziemlich harmlos aus. Denn schließlich war ich noch ein Kind. Dennoch begann ich romantisch von schönen Mädchen zu träumen.


Da wurden wir eines Nachmittags von unseren Hitler-Jugend-Führern zum Einsatz und zur Unterstützung der Rote-Kreuz-Schwestern zum Bahnhof Wolgaster Fähre beordert. Es wurde ein Verwundetenzug aus Swinemünde erwartet. Ich sah in meiner Erinnerung immer noch die Bilder aus einer der Deutschen Wochenschauen die elegante Verwundetenzüge zeigten. Aber schon als sich die dunkle Silhouette der funkenstiebenden Lok über der Mahlzower Anhöhe abzeichnete, beschlich mich ein Gefühl des Jammers. Wir rannten den Waggons entgegen. Es war noch nicht völlig dunkel geworden, sondern für mich gerade hell genug, um schreckerfüllt die zerfetzten Viehwagen zu sehen. Ich hörte trotz des Fauchens der Lok die Hilfeschreie der Jungen. Plötzlich wurde mir das ganze Ausmaß des Elends des Krieges bewusst. Meine Beine schlotterten. Ein Mann schrie: “Sie haben den Zug beschossen. Ja! gerade jetzt kurz vor Zinnowitz.” Entweder sei es eine Rotte Ratta, russische Jäger gewesen, die noch einmal voll dazwischen gehalten hatten oder englische Spitfire. Und das, obwohl von den Dächern das Rote Kreuz herauf geleuchtet haben musste. Als die Tür, die sich unmittelbar vor mir befand, von einem hünenhaften Waffen-SSler geöffnet wurde, schlug mir Gestank entgegen. Der erste Mann, der vor mir lag, war wahrscheinlich tot. Ein zweiter tastete sich mir entgegen, fiel mir um den Hals. Ein anderer rief: “Kamerad, Kamerad!” Sein Kopf war bis auf den Mund umwickelt. Der Verband sah schwarz aus. Ich konnte ihn auffangen. Mich durchströmte ein Gefühl aus brennender Liebe und ohnmächtiger Wut. Wir legten ihn und die anderen so schnell und so behutsam wie möglich auf einen der bereitstehenden Karren.


Die Stadt füllte sich Tag für Tag mehr mit Soldaten aller Waffengattungen. Mir schien, ich hätte noch nie so viele Uniformierte gesehen.


Mein Gestellungsbefehl zum Volkssturm kam am Morgen des 22. April. Die Russen hatten gerade bei Stettin die Oderlinie durchbrochen. In meinem Wahn, den deutschen Sieg mittels der Wunderwaffe, für möglich zu halten, wäre ich nur einen Monat zuvor noch töricht und sorglos losgezogen. Die Goebbelspropaganda zeigte Wirkung. Aber nachdem ich die blutjungen, verstümmelten Landser in meinen Armen gehalten, ihren Jammer wie meinen eigenen empfunden hatte, war ich froh zu sehen, dass meine kleine, energische Mutter die Faust auf den Küchentisch schmetterte und beeindruckend laut ihr kategorisches: “Nein!” herausdröhnte. Sie drückte ihr Kreuz durch und konnte doch nicht das Angstflackern in ihren schönen grauen Augen verbergen. Vor all diesen furchtbaren Erlebnissen hätte ich ihren Befehl nicht respektiert. Nun aber war mir bange geworden. Die Furcht, ich könnte wirklich vernichtet werden, hatte ein schreckliches Gesicht bekommen.


In einer der letzten Nächte unter deutscher Herrschaft, nachdem wir weitere Schwer-und Schwerstverwundete ins Behelfslazarett Wolgast gebracht hatten, erwischte ich meine Mutter dabei, wie sie Radio London hörte. Sie stand gebeugt vor dem Volksempfänger. Sie hatte sich eine grüne Wolldecke über den Kopf und das Radio gezogen. Ich hörte das verräterisch dumpfe Bum-bum-bum-bum, auf welches uns die Schulungsoffiziere und HJ Führer als untrügliches Kennzeichen eines gefährlichen Lügensenders hingewiesen hatten. Darauf müssten wir reagieren, indem wir entweder die Polizei oder sofort den NSDAP-Ortsgruppenführer zu unterrichten hätten, egal wer es sei, Vater oder Mutter.


In meinem ersten Zorn fuhr ich sie hart an. Sie kam hoch und zischte zurück. Sie wünsche nicht gestört zu werden. Die Decke lag noch immer auf ihren schmalen Schultern, ihre weichen Haare waren zerzaust, die helle Stirn drückte die ganze Kraft ihrer Persönlichkeit aus. Ich war empört, wünschte sie anzuzeigen, wollte hinlaufen um meine Pflicht als guter Deutscher zu tun. Lautes Tosen war in mir, Strafe muss sein. Zu meinem ewigen Glück zögerte mein besseres Ich. “Tue es nicht!”, kam mir in den Sinn. Ich stutzte, da ich mich selbst so widersprüchlich wahrnahm. In meiner Hilflosigkeit und Wut über den verlorenen Krieg warf ich die Türen hinter mir ins Schloss. Ich konnte und wollte das schwarze Loch, in das wir alle miteinander stürzten, nicht mehr sehen.



Wenige Tage bevor die Russen einmarschierten sagte mir mein Klavierlehrer Herr Reese nicht ganz unvermittelt: “Ich spüre, dass die Mormonenkirche viel mehr hat als alle anderen.” Ich schaute auf seine langen weichen Finger die auf den Tasten lagen, mit denen er den letzten Akkord angeschlagen hatte.


Solche Sätze bewirkten Nachdenklichkeit. Gleich bunten Steinchen belegten sie in meinem sich täglich ändernden Mosaik einen Platz. Aber auch wenn dieser Platz sich irgendwo an einer scheinbar weit entfernten Stelle befand, der Stein blieb dort für immer liegen.


Später erinnerte Mutter mich daran, dass ich noch am 29. April auf dem Rathausturm zu Wolgast gesessen hätte um zu beobachten ob die Russen schon in Sichtweite sind.
Wolgaster Rathaus



Ich sah diese Tatsache nicht als dramatisch an, schon eher, dass dies eine Strafe für mich war, weil ich eine Stunde vorher einen der Polizisten geärgert hatte.


Als Mutter hörte, dass ich Nachtwache halte, stürzte sie zum Rathaus wo die ratlosen Polizeibeamten in ihrem Revierbüro rauchend umhersaßen und überlegten was sie tun sollten.


Gingen sie zu früh weg um unterzutauchen, könnte die Feldgendarmerie sie finden und standrechtlich erschießen… zögerten sie den Zeitpunkt der Aufgabe zu weit hinaus werden die Russen sie gefangen nehmen und nach Sibirien schicken.


Wo ist meine Sohn, Gerd?” Im dichten Tabaksqualm und bei spärlichstem Licht erkannte sie Herrn Wallis, den Baptisten und Polizisten.


Der Beamte den ich geärgert hatte und vor dem ich unrühmlich weggelaufen war – und der hinter mir her geschossen hatte, wollte sich rechtfertigen.


Sie ließ sich auf gar nichts ein. Tapfer hat sie mich da herausgehauen.


Am 30. April 1945, um elf Uhr vormittags, explodierte, wie uns schien in unmittelbaren Nähe, eine Luftmine ungeheuren Ausmaßes. Denn sie warf uns, meinen Freund Richard und seine Schwester Gisela, - die mich gerade zu einem Abenteuer eingeladen, - und mich selber zu Boden. Angstzitternd presste ich mich völlig flach. Doch die erwartete zweite Explosion blieb aus. “Mutter!” Die Angst, sie könnte umgekommen sein, stachelte mich hoch. Wie ein Irrer warf ich mich aus verzweifelter Sorge um sie und meine Geschwister gegen die infolge des Luftdrucks verklemmte Eichentür. “Ich komme!” Ich sah im Geiste unser nahe liegendes Wohnhaus, sah mich in den schwelenden Trümmern wühlen, um sie und Helga und Helmut herauszuholen. Infolge gemeinsamer Anstrengung sprang die Tür endlich auf. Aufgeregt kam ich, nachdem ich mit fliegenden Beinen durch die Kurze Gasse gerannt war, in der Langenstraße an. Unser Haus Nummer 17 stand, wie die anderen Gebäude unversehrt.


Gott sei Dank! Aber, was war es gewesen, wenn nicht eine Bombe? Jemand lehnte aus dem Fenster und klärte uns auf: “Sie haben die große Zugbrücke gesprengt!”


Ich lebte, - meine Geschwister und meine Mutter lebten! Die beiden letzten deutschen Wehrmachtssoldaten denen wir noch vor wenigen Minuten nachgeschaut hatten, mussten um das militärische Geheimnis der vorgesehenen Stunde und Minute für die Sprengung gewusst haben. Das hatten sie uns natürlich nicht mitgeteilt. Militärische Einheiten hatten die Hauptteile der großen Peenebrücke mit einer Überportion Dynamik in die Luft gejagt. Weil die kommandierenden Militärs hofften auf der Insel Usedom eine letzte stabile Hauptkampflinie gegen die anstürmenden Russen aufbauen zu können,


Jeden Augenblick mussten sie mit ihren Panzern und Kanonen angerollt kommen.


Doch meine Angstgefühle hielten nicht an. Ich konnte es außerdem nicht ertragen, einfach nur zu warten. Ringsherum waren die großen Schaufensterscheiben der Verkaufsläden zu Bruch gegangen. Neugierde und plötzliche Lust, die letzte Stunde meiner Ungebundenheit auszutoben, regte sich. Wolgast war plötzlich, wenn auch nur für ein paar Minuten oder Stunden zur gesetzlosen Zone geworden. Niemandsland. Es gab weder die Polizei noch die Wehrmacht mehr. Die glassplittrigen Öffnungen der Lebensmittelläden und des Konfektionsgeschäftes Gauger am Marktplatz luden mich zur Selbstbedienung ein. Ich widersprach mir nicht und betrat den Bereich für Herrenkleidung zur rechten Seite des Doppelgeschäftes ungehemmt. Ich sah die magere Ausstattung des Ladens, aber auch andere Leute die hier bereits eingedrungen waren. Im Begriff schamlos loszulegen und zu klauen was nicht niet- und nagelfest war, beeinflusste mich plötzlich ein schon früher erlebtes Gefühl, das mir im Klartext sagte: Tue es nicht!


Das lähmte und erstaunte mich - zunächst.


Es strömten immer mehr Leute ins mittlerweile sperrangelweit geöffnete Geschäft hinein. Sie kamen nicht nur durch die Fensterfront, sondern auch durch die inzwischen aufgebrochenen Eingangstüren. Als ich mich in diesen Menschen wieder sah, schien mir eine Weile ich sei handlungsunfähig, weil ich wahrnahm, was ich für unmöglich gehalten hätte. Frauen, vor allem die richtig erwachsenen, hatte ich stets für Engel gehalten. Hatten die sich verirrt? In mir ruckten die Gefühle hin und her.


Mir kamen die Umherwirbelnden ein paar Sekunden wie tanzende Wahnsinnige vor. Sie zankten sich. Wegen dieser wenigen grauen und dunklen Anzüge, die da vereinzelt auf einer einzigen Stange hingen? Alles raste, das Blut, die Gedanken, die Menschen. Mein Lebensgefühl war unklar. Ich dachte vielerlei und widersprüchliches. All das ging schnell vorbei, auch meine an sich vernünftigen Gedanken. Ich sagte mir plötzlich, Jetzt ist Jetzt. Andererseits war ich sehr darauf erpicht zu überleben.


Während ich so wenigstens die Illusion eines neuen Hoffens für mich behauptete, begaben sich andere Wolgaster, die ihren Pessimismus nicht überwinden konnten, zum Peenestrom hinunter. Getrieben von Verzweiflung und Aussichtslosigkeit, banden Mütter ihre Kinder an sich und sprangen, mit Steinen beschwert, vom Kai ins Wasser.


Zwischenzeitlich von einer Art frecher Furchtlosigkeit erfüllt nahm ich eine grünlich schimmernde Hose, die vor mir lag und brachte sie wider besseres Wissen eilig nach Hause. Dabei fühlte ich mich nicht ganz wohl. Mir war ähnlich zumute wie damals, als ich über einen Zaun geklettert war, um mir aus einem fremden Garten eine handvoll Äpfel zu holen und dabei erwischt wurde. Diesmal hatte ich mich selbst ertappt. Deshalb hängte ich mein Beutestück auf die Kellerluke, statt sie nach oben in mein Zimmer zu bringen. Zugleich dachte ich: Bonbons wären nicht schlecht! Seit zwei Jahren hatte ich keine Süßigkeiten mehr gehabt. Ich rannte los, um mich einzureihen in die Menge junger Frauen und meiner Altersgenossen, die im Kaufmann - Andersonladen auf ein Kaffee- oder Schokoladenwunder hofften. Ich wusste noch nicht, dass ein verletztes Gewissen mit Verkleinerung seines Potentials reagiert. Ich benahm mich brutal, indem ich mich rücksichtslos zu den Margarinewürfeln durchkämpfte, um die sich Frauen und Jungen stritten. Direkt über meinem erhitzten Kopf jubelte plötzlich jemand auf. Er hatte einen Pappeimer gefunden. Sie rissen ihm das Gefäß aus der Hand. Kaffeebohnen prasselten zu Boden.


Einer fing an, mit Gläsern zu werfen. Vielleicht aus Wut, weil sie nicht Früchte, sondern Rote Beete enthielten. Die Fläche färbte sich blutrot. Ein paar Bengel warfen das Zeug durch das offene Fenster auf die Straße, machten ein höllisches Spektakel. Kaufmann Anderson kam dazu. Ein kleiner Fünfziger mit Kahlkopf: “Meine Damen! Meine Damen!” rief er händeringend, als er die Bescherung vor und in seinem Geschäft sah. Eine der Frauen fuhr ihn an, sie sei nicht seine Dame und schmetterte ihm eins der Weckgläser vor die Füße. Der Besitzer, vom intensiv färbenden Saft blutrot bespritzt, rang nach Luft. Aus dem Durcheinander brachte ich unbeschadet sechzehn Stück Margarine heim und betrat daraufhin sofort wieder die Straße und wandte mich, jetzt bereits bedenkenlos nochmals zur Linken. Da sah ich meinen neunjährigen Bruder Helmut einen großen runden Käse hangabwärts rollen. Beide kamen schnell auf mich zu. Bei dem in unserer unmittelbaren Nachbarschaft ansässigen Grossisten Kriwitz fündig geworden, waren die Plünderer mit sich selbst und ihrer Beute beschäftigt. Mit Leichtigkeit hätten sie dem Bengel das wagenradgroße Stück wegnehmen können. Das Bild prägte sich mir für alle Zeiten ein. Der kleine blonde Wuschelkopf strahlte mich an. Hier stimmte etwas nicht! Noch deutlicher als vor einer halben Stunde, unmittelbar bevor ich zum ersten Mal die Hand ausreckte um Verbotenes zu tun, sah ich deutlich, dass wir falsch handelten und kommandierte im selben Atemzug, er solle das zurückbringen. “Das ist Diebstahl!” schrie ich meinen erstaunt und froh zu mir aufblickenden Bruder an. Für ihn war, was er tat, unbedeutender Jux. In mir jedoch begann erstaunlicherweise die andere Gedankenkette abzulaufen, so gewiss war ich, was ich von jetzt ab tun würde. Er gehorchte mir unbekümmert. Ich half ihm und fasste den Entschluss alles zurückzubringen, was ich schließlich tat.


Nur Minuten später bog der erste Russe in die Langestraße ein. Er schritt direkt auf mich zu. Die Pistole im Anschlag.


Jahrelang hatte die Nazipropaganda uns Hitlerjungen das Bild von den russischen Untermenschen vor Augen gestellt. Zudem hatte ich immer wieder die Kolonnen dieser halbverhungerten in Lumpen umherlaufenden Russen gesehen…


Wie überrascht war ich nun, als der erste Kämpfer der Roten Armee auf mich zugeschritten kam. Er hatte unerwarteterweise einen angenehmen Gesichtsausdruck. Er hatte etwas von den Zügen meines Vaters an sich. Ob ich es wollte oder nicht, es dachte in mir: ‘Da kommt ein Held!” Er trug eine hochaufragende schwarze Lammfellmütze und einen wehenden ebenfalls schwarzen Umhang. Obwohl die Pistole auf mich gerichtet war, empfand ich nicht einen Augenblick lang Furcht. Ich wunderte mich sehr. Auch er hätte Ursache zur Furcht gehabt. Denn aus jedem Hauswinkel und Fenster meiner Heimatstadt konnte ein Heckenschütze auf ihn zielen. Er ging ohne Hast, sich weder zur Rechten noch zur Linken wendend, an mir vorbei und zog meine Blicke und meine Verwirrung hinter sich her. Seinen Auftritt werde ich nie vergessen. Noch wusste ich ja nicht, dass nicht die Uniform die Guten und die Schlechten machte.


So lernte ich binnen weniger Augenblicke die wichtigste Lektion meines zweiten Lebens. Zu diesem sonderbaren Feind hatte ich mich erstaunlicherweise hingezogen gefühlt. Ich hatte mich außerstande gesehen, mich ihm gegenüber als überlegen zu betrachten. Im Gegenteil! Ich sah, wie sehr ich mich geirrt hatte. Er war schon längst aus meinem Blickfeld gewichen, als ich ihm immer noch nachstarrte. So waren sie?


So waren sie mehrheitlich leider nicht! Innerhalb der nächsten Stunden strömten Hunderte völlig anders geartete Russen in die Stadt. Ganze Heerscharen zügelloser Soldaten füllten die Straßen.


Weil ich ihn aus dem Keller herausgelockt hatte, kam unser Altgeselle Gottschalk, denn wir seit je “Leller” nannten, näher. Auch er war zunächst erstaunt, dass ihn niemand belästigte. Doch er irrte sich, wie so viele andere, die mit der fechtenden Truppe gute Erfahrungen gemacht hatten. Ein Bursche in seiner olivgrünen dünnen Militärbluse, kaum älter als ich, nestelte dem hilflosen, rheumakrummen Mann mit größter Selbstverständlichkeit die goldene Uhrkette ab. Dem Alten kullerten zwei dicke Tränentropfen herunter. Hinkend und in sich hineinjammernd kehrte er auf seinen Stock gestützt um. Was er verloren hatte, war so gut wie sein einziger Besitz gewesen. Laut schreiende Frauen stürzten an uns vorbei. Männer hetzten hinter ihnen her. Ein Offizier schoss in die Luft. Vor der Menge entfesselter Marodeure und Vergewaltiger musste er zurückweichen. Meine Verwirrung über alles was ich sah war so groß, dass ich plötzlich bei der Begegnung mit einem älteren Offizier, der in einer unerwartet anders aussehenden, grünen Uniform daherkam, als Reflexbewegung den rechten Arm hochriss und laut und gewohnheitsgemäß “Heil Hitler” sagte. Er bemerkte meinen Schrecken, hätte sofort die Pistole ziehen und mich erschießen können. Noch tobte der Krieg. Er hätte es als Provokation auffassen können. Er schaute mich kopfschüttelnd an, geradezu väterlich nachsichtig, lächelte, tippte gegen seine Stirn. Andere haben mir später mit den Stiefelspitzen energisch in den Hintern getreten, nur weil ich sie anblickte.


Als der Beschuss von deutscher Seite einsetzte, flüchteten wir wieder in den Keller. Da saßen wir zwei Tage und Nächte hintereinander im Dunkeln auf Brettern und lauschten den Detonationen und gelegentlichen Einschlägen, während die Frauen zugleich mit der ihnen eigenen Angst nach oben horchten, ob die wilden Sieger in den Hausflur stürzen und die Kellertreppe heruntergepoltert kämen, um sich wütend über sie zu werfen. Neben mir nahm am dritten Tag eine große junge Frau Platz, die, wie sie klagte, vor den ständigen Vergewaltigungen geflohen war. In ihrer Verzweiflung hatte sie sich erinnert, dass es in der Langenstraße 17 die Kommunistin Frau Stolp gab. Sie hatte gehofft, von ihr beschützt zu werden. Aber diese alte, gebildete Dame war wenige Tage zuvor schwer verunfallt und verstorben.


Die gejagte Frau wagte es nicht zurückzugehen. So saßen wir viele Stunden abwartend in der Finsternis nebeneinander. Ich empfand es als sehr angenehm, dass sie ihren hübschen Kopf auf meinen Schoß legte und vor Erschöpfung einschlief. Als ich bemerkte, wie sie hochschreckte streichelte ich ihre Wangen behutsam und sie ließ es zu.


Mir schien, dass in der dritten oder vierten Nacht der Beschuss abnahm und beschloss nach oben in mein Bett zu gehen. Vaters Altgeselle “Leller” hielt es genau so. Wir hörten zwar die Einschläge der deutschen Artilleriegranaten, aber die kamen von weit her. So schliefen wir schnell ein. Sobald das Schießen aufhörte, - wahrscheinlich am achten Mai- betrat ich wieder die Straße. Überall sah ich singende, betrunkene Soldaten. An einem der zahllosen, kreuz und quer durch die Straßen der Stadt rollenden Panjewagen, mit ihren typisch kleinen Kastenaufsätzen, hing eine Kuh die zur Erde gestürzt war. Die beiden Russen bemerkten nicht, dass der Strick am Hals des Tieres erbarmungslos ins Fleisch schnitt. Sie trieben ihre stampfenden Pferde an und sangen ihren Jubel in die Welt. Das Rind wurde gnadenlos geschleift. Ich sah die Blutspur der verstummten Kreatur.


Sie war das Symbol für die Grausamkeit des Krieges.


So also sah er aus.


Viele unter diesen Menschenmassen, die ich gesehen, trugen ihr rohes, vom endlosen Leid und Morden verbildetes Gesicht. Aber aus dieser Menge ragten einige hervor, Männer, die dem ersten ähnelten.


Einmal hielt eine LKW-Kolonne mit aufmontierten Raketenwerfern -Stalinorgeln - vor unserer Haustür. Mitten unter den Soldaten saß mein kleiner Bruder, dem sie auf sein strohblondes Haar einen großen dunklen Stahlhelm gesetzt hatten. Lachend wurde er herumgereicht und mit Zwieback verwöhnt. Mit allerlei, anscheinend heiteren Ausdrücken wiesen sie einander darauf hin, dass mein Bruder ein blaues und ein braunes Auge hatte. Mir schien, dass sie sehr diszipliniert waren, niemand sprang während der langen Wartezeit von der Pritsche herunter, um in unserem Haus auf Raubzug zu gehen. Viele verfluchten die Russen unterschiedslos. Das war ungerecht. Es gab einige Soldaten, die sich in unserer Wohnstube ans Klavier setzten und darauf zu spielen versuchten, doch sie benahmen sich gut. Ich konnte nicht wissen, warum jemand so handelt oder anders. Ich selbst musste erst noch lernen, mir ein Urteil über mich selbst zu bilden.


Ich hatte den NS-Männern geglaubt, den Nachrichtensprechern, einem Joseph Goebbels, meinem Führer Adolf Hitler und ich weiß nicht, wem noch, bis zuletzt und über dieses Zuletzt hinaus. Es hatte sich alles als mörderische Lüge und Hirngespinste erwiesen.







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