An einem Sonnentag, wenige Monate nach der Zeit des “Offenen Hauses”, sah ich einen gut angezogenen, nachdenklich vor sich hinsinnenden Mann auf dem Freiberger Tempelplatz. Er saß auf einer der verstreut aufgestellten Bänke im Grünen. Ich ging auf ihn zu, grüßte ihn.
Er mochte um die Fünfzig gewesen sein.
Er schaute mich sonderbar an.
Ich spürte die Ablehnung, hatte aber das Gefühl, dass ich ihn ansprechen sollte, ob er eine Frage hätte.
Kühl und entschieden erwiderteer: “Nein!”
Er schaute mich nochmals an: “Alles, was ich zu Ihrem Thema zu fragen hatte, ist bereits beantwortet worden.”
Ich wusste, dass etwas nicht stimmt.
Was sollte ich machen?
Er wünschte, nicht behelligt zu werden. Es störte mich nur, dass da ein Mensch war, der unbefriedigt und mit den von mir vermuteten Vorurteilen weggehen würde.
Doch ich hatte kein Mittel.
Nach einer knappen halben Stunde, als ich zurückkam, saß der Mann immer noch da.
Ich nahm allen Mut zusammen, entschuldigte mich und bat ihn, mir nicht übel zu nehmen, dass ich ihn nochmals anzusprechen wage.
“Ich habe ihnen doch gesagt,dass ich bestens informiert bin.”
Mir war klar, dass er nicht aus der Quelle getrunken haben konnte. Ich wandte mich ab und ging davon.
Nach einigen Minuten wagte ich einen dritten Versuch und bat ihn, mir zu erlauben, ihm drei Sätze aus den Offenbarungsbüchern des Propheten Joseph Smith vorzulesen.
Etwas gequält erwiderte er: “Aber bitte nur drei Sätze.”
Ich schlug Lehre und Bündnisse auf, Abschnitt 88, Vers 67: “Wenn euer Auge nur auf die Herrlichkeit Gottesausgerichtet ist, so wird euer ganzer Körper mit Licht erfüllt werden und es wird in euch keine Finsternis sein; und wer ganz mit Licht erfüllt ist, begreift alle Dinge. Darum heiligt euch, damit euer Sinn nur auf Gott gerichtet ist, dann werden die Tage kommen da ihr ihn sehen werdet ...”
Noch einmal bitte!”
Offensichtlich verdutzt schaute er weit an mir vorbei.
Ich las es noch einmal.
Nun wirklich interessiert forderte er: “Den anderen Vers, bitte.”
“Lasst niemanden euer Lehrer oder geistlicher Diener sein, außer es sei ein Mann Gottes, der auf seinen Pfaden wandelt und seine Gebote hält.”
“Aus welchem Buch haben Sie nun vorgelesen?”
“Aus dem Buch Mormon Mosia,23,14.”
Er erhob sich, schaute mir eine Weile ins Gesicht.
Er forschte mich ungeniert aus, aber es war mir nicht unangenehm. Wahrscheinlich fragte er sich, wer ich sein mochte.
Ich bemerkte, dass sein Blick sich wieder meinem schwarzen Ledereinband zuwandte während ich zitierte “Die Rechte des Priestertums sind untrennbar mit denHimmelskräften verbunden und können nur nach den Grundsätzen derRechtschaffenheit beherrscht und gebraucht werden….doch wenn wir versuchen unsere Sünden zu verdecken oder unseren Stolz und eitlen Ehrgeiz zubefriedigen, oder wenn wir auch nur im geringsten Maß von Unrecht irgendwelcheGewalt, Herrschaft oder Nötigung auf die Seele der Menschenkinder ausüben –siehe dann ziehen sich die Himmel zurück, der Geist des Herrn ist betrübt, und wenn er weggenommen wird, dann ist es mit dem Priestertum oder der Vollmachtdes Betreffenden zu Ende.”
Er nahm mir meine Kombination mit einem Ruck weg, und las es selbst.
Sein Kopf kam wieder hoch.
Er dachte eine Weile nach. Tief durchatmend schloss der Überraschte mit der Bemerkung: “Ich werde mich von meiner Informationsquelle abwenden!” Es klang wie das Zerreißen von festem Papier.
“Tun Sie das, mein Herr. Ich danke ihnen, dass Sie mir zugehört haben.”
“Ich danke Ihnen!”
Leider habe ich nie wieder von ihm gehört. Aber dieser Tag kommt noch…und sei es in der Ewigkeit. Das Letzte was er sagte: Er sei Hochschullehrer in Köln.
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