Sonntag, 22. August 2021

Aus meiner Lebensgeschichte


                    Meine Heimatstadt Wolgast - am rechten Oberrand der Peene liegt das berüchtigte Peenemünde

 

 

Mein Zusammenbruch

 

Einmal, kurz vor Weihnachten 1986, inmitten einer offiziellen Zusammenkunft, gerieten zwei meiner Kollegen heftig in Streit. Um eine Nichtigkeit ging es. „Du hast den LKW ohne Erlaubnis für Privatfahrten genutzt!” warf Werner Hansen ihm vor. „Aber nur in Verbindung mit einer Dienstfahrt!”, verteidigte Jürgen sich. „Twintig Kilometer Ümwech sünd doch beten veel!” („Zwanzig Kilometer Umweg sind doch ein bisschen zu viel!") Dafür hätte er die festgelegte Kilometerpauschale bezahlen müssen. „Du, Werner Hansen, spionierst ja hinter jedem her!” „Was? Ich?” Die Streithähne sprangen zugleich auf ihre strammen Beine. Die Blicke wie Boxer ineinander gesenkt, rückten sie wutentbrannt gegeneinander. Gleich würde es krachen. Das fehlte uns noch. Eine Keilerei in einer Mitgliedervollversammlung. Schneller als Reiner, der Vorsitzende, der die Versammlung leitete, reagierte ich, erhob mich spontan und ging dazwischen. Da stand ich nun zwischen zwei Schwergewichtlern, die einander wie Todfeinde hassten.

Von rechts oben kam etwas, das wie Steine wog, von links oben nicht minder. Es fiel auf mich herunter. Plötzlich sah ich buchstäblich Schwarz.

Unsichtbar fuhren mir harte, kalte Hände an die Gurgel. Nie zuvor hatte ich ein vergleichbares Gefühl. Mir schien zudem, ich stünde nackt da. Rings um meinen Körper legte sich Eisiges. Erschrocken wollte ich mich zurückziehen. Ein, zwei Schritte entfernte ich mich aus dem Zentrum des Bösen. Zu spät. Meine Augen rotierten. Der kleine Raum drehte sich um mich. Ich brach zusammen. Erst als sie mich am Boden liegen sahen, hörten sie auf, sich anzugiften. Ein Krankenwagen musste kommen. Ich fand mich außerstande, die Bewegung meiner Beine zu koordinieren. Buchhalterin Inge und Reiner hoben mich auf die Trage. Ich spuckte, das war mir peinlich, aber was half es? Sie untersuchten mich. Hören und sprechen konnte ich. Litt ich unter einer Pilzvergiftung? „Nein!“, sagten die Ärzte des Bezirkskrankenhauses. „Dann ist es eine altersbedingte Blockade des Stammhirns.“ Die Mediziner lachten: „Richtig, wer hat dir das gesagt?“ Ich hob den Arm mühsam und tippte an meine Stirn. Was mich niedergeworfen hatte, war die Wucht der Kälte gewesen, die von den beiden Rivalen über mich kam. Sie verursachte, dass meine Gefäße sich zusammenzogen. Noch tagelang drehte sich das Karussell in meinem Schädel. Die vielleicht schlimmste Strafe wäre wohl, Menschen dem Eis des Hasses auszusetzen.

Ein Krankenwagen musste kommen und mit ihm eine Ärztin. Sie verluden mich, denn ich war außerstande, die Bewegung meiner Beine zu koordinieren. Ich war auch nicht imstande, meine Augenlider zu öffnen.

Tagelang drehte sich das Karussell um mich herum, und zwar jedes Mal, wenn ich versuchte, meinen Kopf zu drehen. Herr von Suchodolitz, mein behandelnder Arzt, meinte, mein Gefäßsystem sei infolge jahrzehntelanger falscher Ernährungsweise und auch altersbedingt nicht mehr das Beste und schon ziemlich starr. Deshalb erzielten die Medikamente, die er anwenden ließ, die erwünschte Wirkung nur allmählich. Am fünften Tag war ich, entgegen der ersten Voraussage immer noch nicht fähig, die Augen zu öffnen. Den Weg zur Toilette bahnte ich mir nur mühsam, indem ich mit den Händen an den Wänden des Krankenhausflures unsicher entlang rutschte. Allmählich bekam ich es mit der Angst zu tun. Nun dachte ich daran, dass ich “gesegnet” werden könnte.

Erika bat umgehend meine beiden Söhne Hartmut und Matthias ins Neubrandenburger Krankenhaus. Matthias sagte später, er hätte geahnt, dass ich um diese heilige Handlung bitten würde. Ihm sei Bange gewesen. Was sollte und durfte er mir verheißen?

“Aber sofort als ich meine Hände auf Deinen Kopf legte, erhielt ich Gewissheit. Du sollst wieder vollständig gesund werden.” Sechs lange Wochen sollte es dauern, bis ich wieder arbeiten konnte. Obwohl die Fachärzte mir zuletzt gesagt hatten, ich würde nie wieder Auto fahren können habe ich seither - unfallfrei- mehr als eine dreiviertel Million Kilometer zurückgelegt, davon mindestens zehn Prozent im dichtesten Stadtverkehr.

Eintrag in den Merkkalender am 5. September 1991: „Der Krieg zwischen Jürgen Haase, der Genossenschaft und mir ist zu Ende!” Das Bezirksgericht Neubrandenburg hatte endgültig gegen ihn und für uns entschieden. Meine Frau sagte mir am nächsten Tag: „Ich glaube, Jürgen war hier.” Sie meinte, sie habe gesehen, wie er vor der Haustür gestanden, geklingelt und dann davon gegangen wäre, noch bevor er sie oder sie ihn hätte ansprechen können. Am Abend des folgenden Tages klopfte es an meine Wohnungstür. 394 Er war es. Hoch aufragend stand er vor mir. Ich blickte ihn entgeistert an. Er wäre gekommen, um mir zu meinem Sieg zu gratulieren. Jürgen streckte mir seine riesige Hand entgegen: „Du kannst mir doch nicht zu deiner Niederlage gratulieren!“ Ich dachte: Was für ein Riesenunsinn. Diese Niederlage kostet dich schätzungsweise 30.000 Mark! Wie Kopfjäger hatten wir uns bekriegt, und er kam, weil er unterlag. „Tritt ein!” Tief atmend nahm Jürgen im Sessel Platz. Ich starrte auf seinen Mund. Wie oft mochte er diese Szene in den letzten beiden Tagen durchlitten haben? Ein Mann wie er, der nichts tat, ohne es gründlich erwogen zu haben. Härteste Brocken hatten wir uns gegenseitig an den Kopf geworfen. Manches hatte er nur angedeutet. Meine Art zu denken missfiel ihm seit eh und je. Wenn er gewusst hätte, dass ich im Sommer `51 während meiner kurzen Zeit als Wanderer zum Kommunismus, sogar ein Stalinbild an die Wand unseres Klassenzimmers gepinnt hatte, hätte er mich schon vor Jahren gekreuzigt. Nun aber fühlte er sich gedemütigt. Er schaute sich, aus den Augenwinkeln blickend, in unserer Wohnung um. Da gab es, wahrscheinlich zu seiner Verwunderung, keine Anzeichen von Bigotterie, was er meiner Glaubensansichten wegen erwartet haben mochte. Ich hätte viel darum gegeben, wenn es mir in diesem Augenblick möglich gewesen wäre, seine Gedanken zu lesen. „Musste das sein?” fragte ich ihn. Nur einmal zuvor, weit zurückliegend, als er tief in einer Klemme gesteckt hatte, hatte ich seine grauen Augen so bescheiden, so bittend gesehen. Wie damals rührte es mich auch diesmal wieder an. Ich an seiner Stelle wäre nicht zu meinem Feind gegangen. Aber da saß er nun. „Ich wollte...”, begann er stockend. Da wusste ich alles. Der Freiheitsdrang war stärker gewesen als seine Vernunft. Den politischen Umsturz hatte er als seine große Möglichkeit betrachtet, endlich wegzukommen von den Zwängen, die ein Leben in einem Arbeitskollektiv oder in einem Team notwendigerweise mit sich brachten. Er war nicht geboren worden, um Befehle oder Weisungen entgegen zu nehmen, sondern, um sie zu geben. Immer stand, bis dahin, einer über ihm, und darüber noch einer und so fort. Frei sein zu wollen und nicht frei und unabhängig sein zu können, das war sein Problem. Wusste er nicht, das wir bestenfalls nur im Ersten frei sind? Haben wir Ja gesagt, auf dem Standesamt oder bei Vertragsabschluss bindet unser Wort uns. Er hatte den Kampf aufgenommen, jedes Mittel eingesetzt, auch die untauglichen um seinen Vertrag mit uns zu brechen. Jürgen breitete seine großen Hände aus, die ich nun noch gebundener sah, als jemals zuvor, die jedoch nur unterstrichen, was seine hellen, unruhigen Augen widerspiegelten. Sie baten darum, dass wir ihm vergeben möchten. Ich sah, wie tief er bereute, mit dem Schädel gegen die Wand gerannt zu sein. Ich sah diesen Hoffnungsblink. Jürgen war unbequem und halsstarrig, groß im Hass und groß genug, sich selbst zu beugen. Weich kamen die Formulierungen aus dem Kindermund, der mir nicht selten hart und kalt wie Kieselstein erschienen war. Lange Jahre hatte er vor mir und nicht nur vor mir eine Mauer errichtet. Die stand sehr fest. Sie war hoch und breit. Deshalb war sie schier unüberwindlich geworden. Lange Jahre gab er vor, sein Schild und seine Rüstung, die er sich zugelegt, wäre sein angewachsener und natürlicher Panzer. Dieses, in der Tat, selbstgefertigte Ungetüm hing nun als Ballast an ihm. Ja, ich hatte ihn manchmal zurückgehasst. Es war mir nicht leicht gefallen, diese Gefühle niederzuringen. Auch die andern Männer hegten starke Abneigung. „Nimmst du mich wieder?”  Einen Augenblick lang wusste ich nichts zu sagen. Hätte ich Nein sagen können? Aber über das Ja konnte ich nicht allein entscheiden. Das wusste er sehr wohl. Die neue Genossenschaft war von uns so strukturiert worden, dass alle Mitglieder dieselben Rechte wie zuvor besaßen, sogar mehr als zu alten Zeiten. Unsagbar schwer würde es werden, seine Mitfischer davon zu überzeugen, dass er von nun an friedlicher und freundlicher mit ihnen umgehen wolle. Wie ein aus einem bösen Traum erwachender Mann schaute er daher, als ich offen ansprach, was er angerichtet hat. Er stellte dieselbe Frage, vielleicht, weil er annahm, ich hätte sie überhört: „Nimmst du mich wieder?” Mann für Mann wolle er aufsuchen, zum zweiten Mal, ja, auch das sei richtig, aber diesmal wirklich geläutert, bekehrt durch großen Schmerz. Er würde genauso verbohrt, genau so verbissen, wie er bisher gegen uns gewütet hatte, diesen unerhörten Anlauf solange wiederholen, bis die versteifte Wand fallen würde, und sei es erst beim hundertsten Versuch. Er konnte gegen alle Logik der Welt anrennen. Das hatte er bewiesen. Er wollte an das Unmögliche glauben, anders war für ihn kein Leben möglich. Entschlossen, allen Hohn und jeden Spott auf sich zu nehmen, war er zu mir gekommen, allen Zweifel, jedes Bedenken überwindend. Seiner Frau wegen, die er mehr liebte als sich selbst, der Zukunft seiner Kinder wegen. Er musste es tun. Nicht eine Minute lang, nachdem seine Niederlage besiegelt worden war, hätte er eine andere Möglichkeit erwogen. Da musste er durch. Er bäte um Vergebung. Selbst wenn ich es nicht von Herzen gewollt hätte, nach diesen Worten musste ich ihm die Hand zur Versöhnung reichen. Mir war sonderbar zumute, als seine große Hand meine Finger umschloss. Er wagte ein kleines Lächeln. „Wenn du zu mir hältst, dann wird das auch was.”  Am Dienstag wollten wir beraten, was ich für ihn bei den härtesten seiner Widersacher tun, wen wir für ihn gewinnen könnten. Um seinen Wunsch zu erfüllen, benötigten wir acht Ja-Stimmen. Es gab diesen Tag nicht, nicht für ihn. Nachdem er von mir weggegangen war, sprach er - wie ich bei meinem Kondolenzbesuch erfuhr - viele Stunden lang mit seiner Frau. Jede Einzelheit seines langen Gespräches mit mir erfuhr sie. Danach legte er sich zum letzten Mal in seinem noch jungen Leben zu Bett. Denn nur wenige Stunden später verunfallte Jürgen im Verkehr auf der Landstraße tödlich. Ich hätte mir nie verziehen, wenn ich seine dargebotene Hand ausgeschlagen hätte. War es Selbsttötung aus Verzweiflung? Es hieß Alkohol sei im Spiel gewesen. Seine Frau schaute mich an, schüttelte ihren schönen Kopf: „Er wollte für uns leben!“ Noch nie habe ich auf einer Beerdigung, einen Schlager, gespielt von einem Orgelorganisten, gehört, aber auch noch nie so beeindruckend eine schlichte Melodie empfunden wie dieses Lied: „Wenn bei Capri die rote Sonne im Meer versinkt.” Ich sah ihn, während der Erinnerungsrede, die Netze ausfahren. Und ich sah plötzlich mich selbst als Dreizehnjährigen auf der Ducht des Segelbootes unseres Nachbarn Janzen sitzen, sah das korngelbe, gebauschte Segel und wie die rote Sonne versank und erinnerte mich der darauf folgenden Nacht der Schrecken, – der Bombardierung Peenemündes – die aber nicht das Ende bedeutete, sondern mir die wunderbare Einsicht gab, zu begreifen, wie wertvoll jeder Tag ist, an dem wir leben dürfen, um nach düsteren Stunden wieder und wieder die aufgehende Sonne zu sehen. ...

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen