Dienstag, 25. August 2015

Vor und mit Hitler - eine Alltagsfamilie in Deutschland, Personen die so hießen, so waren und handelten - by Gerd Skibbe






Sturz in die Inflation


Ein vierzehnjähriger Bengel mit Halbhosen und langen Woll-strümpfen stand wartend vor dem Treptower Tor.
Noch lag die Dunkelheit auf den Dächern der Stadt und der Wind pfiff um die Ecke des vielwinkligen großen Bauwerkes. Von Sankt Marien schlugen die Glocken eine volle Stunde. Sieben Uhr. Gleich musste die dritte Haustür von links aufgehen und der Fischermeister Franz Meltz würde in den matten Lichtkranz unter der Gaslaterne treten. Er würde ein-, zweimal nervös mit dem Kopf rucken, den starken Schnurrbart aufzwirbeln, die beiden Kescher schultern und hinunter zum Tollensebach, zu seinen Fischen und zu seinen Kunden eilen.
Die Tür öffnete sich, der erwartete Mann kam, rückte den Hut zurecht und ging auf den Jungen zu. Fischereipächter Meltz erwiderte den überlauten Gruß mit der unwirschen Bemerkung: „Fritz Biederstaedt, ick hew di all dremol seggt, dat du bi mi nich arbeeten kannst. Du büst noch to spack!“1 Auf seinen Holzpantoffeln klapperte der Junge hinter dem vorwärtsstürmenden Manne her. Dabei schniefte er durch die auffallend starke Sattelnase. Also würde seine Mutter ihn nach Berlin in die Lehre schicken. Aber hundertmal lieber als hochherrschaftlicher Diener zu werden, würde er zusammen mit den anderen Fischerknechten auf den schönen See fahren. Doch Meister Meltz hatte keine Ohren für den Bettler. Ihn belasteten schwere Sorgen. Sein Blick richtete sich auf die dunkel schimmernde Menge Menschen, die vielleicht zum letzten Mal zu ihm gekommen waren, um seine Weihnachtskarpfen zu kaufen. Denn sein zwölftes Pachtjahr für die Neubrandenburger Großfischerei ging zu Ende. Erstmalig würde es einen ernsthaften Mitbewerber geben. Die Bürgermeisterei der Viertorestadt hatte die mehr als zwanzig Quadratkilometer Wasserfläche zur freien Bewerbung ausgeschrieben. Möglicherweise wird ihm die Wanzkaer Fischerfamilie Peters den Rang ablaufen. Der Meistbietende könnte, nach mehr als achtzig Wirtschaftjahren, nicht mehr Meltz heißen, was eigentlich undenkbar war. Nach gutem Weihnachts- und Silvesterumsatz des Jahres 1920 wurde es ernst. Mitte Januar 1921 erfuhr Fischer Meltz, dass sogar ein zweiter Konkurrent aufgetaucht war. Ein Ingenieur aus Berlin namens Johne. Das schlug dem Fass den Boden aus, ein Berliner, dazu noch ein Laie! Damit sanken für den Altpächter die Chancen noch einmal.        
Als schließlich die drei Gebote offen gelegt wurden, verließen die beiden einheimischen Pachtbewerber den Ratssaal aus Protest. Sie beobachteten einander, gingen aufeinander zu. Sie waren schockiert, weil die Einschätzung des fischereilichen Wertes des Tollensesees durch den Berliner haargenau ihren Vorstellungen entsprach. An Stelle von Geld hatten sie übereinstimmend die Summe von einhundertundfünfzig Zentnern Fische genannt. Wer hatte das dem Herrn Ingenieur Johne geflüstert? Auf den Berliner schimpfend waren sich beide endlich einmal einig. Solche Fischmengen hatte der Klugscheißer noch nie gesehen, geschweige denn gefangen. Wusste der überhaupt etwas anderes, als in der hungernden Millionenstadt Schiebergeschäfte zu machen? Der Mann mochte wohl verwegen sein, aber Kenntnisse vom Fischfang und erst recht von der Bewirtschaftung großer Seenflächen besaß er gewiss nicht. Sein unerwartetes und forsches Auftreten spannte ihre Nerven zum Zerreißen. Die beiden Fischermeister schauten sich nachdenklich an. Der Neuling stellte den ganzen Berufsstand in Frage. Was werden die Stadträte tun? Dem Berliner werden sie beträchtliche Aufmerksamkeit widmen, eben weil er ein Außenseiter war und weil man einem Ingenieur vielleicht mehr zutraute als ihnen. Es war nicht auszudenken. Beide schüttelten die Köpfe.
Nachdem Meltz und Peters einige ihrer Gefühle und Gedanken ausgetauscht, gingen sie mit großer innerer Anspannung auseinander, um sich in der Stunde der Entscheidung im Neubrandenburger Rathaus wieder zu sehen. Falls der Stadtrat zugunsten Johnes entschiede, würde Fischer Meltz sich natürlich stärker als die Petersmänner betroffen sehen.
Der vorzeitig gealterte Meltz presste die Fäuste aneinander. In seinem Denken und auf seinem Gehöft war alles auf die Fortführung der Fischereigeschäfte eingestellt. Ernst Peters und Vater dagegen verfügten gewiss nur in geringem Umfang über eigenes Fanggeschirr. Für ihn, den Erben einer erfolgreichen Tradition, war es unvorstellbar, auf neue Weise seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Den Peters dagegen, mit ihrem Geld, stand die ganze Welt offen. Sie würden den Schlag hinnehmen wie einen Klaps von Mutterhand. Er aber würde davon getroffen auf den Boden stürzen. Was wären seine vielen teuren, lieb gewonnenen Gerätschaften noch wert: die Bungen und die Stellnetze, die Reusen und Waden, die Arbeitsboote mitsamt den Pätschen und die Hälterkähne, dazu die Kescher und Stangen? An all dem hingen sein Herz und seine Erinnerungen. Wie oft hatte er beim Schein einer Petroleumlampe bis in die Nacht hinein draußen im Nebel oder in der Kälte gestanden und mit der Holznadel das zerfledderte Eingarn wieder zu einer heilen Netzwand zusammengeflickt, damit die Männer frühmorgens wieder hinausfahren konnten auf den See. Was sollten dann noch diese tausend Kleinigkeiten die Gaffeln und Piekhaken? Wo bliebe er mit den Eisäxten, den Jageruten und den Knüppelwinden, den Eisschlitten, den Leinen, Tauen, Tampen, Ankerseilen? Wohin mit den bereitliegenden Reusenbügeln, dem Netzwerk, den Ledderungen, den Stellnetzblättern, die ihm seine Leute an stürmischen Tagen auf Vorrat gestrickt hatten? Wohin mit dem Katechu, den Teerfässern und den Großkesseln, in denen er die Netze imprägnieren ließ? Welchem Zweck könnte das alles dann noch dienen? Sollte er das ganze Inventar etwa diesem dahergereisten Ingenieur für ein Butterbrot vor die Füße schmeißen? Hatte er dafür ein Leben lang geschuftet? Sollte solche Verschleuderung von Werten der Abschluss seines Lebenswerkes werden?
Auch an seine Leute dachte Fischer Meltz, aber mit Zorn. Weil mit ihnen ihr ungeheurer, unbezahlbarer Erfahrungsschatz dem Berliner sozusagen wie ein Sternentalerregen in den Schoß fiele. Der Großstädter würde auf sie nicht verzichten können und sie würden ihn akzeptieren. Sie wären ihm noch dankbar dafür, dass sie für ihn arbeiten durften. Dieser Gedanke regte den Mann Meltz noch mehr auf als der Seelenschmerz, selbst fortgeworfen zu werden. Nach kurzer Zeit der Umgewöhnung wird sich niemand mehr daran erinnern, dass es ihn, den großzügigen Franz Meltz, je gegeben hatte. Sie werden ihm noch nachreden, dass er sein Lebensglück mutwillig im Alkohol ertränkte. 
Wie sich schon vor der für die drei potentiellen Pächter schicksalhaften Ratssitzung herumgesprochen hatte, befanden sich unter den dreiundzwanzig stimmberechtigten Neubrandenburger Stadtverordneten auch drei Kommunisten, die jeder Privatwirtschafterei abhold waren. Das pfiffen die Spatzen von den Dächern, dass diese drei Utopisten sich einbildeten, sie selbst könnten eine Fischermannschaft aus Arbeitslosen zusammenstellen. Da war der eine und der andere mal mit hinausgefahren und hatte ins Fanggeschäft hinein gerochen. Sie glaubten ganz einfach, man nehme ein Zugnetz, werfe es im See aus und schon würden sich große Fischschwärme überlisten lassen. Diese Phantasten wollten den „Raub”, wäre er ihnen denn zugefallen, einfach an die Stadtarmen und Notleidenden verschenken! Als ob die Welt existieren könnte, wenn man auch die vor Energie strotzenden Kerle durchfüttert. Darin war Peters mit Meltz einer Meinung gewesen, dass die Jungen mit ihren kräftigen Armen hingehen und sich  ein Stückchen Wiese urbar machen sollten. Statt in den Straßen und Plätzen herumzulungern und zu schielen, ob ein „reicherer“ als sie, einen Zigarettenkippen wegwirft, sollten sie Kartoffeln und Erdbeeren anbauen. Fischer Franz Meltz ahnte, dass sich mehr Ratsherren als diese drei Kommunisten gegen ihn verschworen hatten.
Sogar einige, die ihm bisher gewogen waren, könnten sich mit ihren Hintergedanken dem neureichen Peters zuwenden. Bloß um ihn zu ärgern und um ihm zu beweisen, über wie viel Macht sie als Deputierte des Volkes verfügten. Im Grunde gab es keine Argumente gegen ihn. Sie könnten ihm gut und gerne noch einmal, nur dieses eine Mal noch, den Tollensesee und dazu die ihm vorgelagerte flache  Lieps mit ihren vierhundert Hektar Wasserfläche verpachten. Dann mag geschehen was will. Hatte er nicht bewiesen, die Pachtsumme pünktlichst zahlen zu können? Waren sie nicht allzeit gut mit ihm gefahren? Der Unterschied der Gebote war bedeutungslos. Es liefe rein logisch gesehen auf dasselbe hinaus. 
Aber sein Gefühl sagte ihm, dass er sich solcher Hoffnung nicht länger hingeben sollte. Nun, da nach der Revolution alles anders geworden war, musste auch in der Fischerei eine Änderung herbeigeführt werden. Egal, ob es sinnvoll war oder nicht. Das war eben diese verrückte  Nachkriegswelt, die törichterweise glaubte, dass alles Neue besser ist als alles Alte. Deshalb zogen die Kerle auch so vehement das frische Menschenfleisch dem alten vor. Das wusste Franz Meltz an jenem Morgen des 22.Januar 1921 wenige Stunden vor Beginn der Plenartagung so sicher, wie er wusste, dass man einen Mann und sogar die ganze menschliche Gesellschaft zwar auf den Kopf stellen aber damit wahre Besserung nicht erzielen kann. Nur anders wird es sein, sehr viel anders. Den verlorenen Krieg überstanden, fiel er nun erst - wie paradox - ins größere Elend. Ihm war es, je länger der Krieg gedauert hatte, jedenfalls in materieller Hinsicht immer besser ergangen. Sie hatten ihm nach 1916, nach der verlorenen Schlacht an der Somme in Frankreich, jeden, auch den minderwertigsten Fisch, geradezu aus der Hand gerissen. An der Front aßen sie nach Neujahr 1917 Margarinestullen mit ekelhafter Marmelade, in der Heimat Wrukensuppe. Welche Delikatesse war dagegen ein Gericht aus gebratenen, sauer eingelegten Plötzen gewesen. Jede Karausche, selbst jeder Grätenblei war Goldes wert in einer Zeit, da es an Stelle von Kolonialwaren nur noch glasige Kartoffeln und höchstens Gerstenschrot auf Karten gab.
Böse Gefühle beschlichen den Mann mit dem Faltengesicht, als er auf seine Weise ahnungsvoll aufs Rathaus zuging. Da sah er Ernst Peters schon stehen, so als warte der auf ihn. Spontan dachte er, er solle ihm auch diesmal nicht aus dem Weg gehen. Es zog ihn hin zu seinem Leidensgefährten, mit dem er einen gefährlichen, ihnen beiden wahrscheinlich überlegenen Feind gemeinsam hatte. Sonst hätte er den Feldwebel Peters nicht eines Blickes gewürdigt. Der Umstand, dass es dem nicht unvermögenden, schneidig auftretenden Peters gelungen war, eine reiche Frau zu heiraten, regte Meltz nur in sofern auf, als er wusste, dass ein Mann mit Geld immer ernst genommen wurde. Wo viel Geld war, kam stets neues dazu. Beträchtliche Geldsummen ziehen neues Vermögen an wie schöne Mädchen ihre Kavaliere. Deshalb würde Peters auch dann, wenn er nicht der Pächter des Tollensesees werden wird, seinen Weg machen.
Als Franz Meltz seinem Konkurrenten Ernst Peters die Hand zum Gruß reichte, glaubte er noch befürchten zu müssen, dass das große Fischerglück sich diesem Johne zuwenden würde. Aus vollem Herzen und mit wüsten Ausdrücken fielen sie brüderlich vereint noch einmal über den vermutlich unfähigen Ingenieur Johne her. Zum ersten und letzten Mal in ihrem Leben machten sie sich gegenseitig Mut. Denn der wenig später erfolgende Beschluss der Ratsversammlung lautete: Peters vor Johne. „Denn man tau“, erwiderte der zutiefst verletzte Altpächter, nun auch des Trostes beraubt, im Unglück nicht allein zu sein, „se warn dat schon moken. Ewer wenn se glöben, dat de Bli goldene Flossen hem, denn irrn se sick.“ 2
Und er sagte noch etwas, an sich selbst gerichtet: „To spack, Franz Meltz  Hunnertundachtzig harst du beden müßt! To spack!“  3 Die Bleie hatten nie goldene Flossen gehabt. Aber wenn Peters sie damals gleich gefangen hätte, schon im ersten oder zweiten Bewirtschaftungsjahr, dann wären sie nicht einmal ihren Namen wert gewesen. Ein Großfang hätte ihm wenig genutzt, solange der Geldwert instabil war.  Der Krieg hatte seinen Preis; die Revolution von 1919 ebenfalls. Das Resultat beider Ereignisse war die Inflation. Zusätzlich verheerend sollte sich die Missernte von 1920 auswirken. Statt der erwarteten Brotgetreideernte von 2,3 Millionen Tonnen gelangte lediglich ein Viertel der lebensnotwendigen Menge auf den Binnenmarkt. Irgendwie musste deshalb seitens der Regierung eine Möglichkeit gefunden werden, um die Fehlmenge irgendwo in der Welt billig einkaufen zu können. Der sowieso schon schwer angeschlagene  Finanzhaushalt Deutschlands musste abermals überrechnet werden. Eigentlich müsste ein Brot nun vierzehn Mark kosten. Doch die großen Politiker wussten, dass sie das nicht zulassen durften. So subventionierten sie es, und die Hausfrauen bekamen es für Viermarkfünfzig. Das aber verschlimmerte die Finanzsituation im Großen. Ernst Peters musste mit der Preisentwicklung Schritt halten. Dem kleinen Mann erschien die Lage schon damals nur schwer erträglich zu sein. Doch das war erst der Anfang vom großen Elend. Denn noch sahen die mittleren Produzenten und die Händler die eigentlichen Gefahren zum Glück nicht so deutlich. Man hatte ja Geld in den Fingern. Die zunächst noch von den mit Zahlen bedruckten Papierfetzen hervorgerufene sonderbare Illusion verursachte, dass sich die Deutschen wieder „hochrappelten.“ Ein gewisser Optimismus lag in der Luft. Das sahen die Spitzenpolitiker Frankreichs und Englands mit Neid, und dieser Neid sollte weitere böse Folgen zeitigen. Als Siegermächte fassten sie im Januar 1921 einen für alle Deutschen verhängnisvollen Reparationsbeschluss. Unsere einst so übermütige Nation, von ihren geistigen und geistlichen Führern in den Kriegsrausch getrieben, hatte nun für ihre Sünden zu zahlen; für Verdun, für Lüttich, für ihre gewonnene Schlacht bei den masurischen Seen gegen Russland.
Insgesamt brummte das Welttribunal den Deutschen die ungeheure Strafe von zweihundertundsechsundzwanzig Milliarden Goldmark auf. Zahlbar bis 1963, jahraus, jahrein anteilig. Der Betrag  sollte in Goldmark und in Naturalien, Steinkohle und Handelswaren geleistet werden, später nach Auflagen. Noch in diesem Schicksalsjahr 1921 waren zwei Milliarden fällig. Das drückte gewaltig auf die Hauptschlagader der deutschen Volkswirtschaft.
Die Arbeiter der Neubrandenburger Baustofffirma Jäger streikten, weil sie mit ihren neunhundert Mark Monatslohn nicht mehr auskamen. Sogar die Fischerknechte muckten auf. Jede Familie mit zwei oder drei Kindern, und das waren die meisten, die Ende 1921 weniger als Zwölftausend im Jahr zur Verfügung hatte, litt große Not.
Vor dem 1. Weltkrieg verdiente der in der Stadt lebende mecklenburgische Arbeiter in der 60-Stunden-Woche etwa fünfundzwanzig Mark. Aber er konnte sich sein Bier leisten, sonntags sogar zwei Flaschen. Und je mehr er sich leisten konnte, umsomehr Brauereiarbeiter fanden eine Beschäftigung. Dasselbe Rad konnte allerdings zum Teufelsrad  werden, wenn es sich rückwärts drehte. Vor dem Krieg hatte jeder kleine Mann seinen Sonntagsanzug. Wobei er für fünfzig Pfennige Anzahlung vom Neubrandenburger Juden Rosenstein schon einen Billiganzug erwerben konnte, der schließlich nicht teurer als dreizehn Mark war.
Selbst die ärmste Fischerfrau besaß vor den schlimmen Jahren ihr Ausgehkleid, ihren Hut und für Wintertage ihren Muff. Nun hätten sie den zwanzig-, dreißig-, hundertfachen Betrag für dieselbe Ware hinblättern müssen. Damals kostete eine Flasche Kulmbacher Bier zwanzig Pfennige, nun war sie unerschwinglich geworden. Die Arbeiter saßen nach Feierabend mit gemischten Gefühlen in den Gasthäusern und trauerten der guten alten Zeit nach, als ein Ei noch für einen halben Groschen und ein breitrückiger Matjeshering für zwei Groschen zu haben war. Nun kostete derselbe Fisch, wenn es ihn überhaupt gab, sechs Mark. Sie fluchten auf die Ausbeuter und auf den Staat. In ihrer Trunkenheit gifteten die Männer einander an, und zu Hause bekamen die Kinder Dresche für etwas, das sie nicht verschuldet hatten.
Die Reparationsleistungen und die schlechten Ernten (auch infolge einer verfehlten Landwirtschaftspolitik) rissen in das Staatssäckel ungeheure Löcher. Der diamantharte Dollar minderte den Tausch- und Realwert der Reichsmark, von Tagesschwankungen abgesehen, unaufhörlich.
Zu alledem fasste das Reichsgericht den verhängnisvollen Spruch: eine Mark ist eine Mark. Ein Gläubiger, der 1914 eintausend Goldmark verliehen hatte, musste 1922 mit der Rückzahlung eines wertlosen Tausenders plus der Zinsen zufrieden sein. Wer vor dem Krieg die glatte Summe von zehntausend auf seinem Konto stehen hatte, besaß in Wahrheit noch, sage und schreibe, fünfunddreißig Mark. Den Großen passierte das nicht. Die waren rechtzeitig in holländische und dänische Währungen geflüchtet. Unter diesen Zwängen leidend, musste jeder Finanzplan wie eine leergesaugte Hülle ihre Form verlieren und zusammenfallen. Jeder Laie konnte voraussehen, dass dieser zähe Ball, in seinem Bestreben, sich wieder  herzustellen, den Schwächsten die Atemluft nehmen würde. Wohl denen, die auf dem Lande lebten, oder wie die Fischer, auch wenn sie bloß als Knechte schufteten, sich zusätzliche Nahrungsquellen erschließen konnten und sei es auf illegale Weise.
So zog das Jahr 1923 wie eine schwarze Gewitterwolke herauf. Die psychologischen Folgen der Angst vor einer galoppierenden Inflation wirkten sich schließlich als Katastrophe aus. Das plötzliche Misstrauen des Mittelstandes, die staatliche Finanzpolitik sei auf Täuschung der Öffentlichkeit aufgebaut, reizte und peitschte die Nerven aller. Vorsicht trieb die Händler zu überzogenen Reaktionen. Das künstliche Finanzgefüge brach zusammen. Eine Schachtel Streichhölzer, 1910 für einen einzigen Pfennig zu erwerben, kostete im November 1923 schließlich fünfundfünfzig Milliarden Mark.  Selbst kleinere Fabriken mussten, um das Geld zur Löhnung ihrer Arbeiter transportieren zu können, Pferdefuhrwerke zu den Banken schicken. In sechzig deutschen Notendruckereien spuckten die insgesamt 1723 Druckmaschinen pausenlos Geldscheine mit astronomischen Zahlen aus. Tag und Nacht liefen die Aggregate der Papierfabriken. In dieser Zeit der Verschärfung der Konflikte warnte der Utah-Senator Reed Smoot den amerikanischen Kongress davor, den Bogen zu überspannen. Smoot erklärte, Deutschlands Bürger könnten durch die maßlosen Forderungen der Allierten ihren Reparationszahlungen pünktlicher nachzukommen, in die Arme von Chauvinisten getrieben werden.
In einigen Orten wurde Notgeld gedruckt. Es löste die Probleme nicht. Weiterhin überschwemmten die bunten Inflationscheine den Markt.
Einmal hieß es: ”Gebt die blauen Scheine nicht aus” ein andermal: “Behaltet die roten, die werden demnächst aufgewertet.”
Ernst Peters kam trotz alledem einigermaßen zurecht. Seine „Massenfische“ - Plötzen, Plieten -, die seine Kunden in guten Jahren kaum anschauten, konnte er verhältnismäßig günstig verkaufen. Wenn alles wankte, seine Reusenpfähle auf den Fangplätzen standen fest. Seine Maxime lautete, solange der Wert der Geldscheine unbestimmt ist, gilt es, sich sofort von diesen Papieren zu trennen. Die Summen vom Vormittagsverkauf setzte er mittags in unverderbliche Waren um, die der Markt gerade anbot. Es schien, als wollte ihn das Schicksal für solche Umsicht belohnen. Da gab es am Oberbach eine herrliche Villa, die gehörte dem Juden Heimann. Sonderbarerweise war Herr Heimann davon überzeugt, dass die blauen Scheine nach dem Währungstohuwabohu Zahlungsmittel sein würden. Zweitens hegte er die Absicht auszuwandern, weshalb er schnell viel Geld benötigte.
Heimann bot dem Fischermeister das sehr geräumige Haus samt Garten zu einem schauderhaft klingenden Preis an. Soundsoviele Billionen in blauen Scheinen.   
Ob das sein Ernst sei? Der Jude nickte. Er habe den Eindruck, die Villa stünde am falschen Ort. In Amerika müsste sein Haus stehen. Er könne seine Befürchtungen nicht in Worte fassen, aber in Deutschland liege seine Zukunft nicht. Deshalb sei er entschlossen, sofort davonzugehen.
Ernst Peters fragte sich, ob er träume oder wache und ob sie das Geschäft denn auch sofort abschließen könnten.
Herr Heimann nickte abermals Zustimmung. Großfischereipächter Ernst Peters begab sich nach Hause. Er eilte, er stürzte durch die Stadt heim und konnte mit dem Verkäufer eine Stunde später einig werden. Heimann, offensichtlich von irrationalen inneren Zwängen getrieben, unterschrieb und Peters hielt sich für einen Liebling der Götter. Bei der Besichtigung des Grundstückes stellte er fest, dass die Stallungen, das nahe Bollwerk, sowie sämtliche Umstände für ihn und seine Zwecke wie geschaffen waren. Nur die Erlenbäume am Bach störten ihn. Dass Peters die Bäume fällen lassen wollte, wurde in der Stadt bekannt. Alle, die den Spaziergang am malerisch schönen Oberbach entlang zum nahen See liebten, wandten sich hilfesuchend an die Stadtoberen. Die Ratsherren zuckten mit den Achseln. Protestierend stellten sich ein paar beherzte Männer vor die Bäume. Doch Fischer Peters beharrte darauf, dass er mit seinem Eigentum tun und lassen könne, was er wolle.
„Das kannst du nicht, Herr Großmaul!”, schimpften die Verteidiger des gefährdeten Panoramas. Sie erregten die Stadtbevölkerung. Allerdings war der ganze Wirbel umsonst. Rigoros setzte Ernst Peters seinen Willen durch. Krachend stürzten die Erlen zu Boden.
Dass er, wenig später, unmittelbar nach der Grundbucheintragung einen Holzpantoffelmacher fand, der ihm für diese Erlen gerade die Summe bot, die er selbst insgesamt für den Erwerb des Grundstückes aufgewandt hatte, war eine ihm selbst geradezu unglaublich erscheinende Tatsache. Danach schrieb der ehemalige Rekrutenausbilder in sein Bewusstsein den Satz: Ich bin der Größte!
Er zog aus der Katharinenstraße aus einem schönen Wohnhaus in seinen neu erworbenen Palast in Seenähe.
Er ahnte nicht im Mindesten, dass bittere Monate und Jahre vor seiner Tür standen.
Fürs Erste war er obenauf. Er erwarb für eine handvoll nicht gerade hochwertiger Fische Kutschen und Kaleschen, Pferde und nagelneue Ledergeschirre. Seine Leute spotteten, er ginge unter der Last des Glücks schon breitbeinig.
Was wollte ihm das Schicksal nun noch anhaben? Das Beste des Lebens fiel ihm selbstverständlich, wie Regen dem Acker, zu. Doch als wollte ihm eine unbekannte Macht beweisen, dass die Gerüchte von der realen Existenz einer ausgleichenden Gerechtigkeit mehr sind als Fiktionen der Nervenschwachen, schlug das Schicksal aus dem vollen Lauf heraus unerwartet einen scharfen Haken.
Die Nachwehen der bald überwundenen Inflationszeit, kombiniert mit Fischerpech, sollten ihn noch an den Rand des Wahnsinns treiben.
Ursache war der Gedanke eines Finanzgenies. Dieser Jemand war auf die tragfähige Idee gekommen, eine Währungseinheit zu schaffen, die durch auf Gold lautende Rentenbriefe gedeckt wäre. So kam die berühmte Rentenmark in Umlauf. Hausfrauen konnten ein Brot wieder für einen Preis unter einer Mark erwerben. Die Arbeiter mussten den sauerverdienten Wochenlohn nicht mehr in der Aktentasche oder in einem Wäschekarton  nach Hause schleppen. Diese Wendung sollte das Überleben der großen Bevölkerungsmehrheit wieder bezahlbar machen.
Schlagartig minderten sich dagegen die Chancen für Glücksritter aller Schattierungen. Die Pächter von Feldern und Seen mussten zu ihrem Leidwesen nach 1924 wieder in bar zahlen. Das tat ihnen sehr weh. Für Ernst Peters bedeutete dies, für zwölftausend Rentenmark Fische zusätzlich verkaufen zu müssen. Er stöhnte laut, als ihn diese Normalität einholte. Außerdem fingen seine Männer im Jahre 1925 miserabel. Sie fingen entschieden zu wenige Fische.
Schon bald, ab Mitte 1926, musste er kurzfristig bei Bekannten und Freunden Geld leihen. Und nur wenige Monate später mahnte ihn schon der Bürgermeister, pünktlicher seinen Verbindlichkeiten nachzukommen.
Seinem Ärger über diese Aufforderung zur Zahlung machte er an der falschen Stelle Luft. Wadenmeister Jan Schlämann, den er mitsamt seinen wertvollen Fängererfahrungen von seinem Vorgänger übernommen hatte, kratzte sich ratlos das Kinn, als er die rüden Vorwürfe des unter zunehmendem Zahlungsdruck stehenden Pächters hörte. Das war leicht gesagt, gefälligst mehr und bessere Fische vom See heranzubringen. Peters belehrte Jan Schlämann in ungerechtfertigt harschem Ton. Die Bevölkerung drehe jetzt jeden Pfennig dreimal in der Tasche um, ehe sie ihn ausgebe. Mit ihren spitzen Fingern wühlten die Hausfrauen mäkelnd wie noch nie in seinen Fischkisten herum. „Se hem ja blot Wittfisch!“4
Er sei ein Plietenfischer! 
Das war eine schwere Beleidigung.  Schlämann allerdings gab zu, er brächte in letzter Zeit vom Tollensesee überwiegend Plötzen und überhaupt immer weniger Fische heim, aber er müsse sich und seine Männer deshalb jedoch noch lange nicht beschimpfen lassen. Von Peters nicht und von niemandem. Sie wären fleißiger denn je. Das sei doch keine Bewirtschaftung des Tollensesees gewesen, was sie in letzten sieben Jahren betrieben hätten, sondern Raubbau auf Pächters Befehl hin. Er habe ja den Rachen nicht voll genug bekommen können. „Disse Frechheit hew ick nich hürt!“5, entrüstete sich Ernst Peters. Doch Schlämann konterte, immer noch ruhig: „De Uprägung steiht sei ditmol nich an!“6 Und überhaupt verlange er für sich und die Männer mehr Geld. Mit dem Kopf auf die Villa weisend, meinte er, so schlecht ginge es Peters ja nicht. Es wurmte ihn seit langem. Der Rekrutenschinder saß in dem schönen Haus wie ein Schwan auf seinem sturmsicheren Nest und sie waren bloß dazu da ihn noch hochmütiger zu machen. „Aach! Dorher weiht de Wind!“7, jaulte der Getroffene. „Dorher weiht de Wind!“, echote Schlämann, ausnahmsweise unbesonnen.  Beide Männer setzten zeitgleich einen Schritt aufeinander zu. Fast hätten sie sich berührt. Zum ersten Mal standen sich der raubeinige Exrekrutenausbilder und sein langer Gentlemanfischer ungewollt erhitzt, Aug‘ in Auge gegenüber, bereit zu handfester Auseinandersetzung.
Die Stimmung erschien den Fängern unerträglich. Ausnahmslos hielten sie zu ihrem Wadenmeister.
Wenn der Pächter nicht sofort das Maul hielt, passierte ein Unglück. Falls Peters Faust auch nur zuckte, würden sie ihm bedenkenlos an die Gurgel springen. Die große Geschäftigkeit täuschten sie nur vor.
Bis es plötzlich wie ein Peitschenschlag in sie hineinknallte: „Wenn juch dat bi mi nich passt, denn söcht juch annere Arbeit!“8 Den überraschten Männern ging der Mund auf. Sofort war ihnen klar, dass ein Hinauswurf Dauerarbeitslosigkeit bedeutete.
Peters sah befriedigt, dass dieser Hieb gesessen hatte. Wäre er gescheit gewesen, hätte er sich vorsichtig umgedreht und wäre zurück ins Haus gegangen. Mehr als diese Nachdenklichkeit konnte er nicht zuwege bringen. Übermütig jedoch fasste er nach. Viel zu schnell. Er erwarte, dass sie, solange sie sein Brot verzehrten, untertänig parierten. Ab sofort wünsche er, dass sie täglich einen Fischzug mehr machten, also vier statt drei und zwar für dasselbe Geld.
Das war zuviel. Mit dieser Provokation hatte er die Grenze überschritten. Schlämann reckte sich. Jetzt musste er handeln. Das gebot ihm die Selbstachtung. Seine Leute, die gerade den ungewöhnlich guten Liepser Nachtfang aus dem Schweff gekeschert hatten, standen immer noch wie erstarrt. Zwölf Kisten voller großer Bleie und Hechte, die sie in der Nacht gefangen hatten, bezeugten ihren Fleiß. Es lag eine Dringendbestellung aus der Küche der Artilleriekasernen vor. Schlämanns redlicher Überzeugung nach hätte der Pächter dankbar und versöhnlich sein sollen. In diesen Sekunden der Hochspannung hörte man nichts als das Poltern der gegen die Kistendeckel schlagenden, vergeblich um ihr Leben kämpfenden Fische. Peters, der schon glaubte das Machtwort gesprochen zu haben, meinte plötzlich seinen Augen nicht zu trauen. Sein Wadenmeister ging, hob eine der gefüllten Fischkisten und schüttete den zappelnden Inhalt zurück ins freie Wasser. Er nahm, ehe Peters herankam, eine zweite Kiste und schüttete sie ebenfalls aus. Die kräftigen Fische schlugen mit den Schwänzen. „Jan!“ schrie Neumann. Schlämann drehte sich ruckartig um. Ernst Peters hielt einen Kescherstiel schlagbereit. Die grauen Augen des Wadenmeisters warnten ihn dringend. Peters musste auch die Blicke der sechs Männer spüren, die ihm Funken ins Genick sprühten. Der Fischereipächter erkannte, dass sie den Verstand verloren hatten und dass es plötzlich ums nackte Leben ging. Seine Autorität aufs Spiel setzend rannte er weg. Vor der Haustür stoppte Peters jäh, drückte das Kreuz durch, wandte sich um. Markerschütternd schrie der Gedemütigte: „Jan! Kommens in min Büro!“9 Er glaubte oder hoffte wenigstens, mit dem letzten aller tauglichen Mittel dem stolzen Mann bei zu kommen. Die Papiere würde er ihm vor die Füße schmeißen und gleich ihm den anderen unbotmäßigen Fischerknechten. Theater war es. Auf beiden Seiten. Ein zähes Ringen. Sie konnten aufeinander nicht verzichten. Schlämann gab zähneknirschend nach und sagte atemringend: „Meisting, loten se dat man good sünd. Wie willn uns doch nich vertürnen.”10 Auch Peters gab nach. Am nächsten Fangtag äußerte er einlenkend, drei gute Fischzüge wären besser als vier schlechte. Der soziale Friede war vorübergehend gerettet.
Vom leichten Anstieg des Lebensstandards 1928 bemerkten die Menschen vor allem in den ländlichen Gegenden wenig. Strümpfe, Nahrungsmittel, Schuhe waren billig. Aber die wenigen Groschen, die sie verdienten, rannen wie Wasser durch die Finger.
Im Dezember 1924 hatte es zum ersten Mal nach dem Krieg eine Million Arbeitslose gegeben. Ende 1928 waren es, nach kurzzeitiger Besserung, schon über drei Millionen, die teilweise in langen Schlangen vor den Arbeitsämtern anstanden. Man ging „stempeln”, empfing Arbeitslosenunterstützung. Hunderte Neubrandenburger Familienväter bekamen wöchentlich 6,25 Mark Arbeitslosengeld. Davon konnten sie sich keine Butter und nur selten Frischfische leisten. Allein die Miete verschlang mehr als die Hälfte des Geldes. Nicht wenige Raucher schämten sich, dass sie ihrer Frau die letzten fünfzig Pfennige stahlen. Da half alles Jammern nicht.
Wer noch eine Arbeitsstelle hatte, biss die Zähne zusammen.

Aufstieg mit Schmerzen


Statt ihnen mehr zu geben, beschnitt Peters wieder einmal das Deputat seiner Leute. Denn auch er musste mehr denn je rechnen. Dennoch ging keine seiner vielen Kalkulationen auf.
Wenn sie ihn weit weg wussten, verfluchten die Wadenfischer den alten Geizkragen. Allerdings in seiner Haut stecken wollten sie auch nicht, währenddem er richtig vermutete, dass sie ihn beklauten.
Ehrlich gefragt, war das Diebstahl, von den Massen selbst gefangener Fische, die Mutter Natur wachsen ließ und nicht Meister Peters, sich zusätzlich ein paar Stück einzusacken, damit die Mäuler daheim und die große, erwartungsvolle Verwandtschaft gleichfalls nicht klagten? Mit den Peterschen Bettelpfennigen konnte man einfach nicht durchkommen. Es gab kein Erbarmen in diesem Kampf ums Dasein. Auch die Stadtväter kannten keine Gnade mit dem zahlungsunfähigen Pächter des Tollensesees. Sie schickten eine Zahlungsaufforderung nach der anderen. Denn ständig war des Kämmerers Kasse leer. Dabei wollte jeder am vermuteten Reichtum der gewachsenen Stadt teilnehmen.
Hoffnungsvoll richteten sich die Blicke aller Mütter auf die Zukunft. Denn so konnte es nicht weitergehen. Andererseits fielen in jedem Herbst der ausgehenden Zwanziger mit den Blättern auch die Hoffnungen. Viele verloren den Glauben, dass es je wieder so schön wie vor dem Krieg werden könnte. Immer wieder hatten sie die Kinder am Heiligabend vergeblich vertröstet, im nächsten Jahr ginge der Weihnachtsmann nicht wieder an ihrer Wohnungstür vorbei, sondern würde dann mit einem großen Sack voll guter Gaben hereinkommen. Und nun? Die Ungewissheit wuchs. Zu den wenigen Gewissheiten für die jungen Frauen gehörte die nächste Schwangerschaft. Ernst Peters musste sich erneut bei Privatleuten Geld borgen. Im Vertrauen darauf, dass sich der Fischreichtum wie eine Goldader im eigenen Claim  vor  seinen  Füßen befinden würde, gingen einige der besser gestellten Neubrandenburger das Risiko ein und gaben ihm zu ihren Bedingungen, was er verlangte. Da brach aber nach allem Ungemach das ganz große Unglück herein. Nach einer Periode erträglicher Wintertemperaturen kam Mitte Januar 1929 für alle eine böse Überraschung. Plötzlich wälzten sich über Nordeuropa und Deutschland extrem kalte Luftmassen. Viele hatten schon geglaubt und gehofft, dass ihnen ein zeitiger Frühling bevorstünde und damit vielleicht sogar der Aufstieg aus dem Elend. Zuvor war Schnee gefallen. Wadenhoch lag die weiße Decke. Seit langem hatte kein Winter die Menschen und die kleineren Unternehmen so unvorbereitet angetroffen wie dieser. In den Stuben der meisten Einwohner vereiste das Pumpenwasser im Eimer, sogar die Pumpen versagten schließlich. Die Städter mussten zum Preis von 5 Pfennigen je Eimer aus den Hydranten versorgt werden.
Krachende Kälte herrschte. Morgens zeigte das Thermometer nicht selten minus fünfundzwanzig Grad Celsius an. Wenn der Morgenwind aufkam, waren die Straßen menschenleer. Niemand wagte weite Strecken zu gehen, um auf dem Lande für wenig gutes Geld viele Kartoffeln einzukaufen. Sie gefroren im Sack zu Stein. Mit Schubkarre und Handwagen zogen viele der auch durch die Witterung arbeitslos gewordenen Männer in die umliegenden Forsten. Sie fegten die Waldböden von allem Brennbaren frei. Sorgenvolle Blicke richteten sich auf den tiefblauen Himmel. Denn das Hoch erwies sich als sehr stabil und die Nächte waren noch recht lang. Wenn sie in der Kneipe beieinander hockten, drehten sich die Gespräche ums Essen, die sibirische Eisluft und die Politik. Es hieß, russische Winter seien erträglicher, weil die Luft dort trockener wäre. Überhaupt sei dort jetzt alles besser, sagten die einen. Die Sowjetunion, „das Arbeiter - und Bauern -Paradies“ stand ihnen wie ein Garten Eden vor Augen. Manche schworen darauf, andere widersprachen. Zu entscheiden, ob die langfristige Besserung von Moskau oder von Berlin kommen könnte, von den Kommunisten mit Teddy Thälmann oder von Hindenburg und Hitler, war schwierig. Viele glaubten an gar nichts mehr. Sie fühlten sich von Gott, dem Kaiser und ihrem Glück verlassen. Natürlich mussten sie nächstes Mal wieder zur Wahl gehen, aber die da oben würden ja doch machen, was sie wollen, sagten die Gleichgültigen, und deshalb sei es egal, ob die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiter-Partei oder die Kommunisten ans Ruder kämen. Andere meinten man sei nun einmal Deutscher und stünde deshalb einem Deutschnationalen näher als seinem Feind.
Die Fischerknechte hatten zusätzliche Sorgen. Zwar war der Tollensesee nun zugefroren, doch sein Eismantel wuchs unentwegt. Außerdem verbot sich das Fischen bei Temperaturen unter minus  fünfzehn Grad Celsius.
Sie sagten selbst, der tiefgefrorene Baumwollfaden, aus dem das Zugnetz nun einmal bestand, könnte brechen. Auch fürchteten die Männer sie könnten sich Erfrierungen zuziehen, denn man kann das Netz nicht mit Handschuhen einholen. So hauchten die Fänger daheim Löcher in die Eishaut ihrer Fensterscheiben, statt das Eis des Sees aufzubrechen. Trübsinnig starrten sie vor sich hin, denn ihr Verdienst hing direkt vom Fischaufkommen ab. Es schmerzte sie, so hilflos den Launen der Natur ausgesetzt zu sein. Manchmal um die Mittagszeit trafen sie sich in der Stadt, manchmal in der Nähe des Petersgehöftes.
Ernst Peters, wenn sie ihn ansprachen, ging wortkarg an ihnen vorbei. Sie seien arbeitslos, meinte er, und er hätte mit ihnen nichts zu schaffen. Sie sollten ihr Geld vom Arbeitsamt beziehen. Nur Hermann Müller, das Fliegengewicht, beschäftigte er als Netzmacher weiter. Der Asthmatiker hielt ihm das Geschirr instand, fertigte auf dem beheizbaren Netzboden auch neues an. Und da war noch ein junger Mann, - derselbe, den Franz Meltz an jenem Weihnachtsmorgen des Jahres 1920 mit den Worten, er sei noch zu spack, abgewiesen hatte. Fritz Biederstaedt. Auch ihn hielt sich Peters ständig. Fritz fiel auf durch seine Sattelnase. Er hatte die Fähigkeit seinen derben Gesichtszügen jederzeit ein gewinnendes Lächeln aufsetzen zu können. Fritz war in seinen Lehrjahren in besten Berliner Häusern in die Breite gegangen und hatte dort vor allem gelernt, widerspruchslos zu gehorchen. Jedenfalls sagte er immer nur: „Ja! Meister!“ Das half ihm. 
Dass er  allerdings sowieso machte, was er wollte, hütete er als sein Geheimnis. Aber er hielt Peters wenigstens die Menge der Gläubiger vom Hals. „Der Meister ist verreist.“ Das war er in der Tat, verreist ins Traumland.

Das große Los


Mitunter stand Ernst Peters tagelang nicht auf. Er stieß, wenn er seinen Getreuen sah, kurz das Fenster auf und wollte von Fritz wissen, wie das Wetter sei, zog sich allerdings sogleich mit einem Seufzer zurück ins Bett, griff darunter und fand vielleicht unter den leeren Flaschen auch eine mit Inhalt. Wer das prächtige Fischerhaus sah, hätte nicht glauben wollen, wie viel Kummer es beherbergte. Wenn die Pechsträhne sich in die Länge zog, verlor Peters am Ende noch das schöne Dach über dem Kopf. Wie gewonnen, so zerronnen! Das würden seine Neider hämisch vermerken. Im März, endlich, änderte sich die Wetterlage. Es kündigte sich das Ende der Herrschaft des Winters an. Bis dahin hatte der Tieffrost sich in die glasharte Haut des Gewässers gekrallt und sie hier und da mit seiner titanenhaften Kraft kilometerweit aufgerissen. Wie von Schmerz erfüllt hatte der See jedesmal aufgebrüllt. Es schallte schaurig, wenn die Eismassen barsten. Nicht selten schob diese Urkraft große Eisplatten übereinander oder weit aufs feste Land hinauf und türmte sie dort zu Bergen. Peters hätte es nicht bemerkt, wenn Fritz nicht zu ihm gekommen wäre
Fritz Biederstaedt schaute sich in der verdunkelten Stube um, in die er, nach einer Weile vergeblichen Klopfens, eingedrungen war. Da wölbte sich der Körper des reglosen Mannes und Fritz Biederstaedt sah den Strick unter dem Bett liegen. Er erschrak bei der Vorstellung, was das bedeutete. Mit einem Redeschwall versuchte er seinen Herrn zu wecken, um ihn dann auf helle Gedanken zu bringen: „Meisting! Meister! Ick glöw, wi könn‘n nu to Is fischen!“11  Der Pächter reagierte langsam. Er flüsterte etwas, murmelte vor sich hin, alle wollten ihm an den Kragen. Er zählte ein paar Namen auf. Die Liste seiner Gläubiger. Auch der Name Meltz kam über seine spröden Lippen. Dabei nickte er mit dem Kopf. Meltz hatte ihn gewarnt. Als er endlich begriff forderte der Pächter seinen treuen Fritz auf, die Männer zusammenzutrommeln.
Sie sollten um Himmels Willen wieder anfangen zu arbeiten. Fritz sprang aufgeregt durch die sich allmählich wieder belebenden Straßen, um die Stammfischer auf die Beine zu bringen. Die Frage, ob der Geizkragen sie auch entlohnen könne und wolle, verkniffen die Fänger sich. Sie kamen erneut hoffnungsvoll, verluden das knochentrockene Garn, die Gaffeln und Stangen, die Seile und Haken. Nachdenklich allerdings betrachteten sie die Eisäxte. Das ging nicht an. Sie müssten Riesenlöcher schlagen, anders ließe sich der Eisblock nicht heraushieven. Und das alle fünfzehn Schritte. Vierzig Löcher für jede Seite des Zuges waren erforderlich! Mindestens! Wer wollte das leisten? Sie benötigten doppelt soviel Leute! Die würde Peters ihnen nicht zugestehen.
Nach einigem Hin und Her beschlossen sie, sich zuerst zu einigen, welchen Zug sie ziehen würden. Jan Schlämann sprach sich für Zanderskamp aus, einen zuverlässigen Winterzug, allerdings am anderen Seeende gelegen. Die Männer schüttelten die Köpfe. Zehn Kilometer Hinmarsch, zehn zurück, ein Stück Arbeit für sich. Zudem sei der See von Spalten durchzogen.
Lieber würden sie „Linden“ ziehen. Das waren nur anderthalb Kilometer Fußmarsch. Ja, aber! Man könne mit „Linden“ Pech haben. Sie wollten glauben, dass sie gut fangen würden. Am ersten Tag würden sie die Löcher für die Jageruten schlagen, am nächsten das Zeug zum Fischen ins Wasser einlassen. Als sie vor Ort ankamen, stellten sie fest, dass es, wie sie schon befürchtet hatten, nicht möglich war, den sechzig Zentimeter starken Eispanzer an einhundert verschiedenen Stellen auf herkömmliche Weise aufzubrechen. Das aber war unumgänglich.
Die Jagerute musste unter dem Eismantel vorwärts bewegt werden. Denn an ihr hingen die Leinen. Diese waren zu den Orten zu transportieren, wo die Windenschlitten standen.
Dorthin jeweils sollten schubweise die Zugnetzflügel herangezogen werden. Schließlich wurden sie im Uferbereich ans Tageslicht geholt. Einer der Altgedienten erinnerte sich, dass in Ostpreußen in solchen Fällen Stoßäxte eingesetzt wurden. Man nahm einen gut meterlangen Stahlstab, ließ vom Schmied seine Enden umschlagen, das eine um es wie einen Meißel anzuspitzen, das andere wurde mit einem Griff versehen, ähnlich dem einer Handramme. Damit konnten sie das Eisloch erheblich kleiner halten. Das ausgesplitterte Eis schwamm sogleich oben, auch wenn nur ein winziger Durchbruch erzielt wurde. So konnte es leicht vom aufschießenden Wasser abgeschöpft werden und der Arbeitsaufwand reduzierte sich beträchtlich. Endlich waren sie soweit. Sie öffneten den Zug und das Inlett. Sie fuhren das Zugnetz hinter das große Loch. Mit einem Trick drehten sie die Schlitten und stießen sie rückwärts ins Wasser, zogen die Sicherungsschleifen auf und entließen das zehn Meter tiefe und zweimal zweihundert Meter lange Garn in die Seetiefe. Ihre Erwartungen spannten sie hoch. Sie hasteten vorwärts und machten sich ans Werk. Vier Stunden später kam das Wintergarn wieder ans Tageslicht. Mit großem Hallo wurden die ersten kleinen in den Netzflügeln steckenden Plötzen begrüßt. Doch die Männer fingen erbärmlich wenig. Nur ein paar kleine Hechte, eine Kiste voll brauchbarer Fische blieben übrig, nachdem sie sich selbst, allerdings nur bescheiden bedient hatten. Es wäre ihnen nicht schwer gefallen, den ganzen Fang restlos aufzuteilen. 
Als es eine ganz Woche lang so ging, begannen sie zu zweifeln, ob es überhaupt Sinn habe, was sie unternahmen.
Fritz, der am Tage zuvor einen der Hauptgläubiger kopfschüttelnd das Petershaus verlassen sah, empfand die ganze Dramatik der Situation. Wenn es Peters nicht mehr gab, dann standen auch er und die anderen Männer im Dunkeln. Niemand in der Stadt würde ihn, Karl Neumann oder einen der anderen Männer einstellen. Auch mit der hochherrschaftlichen Dienerei war es ein für allemal vorbei. Morgen für Morgen war er nun vergeblich an der Seite Jan Schlämanns übers gleißende Eis gezockelt.
Wie ging es weiter?
Noch einen Zug! Nicht weit vorausdenken, sondern nur den neuen Tag durchhalten. Zähne zusammenbeißen, nicht aufgeben! Die steif gefrorene Schlittenleine geschultert, stemmte Fritz seine Eiskrampen, die er zwischen Hacken und Sohlen seiner sorgfältig eingefetteten Lederstiefel trug, ins spiegelglatte Kristall. Daran wird er sich nie gewöhnen, auf diesen Eispickeln zu gehen. Spätestens nach einer Stunde Marsch empfand er jeden weiteren Kilometer Wegstrecke als Qual. Unentwegt drückten die Eisen unter das Fußgewölbe. Die ganze Körperschwere schien nur auf diesen drei empfindlichen Quadratzoll seiner Fußsohlen zu lasten. 
Mittags dagegen, nachdem die Sonne die Oberflächen aufgeweicht hatte, patschten sie in der Eispampe, die nicht abfließen konnte, weil die untere Hälfte der Eishaut sich als immer noch undurchlässig erwies. Unter diesen Umständen war es schwierig, allein die Schlitten vom Fleck wegzureißen. Sie erwogen, das Eisfischen aufzugeben und zu warten, bis die Sonne ganze Arbeit geleistet hatte. Denn die Bächlein gluckerten schon. Allnächtlich jedoch wurden die Eisflächen wieder vom Frost gehärtet.
Karl Neumann, der klotzige Mann mit der hasenschartigen Lippe, jung verheiratet wie Fritz Biederstaedt, bestand darauf, dass sie noch den Fischzug vor Alt-Rehse machen sollten. Karl wünschte eher, auf dem See zu sterben als sich zu Hause den lieben, langen Tag hindurch Vorhaltungen machen zu lassen, er fresse seinem Sohn die Haare vom Kopf. Denn sein Eheweib war nicht gerade ausgesprochen friedfertig.
Ob er von Sinnen sei, fragten ihn seine Leidensgenossen mit gemeinen Ausdrücken, die er trotz seiner kolossalen Körperkräfte nie verwandt hätte, weil er eine natürliche Scheu davor empfand, seine Mitmenschen mutwillig zu Zornesäußerungen herauszufordern.
Wenn sie, wie er empfahl, da hinaufzögen, in die weit entfernteste Seeecke, dann wären sie ja schon kaputt, ehe sie ankämen.  Karl beharrte diesmal. Fritz Biederstaedt fixierte seinen Widersacher ärgerlich, dem er sich weit überlegen fühlte, weil der Kerl, wie er meinte, nicht einmal mit Messer und Gabel zu essen verstand, sondern nur den Löffel und die Finger als Essbesteck kannte. Doch bei der Erwähnung des Fischzuges vor Alt-Rehse, war ihm zumute gewesen, als hätte er selbst den Vorschlag unterbreitet. Immer gerieten sie beide aneinander. Fritz Biederstaedt mit forschen Redensarten, Karl mit seinem walrossartigen Schnauben und dem Vorwerfen seines Bauches. Es zuckte dem fünfundzwanzigjährigen Muskelmenschen in den Fingern. Er verkrallte sie auch, wenn er in Wut geriet. Doch sie griffen immer nur die Luft. Manchmal fürchtete Biederstaedt sich vor diesen mächtigen Fäusten, denn es gab keine Garantie, dass er sie nicht doch einmal einsetzen würde. Neumann schaute ihn diesmal geradezu bittend an. Er wusste, von Biederstaedt Äußerung würde abhängen, ob sie diesen einen Fangversuch noch machten oder nicht. Jan Schlämann wagte nicht, etwas zu sagen. Ihn drückten die letzten Misserfolge nieder. Fritz dagegen könnte unbeschwert entscheiden.
Karl kaute wie immer, wenn er ungeduldig wurde, an einem der Enden seines mächtigen, blonden Schnurrbartes und wartete. Der große Mund  ging ihm auf, als er Biederstaedt unerwartet reden hörte: „Los Lüd! Korl hett Recht. Trecken wie noch Old-Rähse!“12
Die sieben anderen Männer wogen die buntbemützen Köpfe zunächst eher ablehnend, dann wankend und schließlich zustimmend, weil auch Jan Schlämann sich zum letzten Eiszug des Jahres 1929 bekannte.
Es war schon spät an diesem Nachmittag, aber das Eis wegen der Himmelsbedeckung noch leidlich fest.
Sie beschlossen, das Wadenzeug noch einige Kilometer weiter in Richtung Südwesten zu schleppen um festzustellen, ob ihnen durch ‚Busten‘ der Weg versperrt würde oder nicht. Obwohl sich zur Linken in Richtung Klein Nemerow weithin verlaufende blaue, klafterbreite Rinnen zeigten und gewaltige Eisbarrieren auf den beiden Landzungen Buchort und Gatsch Eck in die Höhe ragten, erkannten sie nach einstündigem Marsch, dass der Weg frei war. Am nächsten Morgen, als sie von Neubrandenburg loszogen, sahen sie alles riesengroß. Das bedeutete Sturm, zumindest eine erhebliche Wetteränderung. Oben auf einem der Eisberge lag hingestreckt eine große Erle, die viele Winter überdauert hatte, nur diesen einen nicht.
Schweigend erreichten sie ihre Schlitten, schulterten die Seile und wuchteten los in Richtung Grote Lanke, vor Alt Rehse. Endlich vor Ort angekommen, warf der Wadenmeister Jan Schlämann die Schlittenleine prustend ab. „Man tau!“13, sagte er ein wenig brummig, weil sie ihm so viele Züge schon abgenötigt hatten, die nichts eingebracht hatten. Weiß der Kuckuck, wo die Fischschwärme sich hingezogen haben mochten.
„Wennt wat wat, denn wat dat wat!“14, kalauerte Fritz den Spruch des Wadenmeisters zu Ende. Schlämann versprach ihnen dies sei der letzte Versuch. Danach ginge es zu Kahn im offenen Wasser weiter. Schlämann galt als Genie. Er kannte die tausend Tricks der Fischerei: Wann und wo bei welchem Wetter und bei welcher Mondkonstellation gute Fische gefangen werden konnten. Nur bei Eisbedeckung hatten seine Voraussagen bisher nichts getaugt. Sonst konnte er alles. Er kannte und nannte und erklärte jedem, der sich dafür interessierte, wenn er mit ihm über den nächtlichen See fuhr, die Namen der auffälligsten Sternbilder: Großer und Kleiner Bär, den Himmelsdrachen und Kassiopeia. Die Keplerschen Gesetze, sogar das komplizierte dritte vermochte er verständlich zu erläutern. Er besaß eine gewisse Vorstellung von den ungeheuren Dimensionen der Milchstraße  und den Details des Sonnensystems.  Mitunter, in besonders klaren Nächten, wies er hinauf und behauptete, es gäbe im Weltall mehr Sterne als Sandkörner auf der Erde. Das erschien den Fischern natürlich übertrieben, denn auch sie hatten gewisse Vorstellungen, nämlich wie viele Körnchen sich allein in einer einzigen Sanduhr befanden. Schlämann aber liebte es, laut über die Unendlichkeit nachzusinnen. Selbstverständlich ging es hier nicht um die Werte der Ewigkeit, sondern buchstäblich nur ums Heute und Morgen, ums eigene Überleben und das des Pächters Peters. Seufzend  stieß der hochgewachsene Schlämann die Stoßaxt ins Zentrum des damit markierten Inletts. Das mussten sie aufbrechen, dahinein würden sie eine Stunde später die Schlitten stoßen und mit ihnen das Winternetz. Dahinein würden sie dann die achtzehn Schritte langen Jageruten schieben, um sie von Loch zu Loch weiterzubefördern. Bald warfen die Männer ihre Joppen ab. Sie zertrümmerten die Hauptscholle in drei Teile, die einen drückten auf die seeseitigen Kanten des nun frei schwimmenden Eises und die anderen stießen die Spitzen ihrer an langen Stangen befestigten Piekhaken in die sich leicht aus dem Seewasser erhebenden Ränder und schoben so die tonnenschweren Brocken mit Anstrengung unter die unversehrte Eisfläche. Dunkelgrünes, dumpf riechendes Süßwasser gluckste auf und dehnte sich schließlich auf zehn Quadratmetern aus. Die „Jäger“ banden die zentimeterstarken bis zu sechzig Meter langen Zugseile an die Butttampen, an denen das Netz hing. Dann beeilten sie sich, ihre Ruten von Loch zu Loch zu schieben und folgten den „Stößern“. Auf ihren Rücken wippten die geflickten, von zahllosen Regengüssen ausgewaschenen Fischersäcke, in denen das Frühstück und die Kaffeeflasche sowie trockene Strümpfe und Kleidung steckten. Etwa fünfhundert Meter Wegstrecke lagen vor ihnen. Schweißgebadet beeilten sie sich, denn die Jäger waren ihnen auf den Fersen und kurz hinter denen kamen hüben und drüben schon die beiden Männer mit den Schlittenwinden, die das Zeug immer weiter in das abzufischende Gebiet hineinbeförderten. Sie mussten sich sputen, denn der Arbeitstag war nicht eher zu Ende, bis das Zugnetz jeden Quadratmeter der riesigen Fläche umfasst hatte, bis alles wieder am fernen Seeufer ans Tageslicht befördert wurde und danach richtig verstaut auf den beiden Schlitten verteilt lag. Die Stammplätze der beiden größten Kontrahenten befanden sich jeweils an den auf ihren Arbeitsschlitten montierten Knüppelwinden ihrer Flügel. Der eine arbeitete auf der rechten Seite, der andere auf der linken, beide dreihundert Meter voneinander getrennt, jeder den anderen scharf im Auge, ob er Schritt halten könne. Beide bereit, tadelnd hin und herüber zu schreien: Korl, du büst all to wiet! oder: Fritz hol up! Im Stillen lag jeder der Fänger mit seinem Gewissen im Streit. Man bekam einen frühen Feierabend, wenn so gut wie nichts gefangen wurde. Aber wenn man´s nur für die Katze fing, lohnte es erst recht nicht. Je weiter die Windenleute kamen, umso schwerer wog die Last der sich systematisch entfaltenden Netzwände. Allmählich bewegte sich der Wadensack, der noch zum Teil auf dem Hintereis des Inletts ausgebreitet dalag, den Jan Schlämann mit großer Umsicht nur gleichmäßig ins Wasser rutschen ließ. Waren die Männer an den Windenschlitten zu schnell, dann riss es den Sack zur Seite. Das veranlasste den Wadenmeister, einen Finger in den Mund zu stecken und laut zu pfeifen. Sie schauten dann hin zu ihm und wurden dirigiert. Er winkte auch mit der erhobenen Hand als Zeichen, dass beide Seiten gleich weit gezogen worden waren. Wie ein paar ins Riesenhafte ausgestreckte Arme müssen beide Flügel zu Seiten des großen Wadensackes die vielleicht vorhandenen Fischschwärme umzingeln und sie in der Finsternis, die unter solchem starken und zudem milchig getrübten sowie mit Schnee bedeckten Eis herrscht, zusammenhalten. Nur wenn das im zehntel Schritttempo vorwärts bewegte Netz einigermaßen gleichseitig läuft, kann es die begehrten Fische auch überlisten.
Die Fischerknechte mit ihren Stoßäxten arbeiteten sich bereits wieder, nachdem sie in Schilfnähe angekommen waren, aufeinander zu. Bald würden sie das Aufzugsloch schlagen können, so groß wie das Inlett. Wie an den Vortagen erwärmte sie die Sonne. Über dem gelben Ried flimmerte die unbewegte Luft. Das Himmelsblau nahm gegen ein Uhr weißliche Farbe an. Mitten im Eis stehend, empfingen sie den Frühling. Fast fünf Stunden Schwerstarbeit lagen hinter ihnen, und doch begann der wichtigste und auch spannendste Teil ihrer Tätigkeit erst in dem Augenblick, wenn die Buttstücke, die Wadenanfänge, sich bemerkbar machten, indem sie raschelnd zwischen den frei schwimmenden Eissplittern aus dem Wasser auftauchten. Dann wurden die beiden Flügel des Netzes,   zuerst von den im Uferbereich verankerten Handwinden und später von Hand herausgezogen. Vom Beginn des Netzeinholens an ist alle bisherige Schwere und Knüppelei vergessen, wie anstrengend der Rest der Arbeit auch noch sein mochte, weil sich nun bald erweisen sollte, was ihnen der Zug bescherte. Jedes Mal, selbst bei den hartgesottensten Leuten, steigerte sich die Spannung. Wie bei Goldwäschern sind die Augen dann auf einen bestimmten Punkt gerichtet. Wann zeigt sich das erste verheißungsvolle Blinken? Wann kommt der erste große Fisch? Was kündigt er an? Keiner dachte jetzt daran einen Bissen zu sich zu nehmen. Nun dauerte es höchstens noch eine Stunde, dann wusste man, ob es wieder einmal umsonst oder vielleicht das große Los gewesen war, das sie gezogen hatten. Viele Geschichten gingen in ihren Köpfen herum, selbsterlebte, nacherzählte, von Phantasien aufgewertete. Sie wussten sich außerdem in völliger Sicherheit. Der Eisklotz, auf dem sie nun standen, ruhte auf dem Gelegesand. Jan Schlämann kam mit langen Schritten vom Ort des Netzeinlasses auf sie zugeschritten. Auch an ihm zerrten die Kräfte des Zweifels und der Hoffnung. Seine Aufgabe bestand nun darin, sich ein Loch in fünfzehn Metern Entfernung vom Aufzugsloch - in der Mitte der sich nun unentwegt vorwärts bewegenden Netzwände - zu schlagen und dahinein mit einer Pulskeule zu schießen, einem Instrument aus Blech, wie eine große Tüte, mit dem er Krach machte. Jedesmal  wenn  er  das  Gerät, das sich am Ende einer Stange befand, hineinstieß, riss es eine Menge Luft hinunter, die sich durch den Lichteinfall silbrig erhellte und große Scheuchwirkung besaß. Als die Hälfte des Netzes herausgeholt worden war, erschien ein großer, um seine Freiheit kämpfender Hecht. Wütend drehte sich der meterlange Fisch ins lose Garn. Das galt den abergläubischen Fischern als bestes aller denkbaren Vorzeichen. Ein Barsch durfte es niemals sein. Karl Neumann, schickte einen Anerkennung fordernden Blick zu Fritz Biederstaedt hinüber. Beiden liefen Schweißtropfen über das Gesicht. Fritz knurrte laut auf. Es war nicht auszumachen, ob es Wut oder Freude war.
Einer der Männer rief jauchzend: „Een goodes Teken!“ 15
Wenig später kamen die ersten rotsilbern schimmernden Fische zum Vorschein. Lebhaft schlugen sie mit den Schwänzen. Sie wehrten sich gegen die Gefangenschaft. Rotaugen. Die Franzosen nennen sie so respektvoll. Plötzen werden sie abwertend von den Mecklenburgern geschimpft, weil die Norddeutschen die große Kunst der Zubereitung dieser Fischart im Grunde nicht beherrschen. Diese zappelnden Fische vermehrten die Hoffnung auf einen guten, vielleicht sogar einen außergewöhnlichen Fischzug. Wenn sie in solchen Mengen schon vor dem letzten Wadenstück erscheinen, schlägt kein Fischerherz mehr normal. „Dat sünd Bliplötzen!“16, riefen sie in ihrer Aufregung wiederholt einander zu, naiv und offen in ihrer Freude. „Wi hem se! Wi hem se!“17 Das trug ihnen eine laute Rüge Schlämanns ein, der nicht leiden konnte, wenn jemand den Tag vor dem Abend lobte. Noch konnte jede Art von Unglück passieren. Selbst wenn es denn ein Großschwarm Bleie war, der sich im völlig unsichtbaren und inzwischen klein gewordenen Umfassungsbereiches des Zugnetzes aufhielt. Bis zuletzt war möglich, dass er noch unmittelbar vor der drohenden, endgültigen Gefangenschaft an den immerhin einig zig Quadratmeter großen Lücken unter den Zugleinen durchbrach. Oder es stand noch kurz vor dem Aufzugsloch ein abgebrochener Reusenpfahl. Ein paar Zentimeter Holzsplitter reichten aus, den Wadensack, in dem sich der Fang sammeln soll, von vorne bis hinten aufzuschlitzen. Wer wusste schon, was sich unter Wasser und dem Eis befand? Manchmal reichte ein verloren gegangener Anker aus, um alles zunichte zu machen. Dafür gab es genügend Beispiele. Neumann schrie wie ein Schuljunge: „Hew ick juch dat nich glick secht? Hüt fäng wi wat. Hüten fäng‘n wie wat!“18 Im Tonfall ahmte er den Wadenmeister nach, der sich hastig die Gummijacke vom Körper zerrte und angesteckt vom Vorfreudentaumel seiner Männer  wie ein junger Springinsfeld bewegte und sein Tempo als Keulenschläger verdoppelte. Fritz stellte sich ein Traumhol vor. Hundert Zentner große Bleie. Es mussten Edelbleie sein. In solchen Maßen erschienen Bleiplötze nur als Vorläufer und Schwarmbegleiter der Riesenbrassen vor. Das wollte er unbedingt glauben. Er hatte in den fast sechs Jahren seines Fischerlebens nur selten mehr als fünf, sechs Zentner dieser oft gelobten Großbrassen mit eigenen Augen gesehen. Er konnte es nicht unterlassen, obwohl er nur die Anzeichen sah, zu rechnen, wie viel Geld dem Pächter dieses Fangglück einbringen könnte. Dann würde er sie wieder normal entlohnen, dann bekam er wieder Luft zum Atmen und zum Weitermachen. Der Arbeitsplatz wäre  gesichert. Der Alte mochte ihn und er mochte den verzweifelten Alten. Wenn das wahr wird, dann... Daheim mussten Stühle angeschafft werden, ein bequemeres Bett. Endlich musste die neue Joppe her, für die Frau ein Frühlingskleid. In seinen ausschweifenden Gedanken entstanden farbige Phantasiebilder: gedeckte Tische und gefüllte Gläser. Dass Ernst Peters ihm und den anderen, selbst wenn er an diesem Tage von einem Goldregen überschüttet würde, nur Pfennige abgäbe, wusste Fritz. Aber er verdrängte es. In solcher Situation sind alle Beteiligten aufs Höchste von unsinnigen Wünschen erfüllt. Fritz hatte seiner schönen jungen Frau versprochen, dass er es schaffen würde, das Elend zu überwinden. Und da erschienen endlich, wie vermutet die ersten Brassen im Garn. Zwei Achtpfünder wälzten sich in der Eispampe. Auch Jan Schlämann glaubte nun daran. Seine Männer mussten jeden Augenblick den Unterspann fassen. Gewaltig sprudelte es aus dem Pulsloch heraus. Soviel Wirbel konnte nur ein Massenfang verursachen. Die Unterleinenzieher bemerkten diesen kräftigen Ruck. Die unsichtbare Gewalt widerstand ihnen. Der bereits vom Wadensack umschlossene Schwarm drängte mit Macht zurück. Jetzt hieß es für die Fänger sich schnell und ganz nahe ans Aufzugsloch heranzuarbeiten. Unter keinen Umständen durften ihnen die Leinen entgleiten. Im Gegenteil, es galt das Unterspann so schnell und so weit wie die Vorsicht erlaubte hochzuziehen, aufs Eis zu bringen und festzuhalten, gleichgültig, wie schwer die Last würde. Erst wenn sie einen Teil der Sackringe um die Stangen gewickelt hatten, war ihr Anteil geleistet worden.
Mit Hilfe der Eiskrampen standen sie fest und stemmten sich gegen die Verursacher des brodelnden Wasserstromes. Energisch mussten sie dem Druck der immer noch unsichtbar zurückflutenden Menge von Tausenden und Abertausenden kiloschweren Fischleiber, die den letzten verzweifelten Ausreißversuch wagten, ihre Kraft entgegenstellen. Das waren mehr als einhundert Zentner Edelfische! Das waren zweihundert! Sie pusteten und stöhnten mehr aus Vergnügen als aus Qual. Welch ein Tag! Wie lange hatten sie darauf warten müssen? An der Anzahl der gefüllten Sackringe vermochten die Männer einigermaßen genau die Fischmenge abzuschätzen. Jan Schlämann tat das, äußerlich schon wieder gelassen. Er schaute über die Schulter zurück und sah zufällig Fritz Biederstaedt an: „Föfteigen Tunnen!“19, sagte er. Das klang nicht nur herrlich, das war das Größte, denn seine Schätzungen waren stets die zuverlässigsten gewesen.
„Donnerschock!“ Sie schrieen ihr Fängerglück in den Himmel. Dreihundert Zentner! Dabei hatten sie von den gefangenen Fischen bisher nur einzelne Exemplare zu Gesicht bekommen. Immer noch schwamm die Menge unter dem schneebedeckten und milchigen Eis im Verborgenen.
Wer würde nun hinuntereilen, um dem Pächter Peters die wichtige Botschaft zu bringen? Es bestand dringender Handlungsbedarf. Augenblicklich müssen die umfangreichen Maßnahmen zum Verkauf eingeleitet werden. Wer in einhundert Kilometer Umkreis konnte solche Fischmassen einigermaßen preiswert vermarkten? „Ick lop runner!“20, bot Karl Neumanns Erzrivale Fritz Biederstaedt schneller  an, als ein anderer denken konnte und flog auch schon los. Er  war bereits einige Schritte weg, da erst reagierte Neumann. Zu spät, Karl, sagte sich der Koloss und biss neidisch in seine dicken Lippen. Eigentlich hätte ihm und niemandem anders zugestanden, die freudige Nachricht hinzubringen. Er hatte die Idee gehabt und durchgesetzt. Wieder einmal hatte sich bestätigt, dass keiner den See so gut kannte wie er, und keiner des Pächters Lob und Dankbarkeit mehr als er verdient hätte. Doch da war das große Glück längst einem anderen zugefallen. Der Lakellümmel stahl ihm wieder einmal den Erfolg. Ehe er seine einhundertundzehn Kilogramm Masse hatte in Schwung bringen können, war Biederstaedt auf und davon. Karl Neumann schaute Schlämann vorwurfsvoll an, weil der auch noch hinter Biederstaedt anerkennend  hinterher nickte. Viel mehr als das Recht zählte bei diesem dürren Schlämann, wer sich am meisten bemühte, sein lieb Kindchen zu sein.
Viel zu gern ließ sich der alte Sternenspinner von dem katzbuckelnden Biederstaedt um den Bart schnurren. Das konnte der. Das haben sie ihm ja in Berlin beigebracht. Karl Neumann konnte sich den Bengel gut vorstellen. „Jawohl, gnädige Frau, bitte sehr, Herr Baron.“ Alter Silberputzer! Karl dachte ein obszönes Wort hinterher und machte sich zornbebend über den Rest des Frühstückes her. Er biss so schnell und kräftig große Happen
aus dem Quarkbrot heraus, dass der steife Schnurrbart in die weißen Krümel hineinbürstete. Nie wird er dem unterwürfigen Menschen vergessen, wie der sich gleich am ersten Tag bei den beiden Chefs einzukratzen wusste. Sich und ihn sah er in der Erinnerung an damals, als sie beide zufällig und exakt, als hätten sie sich abgesprochen, an jenem Frühlingstag des ersten Nachinflationsjahres 1924 zum ersten Mal und in derselben Absicht aufeinander stießen. Peters stand auf dem Hof und fast gleichzeitig gingen sie auf ihn zu. Er in der guten Hoffnung, er würde dem anderen vorgezogen und angenommen werden. Als wäre es vom Schicksal gewollt gewesen, waren sie gemeinsam aufgetreten und stießen sich doch sofort mit Gewalt gegenseitig ab wie Feuer und Wasser. Peters, der, wie sich herumgesprochen hatte, neue Leute suchte, nahm den linkisch ungeschickten Diener mit demselben Gleichmut an wie ihn, dem man doch eher ansah, was er an Muskelpaketen unter der blauen Arbeitsbluse trug. Peters hörte den verkrachten Diener sogar zuerst an.
Das hätte der Pächter doch auf den ersten Blick bemerken müssen, dass dieser Biederstaedt bloß ein Süßholzraspler und Ohrenkratzer war. Indessen näherte sich Fritz Biederstaedt, nach zehn Kilometern Eilmarsch, endlich dem Petersgehöft. Er fragte sich zunehmend besorgt, wie er den Pächter antreffen würde. Das Haus lag merkwürdig still da. Gewiss, die beiden Bengel, der fröhliche, hoch aufgeschossene Ernst und sein zehnjähriger Bruder Heinz drückten die Schulbank oder hielten sich bei ihren Kameraden auf. Doch auch die Ehefrau des Pächters stand nicht hinter den Gardinen. Fritz klopfte kräftig. Die Türen waren nicht verschlossen. Im dunklen Zimmer fand er sich zurecht. „Meisting!“, rief er zunächst verhalten, schließlich wesentlich lauter. Der Meister atmete doch hoffentlich noch. Schaudernd, zog er die Vorhänge zurück. Frau Peters kam über den Hof aus dem Stall, den Eierkorb tragend. Fritz eilte hinaus zu ihr.
„Fru Meistern, wie hem de Bli!“21 Ihre trüben Augen blitzten auf. „De Bli!“, murmelte sie. Der freudige Schreck war groß. „Ernst!“, schrie sie laut. Sie stürmte vorneweg. Die schon beiseite geschobenen Vorhänge zog sie noch einmal, öffnete das Fenster. Irgendwie vernahm der Pächter einen hellen Ton. Zwei schwarze Schatten ragten vor ihm auf. Er konnte sich nicht konzentrieren. Schwere Mühlräder rieben gegeneinander. Seine Frau stand unmittelbar vor ihm, mit ihren in die Seiten gestemmten Fäusten. Groß wie ein Monument erschien sie ihm. „De Bli, de Bli!“, hörte er wie ein Echo. Seine zitternde Hand fuhr über die Bartstoppeln. Er fragte: „Büst du dat, Fritz?“22
„Jo, Meister, wie hem Bli up de Grote Lank fungen. Bli, grot as de Waschbredder.“23 Peters sah verwundert diese vor dem Hintergrund gleißender Helle sich ausbreitenden Hände. Sein weißes Gesicht kam hoch. „De Bli?“, fragte er nach und fuhr, die Decke beiseite werfend, hoch. Sofort ernüchtert saß er auf seinem Lager. In seinem Kopf war ein Stachel, dessen Spitze hieß „Bleie in Massen.“ Eine Woge frischen Blutes schoss ihm in den Kopf hinein. „Woväl hett Jan schätzt?“24 „Jan Schlämann hett seggt, dat sünd drehunnert Zentner!“25 Ernst Peters ging der Mund auf. Fast flüsternd zuerst wiederholte er den Satz. Wie spät es sei, und welchen Wochentag sie schrieben? Sekunden vergingen. Möglicherweise wagte er seinen Sinnen nicht zu trauen. Innerlich bewegt, wiederholte Fritz Biederstaedt alles zum dritten oder vierten Mal. Zwei der Prachtexemplare hätte er selbst in seinen Händen gehalten. Peters stand mit einem Ruck auf. Sein soldatisch eckiger Schädel fuhr herum. Er stellte sich vor Fritz hin und dröhnte: „Is dat würklich wohr?“26
„Meister, hew  ick all eis logen?“27 Natürlich  hatte  er  mehr als einmal gelogen, sehr sogar. Aber diese unglaubliche Nachricht war die reinste aller Wahrheiten. Peters dehnte die Brust, streckte das Rückgrat. Mit vibrierenden Händen zog er die Hose an, stopfte das Hemd ins Bund, ging zum Fenster. Wenn sein Haus gebrannt hätte, oder der Himmel wäre über ihm eingestürzt, außer dieser Meldung hätte ihn nichts mehr erschüttern können. Es galt zu handeln. Seine Frau interessierte ihn nicht. Keines ihrer vielen Worte vermochte tiefer als bis auf sein Trommelfell zu dringen. „Fritz spann an!“, den Fuchs sollte er nehmen und den kleinen Schlitten. Das wusste der Alte also doch, dass nur der Fuchs mit Stollen beschlagen worden war. Seine Frau zog ihn in die Küche. Fritz bemerkte, dass er sich nicht zerren lassen wollte. Sie habe Feuer im Herd, sie wolle ihm wenigstens einen Kaffee kochen oder ein Glas Milch warm machen. Milch und Kaffee konnten warten, seine Bleie nicht. Er erkannte, dass er keine Minute seines Lebens mehr zu verschenken hatte. Er stürzte hinter seinem Knecht her. Er riss ihm im Stall das Pferdegeschirr aus der Hand, hängte es eigenhändig, allerdings mit großer Kraftanstrengung über den Kopf des plötzlich nervösen Tieres. Das Vollblut spürte, dass etwas in der Luft lag. Fritz kam nicht dazu, Peters behilflich zu sein. Selbst die Halfter schloss er persönlich, obwohl Fritz es hätte schneller machen können. Er ging  in die Remise um den Schlitten herauszuschieben.
Als Fritz das Pferd anschirrte, kam des Pächters Frau angelaufen, mit einem Beutel. Mit Gewalt musste sie ihm den zustecken. Fritz sah sie beide, den dürre gewordenen Mann mit seinem unnatürlich weißgelben Gesicht und der schwarzen Pelzmütze, der sich zitternd in den dicken Mantel einhüllte, und die untersetzte Frau mit ihrem energisch vorstoßenden Kinn. Das Tauwasser tropfte hörbar vom Dach in den grauen Schnee. Es roch nach neuem Leben. Gedankenversunken stieg Peters auf und ließ sich auf die Schlittenbank fallen.
Den ganzen Verstand eines gewieften Händlers wird er benötigen, aus diesen Massen Fisch in solchen Zeiten viel Geld zu machen.  Als sie den halben Weg hinauf zum Fangort zurückgelegt hatten, begann er laut zu rechnen. Bekäme er zweiundfünfzig Pfennige aufs Pfund, den Maximalpreis, den er je im größeren Posten erzielen konnte, dann wären das über fünfzehntausend. Die beiden Glöckchen am Wintergeschirr klingelten hell. Dumpf setzten die Hufe des fuchsfarbenen, sechsjährigen Wallach auf den Waldboden vor Meyershof auf. Es lag nur noch wenig Schnee. Übermütig und vor Kraft strotzend hielt das Pferd den Dauertrab spielend durch. Eher litten im Hause Peters die Besitzer Mangel als die Tiere.
„Föfteigendusend“ 28, bestätigte Fritz ehrfürchtig. Ernst nickte. Die Pachtsumme wäre das und die Lohnsumme, die er seinen Leuten schuldete. Ja, er würde sogar eine beträchtliche Rückzahlung an seinen Hauptgläubiger Kaufmann G. leisten können. Er wog den schmalen, harten Kopf. Aber zweiundfünfzig Pfennige würde er gewiss nicht erzielen. Sie werden ihn erheblich unter Druck setzen. Die Großhändler würden selbst viel verdienen wollen. Höchstens vierzig aufs Pfund werden sie herausrücken, diese Geldsäcke. Ihre Habgier würde seine Hoffnungssumme gewaltig senken und doch seinen Fortbestand sichern.
Wenn er nur erst vor Ort wäre, um seine Fische zu sehen. Die Kufen sirrten. Noch war es taghell. Aber die Sonne ging in spätestens anderthalb Stunden unter. Unaufhaltsam rückten die Uhrzeiger vor. Sie mussten sich sputen. Und was wäre, wenn ihm die Stettiner und die Berliner Fischgroßhändler das Fell vollends über die Ohren zögen? Und was, wenn der Wadensack ein Loch hat? Doch die düsteren Gedanken die er monatelang nicht losgeworden war, die sich nur vor dem plötzlichen Neulicht in eine unbekannte Ecke zurückgezogen aber nicht verloren hatten, fühlten sich plötzlich wieder hervorgelockt und warfen sich gnadenlos über ihn. „Hüh!“, schrie er und knallte mit der Peitsche. „Wier dat Tüch all morsch, Fritz?“29 Das Sackzeug zumindest sei nagelneu und ganz stabil. Der Wadenmeister hätte die Winterfischerei mit dem Reservesack begonnen. „Jo, up Jan is Verlot!“30 Mit der Rechten fuhr er wiederholt über die Bartstoppeln. Du wirst kein Trinker, schwor Fritz Biederstaedt sich. Er ahnte, wie wüst es in dem Manne aussah, der neben ihm unruhig hin und her ruckte, als säße er auf Kohlen. Auf der Höhe von Deep Uhlentoch berührten die Schlittenkufen zum ersten Mal den See. Da lag ein wenig zusammengetriebener Schnee. Nun kamen gleich die Fänger und das Geschirr in Sicht. Endlich vor Ort angekommen empfingen ihn viele strahlende Gesichter. Es hatte sich bis ins Dorf hinauf herumgesprochen. Gelangweilte und  Neugierige waren gleichermaßen hinunter geeilt. Hausfrauen in ihren dünnen Mäntelchen standen frierend beieinander. Die Weidenbügel ihrer Fischkörbe unter den Arm geklemmt, warteten sie geduldig. Billiger kämen sie nie wieder zu einer Mahlzeit. Hier und da lagen Plötzen auf dem Eis herum, man konnte Glück haben, einige hinzusammeln zu dürfen. Schlämann erwartete seinen aufgeschreckten Herrn am Eisloch. Ernst Peters kam langsam näher. Seine Gedanken eilten seinem ungelenk gewordenen Körper voraus. Auffallend unsicher schritt er über das weiße, vom Aufzugswasser beleckte Eis. Er schaute seinen Wadenmeister nur kurz und freundlich an, starrte dann, an ihm vorbei aufs dunkle Wasserviereck. Er nickte, als hätte er nunmehr eine deutlichere Vorstellung von den Fischmassen. Da schwammen sie, die lange ersehnten Bleie, lauter breitrückige, fast schwarze Riesen. Greifbar nahe sah er sein Geld vor sich. Wie mit Quirlen wühlte es in seinem Hirn. Auf die Idee, Schlämann und den Männern zu danken, kam er nicht. Seine Mundwinkel hingen herunter. Dann murmelte er zweimal: „Schöne Bli!“ Das war den Fängern genug Lob. Sie kannten und mochten ihn eigentlich. Sie werden, ohne  ihn  zu  fragen, jeder zwei, drei der Prachtexemplare in den Rucksack einpacken und dann wird es ein paar Festessen geben. In Biersoße gekochte oder saure, auch in Petersiliensoße zubereitete oder gebratene Seitenstücke. Dazu wird es Pellkartoffeln geben, und vom Gastwirt eine Kanne Bier für einen Extrablei. Die Verwandtschaft wird später etwas abbekommen, in den nächsten Tagen, wenn die Fische ausgekeschert werden. Das wird dauern, diese dreihundert Zentner abzuwiegen, einzukisten und zur Bahn zu schaffen. Viele Gelegenheiten werden sein, von denen der Alte nichts bemerken musste. Was hätten ihm die vielen, herrlichen  Edelbrassen genutzt, wenn ihnen nicht gelungen wäre, sie für ihn zu fangen? Außerdem erhoben sie Anspruch auf den Beifang in den Flügeln. Fritz Biederstaedt kutschierte den Alten umgehend hinauf ins Dorf Alt- Rehse. Jetzt mussten Ferngespräche geführt werden. Der Gastwirt  und der Pastor besaßen Telefone. Aber allemal zog Ernst Peters den Dunst einer Kneipe dem Geruch von Frömmigkeit vor. Mit M. und M. in Stettin wünschte er zuerst zu verhandeln, dann mit den Reicherts. Er nahm sich vor, nüchtern und gelassen zu reden, mit mannhaft fester Stimme, mit jenem Ton auf der Zunge, der den Großhändlern vorgaukeln sollte, dass er ihr Geld eigentlich nicht benötige, sie dagegen vermochten in diesen schweren Zeiten nur zu bestehen, weil es Männer wie ihn gab.
Das Fernamt brachte die Verbindung glücklicherweise schnell zustande. Er stotterte. Eigentlich wollte er sagen, er habe bereits Angebote erhalten, bessere als sie ihm je würden unterbreiten können. Doch er spürte, wie sie am anderen Ende der Leitung die Ohren spitzten. Sie wussten, dass er unter Druck stand. „Wat denn Herr Peters, sie wolln uns dreihunnert Zentner Plieten andrehen? Da machen se mal nen Punkt. Fünfzig Pfennge vor de Jrätendinger pro Pfund? Ick lach’ mir nen Ast. Fünfunddreissig  sind schon füll zu fülle.“ Die Reicherts boten gar nur zweiunddreißig Pfennige aufs Pfund bei Frankolieferung. Ernst stellte sich die furchtbare Frage, ob etwa die Haffgewässer schon eisfrei waren, vielleicht  durch den Schiffsverkehr. Gegen alle Logik drängte sich ihm diese Befürchtung auf. Dann musste er sofort zuschlagen. Ihm wurde schwarz vor Augen. Die Transportkosten abgezogen und dann noch vielleicht ein Loch im Wadensack. Dann war der ganze herrliche Raub wie ein Schlag ins Wasser. Er dachte allerdings auch, sich selbst beschwichtigend, dreißig effektive Pfennige sind besser als Nichts. Nur mit Mühe beherrschte er seine Zunge. Aus der plötzlichen Panikstimmung heraus hätte er fast zugegriffen.
„Na, denn nich Herr Peters, ick muss ja schließlich auch leben. Leben und leben lassen, Herr Peters.“
Diese Artigkeit nahm ihm die Luft. Wenn Berlin ihm jetzt einen Korb gab, dann musste er mit dem Preis in den Keller gehen. Als er sich mit Grüneberg, Berliner Markthallen, verbinden ließ, wummerte sein Herz. Zehntausende, hunderttausende Bleiesser wohnten in Berlin, die steinreichen Juden, vielmehr als in Stettin. Fischkenner, die aus „Plieten“ eine Delikatesse zu bereiten wussten, weil die Jüdinnen durch Generationen hindurch einander von Mund zu Mund die perfekten und geheimen Rezepte übermittelt hatten.
Am anderen Ende meldete sich der Prokurist des bekannten Großhändlers Grüneberg im freundlichen Ton: „Ich habe schon seit vierzehn Tagen auf ihr Angebot gewartet. Berlin nimmt ihnen jeden Heringsschwanz ab.“ Das klang wie Himmelsmusik. „Auch Bleie?“
„Wenn sie groß sind, bis fünfhundert Zentner, ohne mit der Wimper zu zucken!“ Ernst presste den Hörer aufs Ohr und sagte: „Ganz so viele habe ich nicht!“
„Her damit. Fündundachtzig Pfennige. Ich gebe ihnen auch neunzig pro Kilo, aber franko, mein Herr!“ Im Hirn des Pächters hämmerte es: Nur ein Groschen weniger als sein Wunsch. Dreizehntausendfünfhundert! Er wusste es plötzlich. „Top!“, dröhnte Ernst in die Sprechmuschel hinein, als hätte er Angst, sein Verhandlungspartner könnte das schnelle Wort noch bereuen. Pro Tonne Neunhundert. Das war zwar nicht sein Hochziel, aber nach den Stettiner Angeboten fast paradiesisch.
Sie jagten wieder hinunter zum See. Ernst Peters knallte mit der Peitsche. „De Bli, Meister Meltzen, hem doch goldne Flossen!“31 Fritz Biederstaedt sah und hörte den Pächter seit Jahr und Tag zum ersten Mal wieder lachen.
Es begann zu dunkeln. „Morgen früh um sieben fangen wir an zu verladen.“ Und:  „Wer steht die Nacht hindurch Wache?“
Neumann schielte nach Fritz Biederstaedt. „Na Lackel? Wer macht jetzt die Punkte? Wem wird er wohl das Vertrauen aussprechen?“ Eine Weile zögerte der kräftige Karl noch, dann riss er die Hand hoch. Die Männer nickten heimlich spöttisch, das hatten sie gewusst, wenn es einen Dummen gibt, dann meldet er sich auch. So war das im Leben.
Als die zehn Männer, unter ihnen der schulschwänzende Primaner Ernst, am nächsten Morgen wieder um die Landzunge des Rehser Eck bogen, sahen sie den aus der Entfernung klein erscheinenden Karl Neumann vor einem riesigen, halbrunden und blau schimmernden Eisloch stehen. Die jüngeren, noch unerfahrenen Fischer  rissen ihre rauen Münder auf, mit dem ganzen Ausdruck von Entsetzen. Wadenmeister Schlämann lachte. Das kannte er. Die Menge wirbelnder Fischschwänze hatte das Eis stundenlang unterspült und zermürbt. Die Großfische hatten sich Luft und Licht verschafft. Es war allerdings die Bestätigung, dass alles in bester Ordnung war. Die Fische hatten keinen Ausweg gefunden. Zwei volle Arbeitstage lang kescherten die Männer, wogen und verluden die zappelnden, sich vergeblich wehrenden Prachtbrassen und schafften sie mit schweren Ackerwagen zur Bahn. Junior Ernst machte wie ein Alter mit, rannte, die gefüllten Fischkiepen schleppend, mit Biederstaedt um die Wette. Sieben Jahre trennten sie, doch es verband sie die gemeinsame Lust am Plaudern. In der Stadt indessen ging es wie ein Lauffeuer um: Peters hat die Bleie. Man konnte es auch in der Presse lesen: Große Bleie zu kaufen bei Ernst Peters am Oberbach. Seinem ärgsten Gläubiger liefen wahrscheinlich Schauer des Entzückens über den Rücken: „Der liebe Gott verlässt einen redlichen Geldborger nicht!“
Die Dreihundertzentnergrenze war längst überschritten, die Städter außerdem versorgt worden, legal und illegal, doch der Segen nahm noch lange kein Ende. Immer noch sprudelte es aus dem Wadensack heraus. Es schien, dass die Fische immer größer wurden. Dieses Wunder allerdings war keins, denn die stärksten Fische drängten und verdrängten aus der äußersten Fluchtnische stets die schwächeren. Als auf dem Notizblock des Wadenmeisters, die Vierhundertzentnersumme erschien und überschritten wurde, ging der hochgewachsene Schlämann auf den „Alten“ zu und gratulierte ihm. Das Selbstwertgefühl steifte seinen Rücken. Sie hatten durchgehalten, obwohl auch er in diesen furchtbaren Wintertagen der Verzweiflung manchmal sehr nahe gewesen war. Seinem strahlenden Gesicht war anzusehen, dass er eine seiner Maximen dachte: Vom letzten Zoll einer Durchhaltestrecke hängt die Entscheidung ab, ob gute Vorsätze zum Ziel führen oder nicht.
Eine Stunde später erhielt der Alt-Rehser Gastwirt einen Anruf aus Berlin. Die Fischgroßhandelsfirma Grüneberg bestätige Herrn Peters die von ihm deklarierte Qualität der Brassen mit Dank. Der Gastwirt schickte einen Boten hinunter. Als Peters diese Nachricht entgegen nahm, fühlte er sich minutenlang schweben. Das Glücksgefühl riss ihn hin zu sagen, dass sich jeder Mann zwei Bleie einsacken dürfe, obwohl er wusste oder zumindest annehmen konnte, dass sie sich bereits eingedeckt hatten. Das erschreckte sie. So kannten sie den berechnenden Mann nicht. Ehe er seine Großzügigkeit bereute, schlugen sie zu und hofften nur, dass er sie das nicht irgendwie abbüßen ließe.
Ernst Peters, nachdem er fast zwanzigtausend Goldmark kassiert hatte, dachte er daran zunächst seine Gläubiger zu befriedigen. Als zweites würde er zur Kämmerei gehen und die Talerchen dort mit Genuss auf den  Tisch legen. Dreimal hatte er es durchgerechnet, es verblieben ihm trotz alledem fast sechstausend.
Zuerst aber ging er zu seinem Hauptquäler, der ihm das Leben vergällt und zur Hölle gemacht und ein Gutteil dazu beigetragen, dass er sich schließlich den Strick zurechtgelegt hatte. Ernst Peters sah die Szene im Voraus, wie G. sich bemühen würde, den Eindruck zu verwischen, den er mit zahllosen rigorosen Auftritten hinterlassen hatte.
Und so geschah es! 
Als Kaufmann G. den Batzen Bargeld samt den Zinsen in seiner Hand hielt, atmete er tief durch und beteuerte mit weicher Stimme, als hätte er Kreide gefressen, das hätte doch noch Zeit gehabt.
Ernst Peters dachte sich seinen Teil. Als sein Gegenüber ihm auf die Schulter klopfte und sich auch noch verneigte, durchfröstelte es ihn. Diese Gesten galten nicht ihm. Dieses Bücken war nicht entschuldigend gemeint.
G. tat es nicht als wiedergewonnener, alter, neuer Freund, wie er glauben machen wollte. Ausschließlich dem Geld galt seine ganze widerliche Unterwürfigkeit. Nichts und niemanden anders als der Geldmacht hatte G. sein Leben lang von Herzen gedient.
Peters hätte fünfzig Mark draufgegeben, wenn er nur eine Minute lang all die niederträchtigen  Gedanken des anderen hätte lesen können.

SS marschiert


Ein milder, glückhafter Frühling folgte. Die Reusen auf der Lieps fingen ungeahnte Fischmengen, vor allem Hechte. Fritz Biederstaedt war jedesmal überrascht, wenn er den Steertpfahl einer neuen Reuse zog. Grünbraun wälzten sich zwischen den peitschenden Aalschwänzen die armlangen Laichhechte. Nie zuvor kauften die Bürger wie in diesen Wochen. Alles lief gut. Auch der Verbindungsgraben, den der jeweilige Pächter des Tollensesees gemäß einem uralten Privileg mit Reusengeschirr verstellen durfte, erwies sich als Goldfluss. „Der alte Graben“ wurde diese Fischhauptstraße im Unterschied zum „Neuen Graben“ genannt. Diesen hatte der Großherzog von Mecklenburg-Strelitz auf seine Kosten graben lassen müssen, weil der damalige Pächter ihm die Durchfahrt verwehrte und nach der Klage vor dem Landesgericht sein Recht behielt.
Beide Kanäle verliefen zwischen dem großen und tiefen Tollensesee sowie der flachen, sich wesentlich schneller erwärmenden Lieps. Da sich das wärmere Liepswasser alljährlich im Frühjahr weithin als Lockstrom in den noch kalten Tollensesee ergießt, schwimmen ihm Barsche, Plötze, Hechte entgegen um an einem freundlicheren Ort Fischhochzeit zu halten. Allerdings baute der besitzergreifende Mensch zwischen Fischsehnsucht und Erfüllung gemeine Hindernisse und Fallen auf und sortierte die Gefangenen  aus nach seinem Gutdünken. Die kleinen Zukunftsträchtigen ließ er passieren, die ausgewachsenen Exemplare waren dem Tod geweiht. Schlämann, wenn er allmorgendlich die in den Reusen gefangenen  Mengen entgegennahm und sie teilweise in die hölzernen Fischkästen umfüllte, schüttelte den Kopf ungläubig und murmelte mehr als einmal vor sich hin: Ein Glück kommt selten allein! Er konnte sich nicht erinnern, dass jemals so viele Fische in vergleichbar kurzem Zeitabschnitt gefangen wurden. Fritz Biederstaedt genoss es in jenem Jahr in vollen Zügen, Fischer geworden zu sein. Er roch nicht die stinkenden, seit einigen Nächten in den Maschen verendeten und feststeckenden Fischkadaver, die er mit Gewalt ausschütteln musste.
Nach dieser unangenehmen Arbeit wusch er sich und atmete tief die Mailuft ein, die zwischen den ihn umgebenden grünenden Birken und Erlen wehte. Er liebte die Schönheit der Landschaft und freute sich der Fischmengen, die er überlistet hatte. Er erfreute sich des besseren Lebens, auch der besser ausgestatteten Wohnung, da er um einen geringen Preis ein paar Möbel erwerben konnte. Jedesmal, wenn er nach getaner Arbeit den schmalen, leicht am Ufer dahingleitenden Kahn mit einem Stakruder heimwärts schob, malte er sich das Bild aus, wie seine Inge im Korbstuhl vor dem Fenster und der Geranienbank saß. Immer wenn er zurückfuhr, dachte er, wie gut es das Leben mit ihm gemeint hatte. Denn wäre er nur zehn Jahre früher geboren worden, wie sein ältester Bruder Paul, dann läge er jetzt an seiner Stelle unter dem Boden vor Verdun, wo die kaiserlichen Generäle zehntausende deutsche Jungen sinnlos ins Trommelfeuer der Franzosen gejagt hatten. Die bösen Jahre lagen zum Glück weit zurück.
Dann kam die Zeit, in der die ersten Hakenkreuzfahnen in der Stadt wehten. Bunter wurden durch sie die von grauen Hausreihen beherrschten Straßenzüge. Öfter als sonst sah man fröhliche Gesichter. Bloß Schlämann meckerte: „Dat dömliche Tüchs wat uns noch veel Arger moken!“32
Das mitunter scharfe Spötteln über die Nazis sei Schlämanns Verschrobenheit zuzurechnen, glaubte Biederstaedt und der Junior stimmte ihm zu.
Als es 1936 keine Arbeitslosen mehr gab, hörte Fritz Biederstaedt die Leute auf den Straßen und Plätzen immer dasselbe reden. Nun sei es wieder fast so gut wie zu Kaisers Zeit geworden: Heil Hitler!
Pächter Peters gab ein rauschendes Fest. Der vierundzwanzigste Geburtstag seines Ältesten wurde aufwendig gefeiert.
Eigentlich war das Ereignis nur ein Anlass zum Feiern unter vielen. Möglicherweise hätte sich Ernst Peters senior vor dieser Festlichkeit sogar gedrückt, wenn ihm eine gute Ausrede eingefallen wäre. Denn Vater und Sohn mochten einander nicht. Dem Vater war sein ältester Spross, der junge Fischereigehilfe, der kurz vor seiner Meisterprüfung stand, zu zimperlich, dem Sohn der Vater zu poltrig, allzu ungehobelt, zu laut.
Auch an diesem Tage gingen sie sich unübersehbar aus dem Weg und blieben einander ein Ärgernis.
Fritz schien, es würde zwischen beiden immer schlimmer. Wenn Ernst Peters junior aus seinem Zimmer kam, ging er blicklos an seinem auf dem Hof umherkrakelenden Vater vorbei, stieg in den Heuer, gab den Leuten ein Zeichen, kurbelte den Motor an, legte den Gang ein, fuhr los ohne den Alten zu fragen. Fritz Biederstaedt litt unter diesem Zerwürfnis seiner Chefs. Einerseits liebte er den echt aristokratisch wirkenden Sohn, andererseits mochte er den Senior, der seine Rolle als pedantischer Unteroffizier aufregend widersprüchlich spielte, weil die Liederlichkeit seiner Erscheinung nicht zu seinem Anspruch passte, denn manchmal hielt ihm nur ein Bindfaden die Hosen auf den Hüften. Doch niemand konnte es dem ehemaligen Rekrutenausbilder recht machen.
Vater und Sohn  befanden sich nur in einer Hinsicht  in gewisser  Übereinstimmung. Politik interessierte sie nicht. Beide meinten, jeder auf seine Weise, sie seien nur urdeutsch.
Fritz Biederstaedt, der auch an diesem Geburtstagsnachmittag und am Abend dienerte, richtete seine Meinung nach der seiner Vorgesetzten aus. Umso mehr schmerzte ihn die schneidende Härte, mit der sich die beiden Petersmänner behandelten. An diesem neunten Oktobertag kamen, um den angehenden Fischermeister Ernst junior zu gratulieren, auch zwei seiner ehemaligen Schulkameraden in schwarzer SS-Uniform. Sie schüttelten ihm übermütig die Hände. Der eine rechts, der andere links. Hoch soll er leben! Halb im Scherz meinten sie schließlich, bei seiner sportlichen Figur mit Gardemaß würde ihm ihre Uniform gut zu Gesicht stehen und es wäre hoch an der Zeit für ihn, sich richtig zu entscheiden. Jeder anständige Deutsche würde die Farben seines geliebten Führers tragen, braun oder schwarz. Schwarz sei auf jeden Fall besser, wenn man sich den Pöbel anschaue, der in Braun ginge. Schwarz sei die deutsche Elite. Deshalb jedenfalls wären sie überzeugte SSler.
Einer der beiden, Bäcker H., nun ein angehender Gerichtsassessor, frozzelte, Ernst junior solle es lieber doch nicht tun, denn schon jetzt würden ihm die Herzen der meisten Mädchen der Stadt zufallen. Dann verdrehe er ihnen ganz und gar die hübschen Köpfe und sie beide wären trotz ihrer feschen Uniformen abgemeldet. Ernst junior war verlegen und zugleich heimlich stolz auf sich. Er wusste, dass er nicht nur gut aussah, sondern einfach gut war, gebildet und menschenfreundlich, dass er, wenn er hoch zu Ross ausritt, bewundernde Blicke auf sich zog. Wie viele Menschen grüßten ihn! Wie viele würden ihn dann vielleicht bewundern. „Reitet für Deutschland.“ Jemand hatte ihn mit dem Hauptdarsteller dieses Filmes, Willy Birgel, verglichen, dem er ein wenig ähnelte. Ein paar Sekunden lang wünschte er eine Steigerung seines Glücksgefühls und stellte sich vor, was er noch erreichen könnte. Alles musste besser werden, das schuldete ihm das Leben. Und so erwärmte ihn plötzlich der Gedanke, dass auch seine Zukunft, dank des Führers Adolf Hitler groß und bunt wie ein Garten Gottes vor ihm und der deutschen Jugend lag. Nie zuvor hatte er das so lichthell empfunden.
Tante Ilse, die seinetwegen von Berlin gekommen war, eine Volljüdin, zog ihren Neffen Ernst junior nach dem vorabendlichen Kaffeetisch beiseite. Sie gingen in die Veranda, setzten sich nebeneinander. Die Glastür stand offen. Wenige Schritte von ihnen entfernt tanzten seine fröhlichen, jungen Gäste einen Foxtrott zu plärrender Musik aus dem Grammophon. Die unbequemen Jacketts hatten sie ausgezogen, die Mädchen in den Arm genommen und sie setzten die Beine im Rhythmus von „Liebe Lotte“. Fritz sah die elegante Frau neben dem schönen Ernst sitzen. Sieh mal an, dachte er. Er hätte zu gern gewusst, was sie miteinander tuschelten.
„Hand aufs Herz, Junior, wie vielen deiner Kameraden hast du anvertraut, dass ich Jüdin bin?“
Ernst junior verstand sie nicht oder wollte sie nicht verstehen. Doch als sie seinem Verständnis ein wenig nachhalf, legte Ernst tatsächlich die Hand aufs Herz. Seine germanischblauen Augen leuchteten. “Tante Ilse, von mir wird niemand  jemals etwas erfahren!“
„Niemals?“ „Niemals!“, sagte er und hob die Rechte zum Schwur. Sie griff behutsam nach dieser Hand und holte sie mit sanfter Gewalt herunter. Mit kleiner Geste winkte sie ab. Ihre freundlichen dunkelbraunen Augen suchten seinen Blick. „Nie schwören, Ernst, wir sind alle nur Menschen. Dein Wort reicht mir.“
Weich von Gemüt, sah Ernst sich außerstande, viel zu reden,  seine Lidwinkel füllten sich mit Wasser. Er neigte sich über ihre Hand und küsste ihre Finger. Er wusste tief in seinem Herzen, dass Juden bessere Menschen als die Christen waren.
Aber er wusste natürlich auch, dass der ungewöhnlich kluge Jude Rosenstein sein Geschäft am Markt vor Jahresfrist aufgegeben hatte und in die Emigration gegangen war. Seiner Meinung nach war der Mann aus kaum begründbarer Furcht geflüchtet.
Biederstaedt hielt es nicht mehr an seinem Platz. Er ging auf die beiden zu mit einem Tablett. Er bot ihnen Champagner an. Das war jedoch, wie er schnell bemerkte, kein Techtelmechtel zwischen den beiden. Aber was war es dann?
Ein kleiner Hintergedanke blieb. So küsste man einer Tante nicht den Handrücken. Fritz Biederstaedt wollte das Geheimnis herausfinden und hielt seine unverschämte Neugierde für eine Tugend.
Gern trug er weiße Handschuhe, die seine unbedingte Sauberkeit belegten. Viel zu selten gab es Gelegenheiten, sie zu tragen. Mit Hingabe bewies er an jenem Abend seine noch nicht verlernte Dienerkunst. Elegant wie ein Oberkellner balancierte er die Speisen. Mit den in Berlin auswendig gelernten Floskeln umschmeichelte er zu deren Verwunderung die Gäste des späten Abends. Sogar dem Gutsbesitzer von Neverin, der zu später Stunde hereinkam, fiel er auf. Fritz war überglücklich zu hören, wie sie den Pächter seinetwegen lobten. Man hob an zu singen. Die Gäste waren beschwipst, Ernst junior angeheitert, Vater Ernst betrunken.
Die leichten Disharmonien überhörten sie. Wie Minuten verrannen die Stunden. So erschien den Gastgebern der ganze Abend rundum gelungen.
Irgendwann nach Mitternacht stellte Diener Fritz ermattet das Tablett ab und da er sich ungestört glaubte, trank er hastig hintereinander ein paar Gläser Wein, schlief im Sitzen eine Weile, schrak dann jedoch zusammen. Das hätte er sich in Berlin nie erlauben dürfen. Er erhob sich, nahm eine der vier SS-Mützen vom Garderobehaken des Flures und betastete mit seinen Handschuhen die Totenkopfkokarde und den darüber angesteckten silbernen, flügelausbreitenden Reichsadler. Er setzte die Kopfbedeckung auf. Sie war ihm zu groß. Fritz nahm eine andere. Auch die rutschte über seine stark fliehende Stirn auf die kräftigen Augenwülste. Er trat vor den Spiegel und lachte. Wie ein Clown sah er aus. Wer sich wohl diesen Blödsinn mit dem silbernen knopfgroßen Totenschädel und den gekreuzten Beinknochen ausgedacht hatte? Dieses Emblem konnte niemand für voll nehmen.
Er ahnte nicht, dass dieses Zeichen den Weltuntergang bereits heraufbeschworen hatte, ahnte auch nicht, dass es im westlichen Ausland genügend sonst nicht unbedeutende Berufspolitiker gab, die darüber, ihrem Kenntnisstand zum Trotze, naiv wie er dachten. Gerade als er die Uniformmütze zurücklegen wollte, kamen als Kette zwei Mädchen Arm in Arm mit den beiden jungen SSlern und Ernst Peters junior, leicht schwankend und harmlos lachend auf den Flur. Schade, schade, sangen sie, ein wunderschöner Tag sei nun zu Ende. Übermütig nahm eines der Mädchen dem Diener Fritz die Mütze, die er ausprobiert hatte und soeben zurücklegen wollte, aus der Hand und setzte sie dem Geburtstagskind verkehrt aufs Haupt. Ernst lächelte freundlich.
„‘ne Jacke fehlt Dir noch!“, meinte das andere Mädchen. „Zieh sie mal an, meine passt Dir bestimmt!“, ermutigte ihn daraufhin spontan einer der  beiden SS-Angehörigen. Ernst jun. gehorchte. Die Jacke passte ihm wie angegossen. Ernst schloss gerade die Knöpfe, als Schlachter Gau den Flur betrat. Der war Hauptscharführer. Sein Blick fiel sofort auf den verunzierten Kopf des Fischersohnes, den anzufauchen er sich nie erlaubt hätte. Wütend fuhr der ortsgewaltige SS-Führer ersatzweise seinen Unterscharführer H. an, man verhohnepipele die heiligen germanischen Symbole nicht. Da höre bei ihm jeder Spaß auf. Sätze, kurz und hart wie Ohrfeigen. Beide SS-Jungen rissen die Knochen zusammen. Ernst tat es nicht, er rückte zunächst seelenruhig nur die Mütze gerade. Das verwandelte ihn enorm. Er spürte, dass alle Blicke anerkennend auf ihm ruhten. Da noch erwartungsvolles Schweigen herrschte, nahm auch er halb unwillkürlich, halb widerwillig Haltung an, drückte das Rückgrat durch. Schlachter Gau murmelte etwas, schien unerwartet besänftigt, betrachtete Ernst mit großem Wohlgefallen. Seine Augen leuchteten. Er stemmte seine Fäuste in die Hüften.
Das Bild begeisterte den Mann. So hatte man sich den Bilderbuchgermanen vorzustellen. Intelligent, zackig und absolut gehorsam. Kaum spürt der Herrenmensch die Uniform auf dem Leib, nimmt er Haltung vor dem Oberherren an. So war das. Mit diesen Kerlen konnte man die Welt aus den Angeln heben. „Rührt euch, Männer!“, kommandierte der robuste Fleischer bemüht freundlich. „Einsfünfundachtzig, wie?“ Ernst junior nickte: „Nicht ganz, Herr Hauptscharführer.“ „Jawohl!“, bestätigte Gau „der Führer macht euch alle größer!“ Das war es, was Ernst Peters junior in diesen wenigen Augenblicken empfand und auf eine Weise begriff, die ihm selbst unerklärlich schien. Es war ein inneres Leuchten, nicht grell, eben angenehm. Deutschlands Glanz und Größe! Das ging ihm ins Blut. Eine Melodie vom Heroismus. Nur Fritz Biederstaedt erschrak, als er seinen Freund Ernst junior so verändert unmittelbar vor sich stehen sah. Da gab es, seinem Empfinden nach, nichts mehr zu lachen. Diese beiden schwarzen Kleidungsstücke hatten den feinen, freundlichen Ernst für ihn  unerwartet in einen arrogant wirkenden Bengel verwandelt.
In den sonst leger auftretenden Zivilisten schien auf einmal ein Geist von unerbittlichem Gewissen und Schneid gefahren zu sein. „Komm zu uns!“, lockte Herr Schlachtermeister Gau sofort, überzeugt, dass dem großen Pächterssohn zwar zufällig, aber definitiv die vorgeschriebene Lebensrolle auf den Leib gerückt war. Zufällig hatte inzwischen Heinz, der siebzehnjährige Bruder von Ernst, die Szene betreten. Seine Augen bewundernd auf den älteren Bruder gerichtet, die Hacken zusammenreißend, rief er aus: „Jawohl Hauptscharführer, wenn sie befehlen, dann kommen wir!“
„Grünschnabel!“, flüsterte Ernst, im Ton verbindlich, zog ohne Hast die Jacke aus und hängte die Mütze auf den Garderobenhaken. Als Heinz dicht neben ihn trat, möglicherweise um seinerseits zu probieren, ob er sich als schwarzer SSler gefallen würde, sagte Ernst leise: „Halte Dich bitte zurück!“ 
Nachdem sich die Gäste überschwänglich bedankt hatten und davon gegangen waren, suchte Ernst seinen Freund Fritz.
Müde hockte Diener Fritz Biederstaedt im Korbstuhl und sehnte sich nach seinem Bett. Ernst junior sah ihn, ging auf ihn zu. Als Fritz aufschaute bemerkte Ernst die Ablehnung in Biederstaedt offenem Gesicht. Der stille Vorwurf störte ihn. Ernst war plötzlich zumute als fielen Wermutstropfen in seinen Sekt.
Beschwichtigend legte er ihm die Hand auf die Schulter, drückte ihn zurück auf den Sitz und sagte leise: „Fritz, du brukst di dorbi nix to denken.“33 Er würde niemals ein Nazi werden,  was auch geschehen würde. Niemals!
Als Ernst junior sich in sein Zimmer begab, schimmerte noch lange um ihn herum das Licht des unvergesslichen Abends.
Die vielen Komplimente waren ihm zu Herzen gegangen - und zu Kopf gestiegen. Die SS riss sich ja geradezu um ihn. Er dachte es plötzlich deutlich: „Warum nicht? Wenn ihr wollt, dann komme ich eben!“
Tief in Gedanken versunken stellte er sich vor dem Einschlafen die beiden bildhübschen Neubrandenburgerinnen vor und fragte die beiden Schemen, ob sie ihm zustimmen würden. Das war keine Frage. Sie waren  begeistert von seinem mannhaften Entschluss. Schon eindämmernd stellte Ernst sich das Bild vor, wie sie mit ihm auf der Palais-Straße spazieren gingen, Neid weckend. Wenige Tage später war es soweit. Ernst junior schritt hochaufgerichtet und in blitzenden Lederstiefeln als forscher SS-Mann über den Hof. Alle, außer Schlämann, sagten, keinem stünde die schwarze Uniform so gut zu Gesicht wie ihm. Ernst glaubte es. Er wusste es. Und dieses Wissen veränderte ihn.
Die Schlagzeilen in der Presse schienen auf ihn plötzlich nicht mehr abschreckend zu wirken. Jedenfalls beteiligte Ernst junior sich nicht mehr an den Spötteleien. Er sehe die Dinge mit neuen Augen.
So bestätigte sich für seinen Freund Fritz Biederstaedt, dass wahrscheinlich jedermann plötzlich kurz- und schiefsichtig werden kann. Jan Schlämann sagte Ähnliches, allerdings sehr leise. Der Junior zeige bereits die ersten Symptome einer speziellen Sehschwäche, die in ganz Deutschland grassierte. Einige Äußerungen des jungen Ernst ließen tatsächlich den Schluss zu, dass er krank war. Er ging, als hätte er einen Stock verschluckt. Neuerdings übersah und überhörte er auch, dass die Leute “Guten Morgen” sagten und wie üblich grüßten.
„Heil Hitler!”, erwiderte Ernst wohl zehn mal am Tag. Auch andere Zeichen des Wandels fielen auf.
Plötzlich wurden auf dem Petershof statt der kleinen Hakenkreuzfähnchen, große Flaggen gehisst. Die Zivilisten, solange in der Überzahl, wurden durch Uniformierte verdrängt. Nichts schien mehr wie zuvor zu sein. Noch vor wenigen Wochen hatte Ernst junior mit Fritz darüber gelästert, dass seine ehemaligen Klassenkameraden sich in ihrer albernen Kledasche und mit diesen unnatürlichen Bewegungen abfanden. Es war noch gar nicht so lange her, als sie mit dem Fischereiwagen an den draußen im Blumenborn exerzierenden SSlern vorbeigefahren waren und herzlich über die paradierenden Bengel mit ihren ungelenken Beinen gelacht hatten. Freiwillig mitmachen? Niemals!
Ernst junior hatte noch vor drei Wochen nichts dagegen gehabt, dass Jan Schlämann Hitler für einen Popanz hielt und das auch sagte. Doch all das, galt plötzlich für ihn nicht mehr. Dass die Nazis primitiv seien, war nicht mehr wahr.
Jetzt argumentierte Ernst: „Unser Führer hat allen Brot und Arbeit gegeben. Guckt euch an, was Adolf Hitler aufgebaut hat! Deutschlands Aufstieg hat begonnen. Die Reichsautobahn, die Siedlungen...“, „und die Rüstung”, setzte Schlämann leise hinzu.
Beide, der Junior und Biederstaedt bekamen es wohl mit. Doch Ernst entwertete auch diesmal Schlämanns kritische Anmerkung.
Deutschland sei auf Friedensmission.
Er gab wirklich eine hervorragende Figur ab. Sein leuchtend blondes Haar kontrastierte zu dem Schwarz seiner nagelneuen Uniform. Er lachte wie früher, schaute wie früher harmlos in den Tag hinein, aber er war nicht mehr derselbe.


Krieg möt dat gäben! 34

Vergeblich fischten in jenen Wochen und Tagen die Volksgenossen und Herren Arbeiter. (Hitler hatte tatsächlich alle offizielle Knechterei abgeschafft.) Das tat dem Großpächter zunächst nicht weh. Er verfügte zwar über beträchtliche finanzielle Reserven, doch allmählich nervte es ihn, zuschauen zu müssen, dass die Kette der Misserfolge immer länger wurde. Denn er verärgerte seine Stammkunden mit der ständigen Wiederholung seiner für faule Ausreden gehaltenen Beteuerungen: „Miene Lued fängen in Oogenblick nix.“35 Er musste im Umkreis Fische aufkaufen. In solchem Umfange war das noch nie nötig gewesen. Da entstanden allmählich die sonderbarsten Mutmaßungen. Aberglauben, der wieder einmal nahrhaften Boden fand, machte sich breit und trieb seine seltsamen Blüten. Nur Fritz Biederstaedt brachte noch in nennenswerten Mengen Fische heim. Große Hechte, die er mit der Hechtschnur, quer über den See ausgefahren, gefangen hatte. In  Abständen  von fünf  Metern zweigte eine halb meterlange  Mundschnur ab, an der jeweils an einem Haken des kräftigen Drillings Plötzen als Köder gesteckt worden waren. Der Fänger genoss natürlich das Vergnügen, jeden Morgen zehn, zwölf stattliche und um ihre Freiheit kämpfenden Fische in den Kahn hineinzuhieven. Doch wer kaufte schon diese Riesenraubfische? Die Situation war für den Fischereipächter Peters sehr unangenehm. Da gäbe es in einem der Wieckhäuser eine Pusterin und Wahrsagerin. Die müsste man mal befragen. Ein Kind, das mit vierzig Fieber  im Kinderwagen zu ihr hingeschoben wurde, verließ sie, wie erzählt wurde,  fünf Minuten später fieberfrei.  Gewusst, wie man Schmerzen und permanente Misserfolge wegbläst. Jedenfalls war es nicht  einfach für Ernst sen., sogar seine besten Kunden unbefriedigt wegzuschicken und achselzuckend zu wiederholen: „Deet mi leed, wie fäng‘n momenton nix.“36 So erwog er alle Möglichkeiten, auch die der Wahrsagerei.
Die geheimnisvolle Frau fand, dass sich Karobube und Pikdame kreuzten, machte ein sehr nachdenkliches Gesicht und sagte schließlich, es stünde ihm noch großes Geld ins Haus. Dass über ihm der Himmel einstürzen würde, sah sie nicht voraus. Ernst senior dachte und sagte: Hauptsache Geld! Denn viel länger durfte sich die Serie seiner Misserfolge nicht fortsetzen. Die Länge hatte die Last. Kein Fachmann verstand, weshalb sich in den riesigen Umfassungsnetzen, trotz aller Raffinesse monatelang nichts Nennenswertes finden ließ. So begierig und intensiv sich auch die Blicke der Fänger nach jedem neuen und vergeblichen Zug  in den tiefen und geräumigen Wadensack bohrten. Der farbigste aller norddeutschen Seen lag nicht nur wie leblos, er schien wirklich leblos zu sein, bar jeden Fischschwarmes. Des schönen Sees Außen- wie sein Innenleben schienen gleichermaßen erstorben zu sein. Tag und Nacht spiegelte das unnatürlich glatte Wasser den gewölbten Himmel wieder, tags das wolkenlose Blau und die Silhouetten der blinkenden und brummenden Trollenhagener Flugzeuge, nachts das Sternenlicht.
Doch die Fänger erwarteten viel mehr von ihrem See, als sich wie ein erstarrtes, wenn auch schönes Bild zu präsentieren. Von der Schönheit bissen sie nichts Nahrhaftes ab. Sie verstanden die Welt nicht mehr. Nicht war mehr wie ehedem. Sogar der Optimist Schlämann wusste keine Argumente mehr, wenn sie sagten: „De Olle het denn See utplündert. Kein Wunner, hei het jeden Schwanz mitnohmen.“ 37 Sogar jene, die es besser wissen sollten, lästerten insgeheim: „Hochmut kümmt vör den Fall!“
Nun sei er gefallen. Zu lange war der Großpächter mit stolzem, steifen Genick gegangen.
Selbst Schlämann winkte nur noch matt ab. Seine Behauptung, sie hätten  die Fischbestände  keineswegs  überfischt, klang nicht mehr
überzeugend. Wann  und wie hätte er das Gegenteil beweisen können, angesichts dieser katastrophalen Fangresultate?
Es gab die sonderbarsten, unsinnigsten Erklärungsversuche. Schlämann schüttelte nur den Kopf.  Überhaupt wunderte er sich im Stillen, wie leichtgläubig die Menschen geworden waren. Ernst junior war dafür das beste Beispiel.  Sich kritisch zu äußern wagte Schlämann schließlich nur noch gegenüber Fritz Biederstaedt und dessen neuen Freund Kurt Willig, der seit einigen Monaten in der Fischerei Peters Beschäftigung gefunden hatte. Willig widersprach dem alten Wadenmeister nicht. Auch nicht als Schlämann die Katze aus dem Sack ließ: er sei der Überzeugung, dass in der bisherigen Weltgeschichte dem Politikergeschreie immer nur, statt des versprochenen Glücks, die Verheerung folgte. Noch nie haben Schreihälse die Welt verbessert. Noch nie, außer unmittelbar vor Kriegen, hätte man soviel Prahlerei vernommen und so viele Uniformen in den Straßen der Stadt gesehen. Wer weiß, was das noch werden wollte, was da herauskam, wenn die Illusion erst platzte.  Der kinderreiche Fischer Kurt Willig lud Fritz und Jan Schlämann gelegentlich samstags abends zum Skat ein. Willig der sich einen Volksempfänger geleistet hatte, liebte Volksmusik, Biederstaedt nicht weniger und Schlämann empfand die Untermalung ebenfalls als angenehm, weil, der schlafenden Kinder wegen, die Geräusche etwas gedämpft herüber kamen. Eines Abends unterbrach der Nachrichtensprecher die Musik. Eine Ankündigung folgte. 
Der Führer würde sprechen. Fünf Minuten lang ertrug Schlämann die Rede, der Fritz Biederstaedt und Kurt Willig wie gebannt lauschten. Die suggestive Redegewalt Hitlers ließ sie eine Weile vergessen, dass sie eine neue Runde ausspielen wollten. Das war Schlämann zuviel, er erhob sich abrupt, er müsse jetzt gehen. Da Willig gerade einen Grand ohne Vieren gewonnen hatte, vermutete der neue Mann, Schlämann sei geizig. „Wi spälen doch bloß up nen teichtel Penning.”38
„Das ist es nicht!”, sagte der erregte Wadenmeister und ging.
Einige Tage später, als sie auf dem Tollensesee wieder Tagesfischerei betrieben, nachdem sie eine Woche lang mit geringem Erfolg nachts hinausgefahren waren, unkte Schlämann den Führer nach: „Mich hat die Vorsehung bestimmt, euch in eine lichte Zukunft zu führen.” Fritz Biederstaedt drehte sich um, ob Ernst junior das gehört haben mochte. Das war nicht der Fall. Kurt Willig lachte auf. Es war ein befreiendes Lachen, nach der Verkrampfung die sich eingestellt hatte. Denn er hasste die Disharmonie und er hasste es, sich in der Finsternis auf dem gespenstisch wirkenden See herumzutreiben. Jawohl, die lichte Zukunft lebe hoch. Nachts gehörte ein richtiger Mann eben an die Seite seiner Eheliebsten.
Das Umspuren auf Tagesarbeit sollte sich als richtige Entscheidung  erweisen.  Ein stiller Novembertag kam und sollte ihnen eine große Überraschung bescheren. Es war ungewöhnlich warm. Das Wetter wäre noch für September schmeichelhaft gewesen. Sie fischten vor Tollenseheim. Wie immer in jenen Wochen gingen sie den Tag mutlos an. Legten wie seit je die Flügel des Zugnetzes zweihundert Meter von der Simsenkante entfernt über dem zwanzig Meter tiefen Wasser aus. Innerlich unbeteiligt taten sie, was sie seit Jahrzehnten ausübten. Ruderten „zu Land“, das Drahtseil hinter sich von den Knüppelwinden abrollend. Ankerten mit Pfählen und starken Leinen im Schilfgürtel, wanden das Netz heran, fuhren langsam „zu Loch“. Zogen und hoben die Wade Stück um Stück herein in die Kähne, missmutig und einander veralbernd. Sie beendeten den Zug, indem sie den Unterspann des großen Wadensackes entmutigt herein zogen. Die Männer nickten einander zu. Sie hätten sich lieber ins Schilf schieben sollen und, statt hier vergeblich zu schuften, zwei Stunden lang den Kummer ausschlafen sollen. Das sei es gewesen. Nämlich nichts, wie immer in den letzten Wochen. Da aber schäumte, völlig überraschend der See vor ihnen auf, als wollte er überkochen. „Brassen!“ schrie einer. „Brassen!“
Normalerweise zeigten sich bei offenem Wasser hunderte Quadratmeter wandernde Blasenflächen, wenn solcher Massenfang bevorstand. Die verängstigten Fische stießen aus den sich heftig schließenden und sich wieder öffnenden Mäulern Luftblasen, die aufstiegen, um im Nu zu zerplatzen. An diesem grauen auf der Wasseroberfläche sich fortbewegenden Blasenteppich konnte man üblicherweise den Umfang und damit ungefähr die Größe des Fischschwarmes einschätzen. Nicht die Spur eines Anzeichens hatte sie diesmal vorbereitet. Die Überraschung war perfekt Nun standen die Fischer händeringend und erstaunt da, jeder dem anderen auf die Schulter klopfend: „Bli! Bli!“
Nur, Peters konnte sie diesmal nicht günstig verkaufen. Erstens war es zu warm, zweitens stellte Berlin so gut wie unerfüllbare Bedingungen. Die Fische sollten lebend transportiert werden.
Wie das? Bei diesen Temperaturen? Das wusste doch ein Kind, dass proportional mit den Wassertemperaturen der Sauerstoffbedarf der Fische anwuchs. Wie sollte er die Massen lebend nach Berlin schaffen lassen? In wie vielen Fässern? Jedes Literchen Wasser verursachte zusätzliche Frachtkosten. Und dann dieser lächerlich niedrige Preis. „Herr Grüneberg! Sie waren doch früher großzügig!“
„Früher, Herr Peters. Die Zeit ist anders geworden, die Menschen  haben mehr Geld denn je in den Fingern.“
„Na also!“
„Nix na also, wer hat, hält es zusammen, nicht wahr, Herr Peters. Das Geld ändert die Menschen.“ Er müsse den Käufern heutzutage die Fische billigst nachwerfen, und das habe eben Folgen bis hinauf nach Neubrandenburg. Es klickte. Da wandte Ernst senior sich vom Telefonapparat in der guten Stube weg an Fritz Biederstaedt der mitgehört hatte, und sagte leise, mit belegter Stimme „Krieg möt dat wedder gäben, Fritz. Krieg!“39 Dann würden sie ihm jeden Fischschwanz mit Dank und Kusshand wegkaufen. „Krieg möt dat gäben.“
Dieser Satz hallte nach. Teilweise musste Ernst senior Kompensationsgeschäfte abschließen und statt Bargeld seine Fische gegen Karpfen für die Weihnachts- und Silvesterversorgung eintauschen. Schließlich jedoch vermochte er es die über dreihundert Zentner, wenn auch zu einem nicht ganz befriedigenden Preis, bis auf einen kleineren Restposten umzusetzen.
Peters machte soviel Geld, dass er sich außer dem „Adler“ einen schönen dunkelblauen BMW leisten konnte. „Ewer dat har uk miehr Geld warn künnt!“40, meinte er, halb mit sich und der Welt versöhnt. Von da an nahm er sich vor, seinen Mitmenschen in Fragen Geldausgeben eine Lektion zu erteilen. Er würde ihnen zeigen, dass Geld wie Blut in den Adern rollen muss, kräftig und frei. Pulsen muss es, am Hals und im Handel, quer durch die Sparkassen hindurch. Das war das Gesetz des Lebens: freier Fluss.
Fritz Biederstaedt avancierte zum Cheffahrer. Herr Peters kam eines Morgens unrasiert und aufgeregt auf Biederstaedt zu, der gerade den BMW gewaschen und abgeledert hatte. Er verlangte, sofort in die Stadt gefahren zu werden. Fritz hatte zu gehorchen. Obwohl der Chef  nicht gerade gepflegt aussah. Die wenigen Haare hingen wirr herum. Sein Unterhemd stand offen, und er ging in Holzpantoffeln. Fritz öffnete ihm vorschriftsmäßig die Wagentür. Der Chef  ließ sich ächzend in die roten Lederbezüge fallen und streckte, als sei er der Dirigent eines Orchesters die Rechte aus. Geradeaus Fritz, immer geradeaus. Sie ließen das Stargarder Tor hinter sich, und Peters zeigte immer noch geradeaus. Blumenborn kam in Sicht. Der steife Arm des Großpächters wiederholte die Geste. Fritz glaubte, es ginge nach Heidehof, wohin ihn gelegentlich die Gedanken und die Schritte zogen, weil dort ein Mädchen namens Irmgard wohnte, die inzwischen eine junge Frau an der Seite eines Mannes geworden war, der bloß ans Geldverdienen dachte. Doch unmittelbar vor dem Wegekreuz wies der Finger des Fischermeisters nach Süden. Immer geradeaus Fritz. Immer der Nase nach. Der Turm der Neustrelitzer Garnisonskirche tauchte auf und damit der Geruch der bekannten Gaststätte am Markt. Geradeaus! Immer geradeaus!
Fritz nahm sich vor, nicht mehr zu fragen. Es war ohnehin sinnlos geworden, mit dem Manne vernünftig zu reden. Er hatte sich seit einigen Wochen damit abgefunden, dass jegliche, auch haarsträubende Absichten des vermögenden Pächters von ihm widerspruchslos realisiert werden mussten. Er ahnte, dass eine Verrücktheit in der Luft lag.
Hinter Oranienburg schien Herr Peters wieder bei klarem Verstand zu sein, denn gähnend strich er sich über den Schnurrbart. „Wi führn jetz no Berlin ton Hoorschnieden, Fritz!“
„Nach Berlin! Zum Haareschneiden! Meister! Wie Sie wünschen!“ Dabei verstellte er den Rückspiegel, um das Gesicht des Mannes zu betrachten. Sehr wohl, wir fahren einhundertundfünfzig Kilometer in die Reichshauptstadt zum Kämmen und zum Haareschneiden.
In Pankow angekommen, fühlte Herr Peters sich gutgelaunt. Vor dem nächsten Friseurladen möchte er aussteigen. Das nächste Friseurgeschäft befand sich auf der gegenüberliegenden Straßenseite und war ein Nobelladen. Breite, blitzende Fenster und blaue Übergardinen fielen ins Auge. Seitlich von der Eingangstür hing an einer dünnen Kette ein großes Silberbecken herab. Das Kennzeichen der Zunft der Barbiere, die früher auch den Aderlass ausübten. In makelloser Schrift stand geschrieben: Damen- und Herrensalon. „Meister, se willn doch dor nich rinnergohn?“41, warnte Fritz ehrlich besorgt, fuhr rechts heran und trat mit leichtem Unbehagen zaghaft auf die Bremse. Peters tippte ihm auf die Schulter. Chauffeur Fritz wandte sich um und schaute in die stahlgrauen Kugelaugen eines Mannes, der ihm wortlos und mit starkem Nachdruck bedeutete, wer hier das Sagen hatte und wer der Befehlsempfänger war.
Diese Blicke schienen ihn mit der  Frage zu durchdringen: „Oder glaubst du etwa, dass ich ein bisschen verrückt bin?“
Fritz musste sich zusammennehmen, sonst wäre ihm herausgeplatzt: Meister, bloß ein bisschen? Beherrscht, wie er es in dieser Stadt gelernt hatte, dachte er schließlich: Verrückt sind wir allesamt. Was wären wir sonst wohl? Automaten, seelenlose. Das gab Fritz Biederstaedt vor sich selbst zu.
Innerlich aufstöhnend stellte er den Motor ab, stieß mit einem Ruck seine Tür auf, stieg aus, um seinem Herrn und Meister höflich die Autotür zu öffnen, als sollte ein Generaldirektor zum Vorschein kommen. Ihm war schrecklich zumute, als spotteten von allen Seiten höhnisch lachende Gesichter. Denn statt eines Mannes im Frack verließ ein verschwitzter Pferdeknecht den Fond. Mühsam richtete sich der Pächter auf. Fritz hätte vor Scham in den Erdboden sinken können, als Ernst senior in seinen abgelatschten Holzpantinen über das Berliner Pflaster schlurfte. Die Liderlichkeit des Menschen schrie zum Himmel. Anfangs schien ihm, dass alle Uhren stockten. Schließlich nach nicht endenwollender Zeit, nahm Fischer Peters die letzte Stufe zum Friseursalon. Er drehte sich zu seinem Bediensteten um, legte langsam die Hand auf die Türklinke, hob den Kopf wie ein Grandseigneur und verschwand hinter der ominös erscheinden Tür. Fritz erwartete das Schlimmste. Wahrscheinlich hatten hinter den Vorhängen des attraktiven Geschäftes ganze Heerscharen von Angestellten und Lehrlingen gestanden und sich neugierig gefragt, ob der unmögliche Kerl es wagen würde. Er hatte es gewagt! Fritz schielte hinüber. Er konnte den Blick nicht wenden. Gleich werden sie die Tür aufreißen, ihn mit sanfter Gewalt hinausbefördern, wie damals in Gransee, im Cafe, das Peters ebenfalls in ziemlich verwahrlostem Zustand nach einem anstrengenden Arbeitstag betreten hatte. Damals allerdings begleiteten ihn seine ebenso verwildert aussehenden Leute, die jemandem mit zarten Nerven schon durch ihren bloßen Anblick Angst machen konnten. Fritz wusste, was geschehen musste. Die Cafehausbesitzerin, empört über diese Zumutung, hatte ihn aufgefordert, die Gastsstube zu verlassen. In seinen Dreckstiefeln hatte sich Ernst senior breitbeinig hingestellt  und  unverschämt gekräht: „Wissen Sie nicht, dat ick Fischermeister Peters ut Niebrandenborch bün. Ick hew dat Geld un kann alles köpen!“ Er wünsche sowieso, die ganze käufliche Welt auf den Kopf zu stellen. In das sonst wahrscheinlich unerschütterliche Gemüt der guten Dame hinein schrie Peters damals, er verlange, schnell und höflich bedient zu werden, sonst zerschlage er ihr sämtliches Glas.
Sie würde die Polizei rufen. „Tun sie das, meine Dame. Aber die und die Torte ist meine!“ Dabei stieß er mit seinem Knotenstock, den er bei sich hatte, mitten in die rote Creme erst der einen, dann in den weißen Schaum der anderen. Was ihr sein Spaß wert sei. Unter Zeugen erkläre er, er würde jeden Pfennig berappen, den sie von ihm fordere. Möge sie nur ihren Aufstand machen, seiner wäre sowieso der größere. 
Schließlich halfen seine eigenen Leute nach und er fand sich unversehens auf der Straße wieder. „Meisting, dat güng to wiet. Wi hem drunken, un dat bekümmt se nich.“42 Fritz wienerte die Karosse, um seine Nerven zu beruhigen. Mit stockendem Atem erwartete er immer noch den Augenblick des peinlichen Hinauswurfes, bereit, seinen Herrn zu retten, ihn in den Wagen zu zerren und schnellstens die Flucht anzutreten.
Es verging die Zeit. Wer weiß, was er ihnen da drinnen wieder einmal erzählte. Erstaunlicherweise hüllte sich der Salon lange, lange in tiefstes, fast andächtiges Schweigen. Dann ging sie auf die schöne, braune Ladentür. Herr Peters verließ das Geschäft freudestrahlend. Geschniegelt und gebürstet, bestens rasiert und wohlgelaunt, sehr zufrieden mit der deutschen Hauptstadt und mit sich selbst klapperte Peters zurück mit einem Gesichtsausdruck, der besagte, das Pflaster Berlins empfange die Ehre, von exquisiten Neubrandenburger Holzpantoffelsohlen berührt zu werden. Denn hinter ihm herdienernd bedankte sich der Cheffriseur: Der Herr Großfischereipächter möge ihm baldigst wieder die Ehre geben und seinen ihm allezeit zur Verfügung stehenden Salon aufsuchen.
Daraufhin riss Fritz dem Fischereipächter mit geweiteten Augen den Verschlag dermaßen respektvoll auf, dass selbst den kleinen Lehrmädchen, die verstohlen hinter den Gardinen dem einmaligen Schauspiel zusahen, schließlich der einzig mögliche Gedanke kommen musste: Hier fährt ein verkappter, freigebiger Prinz wohlbehütet wieder heim zu seiner königlichen Fee. Frau Anna Peters hätte seine Glücksfee sein können, wenn sie von ihm dementsprechend zuvorkommend behandelt  worden wäre, wenn er nicht ständig an eine andere in Möllenhagen gedacht und ihr die Geschenke zugesteckt hätte, die ihr nicht zustanden. Wenn er Anna nicht so oft in den Zorn hinein gejagt hätte.
Wie oft hatte sie, hilflos auf ihn wartend, dagestanden, weil wieder einmal jemand auf unverzügliche Bezahlung einer offenen Rechnung bestand, die sie nicht begleichen konnte, während ihr Mann irgendwo in der Weltgeschichte genau die Summen verschleuderte, um die er zu Hause feilschte. Vielleicht war sie in der Tat immer noch seine gute Fee und er müsste es nur erkennen und sie bloß wachküssen.
Nur, war es dazu nicht bereits zu spät? Es war viel zu spät. In den Herzen der Pächtersleute nagte seit langem der unüberwindliche Vorwurf gegenseitiger Untreue.
Nach einem langen durchfeierten Abend, es war Anfang Juni 37, im Hause der Peters, warf Fritz sich, der seine unentbehrlichen Dienste wieder einmal zur Verfügung gestellt hatte, gegen ein Uhr nachts todmüde ins Heu der Stallung. Gegen fünf Uhr weckten ihn laute Stimmen. Da er neugierig war, kam er aus dem Versteck heraus und wurde sogleich von dem sich ausnahmsweise liebenswürdig gebenden Großpächter angesprochen und genötigt, ihn und die beiden Kaufleute, Bendschneider aus Neubrandenburg und Schober aus Berlin  zum Fischfang zu begleiten.
Fritz Biederstaedt wurde vor Schreck nüchtern. Ob der Meister etwa mit den offensichtlich mehr als angeheiterten Gästen aufs unsichere Wasser hinausfahren und selbst die Reusen heben wolle. „Selbstverständlich, Fritz.“ Fritz sollte bereits seit einigen Wochen alles für „selbstverständlich“ halten. Doch das ging ihm zu weit. Falls er mit den Männern in diesem Zustand auf den See hinausfahren würde und einer von ihnen fiele über Bord, würde jedes Gericht der Welt ihm die Schuld für diesen möglicherweise folgenschweren Unfall geben. Zu seinem  Glück trafen die Wadenfischer ein, die ausnahmsweise zu Tage fischen wollten. Sofort wies der alte Peters an, dass Schlämann den kleinen Motorheuer am Bollwerk festmachen solle. Mit schrägem Blick auf die drei wankenden Gestalten äußerte Wadenmeister Schlämann seine Bedenken: „Herr Peters, ich mache Sie darauf aufmerksam...“ Peters schnitt ihm aus rauer Kehle das Wort ab: „Ück bün die Verantwortung!“43 Die mit fünf Köpfen eigentlich unterbesetzte Fangmannschaft nahm, scharf und leise spottend, in den Arbeitskähnen Platz. Geübt sprangen die Fänger in den schaukelnden, noch leeren Booten umher und legten Pätschen und Ankerpfähle zurecht. Dagegen kletterten und stolperten die drei Herren mehr als sie stiegen, einander umständlich an den Händen haltend, in das Heckteil des von schwarzem, halbverbrannten Öl besudelten Bootes. Ohne Unterstützung des Dieners Fritz wäre das gleich schief gegangen. Fritz hoffte nur, sie würden ihn in Ruhe und an Land lassen. „Nö, Fritz Biederstaedt, du kümmst mit uns mit!“, kommandierte der Chef. Der sechste Mann sei nicht zur Arbeit erschienen. Das also hatte er doch noch bemerkt. Biederstaedt gehorchte, obwohl er sich mehr als elend und außerdem hungrig und durstig fühlte. Es gab noch einen guten Grund, widerspruchslos folgsam zu sein, Fritz hatte sich geschworen, unter allen Umständen seinen schwer erkämpften Rang vor Schlämann zu verteidigen. Er biss also auf die Zunge und plante während der hoffentlich recht langen Anfahrt zum Fangort sich ins allerdings erst einzuladende Garn zu kuscheln und bis zur letzten Minute zu schlafen. Schlämann ärgerte sich. Mehr als schlecht gelaunt wegen der drei Störenfriede, kurbelte er den Heuermotor an, schaute noch einmal fragend ins gerötete Gesicht des Pächters, fand aber keinen Gesinnungswandel und legte abrupt den Gang ein.  Die Schraube quirlte das grünlichblaue Wasser des sich hinschlängelnden Oberbaches auf. Auf zu neuem Fang. Zu zehnt total überbesetzt, ging es hinaus. Das konnte nicht gut gehen! Peters meinte wohl, die Wellen würden seine Gäste gehörig nüchtern schaukeln und der frische Wind ihnen wieder das gekühlte Blut ins Gehirn treiben.
Soeben erschien die Sonne über den Hügeln der schönen Viertorestadt. Der Tag versprach, angenehm zu werden, - noch war er es nicht. Die Männer hängten, nach der ersten kurzen Fahrtstrecke am Ende des Oberbaches, die Kähne ab und schoben sich hin zum Zugnetz, das sich auf der Trockenhenkstelle befand. Mit schnellen, tausendmal trainierten Griffen hatten sie binnen zehn Minuten, in denen die beiden Kaufleute sitzend eingeschlafen waren, das schwarz schimmernde Netz  in die Arbeitskähne eingeladen. Nun ging es endgültig in Richtung Südwest.
Wieder tuckerte der Motor laut aber gleichmäßig und beruhigend vor sich hin.
Kaum hatte die im Kielwasser schlingernde Fuhre die Linie Augustabad-Belvedere überfahren, hoben und senkten sich die Boote heftiger. Wasserspritzer weckten die beiden schlaftrunkenen Gäste. Das im Sonnenlicht blinkende Wellenspiel machte ihnen plötzlich bewusst, dass sie sich mitten auf dem See befanden, meilenweit entfernt von jeglicher Hoffnung auf Gemütlichkeit. Im Rhythmus der zunehmend härteren Wellenstöße hoben und senkten sich ihre Mägen. „Umkehren!“, schrie Schober.
„Wo denkt ihr hin!“, erwiderte Peters, in ihm waren gerade durch das Rauschen des Wassers die Urjägerinstinkte geweckt worden. Er hatte es im Gefühl, sie würden einen bedeutenden Zug machen.
Kaufmann Bendschneiders Kinn hing beeindruckend schräg herunter. Er kannte den See und den Starrsinn des Großfischers. Er klammerte sich an Schobers neues Jackett, das einen beträchtlichen Ölklecks abbekommen hatte. „So schön! So schön!“, dröhnte Peters. Er besaß die seltene Gabe, markerschütternd zweistimmig singen zu können. Wenn er richtig losröhrte, schien es, dass die Natur verstummte. Wann immer seine Freunde sich die Ohren zuhielten, um nicht völlig die Kontrolle über ihre Nerven zu verlieren, fühlte er sich besonders ermutigt.
Je mehr es schaukelte und stampfte, umso fröhlicher wurde er.
Aufgestiegen aus der Tiefe in die Höhe!
Das war ihm immer gegenwärtig gewesen.
Grünlich von Angesicht, schickten die beiden Kaufleute sich längst noch nicht ins Unvermeidliche. Sie begehrten energisch, an Land gesetzt zu werden. Peters stieg aufs Schweff.
Wie Napoleon vor Austerlitz dirigierte er mit schwenkenden  Armen: „Vorwärts Kameraden!“
Umzukehren vor einer Schlacht? Absolut ausgeschlossen!
Die illustre Fuhre rauschte durch die gischtenden Wellen. Schlämann war wütend. Wenn Peters ihm über Bord fiel, dann war der Teufel los. Zudem musste er auf die beiden Männer im Vorderteil des Heuers Rücksicht nehmen. Ohne sie hätte er Vollgas geben können. Aber das kopflastige Boot kam nicht voran. Immer wieder, wenn das Boot auf dem Wellenkamm ritt, schlug die Antriebsschraube nur Schaum.
Ernst Peters reckte schon wieder den langen rechten Arm, wies diesmal nach Westen auf den Punkt Meyershof. Schlämann krauste die Stirn. Er verwünschte den sich fortwährend einmischenden Pächter.
Indem er dem Befehl sofort nachkam, führte er ihn ad absurdum. Das Steuer herumreißend,  brachte er die Kähne quer zur Windrichtung und damit augenblicklich übermäßig in Krängung. Sofort hagelte es aus den Arbeitskähnen laute Proteste. Denn ungemein hart schlugen die nebeneinander liegenden Bootswände aufeinander. Die Boote nahmen außerdem eine Menge Wasser über. Das war es ja, was er wollte.
Er  wünschte im Überwind zu fischen und nicht auf der Strömung. Anders konnte er den Alten, der sich sonst ja auch nicht darum kümmerte, wo er das Netz auslegen ließ, nicht überzeugen, dass sein Entscheid widersinnig war. Jedenfalls würde er unter keinen Umständen sich und seine Leute auf der wellenschlagenden Seeseite quälen lassen. Peters, als er so die scheinbare Zunahme der Windkraft zur Kenntnis nehmen musste, lenkte ein. Er machte eine grobe Bemerkung und ließ seinen Oberfischer endlich gewähren, zumal der beteuerte, vor Meyershof sei die Scharkante bereits ab- und leergefischt worden.
Schlämann lachte sich eins ins Fäustchen, drehte vorsichtig zurück. Er schnitt die Wellen, die von achtern immer bedrohlicher heranrollten. Kurz vor „Dörpen“, wo der Tollensesee dreißig Meter tief ist, wogten sie in enormer Höhe. Zwanzig Minuten später, hinter dem großen Schmerberg angelangt, lag das Seewasser erstaunlich ruhig da. Sie waren im Windschatten der sich weit hinschwingenden Buchenwaldhänge angelangt. Die ihren Bauch haltenden Gäste dankten dem Himmel für das Wunder der Windstillung.
Dass er „Mümmelloch“ als Zug ausgewählt hatte, war bald zu erkennen. Peters sprang auf, wollte laut losschimpfen, sah aber die Warnsignale in den Mienen seines Wadenmeisters. „Dor givt dat nix!“44, reagierte Peters heiser, mit abnehmender Kraft. Auf dem Zug habe er, zu dieser Jahreszeit, noch nie gute Fische gesehen. Schlämann schaute ihn kalt an. Willst du hier auf dem See vor deinen Gästen und deinen Leuten einen handfesten Krach haben, bitte schön. Bei Ostsüdostwind wird im Spätfrühling „Mümmelloch“ oder die „Rill“ gezogen. So war das seit Urväterzeiten. Wenn du das nicht weißt, dann schere dich an deinen Biertisch.
Der Pächter schlug um. Er kommandierte: „Nu wat Mümmelloch treckt, wo ‘t nix gäben det!“45 Er wolle vor seinen Freunden den Beweis der Zuverlässigkeit seines intuitiven Wissens antreten. In lautem Plattdeutsch erklärte er, er könne auf zehn Kilo Fisch genau voraussagen, dass hier nichts zu holen sei. Dabei schnalzte er mit der Zunge. „Twintig Pund!“46 Übermütig reckte Peters den Daumen seiner Rechten. Wer die Wette mit ihm halten wolle. Für zehn Mark verkaufe er im Voraus den zu erwartenden kläglichen Raub. Bendschneider wollte zugreifen. Peters jedoch stieß den blau und grün aussehenden Schober an. Schober schüttelte den Kopf missmutig, er wolle nach Hause, nichts anderes als heim zu Muttern. Nach dieser unendlich langen Nacht bedurfte er nichts als des liebevollen Trostes. Ernst Peters wollte den Berliner nun erst recht  reizen. Ob er Bange habe. Jedes der zu erwartenden zwanzig Pfund  koste ihn eine halbe Mark, der Rest sei Gewinn. Eins zu X. Peters  unkte, X könnte  unter Umständen eine beträchtliche Größe sein und die könne Schober für zehn Mark kaufen. Er verlöre doch höchstens zehn Reichsmark, gewönne aber vielleicht, vielleicht etwas hinzu - egal wie viel. Nach oben sei alles offen. Dabei zwinkerte er noch spöttisch, so dass Schober nicht recht wusste, woran er mit seinem Duzfreund war. Vom Pächter herausgekitzelt, kam im Berliner der Spielerinstinkt zum Vorschein. Der Mann mit Schlips und Kragen griff in die Hosentasche nach dem Portemonnaie. Zwei silberne Hindenburgmünzen lagen obenauf. „Topp!“  Das Geld und die noch nicht gefangenen Fische wechselten den Besitzer. Fritz Biederstaedt, der zwar ununterbrochen gegähnt hatte, und in der Zwischenzeit in den linken Kahn übergestiegen war, wobei er alles beobachtete, konnte sich noch nicht zusammenreimen, was sich gerade zutrug. Denn es waren nur Wortfetzen gewesen, die er aufnehmen konnte. Vielleicht hatten sie gewettet, wann sie wieder daheim ankämen. Die Fischereiarbeiter lösten sich kurz darauf vom kleinen Motorboot und schoben ihre Wadenkähne vom ölverschmierten Heuer ab.
Die Wadenleute ruderten kraftvoll in Richtung Land. Die beiden Hinterfischer nahmen die Hökelsteine des Wadensackes, dann rafften sie ein paar Meter dieses Sackes zusammen und warfen alles zugleich mit Schwung über Bord hinter sich. Ein paar Meter voneinander entfernt patschten die Rundsteine gleichmäßig auf die bewegte Wasserfläche. Diese Gleichzeitigkeit des Aufklatschens galt allgemein als sehr gutes Vorzeichen. Die Fänger beeilten sich, den Sack des Umfassungsnetzes in voller Länge auszufahren. Dann trennten sie sich voneinander, schlugen jeweils einen Winkel von neunzig Grad und fuhren in entgegengesetzte Richtungen die Flügel aus. So trieben die vier Ruderer ihre Kähne voran, während die im Heck der Arbeitskähne stehend arbeitenden Fischer klafterweise die Wade über Bord beförderten. Allmählich nahm der Wind ab. Mehr und mehr glätteten sich die Wogen. Der Himmel blaute, es wurde wärmer. Die Tage der Schafskälte schienen endlich überwunden zu sein.
Kaufmann Schober stellte befriedigt fest, dass sich seine Magennerven beruhigt hatten. Er begann es zu genießen, dass die Männer in den nächsten zwei Stunden ausschließlich für ihn arbeiteten. Vergessen waren alle Übelkeiten, die Müdigkeit und Unlust des Morgens. Freundliche Gedanken tauchten aus der Tiefe seiner Seele auf. Sein Tag brach an. Zum ersten Mal in seinem Leben fühlte er sich nach einer durchzechten Nacht nicht hundeelend.
Peters scherzte, sie sollten doch wenigstens einmal erleben, wie ihm in den frühen Jahren seiner großen Fangpleiten zumute gewesen sei und sich trösten mit dem wunderschönen Bild der Natur. Diese sich im Morgenwind wiegenden tiefgrünen Simsenfelder und das Widerspiegeln der Himmelsfarben auf der silbrigen, glattgewordenen Haut des Tollensesees. Bendschneider wunderte sich, denn er hatte gemeint, der Mann Peters sei stumpf geworden für die feineren Empfindungen.
Als Schlämann behutsam und in weitem Bogen um das ausgelegte Netz herumfuhr und in Landnähe kam, stellte er den Motor ab. Sie glitten kaum hörbar zischend am Gelegesaum entlang. Schober bemerkte, dass Schlämanns Blicke im Wasser etwas suchten. Er versuchte sich darin ebenfalls und sah in Metertiefe und immer nur wenige Meter voneinander entfernt verschieden große Hechte unmittelbar vor der Simsenkante. Sie flohen bei Annäherung des Bootsschattens nicht panikartig, sondern schwammen ruhig zur Seite. Ihre grünen pfeilartigen Leiber hoben sich deutlich vom gelblichen Sandgrund ab. Peters winkte ab. Das wusste er doch, dass hier, wo die Wade niemals entlang glitt, stets schöne Raubfische standen und sich sonnten. Im Herbst wird er in diesem Bereich mit den Dreiwandnetzen staken lassen und sich für den Winterverkauf mit Mümmelloch-Hechten eindecken.
Aber Wadenmeister Schlämann nickte mit seinem schmalen, langen Kopf auf sonderbare Weise. Dann, wiederholt schüttelte er ihn. Ob etwas los sei, fragte der Pächter. „Ach iwo Meister!“, erwiderte er dem leichtfertigen Mann, der sich partout als Genie der Intuition erweisen wollte und nun höchstwahrscheinlich bis auf die Knochen blamieren würde.
Als nach dreißig Minuten, das Auf- und Einziehen des langen Netzes begann, wurde Peters bald blass. Denn kurz hintereinander erschienen zwei große Hechte auf dem Flügel. Wie elektrisiert wirkte er. Sofort war ihm klar, was das bedeutete. Neumann gelang es nicht, die beiden Fische ins lose Garn einzuschlagen.
Eiligst warfen sie sich herum und flohen zurück in den weithin sich ausdehnenden Umfassungsbereich.
Wäre der Vertrag nicht gewesen, hätte Pächter Peters, der alles aufmerksam verfolgte, seinen Hinterfischer heftig beschimpft. Man lässt Fische, die man im Netz vor sich hat, nicht einfach entkommen. So aber konnte er nur hoffen, dass sämtlichen Fischen die Flucht gelänge. Blank müsste der Zug herankommen als gezogene Niete. Da jedoch hob der immer noch ahnungslose Fritz Biederstaedt jubelnd einen anderen Hecht hoch, ein meterlanges Exemplar, als wollte er dem Pächter gratulieren: Sieh mal Chef, was wir für dich tun. Da das erwartete Freudenecho ausblieb, regten sich in Biederstaedt Gemüt unklare Fragen. Er spürte es als noch namenlose Unbehaglichkeit. Erst als im Maschenwerk stattliche Barsche mit ihren leuchtend roten Flossenenden auftauchten und er Ernst Peters Reaktionen der Unlust und sogar des Entsetzens bemerkte, schloss sich der Kreis unsanft. Aus Übermut hatte der Alte eine Riesenwette angezettelt und verloren! Jetzt war es heraus!
Schlämann kniff sich ins Fell um festzustellen, ob er träume oder wach sei. Es kamen immer mehr Fische zum Vorschein, sogar große Plötzen. Die anderen, noch ahnungslos ihr Netz ziehenden Männer schrieen sich gegenseitig zu, hier wären sie richtig. Noch war ihnen nicht zu Bewusstsein gekommen, dass auch der Wadenmeister Schlämann so merkwürdig stupide reagierte.
Übrigens, der Fischzug war längst nicht zu Ende. In diesem Typ des Wadensackes hatten bereits zweimal mehrere hundert Zentner Großbrassen Platz gefunden. Herrn Schobers Gesicht rötete sich. Er starrte entgeistert seinen unerwarteten Gewinn an, der sich auf wunderbare Weise unentwegt mehrte. Pure Goldfische zappelten für ihn. Pächter Ernst hockte sich mit grauem Gesicht auf die ölgetränkte Heuerbord und grub selbstquälerisch in den Windungen seines Verstandes. Reuig suchend fragte er sich, ob ein gnädiges Schicksal ihn einen Winkelzug finden ließe, um sich doch noch aus dem Dilemma zu ziehen. Bendschneider lästerte, ob Ernst Peters sich nun vor Wut in den Hintern beißen könnte?
So erfuhren endlich auch die gleichgültigen unter den Arbeitern, was sich gerade vor ihren Augen ereignete. So also war das. Der Alte bekam Dresche. Schlämann steckte es ihnen dann definitiv. Der Pächter hätte restlos alles für ein Butterbrot versetzt.
Kurt Willig war der Einzige, der gelassen schmunzelte. Dass sie selbst am Ende die eigentlichen Verlierer sein würden, verdrängte er. Auch er gönnte Peters von Herzen eine schmerzhafte Niederlage. Strafe musste sein, weil er sie betrog, indem er ihre Deputate kürzte, weil er ihnen argwöhnisch hinterherspionierte, weil er Jan Schlämann mit dem Fahrrad zuvorgekommen war und ihn mit einer Waffe gestellt hatte. Bloß weil der sich seine früher übliche Sonntagsration illegal zusammengestellt und in einem Fischbeutel verwahrt im Buchort unter einem Weidengebüsch versteckt hatte, verstecken musste, wie sie selbst auch. Weil es anders kaum noch gute Gratisfische gab. Da hatte sich der argwöhnische und knickrige Großpächter auf der Oberbachbrücke mit dem Fernglas postiert und beobachtet, wie Schlämann und sie sich den Mundraub sicherten. Das müssen ihm die Spatzen aus den Dachrinnen zugepiepst haben: Ernst, deine Leute haben einen neuen Dreh gefunden, mit dem sie dich hintergehen. Aber er hatte nie gefragt, warum sie ihn hintergingen. Den Tesching schulternd, war er in seinem roten Zorn hingeradelt nach Buchort und hatte sich da rechtzeitig auf die Lauer gelegt. Als endlich der Wadenmeister am Ort ankam und die Beute suchte und fand, hob Peters die Waffe, richtete sie auf den Übeltäter  mit  den  schockierenden  Worten: „Jan! Klaut  ward nich!“ 47 Sogar                        Fritz Biederstaedt freute sich, den übermächtig gewordenen Mann leiden zu sehen. Das war die Strafe für den sich zunehmend unerträglich auswirkenden Hochmut. Alle Hochmütigen der Welt müsste man einen Tag in der Woche mittels ähnlicher Kur behandeln. Inzwischen kamen die Passagiere, des von Herrn Bendschneider vorwärtsgeschobenen Heuers, noch näher an die schließlich den Wadensack ziehenden Fänger heran. Der Wind war völlig abgeflaut.
Der langgestreckte See lag in seiner ganzen Ausdehnung wie ein Riesenspiegel da. „Meisting!“, rief Fritz heimtückisch, „hem wi nich siehr schöne Fisch fungen?“48 Seine dunklen Knopfaugen funkelten listig. Er dachte an frühere Backpfeifen zurück, die er vom Alten zu Unrecht bekommen hatte. Mit schnellen Handgriffen deckte er das Oberteil des Sackzeuges auf. Erst jetzt sah man die ganze Bescherung.
Die große Anzahl grüner Hechtrücken erschreckte sie allesamt. Solch reicher Vorsommerzug gehörte seit je zu den Ausnahmen. Mit einem Ruck streifte Fritz Biederstaedt die Ärmel hoch und griff in seiner Erregung tief ins Wasser. Die Fingerspitzen und die Haut seiner bis über die Ellenbogen eingetauchten Rechten empfanden die Menge weicher, glatter Aalleiber wie ein ihn umgebendes Knäuel Schlangen, - nur angenehmer. Schnell packte er einen der Starkaale, riss ihn aus dem Wasser, hob ihn stellvertretend für die anderen ungefähr zweihundert Stück in die Höhe. Es dauerte nicht lange und der hochaktive Fisch vermochte sich aus dem geübten Griff seines Peinigers zu befreien. Hart auf die Wasserhaut klatschend, entkam der muskulöse Fisch zunächst noch einmal. Der griesgrämige Bendschneider zuckte nervös zusammen. Pächter Peters brummte. Das Schlimmste war, er hatte seinem Freund Schober in die Hand versprochen, ihn in bar auszuzahlen. So fiel außerdem noch die Qual des Verkaufs auf ihn. Jede einzelne Reichsmark, die er aus dem Verkauf dieser Fische, die ihm nicht gehörten, erlösen wird, wird sein Herz mit Kummer belasten. Wie ein Lauffeuer würde die Rede von seiner Dummheit durch die Straßen der Viertorestadt sausen.
Aribert Schober legte seinem lieben Freund Ernst Peters die beringte Hand auf die hängende Schulter und sagte heuchlerisch weich: „Kondoliere Ernst!“ Und im selben Atemzug: Jetzt könne er sich das ja leisten. Er lade alle Anwesenden  zu einem Umtrunk im nahen „Heidehof“ ein.
Schlämann ignorierte des Chefs Gefühle. Gern nehme er mit seinen Männern die freundliche Einladung an. Der Herr wird diesmal nicht darauf bestehen, dass sie die Fische erst nach Neubrandenburg schaffen müssten um sie dort in die sicheren Hälterkästen zu setzen. Denn falls sich ein Loch im Sack befände, käme es diesmal - welch’ verkehrte Welt - seinen Wünschen nur entgegen. „Kumm Ernst“, spöttelte nun auch Herr Bendschneider, „dat helpt ja allens nich, Spoß möt sin.“ 49
Ernst Peters versuchte ein Lächeln aufzusetzen. Das misslang ihm. Als sie an der kleinen, nach dem letzten Eisabgang verschobenen und unsicheren  Heidehofer Brücke angelangt waren und die fünfzig Stufen fast hinter sich gelassen hatten, wandte er den trostlosen Blick. Der herrliche See lag wie ein kostbares Gemälde zu seinen Füßen und verhöhnte ihn. Ich bin dein, aber nicht dein allein. Das satte Grün und die dunklen Konturen  malten sich auf der blinkenden Fläche wieder. „Nicht dein allein.“
Wenn er jetzt einen Wunsch frei hätte!
Schwerfällig stakend nahm Pächter Peters die letzten Stufen der steilen Holztreppe. „Achthunnert Mark!“, jammerte er. Fritz hörte es. Jede Stufe musste ihm den Betrag den er so schmählich verloren hatte, schmerzhaft ins Gehirn hineingebohrt haben. Achthunnert Mark, achthunnert Mark! Für das Geld bekam man ... Fritz, der die junge Frau des Gastwirtes wieder zu sehen hoffte, wollte und konnte mit den Männern nicht lange mithalten. Kurz nach zwei ging er hinaus. Er suchte nicht lange, obwohl er ahnte, sie müsste in der Nähe sein. Die Müdigkeit übermannte ihn. Da es warm war, legte Fritz sich auf der Sonnenseite des Grundstückes ins Gras unter einen abgeblühten Forsythienstrauch. Da würden sie ihn schon entdecken, wenn sie heimzukehren wünschten. Biederstaedt schlief sofort ein, umschmeichelt vom sanften Wehen der erwärmten Mittagsluft. Um vier Uhr begaben sich die Fänger zu den Booten, füllten die Fische aus dem sprudelnden Wasser im Wadensack hinüber in den Heuer,  mussten  sich  beeilen,  denn  bei  diesen Mengen Barschen, Aalen und Hechten wurde das Schweffwasser knapp, obwohl sie mit ihrer Körperlast für zusätzlichen Tiefgang des Motorheuers sorgten. Sie rauschten davon in Richtung Neubrandenburg. Doch ihr Blick und Verstand waren sehr getrübt.
Obwohl es noch heller Tag war, vermochte es Jan Schlämann, der die Steuerpinne umklammert hielt, nicht, die ihn heimtückisch anschleichende Schläfrigkeit zu beherrschen. Auch der Selbstvorwurf, soviel hätte er nicht trinken dürfen, machte ihn nicht munterer. Gegen diese Art von Körperschwere half wenig, die selbstgestellten Denkaufgaben zu lösen, die ihn normalerweise wachhalten konnten. Wiederholt nickte er am Steuer ein, riss sich allerdings immer wieder energisch hoch, sah, dass auch Herr Peters abgeschaltet hatte und seinen Kummer ausschlief. Belustigt nahm er noch wahr, wie Schober und Bendschneider, diesmal im Heckteil, auf der schwarzen Bank vor ihm, eng aneinandergerückt, dahockten. Ihre Köpfe und Schultern sanken unentwegt herunter und eben so oft richteten sie sich mit halber Willenskraft auf. Die unbequeme Haltung und die lauten Motorgeräusche sowie das wiederholte Aufstauchen des wasserschneidenden Stevens auf die Wellenkämme, die der sich plötzlich neu erhebende Nordost verursachte, ließ die beiden offensichtlich nicht richtig zur Ruhe kommen. Andererseits drückte sie die Last traumschwerer Lider nieder. Auch die fünf Männer in den Wadenkähnen schliefen.
Jan Schlämann fühlte mit ihnen, bis auch ihn, unglaublich sanft, aber mit süßer Macht, die schwarze Nacht umarmte.
Plötzlich schrammte es hart. Die beiden Herren wurden nach vorne auf die Schweffdeckel geschleudert. Schlämann stieß sich die Knie und stürzte mit unwillkürlich gespreizten Armen auf die beiden Kaufleute.
Sofort krachte es zum zweiten Mal. Die im Schlepp befindlichen, noch frei schwimmenden Arbeitskähne waren aufgefahren. Dieser Ruck schob den Heuer noch höher hinauf auf das unsichtbare Hindernis, wobei, mit peitschenknallendem Geräusch, eins der starken Sisalseile platzte. Es wirbelte noch etwas herum. Das waren die netztragenden Wadenkähne. Sie schwenkten augenblicklich ein, stießen gefährlich gegen andere Steine. Der Heuermotor lief weiter, die Schraube rotierte noch. Schlämann machte dem Spuk ein Ende. Sekundenlang herrschte das Schweigen des Entsetzens. Außer den beiden Gästen war jedem klar, wie schlimm das war, was sich zugetragen hatte. Nur, das Wissen darum änderte noch nichts an der Situation.
Da ragte er hervor, der „Große Stein“ an Land, der Vater der vielen Kleinen rings um ihn herum, am Steilufer vor Dörpen und Schopwasch.
Ernüchtert vernahmen die Männer Schlämanns Kommandos, der, ohne sich um die Anwesenheit des Chefs zu kümmern, anordnete, was sofort zu tun sei. „Leinen lösen!“ Seine ganze Art verriet seine Verachtung für den Pächter, dessen Leichtsinn sie das Pech des Tages zu verdanken hatten. „Dat geiht nich!“50, sagte Kurt Willig und zog das Taschenmesser. „Jawoll! Dörchschnieden!“51, bestätigte Schlämann. Es gab einen Ruck der Entspannung.
Dann stellte Neumann als erster fest, dass Fritz Biederstaedt fehlte. Auch das noch! Fritz war während der Überfahrt unbemerkt über Bord gefallen! Wie Messerstiche fuhr ihnen der Schreck in den Leib. Ein Blick zurück zum schräg gegenüber liegenden Heidehof. Vier Kilometer  weißblaue Wellen und sonst nichts. Sofort mussten sie das auf einem Felsbrocken gestrandete Motorboot flott ziehen. Höchste Eile war geboten. Zu sechst, einschließlich des immer noch kopflosen Pächters, bemühten sie sich mit Leibeskräften, vom Heuer aus und in den zwischen den Steinen wieder freischwimmenden Arbeitskähnen mit Pätschen  und  Stangen  das Zugboot frei zu schieben, herunter von diesem dämlichen Stein.  „Zugleich!“ Sie stemmten sich mit äußerster Anstrengung dagegen, um den Heuer auch nur um Daumenbreite zu bewegen. Es gelang nicht. Den vier Männern im aufgelaufenen Heuer war klar, dass ihr Eigengewicht sich zusätzlich nachteilig auswirkte. Doch aus dem Motorkahn in die anderen Kähne über zusteigen war der Tieflage der Arbeitsboote wegen und andererseits wegen der vielen weiteren knapp unter der Wasserlinie befindlichen Hindernisse unmöglich. Ein Anlegen nebeneinander verbot sich deshalb und wegen des heftigen Wellengangs ebenfalls. Außer der Sorge um Fritz, die alle vorwärts trieb witterte Peters bereits eine Minute nach dem Auflaufen höchste Gefahr für den Fang. Denn er hörte, wie die Hechte im fast leer gelaufenen Schweff nur noch matt umherpatschten. Durch die Wucht der Auffahrt hatte sich der Heuer um ein paar entscheidende Zentimeter höher aus der Wasserlinie gehoben. Das Schweffwasser rann durch die Löcher. Wenn nun noch die Fische verreckten, dann war für ihn das Maß voll. Karl Neumann schlug in seiner Aufregung vor, die Männer im  Schleppboot sollten sich ausziehen und über Bord springen. Das musste ihnen doch einleuchten, denn Fritz Biederstaedt kämpfte im sturmbewegten See vielleicht nicht mehr lange. Das Seewasser war noch zu kalt.
Aber die Herren zögerten. Neumann schüttelte den gewaltigen Kopf. Mit diesen wasserscheuen, hirnlosen Kerlen sitzt er nun zusammen auf dem See fest, angebunden sozusagen wie ein Kalb an einer Kette. Statt sich die Siebensachen vom Leib zu reißen und ins Wasser zu springen, erwiderten sie ihm, er sei ein Klugscheißer, er solle ihnen das mal gefälligst vormachen. Karl Neumann fauchte sie an. Er würde es tun. Er hatte schon die blaue Bluse über die roten Ohren gerissen, da brüllte Schlämann, ob er verrückt geworden sei und kommandierte ebenso laut: „Zeug überziehen!“ Neumann trieb der Gedanke zur Hast, er läge an Biederstaedt Stelle im schäumenden See. Ob sie sich immer soviel Zeit ließen, das einzig Richtige zu tun?
Es war natürlich vernünftig, einen der beiden Arbeitskähne zu erleichtern. Mit dem leeren Boot kämen sie nahe genug heran um die Heuerbesatzung aufzunehmen. Peters schrie dazwischen, sie sollten sich endlich beeilen, ehe die Fische krepierten.
Neumann und Willig haspelten mit fliegenden Händen das Garn und die Leinen herüber. Beide in Wut. Die schönen Fische. Und Biederstaedt?
Sie hatten natürlich schon überlegt, die Wadenboote zu verankern und den Havaristen mit den vorhandenen Knüppelwinden und dem Drahtseil frei zu schleppen. Doch das verbot die Uferbeschaffenheit. Seeseitig fiel nach wenigen Metern das Gelege stark ab. Solchen langen Pfahl hatten sie nicht, einen entsprechend großen, tief genug greifenden Anker ebenfalls nicht.
Endlich gelang es, die vier Männer in den entleerten Wadenkahn einsteigen zu lassen. Alle dachten, nun würden sie das an einer kurzen Leine befestigte Motorboot schnell frei bekommen. Sie wollten es glauben. Sie zerrten und ruckten, sie stöhnten und fluchten. Es wollte nicht gelingen. In seiner Verzweiflung machte Ernst Peters Anstalten, sich zu entkleiden. Die Angst Schober würde auf Schadensersatz bestehen, brachte ihn fast um den Verstand. Das wäre effektiv eine Verdopplung der Schadenssumme. Karl ahnte, was sein Herr vorhatte. Der kräftige Pächter wollte sich unter das Heck des havarierten Heuers bücken und mit voller Manneskraft den letzten Versuch wagen, das Boot auch nur millimeterweise anzuheben.
„Ick mok dat, Meister!“52, rief Neumann mehr als eifrig. Wenn einer über die erforderlichen Kräfte verfügte, dann war er das. Der Zorn seines Kindergemütes war umgeschlagen in kalte Entschlossenheit. Nun entkleidete er sich wirklich. Im Nu zog er sich Hemd und Hose vom Leib. Weiß leuchtete sein gewaltiger Hintern.
Er sprang schnell ab. Rauschte nackt durchs beißend kalte vom Sturm heraufgewirbelte Tiefenwasser, das ihm bis zur Herzgegend heraufschlug.
Rein gefühlsmäßig wusste er, was er tun müsste, wie tief er sich bücken, wie er sich hinstellen, wo die Schulter ansetzen und wann er seine kolossalen Muskeln strecken musste. Unmittelbar, bevor die nächste größere Woge heranrollte, schrie er laut: „Tau!“53 und straffte den gebräunten, aus dem Seewasser auftauchenden Oberkörper.
Kurz darauf war der Heuer befreit. Alle tatschten und klopften wenig später dem nackten Karl Neumann auf die Schulter und die Hüften und hielten, was er getan, im Übrigen für eine Selbstverständlichkeit über die niemand je wieder nachdenken wird. Peters sträubte sich zurückzufahren. „De Kierl is längst to Hus!“54, behauptete er. Seine Zähne knirschten.
Als erstes kümmerte er sich um das Wohlbefinden seiner, besser gesagt Schobers, Fische. Er hob den Schweffdeckel und stellte überrascht fest, dass sie die trockene Viertelstunde anscheinend schadlos überstanden hatten. „Meister“, sagte Schlämann ernst, „sünd Se sicher, dat wi Fritz nicht verloren häm?“55
Ernst Peters hob den eckigen Kopf und schüttelte ihn. Natürlich nicht! Er tippte gegen die eigene Stirn. Sein Hirn sage ihm, der Kerl läge hundertmal eher bei einem Weib im Bett oder sei längst daheim, als so blöde zu sein und mir nichts, dir nichts über Bord zu gehen. Insgeheim gab Schlämann ihm Recht. Anderes wäre ja nicht auszudenken.
Dennoch mussten sie die Suche aufnehmen. Nicht einer konnte sich erinnern, ob er denn mit ihnen gekommen sei. Das war ja das Sonderbare, das sie so beklommen machte.
Während der Rückfahrt zur Gaststätte Heidehof hielt sogar Ernst Peters Ausschau nach ihm oder nach Anzeichen seiner Kleidung. Manchmal hatte man einen schwimmenden Schuh oder Stiefel gefunden, den Ertrinkende sich vom Körper gerissen hatten. Nicht selten zogen sie sich in Panik gänzlich aus.
Sie fanden nichts, auch in der Gaststätte erhielten sie keine Gewissheit. Der aufhorchende Wirt reimte sich wahrscheinlich einiges zusammen. Er stotterte hilflos. Er starrte Peters sen. vorwurfsvoll und finster an. Der Pächter ballte die Fäuste und fluchte beim Herabsteigen der steilen Ufertreppe, seine schlimme Befürchtung nicht mehr verbergend. Schweigend fuhren sie heim. Was sollten sie Biederstaedts Frau sagen?
Eine Stunde später bog ihr Heuer in den Oberbach ein. Die Stimmung war unerträglich. Es würden mehrere Fischerfrauen dastehen, sie ärgerlich erwarten und unbequeme Fragen stellen. Die Sonne schien bereits von Nordwesten herein.
Da sahen sie jemanden, der winkte. Fritz Biederstaedt! Er stand wie ein Gespenst scheinbar in der Luft. Er war auf einen Baumstubben geklettert und rief, als sei nicht das Geringste passiert, mit seiner dunklen Stimme, wo sie denn um Himmels Willen solange gesteckt hätten. „Ick hew mi Sorgen mokt üm juch!“56
Da brach es laut und grob aus allen Mündern zugleich hervor. Was er sich einbilde, sie an der Nase herumzuführen? Ein Schwall von Worten ergoss sich über den insgeheim von jedem für verloren gehaltenen Fritz Biederstaedt. „Dämelack, alter!“, schimpfte Peters und tobte noch einmal los, den ganzen Kummer und die Spannung der vielen Aufregungen von der Seele reißend. An dem Tag als die Neubrandenburger Zeitung davon berichtete, dass in Hamburg der Stapellauf des ersten deutschen schweren Kreuzers stattfand, standen Fritz  und Jan Schlämann arbeitend im Hof. Sie flickten das am Vortag zerrissene Zugnetz wieder zusammen. Plötzlich wandten sie die Köpfe gleichzeitig. Denn oben im Haus war geräuschvoll ein Fenster aufgestoßen worden. Ernst junior grüßte zackig herunter. Er winkte mit der Zeitung, rief übermütig: “Dat wat fiert!“57 Die beiden Männer schauten sich verdutzt an. Kurz darauf erschien der junge Chef auf dem stets aufgeräumten Fischereihof. Er trug zwei braunfarbene Bierflaschen in der Rechten, eine dritte unter dem Arm, während er mit der Linken immer noch das große Blatt schwenkte. Auch seine glänzenden Stiefel fielen ins Auge. „Dorup möten wie anstöten!“58, rief er bewegt. Biederstaedt liebte des Juniors Herzlichkeit und griff zu, ehe er wusste, was er begrüßen und feiern sollte. Schlämann, als er hörte, worum es ging, kniff vorsichtshalber die Lippen zusammen. Dennoch brummte er vor sich hin. Die beiden jüngeren Männer hatten ihre Meinungen in einer, seiner Auffassung nach, sehr oberflächlichen Art und Weise gebildet. Was die Zeitung schrieb hielten sie für wahr und gut. Schlämanns Überzeugung nach schwärmten sie von Sachen, die ihnen selber schlecht bekommen würden. Nach den ersten geleerten Flaschen holte Ernst junior neue. Dem Griesgram zum Trotze tranken und freuten sie sich. Schließlich blies Fritz Biederstaedt, wenn auch nur aus Sympathie für Ernst, die dicken Backen auf und trompetete übermütig: „Deutschland, Deutschland, über alles...“ Dabei warf er aus der Stimmung heraus die kräftigen Beine im Paradeschritt. Sein Freund Peters junior machte sogleich mit. Während sie exerzierten, streckten beide die Arme aus, jeder seine Bierflasche wie eine senkrecht stehende Fahnenstange in der Hand, beide beschwipst. Durch die Erschütterungen und Schüttelei kam Schaum hoch und quoll über den Flaschenrand. Meister Schlämann ließ aus Empörung die Arbeit liegen und ging nach Hause. „Dummheit lässt grüßen!“ murmelte er grantig, konnte und wollte das nicht mit ansehen.
Damit spaßte niemand ungestraft. Dass Deutschland wieder Waffenfestung sei in der Welt und irgendwann „mehr“ als der Tommy sein wollte, hielt er für tödlich.
Als Monate später die beiden Peterssöhne Heinz und Ernst nach Nürnberg zum Reichsparteitag fuhren, knurrte Schlämann vor Biederstaedt unvorsichtig, dass der Hitlersche Größenwahn dem nächsten Katzenjammer bloß vorauseile.
Die Jungen seien dabei, verblendet wie jene bei der Begeisterungswelle 1914, sich in ihrer Beschränktheit das eigene Grab zu schaufeln. Dass er mit dieser Unkerei tatsächlich seine Verachtung zum Ausdruck gebracht hatte, bemerkte er jedoch erst, als Fritz ihn bösartig anfunkelte. Auf seinen Freund, Ernst junior, ließ ein Fritz Biederstaedt auch nicht den Schatten eines Makels fallen.
Fritz Biederstaedt hatte sich eine Illustrierte gekauft die vom Reichsparteitag berichtete. Ihm war die große Begeisterung der Reporter wie eine warme Woge entgegen geschlagen. Die herrlichen Bilder hielt er Meister Schlämann am Tage nach dessen unbesonnener Kritik vorwurfsvoll unter die spitze Nase. Doch Schlämann erwiderte fest: „Fritz mark di dat. Övermaut deit selten gaut.“59
Eine ganze Woche lang, nachdem er wieder heimgekehrt war, schwärmte Ernst junior, während der nächtlichen Arbeit des Fischens, wie er den Reichsparteitag empfunden hatte. Unentwegt hätten sie jubeln können. Niemand fühlte mehr den Regen und die Kälte, als ihr Führer auftrat.
Es sei von ihm eine wunderbare Kraft ausgegangen. Ein Übermensch, von Gott geschickt, sei da auf sie zugekommen. Das männlich harte Gesicht unbeirrt nach vorne gerichtet wirkte wie aus Stein gemeißelt. Schritt um Schritt sei der Barhäuptige auf sie zugegangen. Die fest aufsetzenden Stiefel, das EK eins, diese Augen, diese Musik. Den Gedenkkranz für die Gefallenen seiner Bewegung begleitend, leicht gesenkten Hauptes, war Adolf Hitler im Rhythmus der Takte des Badenweiler-Marsches dicht an ihnen vorbeigeschritten. Die Herzen Hunderttausender gehörten nur diesem Manne. Voller Ehrfurcht wie vor einer Weihehandlung hätten sie jedem Ton gelauscht. Heinz habe vor Rührung geweint und ihm selbst hätten sich die Augen gefüllt. Aber Heinz musste es besonders nahe gegangen sein. Er hatte gerade den Reichsberufswettkampf als Sieger absolviert und war mit einer vom Führer persönlich unterzeichneten Urkunde geehrt worden. Und da sie ihn nun von Angesicht zu Angesicht erlebten und der Führer ihnen persönlich unter so vielen Bedeutenden einen Blick der Anerkennung schenkte, sei das für ihn ein unfassbares Glück gewesen. Freudebebend dankte Ernst dem Allmächtigen, in eine so schicksalsträchtige Zeit hineingeboren worden zu sein. Der Gottgesandte, auf den die Arier seit ihrer ersten Auseinandersetzung mit den ihnen geistig unterlegenen Völkern und erst recht im Streit und Kampf mit den asiatischen Horden  sehnsüchtig  gewartet  hatten,  sei  gekommen, um Deutschland den ersten Rang unter den zahlreichen Nationen zu geben. Tausend Jahre lang würde die Sonne über glückliche Reichsgaue leuchten.
Biederstaedt hörte gespannt zu, als Ernst schilderte, wie er und Heinz den großen Amtswalter-Appell der NSDAP aus gewisser Entfernung miterlebt hatten. Es war am Abend gewesen. Hunderte Scheinwerfer zauberten einen Lichtdom über den Häuptern von zweihunderttausend Menschen. Aus der Ferne dröhnte die Rede Adolf Hitlers: „Dass ihr mich gefunden habt, unter so vielen Millionen, ist ein Wunder!  Dass ich euch gefunden habe ist Deutschlands Glück!“
Überwältigt vom Strom der Freude hätten er und Heinz schließlich nur noch geschluchzt: „Unser geliebter Führer!“  
Diese starke innere Bewegung des sonst so schneidigen Heinz konnte Biederstaedt sich gut vorstellen. Denn Heinz Peters hatte gerade vor der Fahrt nach Nürnberg die Berufung in die „Leibstandarte Adolf Hitler“ erhalten.
Fritz liebte die Petersjungen. Beides blonde Recken, beide mit hochfliegenden Plänen und großen Idealen von Größe ihres Volkes.
Es gab also doch eine Vorsehung.
„ Ein Volk, ein Reich, ein Führer!“ Das klang wie Musik. Doch bereits drei Wochen später bemerkte Fritz, dass Ernst bedrückt umherlief. Dass er Kummer hatte, stand ihm ins Gesicht geschrieben. Fritz fragte ihn schließlich, doch Ernst winkte ab. Noch möchte er darüber nicht reden.
Unfähig zunächst, sich auszusprechen, verbarg er andererseits nur schwach, dass sich etwas verändert hatte. Eines Nachts, nachdem Ernst und Fritz die Fische aus dem Wadensack gekeschert und sich eine Weile nebeneinander gesetzt hatten, um auszuruhen, gab Ernst zu, dass er schwer erschüttert und wieder auf dem Boden der Tatsachen angekommen wäre.
Sein SS-Führer Gau habe ihm auf den Kopf zugesagt: „Ernst, du hesst doch Juden in diene Verwandtschaft, nich?“60
Mit großer Beklemmung und bloß stotternd hätte er dem Grobian Gau auf die Frage nach dem Ariernachweis von Tante Ilse antworten können: „Deutsche Verwandtschaft, Deutsche!“ 
Er habe endgültig zur Kenntnis nehmen müssen, dass gewisse Theorien Hitlers ihn praktisch und persönlich nachteilig betrafen.
Danach ging es mit seiner SS-Gesinnung steil bergab.  
An diesem Umschwung nahm Fritz betroffen Anteil.
Ernst erzählte plötzlich Einzelheiten über eine Stadt Guernica. Hitlers Göring hätte diese Stadt schon vor Monaten ausgelöscht. Der Begriff „auslöschen“ hatte nach der Frage des SS-Führers Gau, weil sie in beängstigender Weise gegen Tante Ilse zielte, in seinem Innern wie eine Kolik gewühlt.
Solange sei ihm das Schicksal der baskischen Stadt Guernica gleichgültig gewesen, wie der Name irgendeines Unbekannten, der in einer fremden Stadt gestorben war. Doch nun sah er verbotene, aber wahre Fotografien mit unfreiwilliger Gedankenverbindung zu seiner nichtarischen Verwandtschaft. Da lagen Schulmädchen neben Pferdekadavern, alles in Stücke gerissen. Das haben Deutsche gemacht! Deutsche wie er.
Ernst fühlte sich verraten und verletzt.
Er sammelte immer mehr bittere Erfahrungen, bis er schließlich Biederstaedt und Schlämann gegenüber insgeheim bekannte, dass die allgemeine SS, der er angehörte, nur eine gemeine Bande sei. Diese unflätigen Redensarten und geistlosen Prahlereien der meisten Vorgesetzten regten ihn längst auf. Selbst die Anzüglichkeiten, wenn über Mädchen zweideutig gewitzelt wurde, mochte er nicht.
So leichtfertig, so miserabel von lieben Menschen zu reden, sei ihm ein Gräuel. Dieselben Halunken, die eine verheiratete Frau zu einem Abenteuer überredet hatten, stellten ihr hinterher ein miserables Zeugnis aus. Einerseits hieß es „Blut und Ehre!“, andererseits wühlten sie im Dreck der Unehre. Alles, was sie über die Juden sagten, sei zotig und verlogen. Wie begründet erschien Ernst Peters jetzt dagegen die damals noch unverständliche Angst der Tante Ilse. Bitte Ernst, verrate mich nie!
Die Organisation, der er zugehörte, sei ein Ungeheuer.
Ob Heinz, wenn er diesen seinen Gesinnungswandel erkannte, schweigen würde? Nun da er in Berchtesgaden Dienst leistete?
Es war beängstigend, den jüdischen Exodus mitzuerleben. Vor der Machtergreifung Hitlers wohnten über einhundert Juden in Neubrandenburg. Jetzt konnte man sie an zehn Fingern abzählen. Die Heines zu dritt, zu zweit Angehörige der Familie Rosenstein. Wer noch? Die Geschwister Wolff, das machte sieben. Die Schwestern Eliasowitz, Abraham Salomon, Paula Kallmann, Frau Jakob. Es mochten noch vierzehn verwegene, heimattreue Leute sein. Mehr nicht. Doch wie es schien, waren diese wenigen Harmlosen gewissen Bösewichtern dennoch ein Dorn im Auge. Jedenfalls hetzten sie, je mehr sich die Proportionen zu Ungunsten der heimischen deutschen Juden verschoben.
Weshalb, fragte Ernst junior sich? Keiner verkaufte so billig wie die Heines, wie die Wolffs. Ihre Verwandtschaft hatte zwischen 1914 und ’18 im Kriege höchste Lorbeeren geerntet. Eiserne Kreuze, sogar den „Pour le merite“. 
„Was“, fragte Ernst Peters junior sich, „war der wahre Grund für den deutschen Rassenhass?“ Er konnte es sich nicht erklären. Denn denjenigen Juden, die Christen geworden waren, gestanden die Verfolger Sonderrechte zu. Diese Leute beschimpfte kaum jemand trotz ihres Judenblutes. Es ging also gar nicht um die angebliche Schädlichkeit des jüdischen Erbgutes. Ging es vielleicht um die Befriedigung eines Hasses aus Neid?
Ernst spürte natürlich, dass eine gewisse niederträchtige Stimmung gelegentlich auch ihn befiel, die er jedoch schnell überwand und der er nicht erlaubte, ihn zu verderben.
Wann immer er andere nach dem wahren Grund der anhaltenden Verwünschungen fragte, gab es lediglich ein trotziges „Darum!“
Die ihm namentlich und von Angesicht als freundliche Mitbürger bekannten Juden sprachen wie alle, dachten wahrscheinlich nicht schlechter und nicht besser. Nur der üble Atem ihres Fastens war da, und das Faszinierende ihrer geistigen Wendigkeit. Deshalb? Das verstehe, wer will. Noch nie hatte er einen einzelnen Neubrandenburger im Gespräch unter vier Augen reden hören, man müsse die Heines oder die Rosensteins wegjagen. Im Gegenteil, jeder lobte sie für ihre Großzügigkeit. Was, um alles in der Welt, war des Pudels Kern? Ernst junior täuschte sich nicht. Es lag etwas nie Dagewesenes in der Luft. Der Führer allein konnte diese Stimmung nicht über die Städte legen. Auch der Geist von ein paar tausend Fanatikern, die nie irgendwelcher Argumente bedürfen, konnte nicht diesen undurchdringlichen, flirrenden Nebel machen. Gnadenlos wird es den Harmlosen an den Kragen gehen. Warum? Warum wirklich? Das war ihm ein Rätsel. Daran würde er sich niemals beteiligen. Deshalb würde er nie wieder nach Nürnberg fahren, so schön und gastlich die Stadt ihm auch erschienen war und so beeindruckend diese Massenaufmärsche auch auf ihn gewirkt hatten. Viel lieber fuhr er auf den See und genoss die Stille und die Schönheit der Natur.
Am 9. November zerstörten SA Leute das Schuhgeschäft Wolff in der Treptower Straße.
Als Ernst junior das erfuhr, ging er, in tiefes Nachdenken versunken, in sein Zimmer. Er starrte auf das postkartengroße Foto seines Bruders Heinz und hielt mit ihm stumme Zwiesprache. „Niemals!“, schwor er sich. Wann immer, er wird dem Treiben ausweichen und den Lumpen die kalte Schulter zeigen.
„Aber reiße deinen Mund nicht zu weit auf!“, sagte er sich. Denn jäh fuhr ihm wieder die Angst um Tante Ilse in die Knochen.
Wenig später schickte Schlachter Gau seinen Lehrling und ließ Ernst mitteilen, es sei Dienst für den Abend angesetzt. Da war sie schon, die erste Gelegenheit, laut Nein zu sagen. Ernst jun. wunderte sich über die Intensität des Gefühls, dass eine neue Bosheit in die Welt gesetzt werden sollte. Oder war es mehr? Hatte er sie an den Schulungsabenden nicht reden gehört, man müsse den Juden „heimleuchten“. Dieser eindeutige Begriff kam ihm lebhaft in Erinnerung, als der kesse Lehrling vor ihm stand. „Sage deinem Meister, ich muss die Nachtfischerei leiten! Ich muss mich für heute entschuldigen!“
Der zum Oberscharführer beförderte Schlachter Gau wunderte sich sehr, dass einer seiner besten Männer ausgerechnet an einem für die Bewegung wichtigen Tag freiwillig zur Nacht arbeiten ging. Hatte der Kerl Peters denn keine Ehre im Leib?
Als Ernst gegen Abend hinausfuhr, am Steuer sitzend, und die Weite des dunkelnden Sees vor sich sah, atmete er tief durch. „Niemals!“, sagte er laut und spürte, dass da auch auf ihn ein Verhängnis zukam.
Er hatte den schweren Fehler begangen, die schwarze Uniform anzunehmen, eine zweite ähnliche Dummheit wird er unterlassen. Dein gutes Gewissen ist wertvoller als Lametta und höchstes Lob. Was half ihm der Gewinn der halben Welt, wenn ihn dieser Besitz unglücklich machen würde? Da konnte er Heinz nicht verstehen, dass der immer noch mit Begeisterung Hitlers und seines Luftmarschall Görings Angriffe deutscher Sturzkampfbomber auf spanische Städte verteidigte. Diese furchtbar heulenden Ju 87 hatten ihre Bomben über wehrlose, schlafende Städter ausgeklinkt.
Sie könnten dem Falangistenführer Franco zwar zum Sieg verhelfen. Aber was, außer dem Ruf, Mörder zu sein, würden sie sonst noch dauerhaft erwerben?
In dieser Nacht brannten Ernsts Kameraden in Neubrandenburg die Synagoge nieder.
Obwohl sich der Feuerschein am Himmel widerspiegelte hatten er und seine Männer es nicht bemerkt, da sie in einer von hohen Buchen eingeschlossenen Bucht arbeiteten.
In dieser Nacht, einen Monat nach seinem sechsundzwanzigsten Geburtstag, brannten reichsweit zweihundertundfünfzig Synagogen In London und Paris, sogar in New York hörten die Menschen den Schrei und sahen später entsetzt die heimlich aufgenommenen Bilder. Einundneunzig deutsche Bürger jüdischen Glaubens wurden in dieser Nacht ermordet und ihr Blut verlangte nach Rache.
Doch der deutsche Alltag schien wie gewohnt seinen Fortgang zu nehmen.
Ernst wusste nun was er tun musste. Er würde versuchen sich zurückzuziehen von diesen Unmenschen. Hätte er sich seine ersten heimlichen Bedenken nur eher zu Herzen genommen.
Einmal hatte einer von der höheren SS-Charge die Katze aus dem Sack gelassen: “Was wir Ausbilder des Führernachwuchses wollen, ist ein modernes Staatswesen nach dem Muster der hellenischen Stadtstaaten. Fünf bis zehn Prozent der Bevölkerung, ihre beste Auslese soll herrschen, der Rest hat zu arbeiten und zu gehorchen! Innerhalb von zehn Jahren wird uns auf diese Weise möglich sein, Europa das Gesetz Adolf Hitlers zu diktieren und die wahre Völkergemeinschaft mit Deutschland als führender Ordnungsmacht an der Spitze aufzubauen... ihr Mitglieder der SS seid des Führers Elite!“
Diese Elite steckte nun Häuser an und verprügelte wehrlose Grauköpfe! Jeder Satz den er je zugunsten Hitlers gesprochen peinigte ihn. Wie hatte er sich je freiwillig unter den „Führereid“ stellen können? Wort für Wort des Gelübdes kam ihm in den verstörten Sinn: „Ich schwöre dir, Adolf Hitler, als Führer und Kanzler des Reiches Treue und Tapferkeit. Ich gelobe dir und den von dir bestimmten Vorgesetzten Gehorsam bis in den Tod, so wahr mir Gott helfe!“
Jawohl, er, Ernst Peters junior, war so töricht gewesen, diesen Eid des SS-Mannes auf sich zu nehmen, - doch er wird ihn brechen, gemäß seinem Gewissen, das für ihn über jedem Gelöbnis stehen wird, solange er atmet.
Der stete Aufstieg und der schnell vermehrte Reichtum führte zunehmend zur Schlaflosigkeit des Großpächters Peters. Eines Nachts ging Ernst senior in den Stall und nestelte eine der langen Kuhketten ab, welche die Rinder auf der Viehweide trugen. Die schleppte er treppauf, treppab über die Metallschienen der Stufen.
Unsanft aus den Träumen gerissen, fuhren die im Hause wohnenden Mieter und seine eigene Frau hoch. Auch Sohn Ernst schüttelte den Kopf und wollte wissen, was das bedeuten solle.
„Wenn ick nich schlopen kann, bruken annern Lüd dat uk nich!“61

 Teil 1



Anmerkungen:



1 „Fritz Biederstaedt, ich habe dir schon dreimal gesagt, dass du bei mir nicht arbeiten kannst. Du bist noch zu dürre!“

2 „Dann man zu, ...sie werden das schon machen. Aber wenn sie glauben, dass  die  Bleie  goldene  Flossen  haben,  dann irren sie sich.“

3 „Zu dürre, Franz Meltz! Hundertachtzig hättest du bieten müssen! Zu dürre!“
4 „Sie haben ja bloß Weißfische!“
5  „Diese Frechheit habe ich nicht gehört!“
6  „Die Aufregung steht ihnen diesmal nicht zu!“
7  „Ach! Daher weht der Wind!“
8  „Wenn euch das bei mir nicht gefällt, dann sucht euch andere Arbeit!“
9  „Jan! Kommen sie in mein Büro!“
10 „Meister, lassen sie das mal gut sein. Wir wollen uns doch nicht  erzürnen.“
11  „Meister, ich glaube, wir können nun zu Eise fischen!“
12  „Los Leute! Karl hat Recht. Ziehen wir noch Alt-Rehse!“
13  „Nur zu!“
14  „Wenn es was wird, dann wird es was!“
15 „Ein gutes Zeichen!“
16  „Das sind Bleiplötzen!“
17  „Wir haben sie! Wir haben sie!“
18 „Habe ich euch das nicht gleich gesagt? Heute fangen wir etwas! Heute fangen wir etwas!“
19  „Fünfzehn Tonnen!“
20  „Ich laufe hinunter!“
21 „Fru Meistern, wie hem de Bli!“
22  „Bist du es, Fritz?“
23 „Ja, Meister, wir haben die Bleie auf der Großen Lanke gefangen. Bleie, groß wie Waschbretter.“
24  „Wie viel hat Jan geschätzt?“
25  „Jan Schlämann hat gesagt, es sind dreihundert Zentner.“
26  „Ist das wirklich wahr?“
27  „Meister, habe ich je gelogen?“
28  „Fünfzehntausend!“
29  „War das Netz bereits morsch, Fritz?“
30  „Ja, auf Jan ist Verlass!“  
31  „Die Bleie, Meister Meltzen, haben doch goldene Flossen!“
32  „Das dämliche Zeug wird uns noch viel Ärger bereiten.“
33  „Fritz, du brauchst dir nichts dabei zu denken!“
34   Krieg muss es geben!
35   „Meine Leute fangen im Augenblick nichts.“
36  „Tut mir leid, wir fangen momentan nichts.“
37 „Der Alte hat den See ausgeplündert. Kein Wunder, er hat jeden Schwanz mitgenommen.“
38   „Wir spielen doch bloß um einen zehntel Pfennig.“ 
39  „Krieg muss es wieder geben, Fritz!“
40 „Aber, das hätte auch mehr Geld werden können.“
41  „Meister, sie wollen da doch nicht hineingehen?“
42  „Meister, das ging zu weit. Wir haben getrunken und das  bekommt ihnen nicht.“
43 „Ich bin die Verantwortung!“
44  „Da gibt es nichts!“
45  „Jetzt wird Mümmelloch gezogen, wo es nichts geben wird!“
46  „Zwanzig Pfund!“
47 „Jan! Gestohlen wird nicht!“
48  „Meister!“... „haben wir nicht sehr schöne Fische gefangen?“
49  „Komm Ernst“,... „das hilft ja alles nichts, Spaß muss sein.“
50  „Das geht nicht!“
51  „Jawohl! Durchschneiden!“
52  „Ich mach das Meister!“
53  „Zu!“
54  „Der Kerl ist längst zu Hause!“
55  „Sind sie sicher, dass wir Fritz nicht verloren haben?“
56  „Ich habe mir Sorgen um euch gemacht!“
57  „Das wird gefeiert!“
58  „Darauf müssen wir anstoßen!“
59  „Fritz, merk‘ dir das. Übermut tut selten gut.“
60 „Ernst, du hast doch Juden in deiner Verwandtschaft, nicht wahr?“
61 „Wenn ich nicht schlafen kann, brauchen andere Leute das auch nicht!“

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