Montag, 7. Juni 2021

Unser Hauswirt war ein Jude

 Im Sommer 1936 schlug Vater mich zum ersten und zum einzigen Mal; weil ich die Ladentür unseres Hauswirtes, des Juden Eckdisch, aufgerissen und ihn als “Saujuden” beschimpft hatte. Der dicke, sonst so joviale Mann und Vater zweier erwachsener Kinder muss augenblicklich zu meinem Vater gerannt sein: “Ihr Bengel hat mich beleidigt.” Vater legte mich über sein Knie. Er zog seinen Filzpantoffel aus und schlug zu. Es klatschte, tat aber nicht weh. Ein für allemal skandierte er die wenigen Worte in mein Bewusstsein: “Alle Menschen sind Kinder Gottes!”

Später erfuhr ich durch meine Mutter, dass in jenen Wochen zwischen beiden Männern ein sonderbares Gespräch stattgefunden hatte. Vater hätte ihn gewarnt: “Herr Eckdisch, verkaufen Sie ihre Häuser, nehmen Sie ihr Geld und versuchen Sie nach Palästina zu gehen. Kaufen Sie sich ein! Gehen Sie ins Land ihrer Väter. Sie müssen ja doch dorthin auswandern. Lesen Sie, was der Prophet Hesekiel vor zweieinhalbtausend Jahren vorausgesagt hat.” Er hielt seinem Hauswirt die Bibel vor die Nase. “Da steht es geschrieben! ... Siehe, ich will die Kinder Israel holen aus den Heiden, dahin sie gezogen sind, und will sie allenthalben sammeln und will sie wieder in ihr Land bringen...” (Hes.37,21). Er zeigte ihm andere Schriftstellen, alle mit demselben Tenor. Doch all das beeindruckte den gutmütig dreinschauenden, ältlichen Kaufmann wenig. Er winkte ab.
Als mein Vater sagte, der Mormonenprophet Joseph Smith hätte schon vor einhundert Jahren gelehrt, der Zeitpunkt der Sammlung Israels stünde unmittelbar bevor und er habe einen bedeutenden Juden, der Mormone geworden war, Orson Hyde, 1838 nach Palästina geschickt, um das Land zum Zwecke der Heimkehr der Juden zu segnen, da lächelte der rundliche Mann nachsichtig: “Wissen Sie”, sagte er, “wir Juden haben es doch gut hier in Deutschland!" Da verwies Vater ihn auf Hitler und sein Programm. " Nein!" sträubte sich der Jude, "wir haben bisher sämtliche Pogrome überstanden, wir überleben auch Herrn Hitler.” Außerdem genieße er als deutschsprechender Jude polnischer Nationalität Schutzstatus. Die Welt sei so zivilisiert heutzutage.
Wahre Prophetie und falsche Prognose standen scharf gegeneinander.
Einige Monate später drang die schwarze SS ins Haus Wilhelmstraße 53 ein. Binnen Sekunden brach der Damm. Es gab keinen Schutzstatus mehr, sondern nur eine Anzahl Leute, die sich viel darauf zugute hielten gehorsame Gefolgsleute ihres Führers zu sein. An ein Gesicht kann ich mich erinnern und wie ich meine, sogar an seinen Namen. Der Mann mit seiner schwarzen Schirmmütze und dem silbern blinkenden Totenkopfsymbol schaute mich nur kurz und kalt an.
Die Wolgaster SSler schoben die vier verängstigten Mitglieder der Familie Eckdisch vor sich her. Der Lastkraftwagen stand wartend da.
Herr Eckdisch sah noch einmal auf sein schönes, großes Haus.
Irgendwann im Verlaufe der nächsten drei Jahre müssen die polnischen Juden in einem Stadtteil Warschaus angekommen sein.
Denn aus diesem Ghetto gelangte im Kriegswinter 1944/45 eine Postkarte vom Sohn unseres ehemaligen Hauswirtes zu uns. Der Text lautete: “Vater tot, Mutter tot, Lotte tot. Jakob.”
Wie oft werden sie an die gut gemeinten Worte des Mormonen Wilhelm Skibbe zurückgedacht haben. - nachzulesen unter meiner Lebensgeschichte:


Blick auf die St. Petrikirche zu Wolgast - diese Kirche wurde, 1128, unrechtmäßig auf den Trümmern des Tempels des altslawischen Gottes Jarovit errichtet.

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