Samstag, 31. Dezember 2016

Ein Christ, was ist das?

Ich werde ihn nie vergessen, diesen etwa dreißigjährigen, hünenhaften Goten im Gewand eines russisch-orthodoxen Priesters, 1972, in Leningrad (St. Peterburg). Sein junges, weißes Gesicht, der ganze wunderbare Ausdruck seiner Persönlichkeit. An diesem Herbstmorgen wollte ich ihn ein zweites Mal sehen und bin früh aufgestanden um ihn, vor dem Morgenausflug unserer Reisegruppe, sprechen zu hören.

Aber, das gibt es ja nicht bei den Orthodoxen, dort wird herrlich gesungen und innig gebetet.

Ein hakennasiger Sechziger, mit langem, schmalen Gesicht und gewisser Hohheit, der ein Intellektueller sein musste, kam mit anderen Besuchern nach vorne. Der junge Mann nahm ihn unter die Stola und gab ihm wie ich vermute einen Segen. Beider Mienenspiel bewies mir ihre ganze Ergebenheit gegenüber Gott.

In Moskau bewunderte ich, ein Jahr später, die schlichte, einfarbige, aber ergreifende Deckenmalerei eines Künstlers der in der Epiphanien-Kathedrale eine Geschichte aus dem Johannesevangelium, in einem Zyklus darstellte. 

Es war die Atmosphäre die mich ansprach, es war die Jahreszahl 1922, die mir sagte, dass in der bittersten Zeit der Nachrevolution einem begabten innig laubenden Mann dies da wichtiger war als alles andere. 

Hingebungsvoll erzählt der Maler, wie Jesus zum Jakobsbrunnen geht und eine Frau anspricht, die fünf Männer gehabt hatte und die nun unverheiratet mit dem sechsten zusammenlebte, was Jesus wusste. 
Ihr Erstaunen: “wie kannst du als ein Jude mich eine Samariterin um Wasser bitten”, beschwichtigte er beeindruckend. All das fand hier seinen schönsten Ausdruck.

Wikipedia: die Epiphanien-Kathedrale
Viele Jahre später, etwa 1995, besuchte ich in der Nähe von Orlando, Florida einen Gottesdienst der "Born again". Die hübsche Dame auf der Bühne, deren Beine auch meine Blicke auf sich zog, rasselte mit einem holzfarbenen Tamburin um die etwa sechshundert Anwesenden, die allesamt den Eindruck gut situierter Bürger erweckten, in Schwung zu bringen....
Alles was folgte konnte gefallen, hatte jedoch, nach meinem Eindruck, eher den Charakter einer Show. 

Dagegen waren die Versammlungen die in der naheliegenden Mormonengemeinde stattfanden langweilig und nüchtern.
Der Lehrer in der Priesterschaftsklasse war kaum imstande eine lebhafte Diskussion zu entzünden und doch... da war ein Satz: "Laßt uns das Beste sein, das wir sein können."

Eine Woche zuvor, bei den "Born agein" gab es etwas ganz anderes das tief in meinem Bewußtsein haften blieb: "Jesus lebt! Hallelujah!" ein korpulenter Mann im noblen Dress eines Londoner Bankers war aufgesprungen und rief es ins Mikrofon: "Hallelujah!"  
Begeistert wiederholten Farbige und Weiße dieselben Worte, auch sie erhoben sich, warfen, wie ihr Prediger, die Hände in die Höhe: "Jesus lebt". Sie jauchzten geradezu. Mich beschlich jedoch die Frage: "Wieviel hast du heute verdient, Prediger?" Verfolgt dich jemand deines Glaubens wegen? und in Gedanken sah ich wie Pfarrer dieser Christengruppe den Pöbel Missouris, 1838, aufhetzten: "Schickt sie zur Hölle, die Mormonen!" Und sie taten es.


Ehrlich gesagt und ehrlich gefragt: Was ist das, ein Christ?

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