Martin Doblies
Ich meinte schon, ich hätte mein Pulver verschossen...
Doch heute Morgen im Sealingsroom des Melbourne Tempels, als ich die vielen Familiennamen las, kam mir der meines Volksschullehrers in den Sinn – und hier die ebenso unglaubliche, wie bis ins Detail wahre Geschichte:
Dass sich unter den siebzehn Zensuren meines 8. Klasse-Abgangszeugnisses auch ein 2 fand, ist der Gutmütigkeit des Martin Doblies zu verdanken, denn mein Betragen war nie gut gewesen. Der Rest der Zensuren bestand aus Vieren. Ein einziges Mal hatte ich in all den siebeneinhalb Jahren vorsingen müssen. Mit meiner wirklich guten Sopranstimme, als zehnjähriger trug ich damals vor: Der Mai ist gekommen. Obwohl ich von mir selbst begeistert war gab er mir eine Fünf. Und die blieb, leicht korrigiert, bis zum Ende so stehen. Ich habe ihn gut in Erinnerung. Kahlköpfig, in seinen fünfziger Jahren, jovial, eher von kleiner Statur, stets gelangweilt war er ein Langweiler erster Güte. Er unterrichtete sämtliche Fächer und das mit kurzer Unterbrechung von 1937 bis 1945. Insbesondere seine Rechenstunden quälten mich und so las ich unter dem kleinen Schreibpult die Schwarten von „Rolf Torring“ und „Tom Shark“, allesamt erdichtete Räubergeschichten, aber eben echt spannend. Mit seinem gelben Rohrstock brachte er mich immer wieder zurück in die grauenvolle Realität. Überhaupt versetzte er meinem Gesäß über die Jahre verteilt hunderte Hiebe, aber immer nur zwei zur selben Zeit. Selten gab es einen Schultag an dem mich sein pädagogisches Lieblingsinstrument verschonte. Erstens weil ich grundsätzlich nie Schularbeiten machte, nämlich weil ich nicht wusste für wen, und weil ich lieber angeln ging. Zweitens schlug er zu, weil er es für erforderlich hielt, aus mir wilden Knaben unter allen Umständen einen halbwegs brauchbaren Menschen zu machen.
Gelegentlich kam mein sechs Jahre jüngerer Bruder Helmut ebenfalls in den fragwürdigen Genuss der Lehrmethoden des Martin Doblies. Da Helmut - (ebenfalls nun gewesener Lehrer und heute ein Kantspezialist) - mir in Sachen Hausaufgaben nacheiferte erhielt ich die Quittung: wieder einmal zwei Hiebe mit dem dünnen und durchaus auch pfeifenden Stecken: „Du bist der Ältere du hast die Verantwortung!“ Gerd, nannte er mich nie: „Der Skibbe!“ und da lag ein kleiner Ton der Verachtung drin der ihm wohl gewisse Befriedigung gab.
Im Frühling 1946 besuchte ich einen Mathekursus in der Wolgaster Oberschule sowie Vorlesungen zu griechischer Philosophie, die allerdings hielt, zu meinem nicht geringen Entsetzen, Martin Doblies. Eines Abends verglich er griechische und christliche Ideen. Nie werde ich vergessen wie er letztlich formulierte: „Meine Damen und Herren, das Christentum hat versagt…“
Sofort meldet ich mich zu Wort: „Herr Doblies, das Christentum hat nie versagt, sondern die Christenheit.“
Er riss die Augen auf: Da drinnen stand es grell: der Skibbe. Aber er nickte nach kurzem Zögern zustimmend, denn ich gab eine Art Erläuterung ab. Was dann geschah weiß ich nicht mehr. Nur, dass mich Karli Drescher, ein angehender Chemiker jung, und dem Anschein nach, überaus glücklich verheiratet anschließend in sein Heim einlud.
Da standen in der ansehnlichen Mansardenwohnung auf einem kleinen runden Tisch in einer großen Vase Kastanienzweige deren Knospen gerade aufbrachen. Ein Bild, das mir, auch wegen der Schönheit seiner blutjungen Frau, die daneben saß, unendlich gefiel. Das Ehepaar wollte mehr von mir wissen. Ich hätte sie fasziniert.
Ich kann mich an weitere Einzelheiten nur undeutlich erinnern, aber konnte mehr als Sprechblasen von mir geben…. Hatte ich doch einige Wochen hindurch im Sommer 45 – während die ungezügelten Rotarmisten Mädchen durch die fast unbeschädigte Stadt vor sich hertrieben und brutal in Besitz nahmen - nach dem Öffnen der „Geheimbox“ meines Vaters Antimormonenliteratur nicht einfach nur gelesen, sondern Satz für Satz, Absatz für Absatz verinnerlicht. Pastor Zimmers Lügenbuch „Unter den Mormonen in Utah“, 1907 sowie u. a. Pastor Rößles Buch „Aus der Welt des Mormonentums“.
Diese beiden „Werke“ öffneten mir, in von ihnen nicht geahnter Weise, die Augen. Ihre unguten Absichten bewirkten Gutes. Ich sah das Gold hinter den düsteren Zeilen schimmern. Ich erkannte vor dem Hintergrund der auch mir aufgedrängten Nazi-ideologie, der ich verfallen war, nun nach ihrem schmählichen, plötzlichen Zusammenbruch, die Alternative.
Diese Publikationen und die am 30. April 1945 auf meinen Kopf gerichtete Pistole des ersten freien russischen Soldaten bestimmten mich fürs Leben. Jetzt wusste ich, um die ungemein bedeutende positive Rolle des sogenannten, verfemten Mormonismus.
Bis dahin waren es Hitlers Ideen und Charles Darwin gewesen, die meinen Gottesglauben nicht zulassen wollten.
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