Eine Hand legte sich auf meine Schulter. Ich drehte mich um. Inmitten einer Menschenmenge die in den Ratssaal drängte, sah ich in ein eher rundes, rotes Gesicht eines ebenso kleinen Mannes. Er sagte: „Jürgen! Jürgen Vogt, Amateurfunker, Esparanto.“ Keine Ahnung –
ich zuckte die Schulter. „Erinnern sie sich nicht vor 25 Jahren...?“ Ich konnte mir ein spöttisches Schmunzeln nicht verkneifen. Er blieb mir auf den Fersen, bis ich vor meinem Sitz stand. Er wog den Kopf und half nach: „In der Abendschule, 65, da haben sie es uns gezeigt.“
Ja, - da war sie im Nu vor mir, die ganze Situation. Sowohl das Furchtbare wie das Großartige. Mein Vater hatte sich eine Woche zuvor in einer Phase tiefster Depressionen das Leben genommen. Erhängt. Er Gemeindepräsident in Wolgast und ich der DP.
Nun fünfundreißigjährig musste ich den bislang nicht vorhandenenn Nachweis liefern, wenigstens über das Wissen eines Zehnklassenschülers zu verfügen, denn ich erhielt das OK unseres Unternehmens für den Besuch der Fischereiingenieurschule zu Hubertushöhe, Berlin. So alt war ich und immer noch dumm. 1945, kurz bevor die Rote Armee in unsere kleine Peenestadt einmarschierte, wurde ich mit vierzehn Vieren und einer Zwei – einem „Gut“ das ich wahrlich wegen einer Lüge nicht verdient hatte – aus der 8. Klasse ins Leben entlassen.
Nebenbei gesagt meine beiden Lehrer haben mich nur gelangweilt.
Da saßen wir damals, Im Herbst 65 in der Aula der „Fritz-Reuter-Schule“ und warteten auf unseren Physikdozenten Lasse. Wir, das waren etwa zehn Armeeoffiziere und zwanzig andere wie ich. Als er hereinkam sah ich, nächst ihn, nur ein schwarzes Loch.
Ich war psychisch am Ende.
Sohn Hartmut (später Bischof der Churchillward in Melbourne) war damals 11, Matthias 6 (später, wie ich selbst vor ihm, Missionsratgeber in Berlin) .
Ich fragte mich, wie soll ich ihnen ein Licht, wenigstens ein Lichtlein sein. Andererseits war mir, viele Jahre zuvor, ein Zeugnis durch die Macht des Heiligen Geistes in nie zuvor erlebtem Ausmaß zuteil geworden. Unumstößlich Nephi, Lehre, Abinadi, Moroni ... seien historische Persönlichkeiten, das wurde mir mitgeteilt, so intensiv, dass es unauslöschlich wurde.
Mein innerer Konflikt brach sich an jenem Abend Bahn. Plötzlich hörte ich mich laut reden: „Herr Lasse, im Nachgang zur letzten Lektion: Ist es in ihren Augen ein Verbrechen die eigenen Kinder religiös zu erziehen?“
Alle starrten mich an, als wäre ich plötzlich aussätzig geworden.
Ich aber wollte intuitiv durch die Finsternis drängen.
Das Entsetzen aller schien in Hauptmann Honolkas Mienen am stärksten zum Ausdruck zu kommen. Er könnte fünf Jahre jünger gewesen sein, als ich. Seine ohnehin bemerkenswerten Gesichstfalten vertieften sich. Breit und sicher saß er in seiner feldgrauen Uniform zwei Reihen vor mir und suchte meinen Blick.
„Ja!“ erwiderte Lasse nüchtern, und sämtliche Köpfe stimmten ihm zu.
Jetzt wollte er es wissen. Zwei Stunden lang ging es heftigst hin und her. Frage – Antwort - Frage. Von der Einstellung der Mormonenkirche zum Vietnamkrieg der USA bis hin zu Engels Argumenten pro Atheismus. Darwins „Enstehung der Arten“ kamen ins Gespräch und der Missbrauch der Religion in Gegenwart und Vergangenheit. Schlag auf Schlag. Einhunderundzwanzig Minuten ohne geringstes Licht von ganz oben – wie ich zunächst meinte.
Dann fasste unser Physiklehrer zusammen: „Wenn ihr mich fragt: Das war eine Lehrstunde. So etwas habe ich nie zuvor gehört. Was meint ihr?“ Er sagte noch mehr, sehr Positives, an das ich mich nicht mehr erinnern kann.
Honolka drang in mich, mit seinem Blick: „Na sowas!“ Er holte tief Luft: „Ich war mal Katholik...“
Ein halbes Jahr später nach Zeugnisempfang saßen wir in einer Gaststätte beieinander. Er direkt neben mir. Da legte er spontan seine Hand auf meinen Oberschenkel.: „Donnerwetter, du hast es uns gezeigt.“ Seine Augen...
Und in diesem Augenblick erinnerte ich mich, wie ich, an jenem denkwürdigen Diskussionsabend die wenigen hundert Meter von der Katharinenstraße zum Bienenweg zurücklegte, und wie ich halbwegs stoppte und zum blinkenden Himmelszelt aufsah: „Herrr ich habe wohl zuviel nur geredet,...“ da wurde ich von unsagbaren Glücksgefühlen überschüttet.
Zehn Jahre später wollte ich meinen Trabantkombi aus der in zehn Kilometer entfernten Werkstadt in Burg Stargard abholen, als ich feststellte, dass der nächste Personenzug erst in drei Stunden abfährt. Ich ging zum Taxistand. Das Fenster des Wagens senkte sich, ein junges Gesicht nickte mir zu: „Hallo Herr Skibbe! Wohin geht die Reise?"
„Du kennst mich?“
„Na klar, Herr Skibbe!“
„Ich bin Gerd!“ Alle sagten Gerd zu mir.
„Wissen sie nicht, 1965, in der Physikstunde mit Lasse.“
„Hm. Daran kannst du dich noch erinnern?“
„Jaaa... Da war was, ich kann es mir nicht erklären...“
Dann, nochmals 15 Jahre danach, im Ratssaal, noch stehend sagte Jürgen Vogt exakt dasselbe wie der Taxifahrer: „Da war etwas in der Stunde, ich kann es mir nicht erklären.“
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