Freitag, 7. Juni 2013

(3) "Mein Leben unter Fischern"

Zu zehn Jahren Zuchthaus verurteilte ihn ein sowjetisches Miltärgericht, nach Stalinschem Recht. "Zehner-Ukas" hieß dieses unmenschliche Allgemeinurteil in Fällen minderer oder vermuteter Kriminalität. Es galt in jedem Land, das unter russisch-kommunistischer Herrschaft zu kuschen hatte. Bis die Machtkämpfe nach dem Tod des schrecklichen  Alleinherrschers, 1953, zugunsten besser gesinnter Männer entschieden war, gab es so gut wie keinen Rechtsschutz vor politisch motivierter Willkür. Selbst die ranghöchsten Mitregenten Stalins wie Molotow, Bucharin oder Kirow konnten je ihrer Haut sicher sein.
Jedem Mann, jeder Frau konnte jederzeit durch irgendeinen sonst nullwertigen Menschen, wie beiläufig die Hand auf die Schulter gelegt werden: "Kommen sie mit, sie sind verhaftet."
Solcher an sich lächerlicher Akt, konnte in damaliger Zeit für den Betreffenden bedeuten, er würde seine Familie niemals wiedersehen. Der Einzelne und seine Würde zählte nicht, sondern allenfalls die Masse Mensch.

Fritz brach zusammen. Bloß weil ich eine Pistole putzte?
"Sie hatten die Absicht Offiziere der Roten Armee zu erschießen!"
Absurd.
"Sie wussten sogar wer von unseren Genossen, an welchen Abenden zur Jagd ging."
Aber ihr könnt doch nicht auf dummen Verdacht hin ein Menschenleben vernichten!
Doch, die Herren Genossen wollten und konnten.

Fritz Biederstaedt 1905- 1961

.
Drei Jahre musste er absitzen, in eben jenem Konzentrationslager, Waldheim in Sachsen, in dem schon die Hitlerleute ihre angeblichen Feinde zu Tode leiden ließen. 
Nur drei Jahre. Denn am 7.Oktober 1949 wurde die Deutsche Demokratische Republik ausgerufen und ihr erster Präsident Wilhelm Pieck gab einen Gnadenerlaß heraus.

Aber wie traf Fritz diese gute Botschaft?
Ausgezehrt und kleinlaut trat er kurz darauf die Heimreise an. Mit allen Bedenken und Bangen sah er seiner ungewissen Zukunft entgegen.
Wird Inge ihm um den Hals fallen, wenn sie für ihn die Haustür öffnet?
Wie werden ihn seine Fischerkollegen empfangen?
Wenn Egon es geschafft hat, sich zum Boss zu erheben, wird der seinen Job nicht freiwillig aufgeben...
Im Zug von Berlin nach Neubrandenburg, der letzten Etappe seiner Reise saß jemand, der ihm bekannt vorkam. Der Mann sprach ihn kurz vor Neustrelitz an, wenige Kilometer von seinem Ziel.
Ob er der Fischer Biederstaedt sei.
Scheu blickte der Bekannte, an dessen Namen Fritz sich nicht mehr erinnern konnte, und tuschelte Unbestimmtes.
Fritz fragte sich, was diese Andeutungen ausdrücken sollten.
Er wünschte nur, dass man ihn in Ruhe ließ.

Sieben Jahre später sollte ich ihn kennen lernen.
Gerade ein paar Tage nachdem er wieder einmal gestolpert war. Seine Kollegen setzten ihn einfach ab, von seiner Position als (Brigadier)  Fangleiter, weil er erneut Fische verscheuert hatte für eine Flasche Wodka, die er allerdings alleine ausgetrunken hatte.
Dass sie nichts abbekamen, war eine unverzeihliche Sünde gewesen.

 Auf ein kleines Zeitungsinserat hin:  "Die Tollensefischereigenossenschaft Neubrandenburg sucht zwei Hilfssaisonarbeiter" wurde ich sofort und gegen den Rat und Willen Erikas, meiner Frau, bei den Fischern vorstellig. Seit Jahren hielten die armen Männer ihr mehr als bescheidenes Domizil in einer mit grüner  Karbolineumfarbe gestrichenen Baracke.

Der kleine Vorsitzende Wilhelm, immer mit blauer Arbeitshose und meist in ein kariertes Hemd gekleidet und auf seinen Knien sitzend, saugte an seinem Zigarillo:"Hast du schon einmal in einem Ruderboot gestanden?"
Ja, selbstverständlich. 
Gut, für sechs Wochen bist du als Fischereihilfsarbeiter eingestellt, einhundertfünfzig Mark alle vierzehn Tage. Montagabend fahrt ihr zum Nachtfischen raus. 
Dieser Montag war der 04. Juni 1956.
Und was wird danach?, fragte mich meine schöne Frau.
Seit genau drei Jahren mit mir verheiratet, hatte sie mancherlei mit mir durchlebt.
Da gab es keine Arbeit dir mir zugesagt hätte...
Es würde auch keine geben, die ich gerne getan hätte. Sollte ich etwa in einem Büro sitzen und sinnlose Zahlenkolonnen zusammenrechnen?

Meine Liebe erstickte Erikas Bedenken. Sie seufzte nur. Tiefer kann man ja nicht fallen. Das war die Ebene eines Straßenfegers. Sie war eine sehr angesehene Stationsschwester im Neubrandenburger Krankenhaus gewesen, war gut vier Jahre älter als ich, aber reifer um zehn Jahre.
Meinem zweijährigen Sohn Hartmut war es ganz egal, Haupsache ich spielte mit ihm und auch mir schien, nächst Erika glücklich zu machen, sei dies das Wichtigste, war ja selbst noch fast ein Kind, ein sechsundzwanzigjähriges optimistisches.

Meine Familie 1962
 

Sie jammerte nur noch einmal kurz auf: "Fischerhilfsarbeiter für sechs Wochen."
Danach ging das Licht aus.

Fritz Biederstaedt schmunzelte als er an diesem Abend sah wie ich, vom mürben Bollwerk aus, in den mir zugewiesenen rechten Kahn sprang, oben auf das Zugnetz. 
Der Zwölf-PS-Deutz-Diesel wurde mit einer Handkurbel angeworfen und los ging die Fuhre den Oberbach hinauf. Es klang so als wollte der alte Motor den scheinbar noch älteren kleinen Kutter schonen: "nur nicht so schnell", es könnte sein der nächste Windstoß wirft eine Welle auf, in der er zerbricht und sinkt.

Bei den Tollensefischern war die neue Zeit noch nicht angekommen.
Alles was sie als gleichberechtigte Genossenschaftler zu eigen hatten war reiner Plunder. Sogar die Fischkisten, der Eisbunker, der Sortiertisch, die Netze sowieso.
Die morschen Bretter des fetten Motorbootsrumpfes in dem fünftausend Liter Wasser schwappten um den hoffentlich reichen Fang aufzunehmen, wies eine handbreit über der Wasserlinie einen Spalt auf, durch den ich meine Hand hätte stecken können.
Es mochte um acht Uhr sein.
Wir waren ungefähr zwei Kilometer weit gekommen als unerwatet ein Gewitter hochzog.
"Lüd, Lüd! Dat givt Storm!" ("Leute, Leute das gibt Sturm!") meinte Fritz Biederstaedt. Unnütz das zu bemerken, bei diesen dicken Wolken aus denen es wild zuckte blies der Wind uns zunehmend ins Gesicht.
Ich versuchte das Wasser das in meinen Kahn hereinschlug auszuschippen. 
Plötzlich sah ich die Umrisse eines Ruders über meinem Kopf und ich duckte mich vorsichtshalber. Der ziemlich angetrunkene Fischer Kurt Reiniger schlug tatsächlich zu. Er war einer der vor den Alimentenklagen in Westdeutschland, wie er meinte, mit seiner neuen Geliebten und ihren beiden Töchtern in den Osten flüchteten musste, und der auch hier nicht zurecht kam.
"Mich spritzt du nicht wieder nass!"
Ich sah ihn nur unklar, stellte mir sein Gesicht jedoch deutlich vor wie ich es zuvor gesehen hatte, sah seine Statur im Blitz aufleuchten. Über seiner großen Stupsnase standen unregelmäßig angeordnet ein paar Zornfalten. Durch die ungewöhnlich weiten Nüstern schnaubte er vor Wut.
Neue Wellenspritzer trafen ihn. Diesmal musste er es doch bemerken, das ich unschuldig war, verursacht wurde es durch den starken Wellengang, der das Seewasser durch den Spalt der beiden eng aneinander liegenden Fangboote trieb und in die Höhe spritzte.
Der Sturm tobte nur eine halbe Stunde.
Danach setzten wir das Netz aus, fingen aber so gut wie nichts und kehrten bald wieder heim. Ich jedenfalls war nicht müde, wegen des Misserfolgs allzu aufgeregt.
Ich ahnte, wenn wir noch einmal nur mit einer handvoll Fische heimkehren würden, werfen sie mich raus.
Aber die sechs Wochen die dann kamen, bescherten uns wider erwarten beste Fänge, trotz der maroden Netze und der verrotteten Kähne.
Das war der sommerlichen Wärme zu verdanken, die auch nachts vorherrschte, denn die Fischschwärme weichen großen Temperaturschwankungen aus.

Am Ende der letzten Woche erhielt ich meinen Lohn wie sonst in bar und obendrein ein paar Edelfische zum Trost und zur Nahrung.
Der letzte Fangtag war ein Sonnabend. Der siebte Mann aus unserer Kolonne hatte schon zwei Tage gefehlt. Mikusch, nannten sie ihn, ein stiller, untersetzter Bursche von 25. 
Seine junge Frau kam heulend in "unsere" Baracke. Ihr Mann habe sie verlassen: "Der ist abgehauen, in den Westen."
So war es. Der junge Familienvater ließ sich nie wieder blicken.
Tausende, zehntausende verließen jedes Jahr ihre Heimat aus hundert verschiedenen Gründen. Man setzte sich in den Zug, stieg zwei Stunden später in Ostberlin aus, nahm die erstbeste S-Bahn in Richtung Westberlin, meldete sich dort irgendwo als politischer Flüchtling und schon schlüpfte man in eine neue Rolle. Ein neues Leben stand verheißungsvoll vor jedem der sich zu solchem Schritt entschlossen hatte.

Wer wollte schon prüfen, welche wirklichen Beweggründe es für diesen Seitenwechsel gab.

Fritz Biederstaedt nahm mich beiseite: "Wisst du orer nich?" (Willst du oder nicht?)
Und ob ich wollte. Seine Kollegen allerdings wogen die schon betagten Köpfe. Wir sind eigentlich jetzt schon zuviel Leute auf zu wenig Wasser.
Die Tollensefischerei hätte mit mir 15 Leute gezählt, ganz normal wie überall in Norddeutschland 200 Hektar pro Fischer. Das zu sagen wagte ich nicht.

Der dicke Neumann, 58jährig mit einem Kreuz wie ein Hafenarbeiter, der kerzengerade ging obwohl er sich vor seiner Eheliebsten zu ducken hatte, sobald sie auch nur in seine Blickrichtung kam, brummte: "Mientwägen!" (Meinetwegen kann er bleiben)
Der kleine Vorsitzende Bartel hatte das letzte Wort. Wie immer hielt er mit spitzem braungeräuchertem Zeigefinger und dem ebenso angekohlten Daumen den  Kippenrest seiner Zigarillo .Seine mausgrauen Augen musteren mich nicht lange. Er hatte Schlimmeres wie mich erlebt. Seine klugen Augen hatten die Schrecken der verlorenen Schlacht um Stalingrad und das Sterben verhungernder Kriegsgefangener gesehen, aber auch die Rettung.   
 "Prester!" hatte er mich zuerst genannt. "Priester!"
Einmal, als er einen ebenso leidenschaftlichen Stakfischer, wie er es war, benötigte, fiel letztlich seine Wahl auf mich, denn keiner der übrigen vierzehn wünschte mit ihm zum "Staken" rauszufahren, weil er zu schnell und zu kritisch war, vor allem weil er weder Frühstücks- noch Mittagspause kannte.

Wie so oft vor mir steckte er das Schilfquartier ab, und schon ließ er sein zwanzig Meter langes Dreiwandnetz am Saum des Geleges zu Boden sinken. Seine Stakstange die  zehn Meter lang war spießte das linke Netzende auf und heftig aber ziemlich geräuschlos schob Wilhelm diese Hälfte parallel zum Rohr- oder Simsengürtel, wobei er voraussetzte sein Mitfischer halte sein Tempo mit.Die andere Netzhälfte wurde danach über Grund schleifend ins Gelege geschoben.
 Zum Glück kannte ich diese Technik aus meiner Zwischenzeit bei Kurt Meyer, meinem Glaubensgenossen der ebenfalls eine kleine Fischerei, in Cammin, bei Neubrandenburg,  betrieb.
An jenem Tag schrie er: "Bist du soweit, schnell! Er kommt"
Ich sah wie sich die Simsen heftig  bogen und die Schwimmrichtung . Mit hohem Tempo floh ein großer Karpfen oder Hecht, den Wilhelm mit seinem Geschirr aufgestört hatte, in meine Richtung. Ich hatte gerade das Viereck geschlossen. 

 Nie wieder hat er mich wieder "Prester" genannt, immer wieder nahm  mich nach diesem großen Fangtag mit hinaus, ununterbrochen rauchend, ohne Pause.
Er wusste nun, ich war genau so leidenschaftlicher Jäger wie er.
So nickte er an meinem Schicksalstag zustimmend, und Fritz schmunzelte, denn keiner hatte wie ich zugehört wenn er seine Geschichten erzählte, aus der guten alten Zeit, als er noch Diener der Freifrau von Stein gewesen war. Keiner hatte vor mir niedergeschrieben was er erlebt hatte.





















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