Samstag, 14. August 2021

Aus meinem Buch: "Fischerleben im Wandel der Zeit"


Keiner ist gefeit...


Schulleiter Herbert Maque lud häufig Gastdozenten in sein Haus. Darunter befand sich eine freundliche, fünfundzwanzigjährige, rotblonde Dame, die - in underer Bildungseinrichtung - Vorlesungen im Fach Philosophie hielt.
Sie hieß Irene K., sah gut aus, war ein wenig korpulent und von ganz und gar offenem Wesen.
Sie lachte gerne. Sie hatte etwas an sich, das viele Männer mochten: Sie konnte herausfordernd frech blicken.
Herbert M. stellte sie kurze Zeit später als feste Lehrkraft ein.
Am letzten Apriltag 1956 grub ich, gut dreihundert Meter vom Haus Tollenseeheim entfernt, mit einem Spaten eine Ackerfläche um, die mit Tomatenstauden besetzt werden sollte. Da sah ich die
Philosophiedozentin unerwartet auf mich zukommen.
Selbst wenn ich sie nie gemocht hätte, allein die berechtigte Vermutung, dass sie ihr graues, gutsitzendes Kostüm für mich angezogen hatte, war aufregend. Denn alle Lehrer und Schüler befanden sich im Kurzurlaub.
Nur sie und mich gab es noch im großen Umfeld.
Ringsum im Geviert standen riesige Birnenbäume, die selten oder nie Früchte trugen.
Das Gelände lag unmittelbar am friedlich blinkenden See.


Sie lächelte schon von weitem, als sie den Weg zwischen den gerade grünenden Apfelbäumen herunterkam: „Ich muss doch mal gucken, was unser Gärtner den ganzen lieben, langen Tag so treibt.”
Ihre helle Stimme vibrierte reizend.
„Ob er überhaupt was zuwege bringt!”, lachte ich zurück.
Sie schaute mich freundlich an.
Das Haus stünde ja, wie ich wüsste, leer.
Einen Tag vor dem ersten Mai, am Nachmittag, müsste man es ja nicht übertreiben. Sie würde mich zu einer Tasse Kaffee einladen und mit mir über die biblischen Paulusbriefe reden wollen: „Es fasziniert mich, dass du sie kennst!”
Einmal hatten wir darüber gesprochen, und ich hatte geäußert, die zweitausend Jahre alten Briefe enthielten noch so manche, für uns interessante Botschaft.
„Und welche?”, wollte sie daraufhin wissen. „Dass wir tun müssen und in die Tat umsetzen, wovon wir überzeugt sind, dass es richtig ist.”
„Das liest du da heraus?”
„Der Kern der Paulusaussagen ist keineswegs, was die Protestanten
daraus ziehen, sondern eher umgekehrt: dass der Mensch ernten
wird, was er sät.”
Ihre Erwiderung lautete: „Das klingt ja nicht unvernünftig!” Natürlich war ihr völlig gleichgültig, was ich mit kritischem Blick auf die Lehren der Großkirchen meinte.
Die Sonne wärmte uns, während wir plauderten. In einer ihrer
nächsten Vorlesungen käme das Thema Glaube und Wissen vor.
„Mach’ Schluss für heute, lass uns oben gemütlich Platz nehmen und darüber reden.”
Ich wollte nicht nein sagen, zumal ich es nie liebte schwer zu arbeiten.
Sie war so höflich gewesen, nicht zu sagen: Was du denkst, ist trotz
alledem kurios.
In ihrem Zimmer umfing mich augenblicklich ein Gemisch aus
Nelkenduft und dem Geruch von ‚Großer Freiheit’.
Aus der Diskussion über Paulus, Luther, Bauernkrieg und
evangelischer Rechtfertigungslehre wurde natürlich nichts.
Schade!
Denn ich verdammte die Ansichten jener Protestanten, die meinten,
der liebe Gott würde schon alles richten, wenn sie nur an seinem
Namen und ihrem vagen Glauben an ihn festhielten.
So jedenfalls, in derartigem Selbstbetrug, konnte die Welt kein
besserer Wohnplatz werden!
Aber eben darum ging es, würde es immer gehen, solange wir uns
nicht zum Affentum zurückentwickeln würden.
Ich war entschlossen, zu sagen, dass die Welt selbstzerstörerischen
Charakter hätte, weil ihr Liebe fehlte, jene Liebe, die ihre Echtheit
durch gewisse Selbstlosigkeit beweise.
Denn ich war gewillt, mich von ihr nicht auf Kosten des Lebensglückes meiner Frau einwickeln zu lassen.
Vielleicht würde man einmal Herzen ersetzen können, die Treue
jedenfalls nicht.
Auch aus dem Kaffeetrinken wurde nichts, denn ich nahm
Selterswasser zu mir. Sie saß, die Beine übereinander geschlagen, auf dem Sofa, und ich hatte, ehrlich gesagt, zu tun, mein Gleichgewicht zu behalten.
Ich glaube, dass ich stocksteif an ihrem Zimmertisch saß und
halb verlegen, halb verwirrt, mit den Fransen ihrer gehäkelten Decke spielte.
Sie sprach über Homers Nymphe Kalypso und in
spöttisch lockendem Ton über Männer wie Odysseus, Kalypsos
Verehrer.
Sie sei jedenfalls keine ‚schön dumme’ Penelope, die artig daheim
sitze und unentwegt wartend bloß Strümpfe für ihren Mann stricke,
während der eine andere bezirze. Sie nickte, als ich sie fragend anschaute:
„Meiner sitzt jetzt irgendwo in Rostock bei einem Weibsbild herum
und spielt den Seelentröster!”
Ich biß mir selbstkritisch auf die Lippe:
Warum war ich so unüberlegt gewesen, mich wissentlich in diese
Situation zu begeben?
Hatte ich nicht schon einmal, vor Jahren, vor meiner Ehe, Lehrgeld
bezahlt?
Jetzt fühlte ich, wie mein Wille, fest zu sein, schwächelte.
Ich sollte, wenn ich meinen Vorsätzen treu bleiben wollte, nicht einen Augenblick länger hier oben in ihrem Zimmer herumhocken, sondern lieber zu meiner kleinen Familie zurückradeln.
Aber das war bloß die Sprache der Vernunft.
Meine Basisinstinkte bestanden darauf, sofort ihren Forderungen
nachzukommen.
Mein Geist funkte nochmals dazwischen:
Du bist
nicht der Mann, der das um jeden Preis haben muss. Es ist besser
inkonsequent zu sein, als verräterisch.
Ich lenkte das Gespräch auf meine Ansichten zum Kommunismus. Mir war der Gedanke gekommen: Wie ich selbst mitunter bin, ist der ganze Kommunismus aufgebaut, gespalten von oben bis unten!
Lauter Widersprüche.
Außerdem: Von menschlicher Läuterung ist im real existierenden
Kommunismus-Sozialismus ernsthaft keine Rede.
Obwohl es andererseits auch immer wortreich herausgestellt wurde, dass Menschen für eine höchst entwickelte Gesellschaftsstufe erst reif werden müssten. Nicht wenige, die das forderten, täuschten sich selbst, manche ungeniert, weil es ja unsagbar schwer ist, sich unter allen Umständen selbst zu zügeln. Man kann es leicht von andern verlangen, sich korrekt zu verhalten.
Die Dozentin lächelte, aber nur aus Höflichkeit.
Sie schätze Leute, die denken können.
Meine Attacke auf die marxistischen Weltverbesserer, die alles
verändern und verbessern wollten außer sich selbst, war nicht gerade versteckt.
Herbert Maque und diese Frau da vor mir, würden alles tun, um mir zu beweisen, wie gut und beschützenswürdig die DDR und ihr
Sozialismus seien, doch im selben Atemzug zeigten sie nicht die
geringsten Beschützerinteressen, soweit es seine und meine Frau
betraf.
Würde ich zugreifen und das Lockende auch nur flüchtig
berühren, würde ich mein Recht preisgeben, den Kommunismus
vehement wegen innerer Unwahrhaftigkeit zu attackieren.
Das war der Punkt, den ich verteidigen oder meine Position aufgeben musste: „Die ganze Philosophie ist keinen Pfifferling wert, wenn wir uns bei ihr nur bedienen, wie es uns gerade in den Kram passt!”
Obwohl ich es mit diesen Worten ein bisschen verkorkst ausdrückte, verstand sie, glaube ich, was ich meinte.
Irene K. schaute mich an wie jemand, der über den Brillenrand blickt.
Sie stimmte mir, jedenfalls teilweise, zu, allerdings, wie mir schien, mit spröder Stimme.
Doch ihr spitzbübisch schmunzelndes Gesicht verriet mir, dass sie das Thema zu wechseln wünschte. Sie schüttelte den Kopf und lachte ein wenig unnatürlich.
Es war ja auch komisch: In der Natur fragt man nicht. Die Blüte lädt den Schmetterling ein, und der nektarsüchtige Sammler kostet es aus.
Ihre Augen sprühten plötzlich Zorn, weil ich mich zusammennahm und mich erhoben hatte.
Ich ging.
Foto Werner Buzan Das Schulgebäude Tollenseheim


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