Freitag, 31. Mai 2013

(2) "Mein Leben unter Fischern"

"Egon!"
Fritz schrak zusammen. Hatte er geschrien?
In der zweiten oder dritten Nacht, in diesem dunklen kalten Keller auf das nächste schreckliche Verhör wartend, hoffend, dass doch noch alles gut ausgeht, rief Fritz den verdächtigen Namen, noch ein paar mal, aber fast unhörbar hoch: "Egon!" Und dann ganz bestimmt, und voller Wut: "Egon!"

Ja! Dieses Grinsen hatte ihm von Anfang an missfallen. Dieses Augenzucken... dieser Kerl, dieser Hungerleider, Idiot  hatte ihn verraten! Dieser Verbrecher! Ihn den liebenswürdigen. guten Fritz der noch nie jemanden bewusst ein Leid zugefügt hatte bestraft man nicht!
- Egon wusste von der Pistlole - . Mitleidig mit diesem Frühheimkehrer aus amerikanischer Gefangenschaft hatte er den hochgewachsenen Mann mit dem Hungergesicht  aufgenommen. Er, Fritz Biederstaedt, der nun seit geraumer Zeit an Stelle des ewig besoffenen Ernst Peters sen. das Fischergeschehen bestimmte, hatte ihm Brot und Arbeit gegeben, da er behauptete ebenfalls ein Binnenfischer zu sein. (Papiere im Krieg abhanden gekommen!) Da war nur ein vages unangenehmes Gefühl gewesen, die eben diese unruhigen, zusammengekniffenen Augen in ihm verursacht hatten.



Ernst Peters sen, in seiner Glanzzeit

Aber er verwarf den Gedanken, damals, leichtfertig. Egon sollte ihm ja nicht gefallen, sondern nur Fische fangen, und er würde froh sein, in dieser elenden Zeit der Hoffnungs- und Lichtlosigkeit, einen nahrhaften Job gefunden zu haben. Dankbar wird er ihm, Fritz, die Hand drücken.

Auch Berlin, es hing alles mit Egon zusammen... April 46, da fing das große Hungern an. Vor allem in den Großstädten, als die letzten eigenen Vorräte aufgebraucht, und die Versorgungslage vor der neuen Ernte miserabel war. Berlin. 
Eigentlich wollte er nur Nägel auftreiben. Die alten morschen Fischkisten musste er reparieren lassen. Große und kleine gab es vor Ort, aber nicht die mittleren Größen und dazu kiloweise. 
Nur in Berlin sollte es außerdem noch Catechu geben, das unabdingbare Konservierungsmittel für die Netze, die aus Baumwolle bestanden und sonst schnell verrottet wären - außer man teerte sie einfach. Das jedoch machte die Netze steif.
Für Fisch konnte man alles eintauschen, sogar Frauen, denn deren Männer gab es nicht mehr, dafür allerdings deren hungernde Kinder.
Die Autotransportgesellschaft,  ATG, hatte, wie er hörte noch freie Transportkapazität zu vergeben.
Herzklopfend bot er einem Fahrer eines mit Holzgas betriebenen kleinen klappernden Lastkraftwagens zehn Pfund Fische sozusagen als Fahrgeld an, und zwar für den Fall, dass der unrasierte Mann ihn und seine paar Kisten Bleiplieten mitnähme.
Sofort griff der ungehobelt wirkende Mann zu, aber ein paar Kilo müssten schon zusätzlich für seinen Chef "abfallen", denn der würde vielleicht Krach schlagen, falls das herauskommt, mit der Schmuggelei.
Selbstverständlich handelte es sich um Schwarzmarktware und damit um schweren Gesetzesbruch.
Gerade Fische wurde noch schärfer als zuvor bewirtschaftet.
Andererseits reisten täglich zehntausende Städter mit Kleidung und geretteten Wertsachen von Süd-  nach Norddeutschland um mit Mohrrüben, Wruken, Kartoffeln oder Zuckerrüben zurückzukehren, hoffnungsvoll daheim erwartet, in Stuben, in denen nun die Teppiche, die Gardinen und die guten Gemälde fehlten
Sogar auf den Trittbrettern oder Dächern der Reichsbahnwagen 3. Klasse hockten sie wie Trauben an den Reben.
Fritz seufzte und schloss wieder die Augen.
Nur nicht an Inge denken!
Einen ganzen Zentner (50 Kilo) Nägel war seine Wunschvorstellung gewesen. Er müsste sie per Expressgut bei der Bahn aufgeben und mit demselben Zug zurückreisen.
Falsch!
Er war ja verrückt gewesen. 
Zuviele Leute wussten von seiner Schwarzmarkttour, auch Egon, der clever war, der nach seinem Posten trachtete.
Welcher Schreck fuhr ihm an jenem Nachmittag in die Knochen als er zwischen Alexanderplatz und Friedrichstraße, mitten zwischen den schwarzen Trümmerhäusern die brodelnde Menschenmasse sah. Alles wogte richtungslos hin und her. Offensichtlich warteten zahllose Mütter, Omas und hunpelnde Männer in diesem Zentrum der düsteren Ruinenstadt auf ein Wunder.



http://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/8/87/Hamburg_after_the_1943_bombing.jpg
Bild Wikipedia ausgebrannte Häuserzeilen wie hier in Hamburg oder Berlin 1946
Sein Fahrer hielt einfach an und umgehend schnupperten die Leute. Bedrohlich nahe kamen Gruppen neugieriger hungernder Halbstarker. Seine acht Kisten Frischfische unter diesen Umständen gegen Nägel anzubieten, hätte eine Katastrophe heraufbeschworen.


Die ohnmächtige Wut in den Kindergesichtern war auch dem sonst ruhigen Kraftfahrer unangenehm aufgefallen, Er gab plötzlich Gas. Die Meute hätte sie ausgeraubt.
Obendrein wäre ihm die Polizei dazwischen gekommen.
Auf der Freifläche vor dem Potsdamer Platz entdeckte er unschwer die Geübten, die hinter dem halbgeöffneten Mantel Zigaretten anpriesen. 
Einem dieser Schieber vertraute er an, dass er Frischfisch zu bieten hat. Fünf Kilo für ein Kilo zweizoll-Nägel!
Der zog ihn beiseite, das ganz große Zukunftsgeschäft ahnend: "Wat du nich sachst!" (Was du nicht sagst!"
"Nägel? Keine Hürde!"
Ich wollte doch bloß dieses eine Mal...
"Wie oft kannst du liefern!"
Da war es schon passiert. Nie wieder würde er die Schacherer loswerden und dann irgendwann platzte die Bombe!
Ja. Da saß er nun in der eisernen Falle. Verbotener Waffenbesitz, Wilderei, Diebstahl, Schieberei, Betrug und Vertragsbruch gegenüber der Roten Armee.
Zehn Jahre und keinen Tag weniger hatte er zu gewärtigen.
"Weißt du nicht, das Hunger wehtut!"
Der Ganove mit dem brutalen Gesicht wollte wissen wo er herkommt.
Und das war sein größter Fehler. Er gab es frei: "Vom Tollensesee!"
Fritz bekam die Nägel und ein großes Dankeschön, sowie ein Versprechen, auf das er gerne verzichtet hätte: "Wir sehen uns am Tollensesee!"
Seine neuen "Freunde" halfen ihm zum Stettiner Bahnhof zu kommen. Sie hätten ihm von dem ohnehin wertlosen Nachkriegsgeld sogar die vierzehn Mark für die D-Zug-Fahrkarte nach Neubrandenburg bezahlt.
"Keene Bange" (Keine Sorge) wir werden dat Kind schon schaukeln." Er müsste sich nie wieder einer Gefahr aussetzen. Sie kämen brav und unauffällig. "Alles per Absprache, wie und wo und wat (was)!"
Halb lachend, halb heulend flüsterte Fritz als er sinnierte: "Zwölf Stunden Verspätung" hätte sein D-Zug!,  was sind schon zwölf Stunden.
Damals schlenderte er umher, ließ den übervölkerten Wartesaal eine Weile hinter sich. Er suchte etwas, las dann, als er umkehrte : "Heiße Brühe!" Ein Schnaps wäre ihm lieber gewesen, aber heiße Brühe war besser als gar nichts.
Nie wieder wird er das fette Mädchen vergessen, die mitten im großen Raum, auf einigen Säcken saß, die offensichtlich mit Kartoffeln gefüllt waren. Mit ihrem schwarzen Wollmantel, der wie das düstere Plusterkleid einer brütenden Henne wirkte, bedeckte sie ihren kostbaren Besitz nur teilweise. Er fühlte es. Irgendwo im Hintergrund hockten die eigentlichen Kartoffel-Besitzer und hielten zu allem entschlossen Wache.
In solche Szene mischte sich die Polizei so gut wie nie ein. Jeder hätte behaupten dürfen, dass seien Saatkartoffel. Bescheinigungen gab es in Fülle, und Stempel noch viel mehr, die jeder Hanswurst herstellen konnte.
Fritz ließ sich von einem klapprigen Ober eine zweite Brühe bringen. Irgendwie musste man die Stunden totschlagen. Und wieder fragte er sich nicht, wie das Wunder der Fettaugen auf dem heißen Wasser in diesem ausgemergelten Berlin zustande gekommen sein mochte. Bis er zwei Frauen bemerkte, beide bedeckt mit einer breiten Stola aus Katzenfellen. Die Erleuchtung kam heftig wie ein Blitz. Er war sofort auf seinen Beinen, sich in seinem ersten Schreck noch immer schüttelnd.
Nun Monate danach nickte er friedlich: Na was denn? Katzen sind noch längst nicht die hässlichsten Viecher.

 Auf der Heimfahrt, eingekeilt zwischen Unmengen Reisender stehend, erinnerte er sich damals der müden Augen eines blassen zehnjährigen Mädchens im Wartesaal, die neben ihrer Mutter hockte und wie beide mit begehrlichen Blicken auf den bewachten Kartoffelberg starrten. 

"Ja!" hauchte er voll bitterer Gefühle und dumpfer Angst vor dem nächsten Verhör, "Mensch sein!" Er wiederholte es: "Mensch sein und bleiben!" das schwor er sich. Nie wieder würde er eine Mutter wenn sie ihn um einen Fisch anbettelte, von sich weisen.


PS. hier sind eigene Erfahrungen eingeflossen G.Sk.

Wen es interessiert, Fortsetzungen folgen




Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen