Meine Heimatstadt Wolgast - am rechten Oberrand der Peene liegt das berüchtigte Peenemünde
Mein Zusammenbruch
Einmal, kurz vor Weihnachten 1986, inmitten einer offiziellen
Zusammenkunft, gerieten zwei meiner Kollegen heftig in Streit. Um eine
Nichtigkeit ging es. „Du hast den LKW ohne Erlaubnis für Privatfahrten
genutzt!” warf Werner Hansen ihm vor. „Aber nur in Verbindung mit einer
Dienstfahrt!”, verteidigte Jürgen sich. „Twintig Kilometer Ümwech sünd doch
beten veel!” („Zwanzig Kilometer Umweg sind doch ein bisschen zu viel!")
Dafür hätte er die festgelegte Kilometerpauschale bezahlen müssen. „Du, Werner
Hansen, spionierst ja hinter jedem her!” „Was? Ich?” Die Streithähne sprangen
zugleich auf ihre strammen Beine. Die Blicke wie Boxer ineinander gesenkt,
rückten sie wutentbrannt gegeneinander. Gleich würde es krachen. Das fehlte uns
noch. Eine Keilerei in einer Mitgliedervollversammlung. Schneller als Reiner,
der Vorsitzende, der die Versammlung leitete, reagierte ich, erhob mich spontan
und ging dazwischen. Da stand ich nun zwischen zwei Schwergewichtlern, die
einander wie Todfeinde hassten.
Von rechts oben kam etwas, das wie Steine wog, von links oben nicht minder.
Es fiel auf mich herunter. Plötzlich sah ich buchstäblich Schwarz.
Unsichtbar fuhren mir harte, kalte Hände an die Gurgel. Nie zuvor hatte ich
ein vergleichbares Gefühl. Mir schien zudem, ich stünde nackt da. Rings um
meinen Körper legte sich Eisiges. Erschrocken wollte ich mich zurückziehen.
Ein, zwei Schritte entfernte ich mich aus dem Zentrum des Bösen. Zu spät. Meine
Augen rotierten. Der kleine Raum drehte sich um mich. Ich brach zusammen. Erst
als sie mich am Boden liegen sahen, hörten sie auf, sich anzugiften. Ein
Krankenwagen musste kommen. Ich fand mich außerstande, die Bewegung meiner
Beine zu koordinieren. Buchhalterin Inge und Reiner hoben mich auf die Trage.
Ich spuckte, das war mir peinlich, aber was half es? Sie untersuchten mich.
Hören und sprechen konnte ich. Litt ich unter einer Pilzvergiftung? „Nein!“,
sagten die Ärzte des Bezirkskrankenhauses. „Dann ist es eine altersbedingte
Blockade des Stammhirns.“ Die Mediziner lachten: „Richtig, wer hat dir das
gesagt?“ Ich hob den Arm mühsam und tippte an meine Stirn. Was mich
niedergeworfen hatte, war die Wucht der Kälte gewesen, die von den beiden
Rivalen über mich kam. Sie verursachte, dass meine Gefäße sich zusammenzogen.
Noch tagelang drehte sich das Karussell in meinem Schädel. Die vielleicht
schlimmste Strafe wäre wohl, Menschen dem Eis des Hasses auszusetzen.
Ein Krankenwagen musste kommen und mit ihm eine Ärztin.
Sie verluden mich, denn ich war außerstande, die Bewegung meiner Beine zu koordinieren.
Ich war auch nicht imstande, meine Augenlider zu öffnen.
Tagelang drehte sich das Karussell um mich herum, und
zwar jedes Mal, wenn ich versuchte, meinen Kopf zu drehen. Herr von
Suchodolitz, mein behandelnder Arzt, meinte, mein Gefäßsystem sei infolge
jahrzehntelanger falscher Ernährungsweise und auch altersbedingt nicht mehr das
Beste und schon ziemlich starr. Deshalb erzielten die Medikamente, die er
anwenden ließ, die erwünschte Wirkung nur allmählich. Am fünften Tag war ich,
entgegen der ersten Voraussage immer noch nicht fähig, die Augen zu öffnen. Den
Weg zur Toilette bahnte ich mir nur mühsam, indem ich mit den Händen an den
Wänden des Krankenhausflures unsicher entlang rutschte. Allmählich bekam ich es
mit der Angst zu tun. Nun dachte ich daran, dass ich “gesegnet” werden könnte.
Erika bat umgehend meine beiden Söhne Hartmut und
Matthias ins Neubrandenburger Krankenhaus. Matthias sagte später, er hätte
geahnt, dass ich um diese heilige Handlung bitten würde. Ihm sei Bange gewesen.
Was sollte und durfte er mir verheißen?
“Aber sofort als ich meine Hände auf Deinen Kopf legte, erhielt ich Gewissheit. Du sollst wieder vollständig gesund werden.” Sechs lange Wochen sollte es dauern, bis ich wieder arbeiten konnte. Obwohl die Fachärzte mir zuletzt gesagt hatten, ich würde nie wieder Auto fahren können habe ich seither - unfallfrei- mehr als eine dreiviertel Million Kilometer zurückgelegt, davon mindestens zehn Prozent im dichtesten Stadtverkehr.
Eintrag in den Merkkalender am 5. September 1991: „Der Krieg zwischen
Jürgen Haase, der Genossenschaft und mir ist zu Ende!” Das Bezirksgericht
Neubrandenburg hatte endgültig gegen ihn und für uns entschieden. Meine Frau
sagte mir am nächsten Tag: „Ich glaube, Jürgen war hier.” Sie meinte, sie habe
gesehen, wie er vor der Haustür gestanden, geklingelt und dann davon gegangen
wäre, noch bevor er sie oder sie ihn hätte ansprechen können. Am Abend des
folgenden Tages klopfte es an meine Wohnungstür. 394 Er war es. Hoch aufragend
stand er vor mir. Ich blickte ihn entgeistert an. Er wäre gekommen, um mir zu
meinem Sieg zu gratulieren. Jürgen streckte mir seine riesige Hand entgegen:
„Du kannst mir doch nicht zu deiner Niederlage gratulieren!“ Ich dachte: Was für
ein Riesenunsinn. Diese Niederlage kostet dich schätzungsweise 30.000 Mark! Wie
Kopfjäger hatten wir uns bekriegt, und er kam, weil er unterlag. „Tritt ein!”
Tief atmend nahm Jürgen im Sessel Platz. Ich starrte auf seinen Mund. Wie oft
mochte er diese Szene in den letzten beiden Tagen durchlitten haben? Ein Mann
wie er, der nichts tat, ohne es gründlich erwogen zu haben. Härteste Brocken
hatten wir uns gegenseitig an den Kopf geworfen. Manches hatte er nur
angedeutet. Meine Art zu denken missfiel ihm seit eh und je. Wenn er gewusst
hätte, dass ich im Sommer `51 während meiner kurzen Zeit als Wanderer zum
Kommunismus, sogar ein Stalinbild an die Wand unseres Klassenzimmers gepinnt
hatte, hätte er mich schon vor Jahren gekreuzigt. Nun aber fühlte er sich gedemütigt.
Er schaute sich, aus den Augenwinkeln blickend, in unserer Wohnung um. Da gab
es, wahrscheinlich zu seiner Verwunderung, keine Anzeichen von Bigotterie, was
er meiner Glaubensansichten wegen erwartet haben mochte. Ich hätte viel darum
gegeben, wenn es mir in diesem Augenblick möglich gewesen wäre, seine Gedanken
zu lesen. „Musste das sein?” fragte ich ihn. Nur einmal zuvor, weit
zurückliegend, als er tief in einer Klemme gesteckt hatte, hatte ich seine
grauen Augen so bescheiden, so bittend gesehen. Wie damals rührte es mich auch
diesmal wieder an. Ich an seiner Stelle wäre nicht zu meinem Feind gegangen.
Aber da saß er nun. „Ich wollte...”, begann er stockend. Da wusste ich
alles. Der Freiheitsdrang war stärker gewesen als seine Vernunft. Den politischen
Umsturz hatte er als seine große Möglichkeit betrachtet, endlich wegzukommen
von den Zwängen, die ein Leben in einem Arbeitskollektiv oder in einem Team
notwendigerweise mit sich brachten. Er war nicht geboren worden, um Befehle
oder Weisungen entgegen zu nehmen, sondern, um sie zu geben. Immer stand, bis
dahin, einer über ihm, und darüber noch einer und so fort. Frei sein zu wollen
und nicht frei und unabhängig sein zu können, das war sein Problem. Wusste er
nicht, das wir bestenfalls nur im Ersten frei sind? Haben wir Ja gesagt, auf
dem Standesamt oder bei Vertragsabschluss bindet unser Wort uns. Er hatte den
Kampf aufgenommen, jedes Mittel eingesetzt, auch die untauglichen um seinen
Vertrag mit uns zu brechen. Jürgen breitete seine großen Hände aus, die ich nun
noch gebundener sah, als jemals zuvor, die jedoch nur unterstrichen, was seine
hellen, unruhigen Augen widerspiegelten. Sie baten darum, dass wir ihm vergeben
möchten. Ich sah, wie tief er bereute, mit dem Schädel gegen die Wand gerannt zu
sein. Ich sah diesen Hoffnungsblink. Jürgen war unbequem und halsstarrig, groß
im Hass und groß genug, sich selbst zu beugen. Weich kamen die Formulierungen
aus dem Kindermund, der mir nicht selten hart und kalt wie Kieselstein
erschienen war. Lange Jahre hatte er vor mir und nicht nur vor mir eine Mauer
errichtet. Die stand sehr fest. Sie war hoch und breit. Deshalb war sie schier
unüberwindlich geworden. Lange Jahre gab er vor, sein Schild und seine Rüstung,
die er sich zugelegt, wäre sein angewachsener und natürlicher Panzer. Dieses,
in der Tat, selbstgefertigte Ungetüm hing nun als Ballast an ihm. Ja, ich hatte
ihn manchmal zurückgehasst. Es war mir nicht leicht gefallen, diese Gefühle
niederzuringen. Auch die andern Männer hegten starke Abneigung. „Nimmst du mich
wieder?” Einen Augenblick lang wusste ich nichts zu sagen. Hätte ich Nein
sagen können? Aber über das Ja konnte ich nicht allein entscheiden. Das wusste
er sehr wohl. Die neue Genossenschaft war von uns so strukturiert worden, dass
alle Mitglieder dieselben Rechte wie zuvor besaßen, sogar mehr als zu alten
Zeiten. Unsagbar schwer würde es werden, seine Mitfischer davon zu überzeugen,
dass er von nun an friedlicher und freundlicher mit ihnen umgehen wolle. Wie
ein aus einem bösen Traum erwachender Mann schaute er daher, als ich offen
ansprach, was er angerichtet hat. Er stellte dieselbe Frage, vielleicht, weil
er annahm, ich hätte sie überhört: „Nimmst du mich wieder?” Mann für Mann wolle
er aufsuchen, zum zweiten Mal, ja, auch das sei richtig, aber diesmal wirklich
geläutert, bekehrt durch großen Schmerz. Er würde genauso verbohrt, genau so
verbissen, wie er bisher gegen uns gewütet hatte, diesen unerhörten Anlauf
solange wiederholen, bis die versteifte Wand fallen würde, und sei es erst beim
hundertsten Versuch. Er konnte gegen alle Logik der Welt anrennen. Das hatte er
bewiesen. Er wollte an das Unmögliche glauben, anders war für ihn kein Leben
möglich. Entschlossen, allen Hohn und jeden Spott auf sich zu nehmen, war er zu
mir gekommen, allen Zweifel, jedes Bedenken überwindend. Seiner Frau wegen, die
er mehr liebte als sich selbst, der Zukunft seiner Kinder wegen. Er musste es
tun. Nicht eine Minute lang, nachdem seine Niederlage besiegelt worden war,
hätte er eine andere Möglichkeit erwogen. Da musste er durch. Er bäte um
Vergebung. Selbst wenn ich es nicht von Herzen gewollt hätte, nach diesen
Worten musste ich ihm die Hand zur Versöhnung reichen. Mir war sonderbar
zumute, als seine große Hand meine Finger umschloss. Er wagte ein kleines Lächeln.
„Wenn du zu mir hältst, dann wird das auch was.” Am Dienstag wollten wir
beraten, was ich für ihn bei den härtesten seiner Widersacher tun, wen wir für
ihn gewinnen könnten. Um seinen Wunsch zu erfüllen, benötigten wir acht
Ja-Stimmen. Es gab diesen Tag nicht, nicht für ihn. Nachdem er von mir
weggegangen war, sprach er - wie ich bei meinem Kondolenzbesuch erfuhr - viele
Stunden lang mit seiner Frau. Jede Einzelheit seines langen Gespräches mit mir
erfuhr sie. Danach legte er sich zum letzten Mal in seinem noch jungen Leben zu
Bett. Denn nur wenige Stunden später verunfallte Jürgen im Verkehr auf der
Landstraße tödlich. Ich hätte mir nie verziehen, wenn ich seine dargebotene
Hand ausgeschlagen hätte. War es Selbsttötung aus Verzweiflung? Es hieß Alkohol
sei im Spiel gewesen. Seine Frau schaute mich an, schüttelte ihren schönen
Kopf: „Er wollte für uns leben!“ Noch nie habe ich auf einer Beerdigung, einen
Schlager, gespielt von einem Orgelorganisten, gehört, aber auch noch nie so
beeindruckend eine schlichte Melodie empfunden wie dieses Lied: „Wenn bei Capri
die rote Sonne im Meer versinkt.” Ich sah ihn, während der Erinnerungsrede, die
Netze ausfahren. Und ich sah plötzlich mich selbst als Dreizehnjährigen auf der
Ducht des Segelbootes unseres Nachbarn Janzen sitzen, sah das korngelbe,
gebauschte Segel und wie die rote Sonne versank und erinnerte mich der darauf
folgenden Nacht der Schrecken, – der Bombardierung Peenemündes – die aber nicht
das Ende bedeutete, sondern mir die wunderbare Einsicht gab, zu begreifen, wie
wertvoll jeder Tag ist, an dem wir leben dürfen, um nach düsteren Stunden
wieder und wieder die aufgehende Sonne zu sehen. ...
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